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Mitten im geschäftigen London der 20er Jahre fällt eine junge Frau von einer Markise genau vor die Tür eines Blumenladens. Was niemand ahnt: Lunde ist eine verbannte Fee. Auf der Flucht vor dem König der Dunkelalben hat sie der Zufall genau an diesen Ort geführt, der ihr Zuflucht bietet. Die Verbannung kann nur gelöst werden, wenn sie die drei magischen Worte spricht. Der Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Finden die Verfolger die Fee oder findet sie die wahre Liebe?
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Seitenzahl: 341
feenzauber
Claudia Romes
Romantasy
Verlagshaus el Gato
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1. Ausgabe September 2016
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Lektorat: Andrea el Gato, Barbara Stücker
Cover-Gestaltung: Petra Rudolf
Verwendeter Font: freeware – © Apostrophic Labs
eBook-Produktion: Cumedio Publishing Services – www.cumedio.de
ISBN (Taschenbuch): 978-3-946049-01-2 ISBN (ePub): 978-3-946049-13-5
Lunde vom Dach
Seltsam vertraut
Voller Leben
Tief im Berg
Vertrauensfrage
Eine besondere Kundin
Eba und die Welt der Menschen
Zum Fressen gern
Jeder sollte eine gute Fee haben
Unter dem Sternenzelt
Eduard, dein Freund und Helfer
Der Wettbewerb
Kain und Mehan
Eine Maus für alle Fälle
Der schönste Tanz
Ein hinterlistiger Plan
Für die wahre Liebe
Maskenball
Kriorins Macht
Tückische Albenmagie
Trauer und Trotz
Sehnsucht
Ohne jeglichen Vorteil
Der letzte Funke
Die rote Markise
Epilog
Für Sarah,
die diese Geschichte als Erste gelesen hat
Für Emily, die ihr Leben einhauchte
Und für Fabian
Es war ein grauer, kühler Morgen. Ein Tag, der nach Regen aussah, und an genau so einem Tag trat Lunde hinaus auf Londons Straßen. Fröstelnd schnürte sie den Gürtel ihres Mantels zu und streifte sich die purpurfarbenen Handschuhe über. Der Nebel begann sich allmählich zu lichten und Lunde ahnte, dass sie heute vorsichtig sein sollte. Wie immer zog sie es vor, die Nebengassen zu nutzen. Viele Menschen waren an jenem Morgen sowieso nicht unterwegs, denn das feuchte Wetter brachte die Leute dazu, den Vormittag abzuwarten. In der Portobello Road bauten die ersten Händler gerade ihre Stände auf. Hinter den verschlossenen Türen der Herrschaften bereiteten sich die Dienstmädchen auf den täglichen Einkauf vor. Es war für alle ein ganz normaler Tag, aber nicht für Lunde. Seit dem großen Sturm ging sie nicht mehr allzu oft nach draußen. Die bunten Häuserfassaden, die Pferdekutschen im Park und das Feilschen der eifrigen Marktbesucher – das alles mochte sie nach wie vor. Allerdings konnten sich diese Eindrücke nicht mit ihrer Angst messen, von den Spürern erwischt zu werden. Auch heute überwog die Furcht, ließ sie innerlich zittern und gleichzeitig hoffen, dass es ihr gelingen würde, unauffällig zu den Schmieden zu kommen.
»Ganz ruhig«, piepste Spencer, der es sich in der Brusttasche von Lundes Mantel bequem gemacht hatte und dort ihre Anspannung nur allzu gut spürte. »Denk einfach daran, dass die letzten Male auch nie etwas passiert ist.«
Unmerklich nickte Lunde. »Das ist aber auch schon eine ganze Weile her.«
»Bleib ruhig und lass dir nichts anmerken. Wir sind so früh aufgebrochen, da ist bestimmt noch keiner der Spürer unterwegs. Du weißt doch, wie faul sie sind.«
Lunde nickte erneut. »Ja, faul, aber leider fleißig darin, unsereins zu finden.«
»Du weißt, das widerspricht sich, oder?«, fragte Spencer.
»In diesem Fall nicht.« Lunde hielt sich einen Zipfel ihres dunkelblauen Schals vor den Mund, während sie weitersprach: »Sie sind besessen davon, uns aufzuspüren – daher auch ihr Name. Ihr Wahn besiegt leider jede Art von Faulheit.«
Spencer erwiderte nichts. Sie bogen in eine Seitenstraße ein, denn es war der schnellste Weg zu den Schmieden. Lundes Herz raste bereits vor Aufregung. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen, dachte sie und senkte ihren Blick zu Boden. Es waren nur noch wenige Meter bis zu den Schmieden und Lunde spürte, wie sich ihr Puls in dem Glauben, bald angekommen zu sein, langsam wieder beruhigte. Sie konnte es kaum erwarten, endlich bei ihren guten Freunden Kain und Mehan zu sein. Bei ihnen fühlte sie sich stets sicher und gut aufgehoben. Rasch überquerte Lunde die Kreuzung, huschte über den Bordstein und für einen kurzen Moment hoben ihre Füße vom Pflaster ab. Leicht wie eine Feder ließ sie sich von der sanften Brise tragen, so, wie es nur eine Fee konnte. Für niemanden wäre diese Absonderlichkeit erkennbar gewesen. Für keinen, außer für die Spürer, die jegliche Kleinigkeiten innerhalb der Welt der Menschen genauestens beobachteten und penibel nach solchen Auffälligkeiten Ausschau hielten. Lunde sah sich nicht um, denn den gefährlichsten Teil des Weges hatte sie beinahe hinter sich gebracht und es gab nichts, das verdächtiger wirkte als eine junge Frau, die sich ständig nervös umblickte.
»Nur noch ein kleines Stück«, flüsterte Spencer und hopste vorfreudig in ihrer Tasche auf und ab.
»Hör schon auf damit, oder willst du etwa, dass jemand misstrauisch wird?« Lunde krümmte leicht ihren Rücken, um Spencers zarte Bewegungen unkenntlich zu machen. Plötzlich vernahm sie sich nähernde Schritte. Ein Schatten bewegte sich auf sie zu. Ihr war jemand auf den Fersen. Augenblicklich hielt Lunde inne und wandte sich unauffällig um. Sofort versteckte sie ihr Gesicht unter dem übergroßen Hut und dem Gesichtsschleier.
