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Liebe, Leidenschaft und Lakritz.
Köln, 1927: Helene von Ratschek sprüht vor neuen Ideen für die Süßwarenmanufaktur ihrer Familie. Ob Lakritz, Konfekt oder Weingummi, ihre Kreationen sind so köstlich wie originell. Doch als ihr Vater seine Nachfolge verkündet, gewährt er seinen Söhnen den Vortritt, während Helene einen Geschäftspartner heiraten soll. Helene weiß jedoch, was die Ehe aus Frauen macht: Schatten ihrer Männer, ohne die Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes Leben. Kurzentschlossen heuert sie unter falschem Namen bei der Konkurrenz in Hamburg an und begegnet dort dem charmanten Fabrikantensohn Frederik ...
Eine junge Frau, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt und allen Widerständen zum Trotz ihre Suche nach Liebe und dem perfekten Rezept nicht aufgibt.
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Seitenzahl: 395
Köln, 1927: Helene von Ratschek kennt jeden Winkel, jede Arbeiterin, jedes Lakritz- und Weingummirezept der Süßwarenmanufaktur ihres Vaters. Sie träumt davon, eines Tages nicht nur ihre eigenen Kreationen hier vom Band laufen zu sehen, sondern auch die Geschäftsleitung zu übernehmen. Doch dann stellt ihr Vater sie vor vollendete Tatsachen: Er will sich aus der Firma zurückziehen und das Unternehmen in die Hände ihrer Brüder geben. Helene hingegen soll einen Zuckerfabrikanten heiraten, um Geschäftsbeziehungen zu festigen. Nichts liegt Helene jedoch ferner als eine Ehe, und so flieht sie kurzerhand aus Köln und sucht ihr Glück in Hamburg, wo sie sich bei der Firma Spiegel eine Ausbildung als Bonbonmacherin erhofft. Als sie den charismatischen Sohn des Inhabers kennenlernt, erkennt er augenblicklich ihr Talent – doch Frederik darf niemals erfahren, dass Helene eine von Ratschek ist.
Claudia Romes wurde 1984 als Kind eines belgischen Malers in Bonn geboren. Mit neun Jahren begann sie, ihre eigenen Geschichten zu erzählen, und fasste den Entschluss, eines Tages Schriftstellerin zu werden. Nach einigen beruflichen Umwegen widmete sie sich ganz dem Schreiben und lebt heute ihren Traum. Die Autorin wohnt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Vulkaneifel. Im Aufbau Taschenbuch sind bereits ihre Romane »Das Geheimnis der Hyazinthen« und »Beethovens Geliebte« erschienen.
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Claudia Romes
Die Fabrik der süßen Dinge – Helenes Hoffnung
Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
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Widmung
Kapitel 1 — Köln, Frühling 1927
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10 — Frühling 1929
Kapitel 11
Kapitel 12 — November, 1929
Kapitel 13 — Köln, Ende 1929
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20 — Spätsommer 1931
Kapitel 21
Kapitel 22 — Anfang 1932
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26 — Juli 1932
Impressum
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Für Anita.
Köln, Frühling 1927
Schwarzer Rauch stieg aus den Schornsteinen des Hauptwerks und schlängelte sich in einen fast durchgehend blauen Himmel hinauf. Helene kletterte aus dem Wagen, der sie von der elterlichen Villa zum Deutzer Firmengelände gebracht hatte, und sog den herben Geruch von erhitztem Rohlakritz ein. Mühelos überlagerte er den Duft der Fliederbüsche, die mit prächtig weißen Blüten vor dem Eingang der Manufaktur von Ratschek aufwarteten. Von Montag bis Freitag dominierten hier Lakritz- und Fruchtsaftdämpfe die Umgebung. Als eine von wenigen Fabriken schmolzen die von Ratscheks sogar die Süßholzspäne noch selbst ein, bevor sie weiterverarbeitet wurden. Stangen, Hustenbonbons, Konfekt und Fruchtgummi in sämtlichen Variationen: Das Kerngeschäft des Familienbetriebs blieb seit Jahren unverändert und Helene hatte den Produktionsplan genau im Kopf. Heute waren Rauten und Pastillen an der Reihe, dachte sie, als sie die rote Fassade des Backsteingebäudes hinaufschaute.
»Wollen Sie gegen Mittag wieder abgeholt werden?«, erkundigte sich der Fahrer.
»Ich bleibe. Danke.« Helene wedelte flink mit einer Hand und der Wagen fuhr davon. Kurz schaute sie ihm nach, wie er ruckelnd um die Ecke bog. Zwei dieser neuartigen Automobile hatte ihr ältester Bruder Alfred für Firmenfahrten angeschafft. Ihr Vater hatte es bis zuletzt vorgezogen, die Kutsche zu nehmen. Theodor von Ratschek hielt am Altbewährten fest. Knatternde Motoren und selbstdrehende Räder waren ihm nicht geheuer.
Helene umklammerte fest den Griff ihrer Aktentasche mit einer Hand, während sie mit der anderen die schwere Tür der Produktionshalle aufschob. Sofort schlug ihr der scharfe Geruch von Salmiak entgegen.
»Morgen, Fräulein von Ratschek.« Die ungewöhnlich tiefe Stimme der zweiten Vorarbeiterin Helma Berens durchdrang den Lärm der dampfbetriebenen Walze, die diese beaufsichtigte.
»Guten Morgen«, antwortete Helene freundlich. »Wie sind wir heute in der Zeit?«
»Auf die Minute genau.« Helma sah vom Förderband mit den präzise ausgestochenen Rauten auf, dann fasste sie sich an den Schirm ihrer grauen Schiebermütze. »Läuft wie ’ne Eins das Ding.«
»Sehr gut.« Beeindruckt betrachtete Helene die neue Maschine, die ihr Bruder Henri mitkonstruiert hatte. Inzwischen war auch ihr Vater von dieser Modernisierung überzeugt, für die sie sich eingesetzt hatte. Mithilfe der musterbedruckten Walzen konnten sie doppelt so viel Lakritze an einem Tag produzieren. Ein echter Gewinn.
»Wollen Sie probieren?«, fragte Helma und bot zwei Rauten in ihrer ausgestreckten flachen Hand an.
Nickend nahm sich Helene vom Lakritz und schob es sich in den Mund. Die andere Raute verschwand zwischen Helmas Lippen. Das Lakritz war noch warm und weich, es klebte wie Gummi an Helenes Gaumen. Seine Festigkeit bekam es erst, nachdem es abgekühlt war, was bis zu fünf Tage dauerte.
»Ist jut, ne?« Helma kaute mit offenem Mund, dabei gab sie einen Blick auf die schwarze Masse frei, die an ihren Vorderzähnen haftete. Helene musste sich ein Grinsen verkneifen. Angestrengt kaute auch sie und nickte. Der bittere Geschmack von Salmiak brannte ihr auf der Zunge, doch dann entfaltete sich das würzige Aroma. Aus salzig wurde süß. Es war dieses Zusammenspiel vollkommen gegensätzlicher Geschmacksrichtungen, welches sie so faszinierte.
Zufrieden machte sie ihre übliche Morgenrunde durch die Produktionsstätte. Das Rattern der Walze war Musik in Helenes Ohren. Unwillkürlich schlossen sich ihre Finger fester um ihre Aktentasche. Die Rezepte, die sich darin befanden, ließen ihr Herz schneller schlagen. Vielleicht würden es schon bald ihre Süßigkeiten sein, die von Henris Maschine geprägt wurden. Sie beschleunigte ihren Gang durch die Halle, nickte den Arbeitern freundlich zu, die Mehl und Zuckersirup in hohen, dampfenden Kesseln verrührten, bis der eingedickte Süßholzsaft die richtige Konsistenz besaß. Etwas weiter hinten wurde die leimige Masse von einem Dutzend Frauen in Streifen geschnitten und anschließend zu Schnecken gedreht. Als Helene noch ein Kind gewesen war, hatte sie oft mit ihnen am Band gestanden. Bei Butterkuchen und Kakao hatte sie mit den Fabrikarbeiterinnen die Pausen verbracht und deren unverfälschter Kölner Mundart gelauscht. Dabei hatte Helene Wörter wie Schwaadlappe und Kläävbotze aufgeschnappt. Sie schlichen sich in ihr Vokabular ein und ihr Vater untersagte ihr den näheren Kontakt zum Fabrikpersonal. Helene hielt jedoch an ihnen fest – wenn auch heimlich.
»Sind sie da drin?« Friedas herzliche Stimme riss sie aus ihren Kindheitserinnerungen und sie blickte ins mütterliche Gesicht der ersten Vorarbeiterin.
»Sind sie«, antwortete Helene schmunzelnd. Sie konnte ihre Vorfreude nicht verbergen, die ebenso groß war wie ihre Aufregung. Frieda, die mit Helene einige der Entwürfe ausprobiert hatte, strich bestärkend über deren Schulter.
»Er wird deine Ideen großartig finden und sicher etwas davon übernehmen.«
Helene biss sich nervös auf die Unterlippe, nickte aber.
»Und nun los.« Frieda schenkte ihr ein Lächeln und auch Helma, die auf den Gang gekommen war, zeigte ihr, genau wie die Frauen am Band, beide Daumen hoch. Unter den Fabrikarbeiterinnen hatte es sich herumgesprochen, dass Helene heute ihrem Vater Ideen für neue Süßigkeiten präsentieren wollte. Endlich hatte sie eine vorzeigbare Auswahl zusammengestellt.
Mit flatterndem Herzen machte sich Helene auf den Weg. Über eine eiserne Wendeltreppe gelangte sie zu den Geschäftsräumlichkeiten. In der grauen Atmosphäre der Büros fühlte sie sich weit weniger wohl als in der Produktionshalle. Die oberste Etage hatte eine einschüchternde Wirkung auf sie. Hier wurden wesentliche Betriebsentscheidungen gefällt, Stellen besetzt oder gestrichen, Süßigkeiten für unrentabel erklärt und gepriesen. Helene ging den langen Flur entlang, an dessen Wänden Bilder der Geschäftsleitung angebracht waren. Mittendrin das Familienporträt der von Ratscheks, auf dem Helene zwischen ihren Brüdern mit ernstem Gesichtsausdruck in die Kamera starrte. Zu den Seiten standen ihre Eltern und blickten dem Betrachter ebenso streng entgegen. Sie hatten Stunden für diese Aufnahme gebraucht, auf die ihr Vater so erpicht gewesen war. Helene jagte es jedes Mal einen Schauer über den Rücken, wenn sie daran vorbeimusste. Unmerklich schüttelte sie sich, bevor sie weiterging. Sie spürte, wie ihre Schultern zusammensackten, je näher sie dem Büro ihres Vaters kam, und sah auf ihre Füße, die sich langsam über den marineblauen Teppich bewegten. Sie rief sich Henris Worte in Erinnerung, der ihr geraten hatte, selbstsicher aufzutreten und nicht zu betteln oder ihren Vater zu bedrängen. Unterwürfigkeit und Verzweiflung durchschaute er binnen weniger Sekunden und er verabscheute beides gleichermaßen.
»Bleib nonchalant«, ermahnte sie sich lautlos. Mit beiden Händen umklammerte sie den Griff ihrer Aktentasche, bevor sie in den Flur bog, in dem das unermüdliche Klacken einer Schreibmaschine zu hören war.
»Guten Tag, Fräulein Schneider«, grüßte Helene.
Abrupt hielt die Sekretärin ihres Vaters inne, schaute von der Tastatur auf und lächelte dünn. »Guten Tag.«
»Ist er zu sprechen?« Helene deutete auf die Tür neben Fräulein Schneiders penibel aufgeräumtem Arbeitsplatz.
»Ist er. Gehen Sie nur rein«, trällerte sie ungeduldig, schob sich ihre Brille auf die Nase und tippte angestrengt mit zwei Fingern weiter. Helenes Dank ging im Klacken der Schreibmaschine unter. Sie atmete tief ein und aus und versuchte, ihr vor Aufregung wild klopfendes Herz zu bändigen, bevor sie hineinging. Das Geschäftszimmer ihres Vaters erschlug sie jedes Mal mit seiner Extravaganz. Hohe Stuckdecke, eichenvertäfelte Wände, Marmorfußboden. Das teure Mobiliar, darunter ein breiter Mahagonischreibtisch mit Goldfüßen, stand dem eines Aristokraten in nichts nach. Helenes Vater legte großen Wert darauf, die noble Herkunft der Familie für jeden sichtbar zu machen. So prangte das blau-weiße Wappen der Landadelsfamilie aus Polen auf sämtlichen Produkten des Unternehmens. Helenes Schritte hallten im hohen Raum wider, als sie auf ihren Vater zuschritt, der hinter seinem Tisch saß und ganz versunken in seine Bücher schien.
»Wie sind die Absatzzahlen?« Sie versuchte, sämtliche Scheu zu überspielen.
Ihr Vater hob den Blick und stöhnte gequält. »Abgesehen vom üblichen Chaos in den Tabellen zufriedenstellend. Aber wir müssen unbedingt diesen Buchführer ersetzen. Der Kerl bringt nur Durcheinander in meine Bücher. Ich werde Fräulein Schneider noch heute beauftragen, zu annoncieren.«
»Er ist doch neu. Gib ihm noch etwas Zeit, sich einzugewöhnen. Soll er sich nicht beweisen dürfen?« Helene wusste, dass seine Abneigung gegenüber dem Buchhalter in der Tatsache begründet war, dass dieser die Tabellen nicht schlechter, sondern lediglich anders organisierte.
Theodor lächelte besänftigt, dann schob er müde die Listen von sich weg, nahm seine Brille ab und drehte sie am Bügel in seiner Hand.
»Hast du eine Minute für mich?«, fragte Helene geradeheraus.
»Immer doch, Lenchen. Was gibt es denn?«
Sie nahm vor seinem Schreibtisch Platz und holte ihren Rezeptordner aus der Tasche, den sie ihm aufgeschlagen präsentierte.
»Was ist das?«, fragte er nüchtern und setzte seine Brille wieder auf.
»Du erwähntest kürzlich deine Angst um die Zukunft unserer Firma. Ich habe mir lange Gedanken gemacht. Das hier sind meine Ideen für gänzlich neue Süßigkeiten. Du hast gemeint, du würdest sie dir ansehen.«
»Ah«, tönte er knapp, als könne er sich nicht daran erinnern, ihr das zugesagt zu haben.
Die Tür hinter Helene ging auf. Fräulein Schneider kam herein, auf den Händen ein Tablett mit Tee und Plätzchen, das sie seitlich auf dem Schreibtisch abstellte.
»Für Sie auch einen Süßholztee oder etwas anderes zu trinken?«, fragte sie an Helene gewandt. Diese winkte dankend ab.
Sobald sie wieder allein waren, fuhr Helene fort: »Wenn wir das Sortiment mit Weingummi erweitern, wird das unseren Marktwert langfristig steigern. Damit sichern wir uns ab.«
»Spiel mal eben die Hausfrau. Sei so gut, ja? Zwei Stück Zucker, bitte.« Er deutete mit dem Kinn zum Tablett. Gehorsam bereitete Helene den Tee für ihn zu und reichte ihm die Tasse.