»Nein«, hauchte sie erschrocken, als sie ihren Blick nach vorn richtete.
»Ist er es?«, fragte Spencer.
»Ja«, flüsterte Lunde. »Was soll ich jetzt bloß machen?«
»Geh dahin, wo viele Menschen sind. Suche die Zerstreuung. Schau, der Bahnhof, King’s Cross!«
Lunde beschleunigte ihre Schritte und lief hastig die Treppe zum Bahnhofstor hinunter, während der Mann im langen schwarzen Mantel ihr folgte. Sie drängte sich eng an den Leuten vorbei, die auf dem Weg zur Arbeit waren. Das Zischen der Lokomotive erklang in ihren Ohren und vermischte sich mit dem lauten Getrampel hunderter Füße, die alle hastig ihrer Wege gingen. Der Gongschlag der Bahnhofsuhr ließ sie erschrocken zusammenzucken. Sie versuchte krampfhaft, sich nicht umzusehen, denn ihr Verfolger sollte nicht wissen, dass sie ihn erkannt hatte. Flink krabbelte Spencer auf ihre Schulter. »Er ist immer noch hinter uns«, ermahnte er sie.
Lunde schluckte schwer. »Es ist Drego, kein Zweifel. Wie hat er uns bloß finden können?« Lunde huschte an den vielen Menschen vorbei, ohne auch nur einen von ihnen zu berühren.
»Er muss dir bereits aufgelauert haben, als du zur Tür hinausgegangen bist.«
»Ich will, dass er verschwindet«, brummte Lunde.
»So viel Macht hast du nicht.«
Sie seufzte. »Ich weiß. Halt mir jetzt bitte keine Vorträge!«
»Hatte ich nicht vor«, entgegnete Spencer pampig.
Schnellen Schrittes ging Lunde an den Gleisen entlang und versteckte sich hinter einer Litfaßsäule. Dort lugte sie vorsichtig zwischen den Köpfen der Menschen hervor. Sie sah, dass Drego suchend seinen Hals reckte.
»Ich glaube, wir haben ihn abgehängt«, fiepte Spencer erleichtert.
»Wir sind ihm erst entwischt, wenn wir heil bei den Schmieden angekommen sind«, antwortete Lunde und ging durch das Hauptgebäude zum Ausgang. Rasch schloss sie die Tür hinter sich und lehnte sich schnaufend gegen die Hauswand.
»Keine Zeit für eine Pause«, ermahnte Spencer sie. »Wir müssen weiter!«
Lunde atmete angestrengt, setzte sich aber erneut in Bewegung. Mit klopfendem Herzen betrat sie ein menschenleeres Viertel, das von kleinen Geschäften gesäumt war. Der Nebel hatte sich gelichtet. Die Sonne drängte durch die starren Wolkengeflechte und Lunde spürte plötzlich ihren alten Freund, den Wind, auf der Haut. Sie hörte, wie er ihr etwas zuraunte, in seiner ganz eigenen Sprache. Einer Sprache, die nur von Feen verstanden werden konnte. Der Wind versuchte, Lunde zu etwas zu verführen, das sie seit langer Zeit nicht mehr getan hatte. Betörend flüsterte er ihr zu, wie sanft er sie davontragen würde, und dass ihr dort oben in den Lüften nichts und niemand etwas anhaben könnte. Mit seinen Worten sprach der Wind eine tief verborgene Sehnsucht an, die schon seit Langem in der kleinen Fee schlummerte. Nichts vermisste sie mehr als das Fliegen.
»Denk nicht einmal daran!«, schimpfte Spencer, der den Klang der Natur durchaus zu deuten wusste. »Deine Magie würde dafür sowieso nicht ausreichen!«
Verbissen versuchte Lunde, die Worte des Windes zu ignorieren, aber ihr ängstlich klopfendes Herz brachte sie immer wieder dazu, ihm zuzuhören.
Wie schön es doch wäre, jetzt einfach auf und davon zu schweben. Klein wie ein Schmetterling, beinahe unsichtbar fortzufliegen und frei zu sein.
Als sie Drego wieder hinter sich bemerkte, dachte sie nicht länger darüber nach, was sie tat. Mit einem leisen Knistern verwandelte sich Lunde in ein winziges Wesen. Glitzernd und grell zischte sie durch die Luft.
»Das wird nicht gut gehen«, polterte Spencer, der mit ihr auf Erbsengröße geschrumpft war.
»Es wird gut gehen«, hauchte Lunde zuversichtlich. Drego stand nun direkt unter ihnen. Wütend stampfte er mit einem Bein auf, als Lunde sich immer weiter vom Boden und somit auch von ihm entfernte. Der magische Feenstaub wirbelte um sie herum und hüllte sie in einen Mantel, der sie vor den Augen aller Menschen unsichtbar machte. Allein die Wesen der verborgenen Welt konnten sie noch sehen. Leider gehörten die Spürer zu ihnen. Obwohl sie nach ihrer Rebellion gegen die Lichterfeen für immer aus der verborgenen Welt verbannt worden waren und auch die Fähigkeit zu fliegen eingebüßt hatten, trugen die Spürer es immer noch in sich: das Feenblut! Dieses ließ sie auch nach Hunderten von Jahren nicht ruhen, den Weg zurück nach Hause zu finden. Für die Spürer, die im Feenreich einst den Namen Dunkelalben trugen, gab es nur eine Möglichkeit zurückzukehren. Weil sie selbst keine eigene Magie mehr besaßen, mussten sie diese stehlen. Sie spürten Feenwesen auf, die ebenfalls zu einem Leben unter den Menschen verurteilt worden waren. Im Gegensatz zu den Dunkelalben besaßen diese allerdings nach wie vor ihre Feenkräfte. Die Magie wurde ihnen als Chance gelassen, ihren einstigen Fehltritt wieder gutzumachen. Alle verbannten Feen hatten eines gemeinsam: Sie hatten einem Menschen ihre wahre Gestalt anvertraut und waren von ihm verraten worden. Nur wem es gelang, in dieser Welt die wahre Liebe zu finden, dem war es erlaubt, in die Heimat der Feen zurückzukehren. Aber wer brachte es schon übers Herz, nach einem solchen Verrat noch ein weiteres Mal Vertrauen in die Menschen zu setzen?
»Es funktioniert! Wir fliegen tatsächlich vor Drego davon«, jubelte Spencer.
»Vielleicht haben sie mir ja vergeben und ich darf wieder heim.« Lunde machte ein paar kräftige Flügelschläge. Es tat gut, den Wind zwischen den Flügeln zu spüren und wieder diejenige zu sein, die sie eigentlich war. Sie stieg höher und höher. Schon bald war sie über den Dächern der Stadt angekommen. Ihre winzige Erscheinung glitzerte im Tageslicht und sie nahm einen tiefen, erleichterten Atemzug. Überglücklich breitete Lunde ihre Arme aus, um die Sonnenstrahlen willkommen zu heißen, die als Kinder des großen gelben Feuerballs zu ihr sprachen. Der leichte Stoff ihres Kleides aus seidigen Blüten umspielte den kleinen Körper und sie fühlte sich wie neu geboren.
»Erfreue dich an der Wärme der Herrin des Tages und an dem Lied des Windes, das dich trägt«, summten die Kinder der Sonne und Lundes Herz machte einen freudigen Sprung. Wie sehr hatte sie das Fliegen vermisst und wie hatten ihr die Elementargeister, die natürlichen Freunde einer Fee, gefehlt. An den Spürer Drego, der beharrlich auf der Erde auf sie wartete, dachte sie schon gar nicht mehr. Die Wolken winkten ihr fröhlich zu und die Schwalben zwitscherten eigens für sie ein Lied. Zufrieden blickte Lunde zur Sonne, die eine dicke Wolke aus ihrem Sichtfeld pustete und sich an die kleine Fee wandte, die direkt vor ihr umherschwirrte.
»Lunde, was tust du hier oben?«, fragte die Sonne vorwurfsvoll. »Du weißt doch, du solltest nicht hier sein.« Kurz nachdem die Sonne ihre letzten Worte geäußert hatte, fing Lundes Gestalt an zu flackern.
»Oh je!«, brach es aus Spencer hervor, der genau wusste, was ihnen jetzt bevorstand. Wie eine defekte Glühbirne begann Lunde zu knacken und zu flimmern. Mit einem leisen Plopp verschwanden ihre Flügel und sie stürzte strauchelnd hinab in die Tiefe. Verzweifelt klammerte sich Spencer an sie. Während sie fielen, wuchsen beide wieder auf ihre vorherige Größe heran. Sie wären auf dem Pflaster aufgeschlagen und vermutlich wie menschliche Wesen gestorben, hätte der Blumenladen unter ihnen in diesem Moment nicht gerade zufällig seine Markise ausgefahren. So landeten Lunde und Spencer weich und unbeschadet auf dem Vordach.
»Das hast du nun von deinem Versuch«, schimpfte Spencer. »Ich wusste gleich, dass das nicht gut geht.«
Lunde seufzte traurig. Verdrossen blickte sie an sich hinunter. Sie hatte wieder ihre menschliche Gestalt angenommen. Viel zu kurz war der Ausflug zu ihrem eigentlichen Ich gewesen, aber sie hatte ihn dennoch sehr genossen.
»Na prima«, jammerte Spencer und klopfte sich den restlichen Feenstaub vom Fell. »Mit dieser Aktion hast du bestimmt deine letzte Magie verbraucht. In dieser unmöglichen Stadt wird es eine ganze Weile dauern, bis die Kräfte wieder aufgetankt sind.«
»Nun hör schon auf, so miesepetrig zu sein. Uns ist ja nichts passiert, das ist das Wichtigste.« Lunde lag steif wie in einer Hängematte auf der roten Markise.
»Ich traue mich überhaupt nicht hinunterzusehen. Meinst du, er ist noch da?«, fragte sie ängstlich.
Spencer hopste an den Rand des ausfahrbaren Vordaches, um sich zu vergewissern. »Ich kann niemanden sehen«, sagte er zunächst, doch dann bemerkte der Mäuserich einen Schatten und kam ins Stottern. »Da ist jemand, direkt unter uns.«
Rasch versteckte er sich wieder in Lundes Brusttasche und zitterte so sehr, dass sich ihr ganzer Mantel bewegte.
Lunde stockte der Atem. Krampfhaft versuchte sie, sich ruhig zu verhalten.
»Was ist das?«, fragte eine männliche Stimme, die ihr vollkommen unbekannt war.
»Ich weiß es nicht«, antwortete eine zweite Stimme. »Es sieht aus, als wäre jemand auf der Markise.«
»Soll ich sie wieder einfahren?«
»Nein, dann fällt er herunter. Geh von oben aus nachsehen!«
Wenig später hörte Lunde, wie das Fenster über ihrem Kopf geöffnet wurde. Besorgt schaute sie auf. Ein junger Mann beugte sich zu ihr hinunter. Als er die hübsche Frau auf dem Vordach erblickte, lächelte er freundlich.
»Ist es ein Bettler?«, fragte die Stimme von unten nach.
Der junge Mann schüttelte den Kopf und grinste. »Es ist ein Mädchen!«
»Aha!«, tönte es verblüfft von unten.
»Geht es Ihnen gut?« Der junge Mann wandte sich an Lunde, die erleichtert ausatmete, weil es nicht Drego war, der sie gefunden hatte.
»Sie sind wohl vom Dach gefallen«, mutmaßte der Mann und seine hellblauen Augen strahlten sie seltsam vertraut an. »Am besten, Sie kommen da runter. Es ist ein Wunder, dass Sie nicht durchgebrochen sind. So dick ist der Stoff nämlich nicht.« Er reichte Lunde seine Hand. Vorsichtig rappelte sie sich auf und streckte ihm ihre Hand entgegen. Als beide sich berührten, knisterte es leise.
»Oh«, sagte der Mann und lachte verhalten. »Einer von uns ist wohl elektrostatisch aufgeladen. Mein Name ist David. David McKenna. Und Sie heißen?«
»Lunde.«
Er runzelte erstaunt die Stirn. »Lunde«, wiederholte er klangvoll. »Ein interessanter Name. Ziemlich selten, oder?«
Sie nickte zaghaft. »Ja, das ist er.«
»Darf ich?«, fragte er.