»Ich habe alle Rezepte bereits zu Hause, in unserer Küche, ausprobiert. Sie funktionieren wunderbar und schmecken köstlich. Wir könnten einiges davon saisonal produzieren. Zum Beispiel habe ich ein Orangenpunsch-Fruchtgummi kreiert, das sich für das Weihnachtsgeschäft anbieten würde.«
Er lachte abschätzig. »Du hast alle diese Rezepte in unserer Küche ausprobiert? Ich frage mich gerade, was Käthe dazu gesagt hat.«
»Unsere Köchin hat mir assistiert, wenn du es genau wissen möchtest, und Mutter hatte auch nichts dagegen. Ich bin vorgegangen wie Großvater damals.«
»Du machst ihm alle Ehre.« Er schlürfte seinen Tee.
»Danke. Wenn man bedenkt, dass er einst genauso begonnen hat, fand ich es passend, in einer einfachen Küche zu arbeiten.«
»Du musst mich nicht daran erinnern, wie sich mein Vater vom bescheidenen Bonbonmacher zum Industriellen hochgearbeitet hat«, sagte Theodor von Ratschek missfällig, während er mit einem Löffel ein weiteres Stück Zucker in seinen Tee rührte.
»Nun, scheinbar schon. Alles, was er damals brauchte, war seine Entschlossenheit.«
»Vergiss nicht den Kupferkessel«, erinnerte er sie schelmisch.
»Und die Walze«, erwiderte sie beherzt. Unzählige Male hatte er ihr und ihren Brüdern diese Geschichte erzählt.
»Natürlich … die Walze.« Ihr Vater seufzte, schwelgend in Erinnerungen. Helene lächelte in sich hinein, denn sie hatte einen Nerv getroffen. Die alte Bonbonwalze hütete ihr Vater wie einen Schatz. Sie war auf einer Granitplatte in der Empfangshalle des Firmengebäudes ausgestellt wie ein Denkmal.
»Gemahnt sie uns nicht stets, dass der eiserne Wille eines Handwerkers nicht zu unterschätzen ist?«, fragte Helene ermutigt. Ihr Vater ließ ein Brummen hören, anschließend beäugte er sie kritisch über den Rand seiner Tasse hinweg. Helene schluckte angespannt. Für einen Moment hatte sie vergessen, dass er kaum etwas mit ihrem Großvater gemein hatte. Er teilte weniger dessen Liebe zum Handwerk als die zum Geschäft. Während Johann von Ratschek beides zu einem ganzheitlichen Erfolg vereint hatte, war sein Sohn in einem bereits angesehenen Unternehmen aufgewachsen. Er hatte nie selbst Bonbonmasse eingekocht oder Lakritzschnecken gedreht. Theodor von Ratschek kannte nichts außer seiner Verkaufsbücher und den Profit, den die Produkte seines Vaters erbrachten.
Er schwieg, seine Augenbrauen zuckten verdächtig. Helene war gezwungen zu handeln. »Schau es dir wenigstens an. Es sind ein paar richtig gute Dinge dabei, wie ich finde. Und die Testesser stimmen mir zu.« Sie biss sich strafend auf die Lippe. Hatte sie Henri nicht versprochen, ihren Vater nicht zu drängen? Kurzerhand warf sie über Bord, was sie sich vorgenommen hatte, und holte die kleine dreieckige Papiertüte aus der Tasche. Sie war ihr Ass im Ärmel. Hastig krempelte sie die Lasche auf und legte das Tütchen vor ihrem Vater auf den Tisch, so dass die daumenlangen Lakritz-Pfefferminz-Stangen hinauspurzelten.
»Hm«, machte er nur.
»Die hab ich gemacht.«
Er ließ die Süßigkeit unbeachtet. Schweigend nahm er sich ihren Ordner vor und blätterte darin.
»Du darfst gern probieren«, forderte Helene ihn auf.
Er schüttelte den Kopf, deutete auf seinen Bauch und verzog das Gesicht. »Eher nicht. Danke. Sodbrennen.«
Helene rang sich ein Lächeln ab, das schwand, als sie sah, wie nachlässig ihr Vater seinen stark gesüßten Tee schlürfte. Ein Klecks landete mitten auf der Zutatenliste für ihre Zitronen-Ingwer-Fruchtgummis, zu denen sie sogar eine aufwendige bunte Zeichnung angefertigt hatte. Grob fuhr er mit seiner Krawatte darüber, wodurch er den Tee nur noch mehr verteilte und die leuchtend gelbe Farbe verwischte. Helene hatte geahnt, dass es schwierig werden würde, ihn zu überzeugen. Trotzdem hatte sie sich nach Henris Dampfmaschine und Alfreds Automobilanschaffung wenigstens ein bisschen Interesse für das erhofft, was sie beschäftigte.
»Ganz nett, Lenchen. Wirklich nett«, sagte er und klappte den Ordner zu.
»Und?«
Er verzog den Mund und seine Augenbrauen bildeten eine senkrecht abflachende Linie.
»Außergewöhnlich, köstlich, innovativ«, wiederholte er die Beschreibungen ihrer Testesser. »Das ist nichts als höfliches Geplänkel.«
»Das denkst du, ja?« Sie stieß erzürnt den Atem aus. »Genau wie beim Kompliment des Reichskanzlers, der bei dem Bankett letzten Winter mein Kirschfruchtgummi probiert und anschließend ein halbes Pfund davon bestellt hat?«
Er sah sie an, wieder mit diesem bedauernden Zug um den Mund. Doch diesmal glaubte sie ihm nicht. Frieda scheute sich nicht davor, ihr die Wahrheit zu sagen, auch dann nicht, wenn sie schmerzte. Und sie war begeistert gewesen von dem Pfefferminz-Lakritz, das nun unangetastet auf dem Schreibtisch lag.
»Das ist mehr als bloße Höflichkeit«, widersprach Helene, die noch einmal ihren ganzen Mut zusammengenommen hatte. »Das ist Anerkennung!«
Theodor lehnte sich im Sessel zurück und das Leder knarzte unter ihm. »Lensche«, begann er in seinem rheinischen Sprachklang, der immer dann mit ihm durchging, wenn er persönlich wurde. Belehrend schlug er ein Bein übers andere. »Ich bitte dich.«
Sie suchte seinen Blick mit derselben Bestimmtheit, die er ihr entgegenbrachte. »Ich bin der Überzeugung, dass uns einige dieser Ideen weiterbringen werden.«
Ächzend faltete er die Hände vor sich und sah seine Tochter an. »Wir müssten weitere Geräte anschaffen.«
»Daran habe ich gedacht. Wenn du bis zur letzten Seite des Ordners geblättert hättest, wäre dir die Aufstellung an Modernisierungsmaßnahmen aufgefallen, die ich mit Henri besprochen habe. Ich komme gerade aus der Produktionshalle und die Angestellten berichten neben der erhöhten Produktivität auch von einer Arbeitserleichterung durch die Maschine. Vielleicht kämen wir in Zukunft sogar mit weniger Personal aus.«
Er betrachtete sie empört. »Dann sollen Maschinen plötzlich die Arbeit von Menschen übernehmen? Du weißt, wie ich dazu stehe.«
Sie nickte. »Du vertraust der Technik nicht, aber ich schon. Des Weiteren wäre sie eine zukunftsweisende Investition. Die Ausgaben dafür hätten wir innerhalb eines Jahres wieder eingespielt.«
Er schlug ihren Ordner erneut auf, überflog ihre Aufstellung und strich mit Zeigefinger und Daumen über die gezwirbelten Enden seines weißen Schnurrbarts.
»Was sagst du?«, fragte sie erwartungsvoll.
»Ich sage, es ist gut. Ein solider Plan.«
Helene lächelte erleichtert.
»Aber wir werden ihn trotzdem nicht umsetzen.«
»Wieso nicht?«, stieß sie verständnislos aus.
»Eine Umstrukturierung in dieser Größe wäre zum jetzigen Zeitpunkt nicht klug. Ich habe die Wünsche deiner Brüder gewürdigt, das reicht fürs Erste. Wir müssen erst abwarten, wie sich alles entwickelt.«
»Was genau soll sich denn entwickeln?«, fragte sie ungehalten.