»Sicher.«
Er umfasste ihre schmale Taille und hob sie durch das Fenster hinein ins Haus. Drinnen standen sich beide eine Weile schweigend gegenüber. Lunde gefiel Davids dunkelbraunes Haar, es erinnerte sie an den Stamm eines blühenden Haselnussbaumes im Frühling. Auch sie schien ihm zu gefallen. Er, der sonst immer etwas zu sagen wusste, war plötzlich um jegliche Worte verlegen. »Sie haben sich doch nicht wehgetan, oder?«, fragte er schließlich.
Lunde schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht.«
Die Tür wurde aufgerissen und ein dicklicher kleiner Mann mit weißem Schnurrbart betrat den Raum. »Was hatten Sie denn auf dem Dach verloren? Das hätte böse enden können!«, polterte er und zog eine zornige Schnute, bei der sich sein Schnäuzer aufdringlich nach vorne schob.
David seufzte. »Paps? Darf ich vorstellen? Lunde. Lunde, das ist mein Vater Berti.«
»Sehr erfreut«, raunte dieser mit einer angedeuteten Verbeugung. »Lunde. Merkwürdiger Name. Ist das Finnisch oder so etwas?«
Lunde hatte keine Ahnung, was er meinte. Sie nickte einfach und er wirkte zufrieden.
»Also Lunde ... und weiter?« Fragend sah er abwechselnd zu seinem Sohn und dem ihm unbekannten Mädchen. David zuckte die Achseln und blickte erwartungsvoll in das Gesicht der jungen Frau, die er soeben vom Vordach gerettet hatte.
»Na bravo«, scherzte Berti. »Haben Sie etwa keinen Nachnamen?«
Lunde machte große ratlose Augen. Sie wusste nicht, was ein Nachname war. Ihrer Meinung nach reichte der eine Name vollkommen aus.
»Die Lunde vom Dach also. Dann wäre das ja geklärt.« Berti grunzte amüsiert, klopfte seinem Sohn auf die Schulter und drehte den beiden den Rücken zu. »Wenn du hier fertig bist, kannst du ja die Bestellung von Ms Pulman erledigen. Ein Kranz aus bunten Rosen, wie jedes Jahr«, sagte er, bevor er die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ und die Treppe hinunter zurück in den Laden eilte.
»Ich muss mich für ihn entschuldigen«, sagte David und machte einen Schritt auf Lunde zu. »Er hat manchmal einfach keine Manieren, aber im Grunde ist er ein herzensguter Mensch.«
»Das glaube ich Ihnen. Machen Sie sich keine Sorgen, ich fand ihn sehr nett.« Sie lachte leise.
»Ich vermute, wir sind etwa im gleichen Alter?« Fragend hob David eine Augenbraue.
Lunde zögerte. Es dauerte eine Weile, bis sie verstanden hatte, worauf er hinaus wollte. Rasch nickte sie. »In etwa.«
»Wenn Sie mögen, können wir das Sie gerne weglassen. Ich fühle mich immer etwas unwohl, wenn mich Leute in meinem Alter so förmlich anreden.«
»Das geht mir genauso«, sagte Lunde und dachte daran, dass es diese Förmlichkeiten in der verborgenen Welt gar nicht gab. Sie waren etwas, das die Menschen geschaffen hatten, um sich gegenseitig auf Distanz zu halten. Sie spürte seinen lang anhaltenden Blick auf sich. David ließ seine Augen noch eine Weile auf ihr ruhen.
»Was ist denn hier los?«, piepste Spencer, als ihm das Schweigen zu lange dauerte, und er steckte vorwitzig seine spitze Schnauze aus der Tasche.
»Oh mein Gott!«, schrie David, als er das Tier an Lunde entdeckte. »Eine ... eine Maus!« Panisch rettete er sich auf einen der Salonsessel hinter ihm. Schnell schob Lunde den Mäuserich zurück in ihre Tasche.
»Das ist doch nur Spencer!«
»Spencer?«
»Ja, er ist mein bester Freund.«
»Du meinst, er ist dein Haustier?«
»Nein.« Sie räusperte sich. Sie hatte vergessen, dass Menschen Tiere nicht als gleichberechtigt ansahen. »Nun ja, im Grunde ist er schon so etwas wie ein Haustier.«
»Unverschämtheit!«, hörte sie Spencer meckern und gleich darauf wurde es warm und nass an ihrer Bluse. Lunde kniff die Augen zusammen. Sie wusste, wie sensibel Spencer in diesem Punkt reagierte. Um in der Menschenwelt nicht aufzufallen, mussten jedoch einige Anpassungen getroffen werden. Darin waren sie sich normalerweise immer einig gewesen. Seine Überreaktion schob sie auf die Tatsache, dass sie ihn mit der Haustierbezeichnung an diesem Tag bereits zum zweiten Mal als Mitentscheidenden ignoriert hatte. Sobald sie zurück in ihrer Wohnung wären, würde sie es mit einem extragroßen Stück Schweizer Käse wieder gutmachen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch nicht darüber nachgedacht, wann eine Rückkehr in ihre Wohnung überhaupt möglich wäre. Die Spürer standen bestimmt Wache vor dem Haus. David murmelte ein verzögertes: »Ach so«, und stieg schließlich vom Sessel herunter. Kritisch betrachtete er den dunklen Fleck auf Lundes Bluse. »Deine Maus scheint nicht ganz stubenrein zu sein.«
Lunde sah an sich hinunter. Der nasse Klecks bedeckte fast die gesamte rechte Seite. Das Ganze roch dazu noch sehr streng. Sie rümpfte die Nase und machte ein schockiertes Gesicht. David wirkte leicht angeekelt. »Ich sehe mal nach, ob ich etwas Passendes für dich zum Umziehen finde. Kleinen Moment, ich bin gleich wieder da.«
Sie lauschte seinen davoneilenden Schritten und schnaubte dann laut.
»Spencer!«, tadelte sie ihn, nachdem sie sicher war, dass David sie nicht mehr hören konnte. »Das war wirklich nicht nett von dir!«
Spencer, der mittlerweile auf den Fußboden gehüpft war, hielt sich den Bauch vor Lachen.
»Also ich finde das nicht besonders witzig!«, zischte Lunde.
»Ich aber!«, gackerte der Mäuserich und amüsierte sich so königlich, dass ihm Tränen aus den Augen liefen.
»Wie viel hast du bloß getrunken?«, fragte sie und tupfte sich das Mäusepipi mit einem Taschentuch ab.
»Der Milchnapf von Ms Teacups Kater war heute Morgen bis zum Rand gefüllt.«
Lunde verdrehte die Augen. »Du sollst ihm doch nicht die Milch stibitzen. Du könntest dabei erwischt werden!«
»Du hast gut reden«, zischte er. »Tust so, als wäre mit deinen Kräften noch alles in Butter und hebst mitten in London ab, als wären wir im Feenreich. Und jetzt? Schau dich doch mal um. Du kannst von Glück reden, dass diese Menschen recht einfältig sind und dir abgekauft haben, dass du nur ein tollpatschiges Mädchen bist, das vom Dach gefallen ist.«
»Sie sind nicht einfältig«, murmelte Lunde mit gesenktem Blick.
Spencer horchte auf. »Na toll, du magst ihn also. Hätte ich mir ja denken können. Aber merke dir eins: Ich bin nicht mit dir aus der verborgenen Welt an diesen trostlosen Ort gekommen, damit du noch einmal denselben Fehler begehst und einem von diesen treulosen Menschen dein Geheimnis anvertraust. Das mache ich nicht mit!«
»Ist ja schon gut«, unterbrach Lunde ihn genervt. »Ich habe daraus gelernt. Ich werde vorsichtig sein.«
Spencer seufzte schwerfällig. »Ach Lunde, du viel zu gute Fee. Dein unerschütterlicher Glaube an die Menschen wird dich noch Kopf und Kragen kosten. Reicht es nicht, dass wir hier sind und ständig vor den Spürern flüchten müssen? Was soll ich nur mit dir machen?«
Der Mäuserich stellte sich vor Lunde und blickte sie mit seinen niedlichen Knopfaugen an. Sie beugte sich zu ihm hinunter und strich ihm über das Köpfchen. Zärtlich schmiegte er sich an ihre Hand.
»Ach du, mein bester Freund und Beschützer, was würde ich nur ohne dich tun?« Sie drückte ihm einen Kuss zwischen die Mäuseohren und richtete sich auf. »Das mit dem Haustier tut mir leid. Kannst du mir noch einmal verzeihen?«
Der Mäuserich nickte. »Schon vergessen.«
Schritte im Flur ließen erahnen, dass David gleich zurück war.
»Schnell, unter den Sessel!«, befahl sie und Spencer huschte davon.
»So.« David kam mit einem langen türkisfarbenen Kleid zurück, das mit einem rosafarbenen Blumenmuster bestickt war.
»Es ist ein bisschen altmodisch, aber es müsste ungefähr deine Größe sein.«
»Es ist hinreißend!«, schwärmte Lunde und strich mit der flachen Hand über den teuren Stoff.
David wirkte positiv überrascht. »Ach wirklich? Findest du? Nun, es gehörte meiner Mutter.«
»Trägt sie es nicht mehr?«
Traurig betrachtete David das Kleid. »Sie braucht es nicht mehr. Meine Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben.«
Augenblicklich entschwand Lundes Bewunderung. Sie ließ die Hand sinken, mit der sie den feinen Stoff begutachtet hatte, und blickte wehmütig zu David auf.
»Das tut mir unendlich leid.«
»Mir auch«, sagte er seufzend, ließ sich rücklings auf den Sessel sinken und vergrub das Gesicht in seinen Händen.
»Geht es dir gut?« Sie kniete sich mitfühlend neben ihn. »Ich weiß, wie es ist, wenn man jemanden vermisst.«
Er hielt eine Hand vor die Augen, als wollte er vermeiden, dass sie seine Tränen sah. »Hast du deine Mutter auch verloren?«, fragte er mit tränenerstickter Stimme.
Lunde ließ die Schultern hängen. »Ja, meine ganze Familie genau genommen.«
»Oh«, stieß er schniefend hervor. »Das ist ja schrecklich! Und ich heule dir hier etwas vor.«
»Nein, das ist schon in Ordnung. Bei mir ist es anders. Es ist nicht so, dass sie tot sind, ich darf nur nicht mehr bei ihnen sein.«
David holte bestürzt Luft und legte seine Hand auf die von Lunde. »Sie haben dich also von der Familie ausgeschlossen?«
Sie nickte bekümmert.
»Warum?«
»Das ist eine lange Geschichte. Aber es ist jetzt auch egal. Ich bin gerade dabei, mir ihr Vertrauen wieder zu verdienen.«
David betrachtete Lunde, als versuchte er, aus ihren Worten schlau zu werden. Unwillkürlich biss sich die Fee auf die Unterlippe. Hatte sie etwa schon wieder etwas gesagt, das die Menschen zum Schmunzeln brachte, weil es sich so anhörte, als wäre sie nicht von dieser Welt? Rasch tat Lunde seine ratlose Miene mit einem Kopfschütteln ab und rappelte sich vom Boden auf.
David räusperte sich. »Es tut mir leid. Eigentlich will ich niemandem von Mutter erzählen und ich habe mich auch damit zurückgehalten – bis jetzt. Ich weiß nicht, warum ich vor dir geweint habe. Das ist noch bei niemandem vorgekommen. Du musst mich für unglaublich übersensibel halten.« Auch er stand vom Sessel auf.
»Unsinn«, sagte Lunde. »Eine geliebte Person zu vermissen, daran ist doch nichts falsch, und Tränen zu zeigen bedeutet, dass man seine Gefühle nach außen lässt. Das ist ein Zeichen von Liebe. Ich bin sicher, du hast ihr unglaublich viel bedeutet.«
David schaute Lunde an, als hätte sie ihm soeben aus der Seele gesprochen. Eine Weile stand er nur da und ließ die Tränen an seinen Wangen trocknen, dann zog er die Nase hoch. »Ich lasse dich jetzt mal alleine, damit du dich umziehen kannst.«
Lunde nickte dankend.
»Wenn du fertig bist, kannst du runterkommen. Ich bin im Laden.« Verwundert über seine Wortwahl hielt er inne. Er sah sie an und ihre Augen funkelten seltsam vertraut. Unmerklich schüttelte er den Kopf und ging zur Tür hinaus. Er glaubte, sie zu kennen. Ein unerklärliches Gefühl stieg in ihm auf – als wäre sie bereits immer Teil dieses Hauses gewesen. Es kam ihm völlig verrückt vor, aber er konnte es kaum abwarten, ihr den Laden zu zeigen.