Er schaute sie eine Weile stumm an, dann lehnte er sich vor. »Leni, ich plane, mich aus dem Unternehmen zurückzuziehen.«
»Schon?« Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, hatte aber frühestens in einem Jahr damit gerechnet.
Er nickte lang anhaltend. »Meine Entscheidung werde ich morgen Abend bekannt geben. Es bietet sich an. Wie du weißt, hat deine Mutter ein riesiges Fest geplant. Dabei wollte ich es eigentlich klein halten. Aber du kennst sie ja. Sie braucht diesen Wirbel und die Aufmerksamkeit der Gesellschaft.«
»Ja, ich habe ihr dabei geholfen, alles zu arrangieren.«
»Sicher«, gab er zögerlich an, als hätte sie ihn daran erinnern müssen, dass sie für einen Großteil der Organisation zur Feier seines fünfundsechzigsten Geburtstages verantwortlich war.
»Dann willst du also wirklich schon in den Ruhestand gehen?«, erkundigte sie sich nochmals.
Er nickte seufzend und sie schloss sich ihm an. Helene konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater die Beine hochlegte. Er lebte für sein Unternehmen. Sie kannte ihn nicht anders als in schickem Anzug, brütend über seinen Büchern. Seit sie denken konnte, war er immer in der Firma beschäftigt gewesen oder befand sich auf Reisen zu den Süßholzplantagen im Süden Italiens. Helene stockte bei diesem Gedanken, denn er war schon lange nicht mehr dort gewesen. Früher hatte er die Felder zweimal jährlich besucht. Doch die Gicht kontrollierte zunehmend seinen Alltag und erschwerte ihm das Reisen. Helene wurde klar, dass er seine Entscheidung, aus dem Unternehmen auszusteigen, auch aus gesundheitlichen Gründen gefällt hatte.
»Denkst du wirklich, das gelingt dir?«, fragte sie dennoch mit einer Mischung aus Stolz und Fürsorge.
»Es ist Zeit für mich, die Geschäfte abzugeben.« Theodor zog seine goldene Taschenuhr aus der Innenseite des Jacketts und warf einen prüfenden Blick darauf. »Natürlich werde ich im Hintergrund noch einige Fäden ziehen. Zumindest, bis ich sicher sein kann, dass sich deine Brüder in die Firma eingearbeitet haben.«
»Meine … Brüder?«, wiederholte sie stockend.
Er klappte ihre Mappe zu und legte seine Brille darauf.
»Ich hatte gehofft, du würdest mir die Leitung übertragen.« Laut ausgesprochen hörte sich Helenes Hoffnung fast töricht an.
»Dir?« Er lachte kurz auf und bestätigte damit ihr Empfinden.
Ihr Magen verkrampfte sich. »Haben Alfred oder Henri jemals Interesse an der Firma gezeigt?«, verlangte sie zu wissen und merkte, wie ihre Unterlippe vor Anspannung zitterte. »Außerdem … Alfred ist doch im Baugewerbe.«
Er schaute sie ruhig an. »Er wird seine Stellung zugunsten des Familienunternehmens aufgeben.«
Helene blinzelte bestürzt. Die Gelassenheit, mit der er ihr seinen Entschluss vortrug, machte ihr zwei Dinge deutlich: Er war unumstößlich und er hatte ihn schon lange gefällt.
Doch so einfach würde sie das nicht hinnehmen. »Henri ist Erfinder, Künstler. Er lebt für das Reisen und seine Abenteuer.«
»Dein Bruder hat sich viel zu lang herumgetrieben. Es ist an der Zeit für ihn, Verantwortung zu übernehmen. Mit dieser Maschine hat er bewiesen, dass er mitdenken kann. Er wird sich steigern.«
»Ich hatte gehofft, du würdest mich zumindest ins Unternehmen einplanen«, sagte sie bitter und machte damit ihrer Enttäuschung Luft.
»Och, Leni«, stieß er gedehnt aus. Für einen Moment sah er sie mitleidig an, bis er merkte, dass sie seinen Blick erwiderte, pochend auf eine Begründung für ihren Ausschluss. Er räusperte sich lautstark, ehe er ihr diese lieferte. »Es ist doch schlicht und einfach so: Du hättest nicht die Autorität, unser Unternehmen zu repräsentieren.«
»Weil ich eine Frau bin?«
»Weil für dich etwas anderes vorgesehen ist«, sagte er in aller Gelassenheit. Er kam um seinen Schreibtisch herum und knetete mit einer Hand ihre Schulter. »Es gibt weitere Möglichkeiten, sich abzusichern. Jeder von euch Kindern muss seinen Teil dazu beitragen. Übrigens wird Armin Langen morgen auch da sein. Er freut sich schon darauf, dich wiederzusehen. Jetzt entschuldige mich bitte, der Aufsichtsrat erwartet mich.«
Er tippte ungeduldig auf das Ziffernblatt seiner Taschenuhr, dann ließ er sie allein. Hinter ihm schloss sich die Tür. Für einen Moment saß Helene bewegungslos da. Obwohl ihr Vater es mit keinem Wort ausgesprochen hatte, wusste sie, was sie zum Unternehmen beitragen sollte. Ihre Heirat mit Armin Langen würde die finanzielle Zukunft des Familienunternehmens sichern. Seit Karneval vor einem Jahr hatte der Meckenheimer Zuckerfabrikant ein Auge auf sie geworfen. Zu verdanken hatte sie das dem Schmetterlingskostüm, das ihre Mutter für sie ausgesucht hatte. Für das erste Karnevalsfest nach dem Weltkrieg hatten die Kostüme besonders sein müssen. Mit figurbetonendem Schnitt und großzügig angelegtem Dekolleté war Helene, die aufgrund der englischen Besatzung keinen Debütantinnenball gehabt hatte, in die Gesellschaft eingeführt worden. Und wie ein Küken, das gerade aus seinem Ei schlüpft und dem ersten Wesen verfällt, das es sieht, hatte sich Armin Langen auf die Spätzünderin Helene geprägt. Sie selbst hatte kaum gemerkt, dass ihre kindliche Form weiblichen Rundungen gewichen war. Mit einem Mal war ihre einstmals grobporige Haut ebenmäßig, ihre Wangenknochen hoch und ihr strohiges dunkelblondes Haar glänzend und weich wie Seide. Ihre Wandlung vom unscheinbaren Wesen zur Schönheit kam für sie jedoch einem Desaster gleich. Plötzlich war sie nicht nur aufgrund ihrer Stellung als einzige Tochter der von Ratscheks eine begehrte Partie. Dabei hasste sie den Gedanken an Heirat. Sie hatte gesehen, was die Ehe aus Frauen machte – Schatten ihrer Männer, ohne eigene Meinung und die Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes Leben. So wollte Helene nicht sein.
Sie liebte jeden noch so kleinen Winkel der Fabrik, jeden einzelnen Schritt bei der Produktion der Süßigkeiten, vom Anbau der Rohstoffe bis hin zur Verwandlung in wahre Köstlichkeiten. Daneben strotzte sie vor Ideen, Kreativität und Tatendrang. Das alles sollte sie aufgeben und Platz machen für ihre Brüder, die sich ständig uneins waren? Beide hatten wenig für die Firma übrig und verfolgten andere berufliche Ziele. Helene konnte nicht verstehen, was sich ihr Vater dabei dachte, ihnen allen vorzuschreiben, was sie zu tun hatten. In seiner Engstirnigkeit war er blind für die Probleme, die seine Entscheidung mit sich brachte. Schlimmstenfalls könnte sie ihr aller Ruin bedeuten. Doch solange ihre Brüder gehorchten und sie, als seine Tochter, ihren Platz in der Gesellschaft kannte und wahrnahm, war sein Weltbild intakt. Helene knirschte mit den Zähnen, wütend bohrte sie ihre Finger in die Armlehnen des Sessels, auf dem sie saß. Sie fühlte sich unwohl in ihrem Körper, bestraft durch den Umstand, eine Frau zu sein. Mit Tränen in den Augen riss sie den Ordner an sich, stopfte ihn wirsch zurück in ihre Tasche und hastete auf den Flur.
Die Sonne schien durch die halb zugezogenen Vorhänge. Das Gezwitscher der Amseln, die in den Birken und Platanen vor Helenes Fenster nisteten, mischte sich unter ihre Gedanken an den gestrigen Tag. Helene hatte gehofft, dass es nur ein Alptraum gewesen war. Dass ihr Vater nicht wirklich vorhatte, das Feld für ihre Brüder zu räumen und sie mit einem Mann zu verheiraten, den sie nicht ausstehen konnte. Doch die hektischen Schritte und Stimmen, die von der anderen Seite ihrer Zimmertür zu ihr drangen, widersprachen ihrem Wunsch.
»Ist sie denn immer noch nicht aufgestanden?«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Aber der Empfang steht doch kurz bevor. Die Gäste werden schon bald da sein.«
»Ach wat«, folgte Katharinas knappe Antwort. Das neue Stubenmädchen war binnen kürzester Zeit zum Schatten ihrer Mutter und deren Zofe geworden. Helene wähnte sich bereits in Sicherheit vor unerwünschten Fragen, als auf einmal die Schlafzimmertür aufflog.
»Morgen, Fräulein.« Katharina stapfte laut zum Fenster und zog ruckartig die Vorhänge auf. Das grelle Licht blendete Helene. Reflexartig brachte sie eine Hand vor ihr Gesicht.
»Morgen«, antwortete sie mit belegter Stimme. Müde zwang sie sich auf die Bettkante und fasste sich an die pochenden Schläfen.
»Ausgeruht?« Die Hände in die Hüften gestützt, betrachtete das Dienstmädchen sie forsch. »Leeve Jott, Sie haben ja dicke Tränensäcke. Haben Sie etwa geweint?«, fragte sie unverhohlen.
»Nein«, antwortete Helene kurz angebunden und dachte nur, dass sie das rein gar nichts anging.
»Sieht nicht so aus. Soll ich Ihnen einen Kräutertee bringen? Beruhigt die Nerven.«
»Nein, danke«, murrte Helene, die nur für sich sein wollte. Katharina schnaufte und ging. Helene schüttelte unmerklich den Kopf. Vielleicht war die Tatsache, dass Katharina ursprünglich aus dem Gastgewerbe kam, ein möglicher Grund für die Distanzlosigkeit, die sie hin und wieder zu überwältigen schien. Ihren Bruder Alfred störte es ebenso. Er machte seinem Unmut über das Mädel, wie er Katharina nannte, Luft, wann immer er zu Besuch war. Da stolzierte ihre Mutter ins Zimmer.
»Liebes, du musst dich anziehen«, sagte sie, ohne ihre Tochter richtig anzusehen.
»Ich bin fertig«, erwiderte Helene als Provokation.
»Sehr witzig.« Ihre Mutter drehte sich zum Kleiderschrank und öffnete beide Türen. Wie immer war ihre Erscheinung vorbildlich. Klara von Ratschek sah, egal zu welcher Uhrzeit, ausgeruht und elegant aus, als würde sie in ihrer weißen Spitzenbluse und dem bodenlangen Rock die Nacht verbringen.
»Hach, du musst unbedingt einkaufen. Die hattest du alle schon an.« Klara gab ein Stöhnen von sich. Zum wiederholten Mal schob sie Helenes Garderobe von einer zur anderen Seite über die Kleiderstange.
»Es soll ja Leute geben, Mama, die ihre Sachen mehr als einmal tragen.« Helene hatte sich diese zynische Bemerkung nicht verkneifen können.
»Nicht in der Öffentlichkeit!« Klara bedachte ihre Tochter mit einem tadelnden Blick, bevor sie sich wieder dem Innern des Kleiderschranks widmete und hinzufügte: »Und wir sind nicht jene Leute, von denen du sprichst. Das weißt du sehr wohl.«
Helene sah von einer Belehrung ab. Es brachte nichts, ihr zu erklären, dass die meisten Menschen mit schwerwiegenderen Problemen beschäftigt waren als einem vollen Kleiderschrank. Sie strich sich das zerzauste Haar zurück und ging zum Fenster, blinzelte hinaus auf den schmalen Grat von Villen und herrschaftlichen Wohnsitzen der Kölner Oberschicht. Ein Frachtschiff fuhr den Rhein hinauf. Auf der anderen Uferseite blitzten zwischen einer grünen Mauer aus Bäumen und Sträuchern kleinere Gebäude des Stadtteils Poll hindurch. Schlichte Einfamilienhäuser, einfache Straßen, unaufdringliche Bauten, die für das Fischereiwesen ausreichten, für das das Viertel bekannt war. Von der linksrheinischen Seite aus gesehen eine völlig andere Welt.
»Bei dem Empfang heute wirst du das blaue Kleid tragen. Das gefällt deinem Vater doch so gut. Und da es sein Geburtstag ist, wirst du über den kratzigen Kragen hinwegsehen können.« Ihre Mutter strich mit der flachen Hand über die feine Seide, die sie auf die Récamiere gelegt hatte.
Helene brummte hinnehmend.
»Für den Abend dachte ich an das weinrote. Das mit der schwarzen Spitze. Was meinst du?«
Helene nickte gleichgültig und ohne sich vom Fenster abzuwenden.
»Katharina wird dir beim Ankleiden helfen«, sagte Klara, kam hinter ihre Tochter und rieb ihr über die Oberarme. »Du wirst hinreißend aussehen, Leni.«
»Das ist alles, was ich kann. Was ich können soll? Hinreißend aussehen.« Helene schüttelte niedergeschmettert den Kopf und starrte auf die gewellte Oberfläche des Rheins.
Klara entfuhr ein leiser Seufzer. Sie schien zu wissen, was sie bedrückte, sprach es aber nicht aus. Es war nicht ihre Art, über Dinge zu reden, an denen sie nichts ändern konnte. Stattdessen strich sie erneut über Helenes Arme.
»Ist das wirklich alles, was von mir erwartet wird? Nett auszusehen und eine gute Ehefrau abzugeben?« Helene schaute ihrer Mutter direkt ins Gesicht. Sie wollte wissen, ob sie davon überzeugt war.
»Ach, Liebes.« Klara legte ihre Hand an Helenes Wange und ließ sie darauf ruhen. »Wir sind nicht für das Werk der Männer geschaffen. Wir haben andere Qualitäten und Aufgaben. Jene, die nur wir erledigen können.«
Helene schaute ihrer Mutter skeptisch in die Augen. Diese hatte ihre Worte wenig überzeugend vorgetragen. Sie hatten geradezu phrasenhaft geklungen.
»Wir können alles tun, was Männer können, und noch mehr«, sagte Helene und hob ihr Kinn an.
Klara seufzte und die feinen Falten um ihre Augen wurden tiefer. Für einen Moment erhoffte Helene sich Zuspruch von ihr, einen Vorschlag, einen Ausweg aus ihrer Situation oder wenigstens eine Alternative zu Armin Langen. Allein der Gedanke, im selben Raum mit ihm zu sein, bereitete Helene Bauchschmerzen. Ihre Mutter öffnete leicht den Mund, als wolle sie etwas sagen, tat es aber nicht. Ihre Lippen schlossen sich fest und was auch immer sie hatte antworten wollen, blieb ihr Geheimnis. Sanft küsste sie Helene auf die Stirn. »Ich warte unten auf dich, Leni.«
*
Wie automatisiert erledigte Helene ihre Morgentoilette. Sie verzichtete auf das Frühstück, für das ohnehin keine Zeit mehr war, und ließ sich von Katharina beim Ankleiden und Frisieren helfen. Eine Stunde später betrachtete sie sich im Spiegel. Wie so oft in letzter Zeit erkannte sie sich nicht wieder. Sie kam sich vor wie eine Puppe, die nach dem Willen anderer tanzte, gefangen in einer stimmlosen Hülle.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie zusammenfahren.