Hinter der geschlossenen Tür atmete Lunde erleichtert aus.
»Ach herrje, das war knapp.« Spencer kroch unter dem Sessel hervor und wischte sich über die Stirn. »Um ein Haar hättest du dich verraten.«
»Rede nicht so einen Quatsch«, protestierte die Fee. »Ich wusste ganz genau, was ich sage. Nichts davon hat ihn misstrauisch gemacht.«
»Außer, dass er dich jetzt für eine junge Frau hält, die aufgrund ihres Verhaltens komplett aus der guten Gesellschaft ausgeschlossen wurde. Wer weiß, was er jetzt über dich denkt?«
Lunde schüttelte energisch den Kopf. »Ist mir egal, was er von mir denkt. Wenn er so oberflächlich sein sollte, interessiert mich seine Meinung sowieso nicht! Aber er ist bestimmt nicht so. Das weiß ich!«
Sanft pustete sie auf das Kleid, sodass es über sie schwebte.
»So so, du weißt also, dass er weder oberflächlich noch einfältig ist?«, fragte Spencer.
»Genau. Ich weiß es einfach!« Mit einem kurzen Fingerschnippen hatte Lunde ihre Bluse und den Rock abgelegt. Das türkisfarbene Kleid regnete auf sie herab und passte sich perfekt ihrem Körper an. Sorgfältig zupfte sie es zurecht und öffnete ihren Dutt. Durch die Landung auf der Markise sah ihre Frisur vollkommen zerrupft aus.
»So ist es viel besser!«, sagte Lunde zu sich selbst, als sie vor dem langen Spiegel stand. Intensiv betrachtete sie ihr Spiegelbild, das eine strahlend schöne Frau Anfang zwanzig mit gelocktem langen blonden Haar zeigte. Leuchtende Augen blickten ihr entgegen, die sie an das frische Grün des Frühlings erinnerten. Einen Moment lang musterte Lunde sich kritisch in dem Kleid, das einst Davids Mutter gehört hatte. Sie fragte sich, was für eine Frau sie wohl gewesen war.
»Gar nicht mal so schlecht. Oder was meinst du, Spencer?« Lunde spitzte ihre hellroten Lippen, während sie sich aufmerksam von allen Seiten begutachtete.
»Hab schon Schlimmeres gesehen.« Entschlossen marschierte er zur Tür, doch Lunde hielt ihn mit einem Fuß zurück.
»Du kannst jetzt nicht mit. Dieses Kleid hat keine Taschen oder sonst etwas, worin du dich verstecken könntest.«
Beleidigt verschränkte der Mäuserich die Pfoten vor der Brust. »Und was soll ich solange machen?«
»Du wartest hier auf mich. Ich komme gleich wieder und hol dich ab.«
Spencer grummelte vor sich hin, aber Lunde hörte nicht auf ihn. Sie musste sich erst einmal vergewissern, in was für einem Geschäft sie gelandet waren. Erst dann konnte sie entscheiden, ob es für eine Maus unbedenklich war, hier herumzulaufen.
»Hör auf, mich so anzusehen!«, sagte Lunde, als sie durch die Tür trat und den schmollenden Spencer hinter sich zurückließ. Dieser dachte jedoch gar nicht daran, auf sie zu hören. Auf leisen Pfoten schlich er durch den Türspalt, als Lunde gerade nicht hinsah, und flitzte die Treppe hinunter, noch bevor sie etwas davon mitbekommen konnte. Lunde war schrecklich aufgeregt. Sie fragte sich, ob sie David in diesem ganz besonderen Kleid gefallen würde. Im Flur legte sie noch einmal eine Haarlocke auf ihrer Schulter zurecht, bevor sie die ersten Stufen hinunterstieg. Oben auf dem Treppenabsatz blieb sie einen Moment stehen. Lunde schloss die Augen und sog den Duft von Narzissen, Lavendel, Rosen und Flieder in sich hinein. Es war eine Wohltat für sie, jene Gerüche wahrzunehmen. Fast wie zu Hause, dachte sie, als sie die Augen langsam wieder öffnete. Sie ging weiter hinab. Unten erstreckte sich ein großer heller Flur, der in zwei Richtungen abzweigte. Links war eine Tür aus weißem Holz und rechts eine Pforte aus Glas. Reiche Verzierungen waren darauf angebracht. Ein bunter Pfau thronte über der leuchtend roten Aufschrift: Bertis Blumenparadies. Dahinter lag der Ursprung des wunderbaren Blütendufts. Schnurstracks ging Lunde auf die Glastür zu und drückte die Klinke hinunter. Als sich die Tür öffnete, staunte sie erst einmal nicht schlecht, sodass Spencer erneut unbemerkt an ihr vorbeihuschen konnte. Er rannte zwischen den vielen reich gefüllten Vasen von unterschiedlicher Größe hindurch und versteckte sich sofort wieder. Lunde betrat einen lichtdurchfluteten Raum, in dem ihr ein Meer aus Blumen begegnete. Hier war der unverkennbare Duft ihrer Heimat zu Hause: Sonnenblumen, Rosen in allen Farben, Veilchen, bunte Gerbera, Hortensien und Nelken. Schmuckkörbchen in sämtlichen Farben bedeckten die Fläche. Lunde spürte, wie sich ihre Magie zu regenerieren begann und das Feenblut in ihren Adern leicht aufglühte. Vor lauter Glück wusste sie gar nicht, wohin sie zuerst sehen sollte. Sie war so damit beschäftigt, nach ihren Freunden, den Blumen, zu schauen, dass sie gar nicht bemerkte, als David hinter der Kasse hervortrat.
»Herrlich, oder?«, fragte er und nickte stolz.
Lunde fehlten die Worte. Sie stand einfach nur da und bewunderte die duftende Pracht vor sich.
»Du siehst übrigens wunderschön aus in dem Kleid«, sagte David, der seine Augen nicht von ihr abwenden konnte.