»Wer ist da?«, fragte sie.
»Ich bin’s. Henri.« Die Stimme ihres Bruders heiterte sie schlagartig auf.
»Kommst du raus? Die ersten Gäste sind da. Adelheid und Louise fallen schon übers Büfett her. Wenn das so weitergeht, lassen die nichts übrig.«
Helene konnte ein Kichern nicht unterdrücken. »Haben sie wieder tagelang vorher gefastet?«
»Wohl eher Wochen«, erwiderte Henri mit aufgesetzter Ernsthaftigkeit.
Wieder musste Helene lachen. Feste wie dieses waren für ihre neidvollen Zwillingscousinen ein Schlaraffenland, in dem sie, im Gegensatz zu ihrer Dauerdiät im Alltag, haltlos schlemmten.
»Und noch etwas: Vater erwartet dich«, fügte Henri heiser hinzu. »Du solltest ihm gratulieren.«
Helenes Lachen verstummte und eine sekundenlange Stille trat an seine Stelle. Sie hatte kein Interesse daran, ihrem Vater gefällig zu sein. Geburtstag hin oder her. Henri schien genau zu wissen, warum sie nicht antwortete, und versuchte sie auf andere Gedanken zu bringen. »Ach, und Großtante Christel und Onkel Felix haben mich schon wieder belagert. Ich konnte seinem sich ewig wiederholenden Geschwafel vom Deutsch-Französischen-Krieg gerade so entkommen. Ich fürchte, ich falle noch ins Koma vor Langeweile. Du musst mir beistehen!«
Helene blickte ihrem Konterpart entgegen. Ein Grinsen ließ ihren Mundwinkel zucken. Henri wusste immer, wie er sie aufrichten konnte. Er war der einzige Lichtblick in ihrer von Disziplin regierten Familie. Trotz ihres Altersunterschiedes von sieben Jahren standen sie sich näher als er und Alfred. Gemeinsam hatten sie schon so manche schnöde Zusammenkunft der gehobenen Gesellschaft überstanden, für die sie beide nichts übrig hatten.
Helene wagte sich aus ihrem Zimmer.
»Oh, là, là, wie geschmackvoll.« Henri schaute angeregt an ihr hinunter.
Helene verpasste ihm einen Stoß in die Seite. »Deine Mutter zwang mich, das anzuziehen.«
»Nun ja, wenn ich mich recht entsinne, ist sie auch deine Mutter«, konterte er schmunzelnd. Sie rollte mit den Augen, dann hakte sie sich bei ihm unter. Henris Anwesenheit beruhigte ihr aufgeregt schlagendes Herz. Zusammen gingen sie die große Freitreppe hinunter.
»Du weißt, dass Vater heute seinen Rückzug aus dem Unternehmen verkünden will.«
Augenblicklich erstarrte Henris Miene. Kurz senkte er seinen Blick, dann nickte er knapp.
»Er will euch die Firmenleitung übertragen. Dir und Alfred.« Jene Worte gingen ihr nur schwer über die Lippen.
»Ich habe ihn nie darum gebeten«, antwortete Henri besonnen. Er wusste, wie sehr sich seine Schwester gewünscht hatte, in den Familienbetrieb einbezogen zu werden. Sie hatten oft genug davon gesprochen.
»Dann wirst du dein Kunststudium abbrechen?« Helene bemühte sich, gelassen zu klingen. Henri hatte endlich etwas gefunden, das ihm Freude bereitete. Weshalb sollte er es also einfach so hinter sich lassen?
»Darüber will ich mit Vater noch verhandeln«, sagte er leise.
»Du weißt sehr wohl, dass er nicht mit sich verhandeln lässt. Mir scheint, er ist fest entschlossen, die Träume von uns allen unter dem Familienwappen zu verscharren.«
Henri bettete seine Hand über ihre. »Es tut mir leid, dass er dich nicht berücksichtigt. Ich habe versucht, mit ihm darüber zu sprechen, wollte, dass er dich an meiner Stelle in die Geschäftsleitung bringt, aber …«
»Schon gut.« Sie rang sich ein Lächeln ab und merkte erst, dass ihr die Tränen in den Augen standen, als sie im Foyer angekommen waren. Rasch wischte sie sie unauffällig mit Mittel- und Zeigefinger fort.
Im weitläufigen Salon hatten sich die üblichen Gäste versammelt. Geschäftspartner, Großhändler, Mitglieder aus Politik und Wirtschaft und ausgewählte Familienangehörige. Ein Streichquartett spielte unaufdringliche Kammermusik, das Büfett erstreckte sich bis zum Wintergarten. Helene krallte sich am Arm ihres Bruders fest, sobald sie spürte, wie ihr Puls anstieg. Die vielen Menschen, die sie voller Neugier musterten, die kritischen Blicke der feinen Damen und die wertenden der Männer – das alles behagte ihr nicht. Manchmal glaubte sie, die Stimmen, die ihren Marktwert abschätzten, zu hören, als wäre sie nichts als ein weiteres Produkt aus von Ratscheks Süßwarenmanufaktur.
»Wehe, du lässt mich allein«, flüsterte sie dringlich in Henris Ohr und blickte sich verstohlen um.
Er grinste verschmitzt. »Ich weiche dir nicht von der Seite, Schwesterchen.«
Sie nickten mit einstudierter Freundlichkeit den Gästen zu und bahnten sich ihren Weg zu ihrem Vater, der gerade feierlich die dreistöckige Torte anschnitt. Umringt von eifernden Gratulanten mit Kuchentellern in den Händen.
»Herzlichen Glückwunsch, Papa!« Helene trat an ihn heran und ergab sich seiner kühlen Umarmung.
»Wie lieb, Lenchen. Ist sie nicht eine Augenweide?« Er wedelte mit dem Tortenheber und schaute in die illustre Runde. »Meine Tochter!«
Helenes Wangen wurden warm. Sie spürte das unangenehme Gefühl in ihrer Magengrube aufwallen, das sie immer dann überkam, wenn sie im Mittelpunkt stand. Ein Brennen, als hätte sie kochend heißes Wasser geschluckt.
»Ich bin wahrlich gesegnet mit meinen Kindern. Ist es nicht so?« Ihr Vater erntete erneut Kopfnicken und raunenden Zuspruch. Helene vermied es, die Umherstehenden anzusehen, und fixierte stattdessen ihn mit ihrem Blick. Am liebsten hätte sie gleich hier klargestellt, dass er einen schweren Fehler beging. Dass sie sehr wohl das Unternehmen führen könnte. Begriffe wie austauschbar und unwichtig schossen ihr durch den Kopf. War es das, was ihr Vater in ihr sah?
Ein dicklicher Mann mit Halbglatze schob sich zwischen sie und gratulierte Theodor von Ratschek überschwänglich. Es war Herr Klagenfurt, dessen kleine Süßwarenfirma kurz davor stand, von der Manufaktur von Ratschek geschluckt zu werden. Selbst an seinem Geburtstag sah ihr Vater nicht davon ab, Geschäfte zu machen. Seit Jahren kaufte er systematisch Konkurrenzbetriebe auf und stärkte damit seine monopolistische Stellung. Der arme Klagenfurt, dachte Helene, ob er wohl ahnte, was ihn erwartete? Beinahe hatte sie Mitleid mit ihm, doch sie erkannte auch ihre Gelegenheit, sich davonzustehlen. Langsam ging sie zum Schokoladenbrunnen, der in der Mitte des Raums, umringt von einem Bett aus Erdbeeren, stand und leise vor sich hin plätscherte.
»Was für eine Verschwendung.« Henri, der neben seine Schwester getreten war, sprach aus, was diese dachte.
Hinnehmend zuckte Helene die Schultern. »Mama hat darauf bestanden. Er ist von Stollwerck.«
Henri hob gespielt beeindruckt seine Brauen.
»Helene! Henri!« Auf der anderen Seite des Brunnens erschien eine dürre, ältere Dame in weißem Gürtelkleid. Unter ihrem kleinen Topfhut blitzten silberne Haarsträhnen hervor.
»Tantchen Astrid. Schön dich zu sehen!« Henri nahm ihre Hand und drückte ihr einen Kuss auf.
»Du Charmeur.« Sie errötete leicht, winkte ab und wandte sich Helene zu. »Wo soll das noch hinführen? Du wirst ja immer hübscher, Kind.«
»Danke«, sagte Helene und rang sich ein mattes Lächeln ab.
»Aber was ist denn? Das hier ist doch keine Beerdigung. Du wirkst bedrückt. Ist alles in Ordnung?« Astrids Blick ruhte prüfend auf ihrer Nichte. Sie hatte schon immer über ein feines Gespür für die Gefühlswelt ihrer Mitmenschen verfügt. Helene kannte niemanden, der empathischer und schwieriger zu täuschen war. Dennoch versuchte sie es.
»Es ist nichts. Ich bin nur etwas müde.«
Astrid runzelte leicht die Stirn. Theodors ältere Schwester war nicht nur bei Henri beliebt, auch Helene blickte zu ihr auf. Sie war emanzipiert, geistreich und ledig. Astrid lebte seit fast zwanzig Jahren mit ihrer französischen Freundin Laurie zusammen, die sich aus Prinzip von Gesellschaften wie diesen fernhielt. Helene war ihr noch nie begegnet. Für die Familie war Astrids Lebensmodell skandalös. Für Helene jedoch war ihre Tante ein Vorbild, weil diese ihr Leben so lebte, wie sie es für richtig hielt.
»Wir reden noch darüber. Wann immer du möchtest.« Astrid tätschelte liebevoll Helenes Arm, dann ging sie um den Brunnen herum und auf ihren Bruder zu, der noch immer mit Herrn Klagenfurt sprach.
Gelangweilt sah sich Helene um. Ihre Mutter war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie sich in die Küche zurückgezogen, um französischen Cognac in ihren Tee zu geben, ohne den sie den Vormittag nicht überstand. Zwischen den hohen Terrassentüren, die den Salon mit Licht fluteten, tickte die Standuhr aus Kirschbaum. Auf der anderen Seite hing das Porträt ihres Großvaters über dem Kamin. Johann von Ratschek blickte erhaben aus seinem verschnörkelten Rahmen auf die Gäste herab. Was er wohl von diesem unverhältnismäßigen Fest und den Entscheidungen seines Sohnes gehalten hätte? Helene betrachtete ihn nachdenklich. Nach allem, was ihr über ihn erzählt worden war, war er ruhig und bescheiden gewesen. Sie bedauerte es, ihn nicht kennengelernt zu haben.
»Sieh mal einer an.« Adelheids piepsige Stimme schreckte Helene auf. Wie aus dem Nichts waren ihre Cousinen aufgetaucht. Wie immer in aufeinander abgestimmter Mode. Die silbergrauen Fransenkleider sowie der passende Federschmuck ließen Helene spontan an Hühner denken.
»Wenn das nicht unsere Leni ist«, tönte Louise und schob sich eine schokoladengetränkte Erdbeere in den Mund.
»Bist du schon aufgeregt?«, fragte Adelheid.
»Wieso sollte ich aufgeregt sein?« Helene hatte keine Ahnung, warum die beiden sie belagerten und dabei so breit grinsten, als stünde eine Zirkusvorstellung bevor.
»Na, wegen … du weißt schon.« Louise machte sich nicht die Mühe, den Grund näher auszuführen.
Helene starrte sie an. »Nein. Leider nicht. Entschuldigt mich. Ich hab noch zu tun.«
Im Wintergarten suchte sie nach Ruhe und Einsamkeit. Sie war noch nicht lange unten und schon raubte ihr dieser Empfang die Nerven. Es waren immer dieselben Gesichter, die gleichen stumpfsinnigen Gespräche, in einem sich nie ändernden Ablauf.
»Sieh jetzt bloß nicht zur Tür.« Henri lugte zwischen den fächerförmigen Blättern einer Hanfpalme hervor. Unbedacht ignorierte Helene seine Warnung und wünschte sich umgehend, es nicht getan zu haben.
»Nicht doch!«, quäkte sie. Armin Langen hatte in Begleitung seiner Schwester den Salon betreten. Irene Langen war ebenso gestelzt, hager und rothaarig wie ihr jüngerer Bruder. Außerdem hatte sie dasselbe ausdruckslose Gesicht, das sich je nach Temperatur und Gesprächsthema krebsrot verfärbte. Bei vorangegangenen Begegnungen hatten Helene und Henri nur darauf gewartet, dass ein Langen-Gesicht seine Farbe wechselte, um sich darüber zu amüsieren. Doch heute war alles anders. Die unmissverständliche Andeutung, die ihr Vater ihr gegenüber gemacht hatte, verleitete Helene zur Flucht. Das Dienstbotenzimmer schien ihr ein geeigneter Ort zu sein. Geduckt trat sie aus dem Wintergarten heraus und schlich um den Brunnen herum, wo sie im Schatten der Schokoladenfontäne Deckung suchte.
Automatisch positionierte sich Henri vor ihr, doch es war zu spät. Armin Langen manövrierte sich bereits durch das Gemenge und schnitt ihr den Weg ab.
»Herr Langen!« Henri begrüßte ihn überfreundlich. »Wie nett, Sie zu sehen.«
Die beiden Männer schüttelten sich die Hände.
»Ja, Sie auch«, antwortete Langen trocken, dabei reckte er seinen Hals, um einen Blick auf Helene werfen zu können.
Henri folgte seinen Bewegungen, als wäre er sein Spiegelbild. »Wie läuft das Zuckergeschäft? Ich hörte, Sie investieren vermehrt in die Produktion von Zuckerrübensirup?«
»Da haben Sie richtig gehört.« Langen lächelte blasiert.
»Höchstinteressant! Beziehen Sie die Rüben aus der Grafschaft oder aus dem Ausland?«, fragte Henri hartnäckig weiter, um seiner Schwester einen Vorsprung zu verschaffen.
Helene versuchte, in Richtung Büfett zu entkommen, stieß jedoch mit einem properen Herrn zusammen.
»Verzeihung«, nuschelte sie.
»Aus der Grafschaft.« Langen wand sich mit einer Flinkheit um Henri herum, die diesen überrascht straucheln ließ.
»Fräulein von Ratschek!« Er sprach so laut, dass andere Gäste sich zu ihm umdrehten. Helene hatte keine andere Wahl, als es ihnen nachzutun.
»Guten Tag, Herr Langen.« Sie nickte ihm höflich zu und wollte sich bereits wieder zum Gehen wenden.
»Ich hatte gehofft, Sie heute wiederzusehen«, vereitelte er ihren Abgang. »Ich muss schon sagen, Sie sehen noch reizender aus als bei unserer letzten Begegnung. Und die war wahrhaft schwer zu überbieten. Diese Schmetterlingsflügel.« Er verzog anzüglich das Gesicht.
»Nun, wie nett von Ihnen, das zu erwähnen.« Helene lächelte krampfhaft.
»Darf ich Sie bitten, mich auf einen Spaziergang durch Ihren ergreifenden Garten zu begleiten?«, fragte er unverhohlen.