Lunde spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg und ihre Wangen puterrot anliefen. »Danke«, hauchte sie. »Das ist lieb von dir.«
Beide sahen sich lächelnd an und auch David errötete ein wenig.
»Ein wahrlich zauberhafter Laden«, brachte Lunde stotternd hervor.
Bescheiden faltete David die Hände hinter seinem Rücken. »Das Blumengeschäft hat einst mein Großvater eröffnet. Er liebte die Natur.« Er holte eine rote Rose aus einer der Vasen, schnitt sie an und steckte sie Lunde hinters Ohr.
»Er wuchs auf dem Land auf und kam in die Stadt, um Geld zu verdienen. Doch die unberührte Landschaft hat er immer vermisst. Durch den Laden hat er sich ein Stück Natur mitten in die Stadt geholt. Wenn das nicht clever ist!«
Lunde lächelte verhalten.
»Nun«, fuhr Berti fort, der soeben aus einem Nebenraum dazugekommen war: »Seitdem sind wir hier und versorgen Londons Bürger mit frischen Blumen. Selbst König George kauft bei uns ein.« Er griff nach einem braunen Notizbuch und blätterte darin herum. »Hier, sehen Sie?« Stolz deutete er auf eine Bestellung von dreihundertzwanzig Weihnachtssternen für den Buckingham Palast. Unterschrieben war die Anforderung mit: i. A. von Eurer Majestät König George, der Sechste von England.
»Wirklich beeindruckend«, rühmte Lunde.
»Gib nicht immer so an«, maulte David und riss seinem Vater das Buch aus den Händen. Unauffällig ließ er es unter der Ladentheke verschwinden.
Sein Vater sah ihn mürrisch an. »Wir müssen uns wegen nichts verstecken.«
David nickte genervt und Berti wandte sich wieder an Lunde: »Er stellt sich nicht gern in den Vordergrund.«
Wortlos lächelte sie.
»Wie weit bist du mit dem Kranz für Ms Pulman?«, fragte Berti seinen Sohn.
»Habe gerade angefangen.«
»Achte darauf, dass du ihn dieses Mal etwas fester bindest und mehr Farben verwendest. Du weißt ja, wie sie ist.«
David nickte erneut. »Ich gebe mir Mühe.«
»Er muss morgen früh fertig sein. Sie kommt gegen neun, um ihn abzuholen.«
»Ist gut.«
Ein plötzliches Poltern unterbrach das Gespräch. Lunde, David und Berti wandten sich zu dem Geräusch von zerbrechendem Porzellan und entdeckten den Kopf eines braunen Frettchens zwischen einem Bund Margeriten. Die weißen Blüten hafteten zwischen seinen Ohren. Völlig unbeeindruckt von dem angerichteten Chaos posierte das Tier vor einem schmalen Spiegel, der im Verkaufsraum angebracht war.
»Seh ich nicht einfach bezaubernd aus?«, sprach es in lieblicher Stimme zu sich selbst, in der Annahme, dass es niemand verstehen könnte.
»Oh ja«, antwortete Lunde prompt. »Wirklich bezaubernd!« Ruckartig drehte sich das Frettchen um und starrte verblüfft auf die kleine Fee, die mitten im Blumenladen stand und wie ein Mensch aussah.
»Du garstiges Vieh!«, schrie Berti und spurtete mit einem Besen bewaffnet auf das Tier zu. Blitzschnell raste das Frettchen durch das Geschäft und hinterließ eine Spur aus Margeriten. Schließlich krabbelte es Davids Hosenbein hinauf und krallte sich zitternd in dessen Nacken fest.
»Au«, maulte David. »Eduard, jetzt benimm dich!«
»Ich hab dir doch gesagt, dass er hier unten nichts zu suchen hat.« Berti positionierte sich kampfbereit mit dem Besen in der Hand vor seinem Sohn.
»Ist ja schon gut, ich werde ihn wieder nach oben bringen. Komm schon, Eduard.« David löste das Tier von seinem Pullover und setzte es auf dem Fußboden ab. »Nun mach schon, Eduard«, forderte er nachdrücklich, als das Frettchen wie gebannt auf Lunde sah, die ihren Zeigefinger an die gespitzten Lippen führte und ihm mit einem leisen »Psst« signalisierte, dass niemand erfahren dürfte, dass sie die Sprache der Tiere verstand. Eduard hob arrogant sein Kinn in die Luft und stolzierte dann langsam hinter David her.
»Hach«, prustete Berti und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Es ist wirklich kein einfaches Haustier, das sich der Junge da ausgesucht hat. Tut mir leid wegen der Unannehmlichkeiten. Eduard hat hier unten nichts zu suchen, normalerweise hält er sich auch daran, aber es ist, als hätte ihn irgendetwas heruntergelockt. Na ja, wie dem auch sei.«
Misstrauisch schaute sich Lunde um. Sie ahnte, welches Wesen das Frettchen in den Laden geführt hatte. Es war klein und rundlich, mit großen Ohren, einem weichen Fell und einem langen Schwanz. Aufmerksam ließ sie ihren Blick zwischen den Blumen umherschweifen, um ihren tierischen Freund ausfindig zu machen.
»Was hast du heute noch vor, Lunde vom Dach?«, fragte Berti, als er sich wieder beruhigt hatte. Er wollte sie mit ihrem neuen Spitznamen aufziehen, doch Lunde ging nicht darauf ein.
Sie zuckte lediglich mit den Schultern. »Vielleicht könnte ich hier bei euch arbeiten? Ich liebe Blumen!«
Geschickt umging Berti nun jegliche Förmlichkeit. Für ihn war Lunde fast noch ein Kind, immerhin hätte sie vom Alter her seine Tochter sein können.
»Hast du schon einmal in einem Blumengeschäft gearbeitet?«, hakte er nach.
Lunde schüttelte den Kopf.
»Mmh«, überlegte Berti und kratzte sich nachdenklich an der Stirn. »Hast du Erfahrung im Verkauf?«
Erneut schüttelte sie den Kopf.