Ihr Mund öffnete sich unkontrolliert und ihr Herzschlag erhöhte sich. Fahrig überlegte sie, wie sie sich aus dieser Lage befreien konnte. Sie spielte die Unwissende. »Ergreifend, nun ja. Um ehrlich zu sein, ich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass Sie sich für Pflanzen interessieren.«
Kurz grübelte er offenkundig, was sie mit dieser Bemerkung bezweckte. Sie hatte auf seine Humorlosigkeit spekuliert. Bevor er etwas erwidern konnte, hatte sich aber ihr Vater zu ihnen gesellt. Er klopfte Armin Langen auf die Schulter, als wäre er bereits sein Schwiegersohn, und zog Helene neben ihn.
»Ein bisschen frische Luft kann nicht schaden, Helene«, befand er streng. Sie sah, wie Henri von ihr zu Langen schaute und betreten ein Champagnerglas in der Hand schwenkte. Widerwillig bewegte sie sich daraufhin zur Terrassentür und betrat vor Armin Langen den Garten. Draußen wehte ihr ein milder Wind entgegen. Sie stieg die Stufen der gepflasterten Veranda hinunter und setzte eilig auf den Steinweg über, der sich durch die Wiese schlängelte.
»Der Flieder blüht weiter unten«, eröffnete sie das Gespräch, weil er ihr zu aufdringlich wurde. »Es ist ein halber Wald in Lila und Weiß. Unser Vater ließ ihn bereits vor meiner Geburt anpflanzen. Der Duft ist ein Genuss.«
Er kam dichter an sie heran. Helene beschleunigte ihren Gang nochmals, doch er hielt Schritt.
»Meine Mutter liebt diese Pflanze«, betonte sie, als die insektenumschwirrten Bäume in Sichtweite kamen. »Was halten Sie von Flieder?«, fragte sie stockend und ohne sich nach ihm umzusehen.
»Zu penetrant«, antwortete er.
»Ah.« Es überraschte sie nicht, dass er sich nicht dafür begeisterte.
»Ich muss Ihnen sagen, dass ich nicht der Pflanzen wegen um diesen Spaziergang bat«, verkündete er ungeduldig.
Helenes Magen verkrampfte. Sie schluckte mühsam und erstarrte für einen Augenblick.
»Wie Sie vielleicht schon wissen, hege ich die Absicht, mich zu binden«, sagte Langen. Stoisch setzte sie weiterhin ein Bein vors andere, kam vorbei an leuchtend gelben Forsythien-Sträuchern und rosafarbenen Buschröschen, die bis zur abschüssigen Grundstücksgrenze reichten.
»Die Natur ist in dieser Jahreszeit wirklich ergreifend.« Sie pflückte eine Rose und roch daran, während sie weiterging.
»Ich gedenke schon bald eine eigene Familie zu gründen«, fuhr Langen gehetzt fort, und bemühte sich, zu ihr aufzuschließen.
Bitte nicht!, schoss es Helene durch den Kopf. Sie war an der Mauer angelangt, hinter der sich die Rheinpromenade erstreckte – eine Sackgasse.
»Nun ist es meine wohlüberlegte Absicht, eine Frau zu wählen, die meiner gesellschaftlichen Stellung entspricht«, keuchte Langen.
Langsam drehte sie sich um, schickte ihm einen kurzen, abwertenden Blick zu. »Ich glaube, ich habe genug frische Luft für heute. Ich werde wieder reingehen.«
»Fräulein von Ratschek!« Er ergriff ihre Hand, als sie an ihm vorbeigehen wollte und zwang sie auf diese Weise, ihn anzusehen.
»Seien Sie unbesorgt. Mit Ihrem Vater ist bereits alles besprochen.« Sein Blick tastete sich frivol über ihren Körper.
Helene erschauderte. Sie wollte ihm ihre Hand entziehen, doch er hielt sie mit einer Kraft fest, die sie ihm nicht zugetraut hatte.
»Verzeihen Sie, aber ich kann Sie nicht heiraten«, versuchte sie ihm klarzumachen.
»Sicher!«, zischte er leise. Ihre Gegenwehr schien ihn nur noch mehr zu reizen. »Dieses Temperament!« Säuselnd zog er sie zu sich. »Es ist alles längst verhandelt.« Seine Hand schob sich um ihre Taille.
»Lassen Sie mich los!«, forderte sie. In dem Moment begegneten ihnen zwei Damen und ein Herr, die sie verwirrt musterten. Langen ließ von Helene ab, doch sie war wie erstarrt.
»Schönen guten Tag«, grüßte Langen mit aufgesetzter Freundlichkeit und ließ die Gäste vorbeiziehen. Als sie außer Hörweite waren, kam er wieder nah an Helene heran. »Du wirst meine Frau werden! Es wäre besser für dich, du lernst schon mal, dich zu fügen.«
Noch einmal glitt sein Blick über ihre schlanke Figur, dann kehrte er mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht ins Haus zurück. Schockiert über sein schamloses Benehmen, blieb sie stehen. Aus irgendeinem Grund hatte sie geahnt, dass Langen keinen Anstand besaß. Doch der Vorgeschmack, den er ihr soeben gegeben hatte, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Er war ein Schwerenöter, ein Hitzkopf und besitzergreifend. Wie könnte sie jemals die Frau dieses Mannes werden? Ihr wurde schwindelig bei dem Gedanken an das Kommende und Tränen schossen ihr in die Augen. Ihre Zukunft schien festgeschrieben. Sie gehörte zum Firmeninventar ihres Vaters, der sie beliebig einsetzte. Ihr brannte das Herz in der Brust bei der Frage, ob er vom fragwürdigen Charakter seines Geschäftspartners wusste. Selbst wenn würde es wahrscheinlich keine Rolle für ihn spielen.
Niedergeschmettert sank sie auf eine der steinernen Bänke oberhalb des abfallenden Gartens mit Blick auf den Rhein. Der Fluss hatte schon immer eine tröstliche Wirkung auf sie gehabt. Doch nun wartete sie vergebens. Stattdessen nahm sie plötzlich etwas anderes wahr. Etwas, das sie mit dem Fluss verband. Der Rhein war nicht gefügsam. Er ließ sich von niemandem kontrollieren.
»Hier versteckst du dich also.« Alfreds Stimme holte Helene aus ihren Gedanken.
Sie bemühte sich, zu lächeln, als ihr ältester Bruder bei ihr haltmachte. Er war in Begleitung seiner Frau Eva, die sich atemlos an seinem Arm festhielt. Helene hatte immer schon gedacht, dass ihre Schwägerin ein nobles Antlitz besaß. Ihre Silhouette war äußerst feminin. Dazu hatte sie blondes Haar und grüne Augen mit goldfarbenen Sprenkeln, die jedes Mal dazu einluden, sie näher zu betrachten.
»Ich brauchte etwas Ruhe vor dem Trubel dadrinnen.« Helene ging den beiden entgegen.
»Genau wie ich.« Eva prustete angestrengt.
»Du siehst gut aus. Wann ist es so weit?« Helene deutete auf ihren vorgewölbten Bauch.
Eva winkte ab. »Hach, ich wünschte, es wäre schon da. Die Schwangerschaft empfinde ich als furchtbar anstrengenden Zustand.«
»Ich finde, es ist ein Wunder«, sagte Helene aufrichtig. »Du bist dabei, einem neuen Menschen das Leben zu schenken.«
»Es gibt kein größeres Glück, fürwahr.« Eva legte den Kopf schief und lächelte beseelt.
»Du wirst eine vorbildliche Mutter sein«, versicherte Helene.
»Danke. Lieb, dass du das sagst.«
»Frauen«, grummelte Alfred ungeduldig. »Lass sie drinnen nicht zu lange auf dich warten, Helene. Ich glaube, da hat jemand vor, etwas zu verkünden.«
Helenes Miene verfinsterte sich. Offenbar wusste jeder über die Verlobung mit Langen Bescheid.