Berti blickte Lunde erstaunt an und umfasste grüblerisch sein Kinn. »Tja, wir könnten noch eine Aushilfe gebrauchen. Jemanden, der Schnittabfälle beseitigt und den Laden sauber hält, Tee kocht und schaut, ob immer alles ordentlich ist.«
Lunde lächelte breit. »Das wäre genau der richtige Job für mich.«
»Aber viel bezahlen kann ich dir nicht.«
»Das macht nichts«, sagte sie strahlend. »Ich mache mir nichts aus Geld.«
Entzückt schnappte Berti nach Luft. »Wenn das so ist, das ist prima! Wenn du möchtest, kannst du gleich anfangen. Du könntest David beim Kranzbinden zusehen. Dieser Auftrag ist für eine ganz besondere Kundin, die viel Geld für den Kranz bezahlt. Lass dir von ihm ein paar Handgriffe zeigen. Vielleicht kannst du ja noch etwas lernen.«
Schnaufend kam David zurück in den Laden und klopfte sich die Frettchenhaare vom Pullover. »Eduard haart immer unglaublich stark, wenn er Angst hat«, sagte David und schaute vorwurfsvoll zu seinem Vater. Dieser schüttelte lediglich den Kopf. »Nimm Lunde mit zum Kranzbinden. Ich muss noch die Rosen wässern.«
David nickte, winkte Lunde zu sich und ging in das offene Nebenzimmer. Auf einem breiten Tisch lagen eine Schere, Drähte, bunte Bänder und ein vorgefertigter Kranz aus Stroh.
»Also«, begann David und stemmte seine Hände auf die Arbeitsfläche, »das hier ist so ziemlich alles, was man für einen Kranz braucht. Natürlich hängt es immer davon ab, was die Kunden haben möchten. Ms Pulman bestellt jedes Jahr einen Kranz mit vielen bunten Rosen für ihren verstorbenen Mann. Diesen legt sie an ihrem Hochzeitstag auf sein Grab.«
»Oh, was für ein rührendes Zeichen ihrer Liebe«, schwärmte Lunde.
David sah sie kritisch an. »Ja«, sagte er, räusperte sich und lächelte. »Irgendwie schon.«
»Findest du es nicht auch zauberhaft, wie sie sich an den Mann ihres Lebens erinnert und ihre Liebe würdigt?«
David zögerte. »Natürlich«, gab er schnell zu und schnürte seine zitronengelbe Schürze enger.
Aufmerksam schaute Lunde ihm dabei zu.
»Am besten, du ziehst auch eine an«, sagte David und holte ihr einen der Kittel vom Haken hinter der Tür. »Binde ihn dir einfach um.«
Lunde versuchte zu tun, was ihr gesagt wurde, aber sie hatte nie zuvor ein ähnliches Kleidungsstück angelegt. Um genau zu sein, hatte sie überhaupt noch nie etwas angezogen, ohne zu zaubern. Ein wenig unbeholfen stand sie da: die Schürze in der einen Hand und die Schnüre in der anderen.
»Sag mal«, murmelte David, während er die Rosen auf die passende Größe zurechtschnitt, »wie bist du eigentlich auf das Dach gekommen?«
»Och«, Lunde druckste herum, »das weiß ich gar nicht mehr so genau. Auf einmal war ich da und dann fiel ich auch schon hinunter.«
Sie schnürte sich die Schürze um und wickelte sich das viel zu lange Band zweimal um die Hüften. Beharrlich verglich sie ihre Schürze mit der von David. Irgendwie sah es bei ihm anders aus.
»Du musst sie andersherum tragen!«, nörgelte eine leise Stimme aus dem Regal.
Lunde zuckte erschreckt zusammen. Fast hatte sie vergessen, dass sich Spencer immer noch im Laden herumtrieb. Jetzt war sie ihm für seine Hilfe dankbar. Schnell drehte sie das lange Stoffende der Schürze nach vorne.
»Ah, jetzt sieht es aus wie bei ihm. Danke!«, flüsterte sie in Richtung des Regals. Währenddessen arbeitete David konzentriert daran, das Schleierkraut zwischen die Blumen zu stecken.
»Ach Mist, ich habe die weißen Rosen vergessen.« David verschwand im Verkaufsraum und im nächsten Moment hörte Lunde das Rascheln der Rosenblätter. Nun hatte sie Zeit, sich nach dem Mäuserich umzusehen.
»Erwischt!« Neben einem lilafarbenen Blumentopf schaute der Schwanz einer Maus hervor. Behutsam nahm Lunde ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und zog daran. Spencer hielt seine Augen hinter den Pfoten verborgen.
»Hab ich dich! Du kannst die Pfoten ruhig herunter nehmen.«
Die Fee stemmte die Hände in die Hüften. »Hab ich dir nicht gesagt, dass du oben auf mich warten sollst?«
Spencer hob griesgrämig das Kinn.
»Es ist nicht ganz ungefährlich hier. David hat auch ein Haustier.«
»Aha!«, rief Spencer eingeschnappt. »Jetzt hast du‘s schon wieder gemacht.«
»Was gemacht?«
»Mich als dein Haustier bezeichnet!« Beleidigt ließ er den Kopf hängen.
»So ein Unsinn. Aber ich glaube langsam, dass es überhaupt keine schlimme Bezeichnung ist. Ich habe Eduard schon kennengelernt und er sieht nicht so aus, als würde man ihn hier nicht gut behandeln.«
»Eduard?«, wiederholte Spencer spöttisch. »Was ist denn das bitte für ein bescheuerter Name?«
»Er ist ein Frettchen, ein ziemlich modebewusstes würde ich meinen.« Lunde grinste, als ihr die Szene mit den Margeriten wieder in den Sinn kam.
»Von wegen modebewusst«, schimpfte Spencer. »Er ist ein gemeines Stinktier.«
»Nein«, verbesserte Lunde ihn. »Er ist ein Frettchen.«
»Ist ja auch egal. Er benimmt sich und riecht wie ein Stinktier.«
»Wieso sagst du so etwas Gemeines?«
»Weil er hinter mir her war und nur deshalb im Laden aufgetaucht ist.«
»Du hast ihn also hergelockt. Wegen dir hat er Ärger bekommen.« Sie schüttelte enttäuscht den Kopf.
»Na und? Geschieht ihm ganz recht. Er wollte mich schließlich fressen!«
»Ich wusste gar nicht, dass Frettchen Mäuse mögen!« Lunde sah ihren kleinen Freund verdutzt an.
»Oh doch«, versicherte ihr Spencer aufgebracht. »Und zwar zum Fressen gerne! Denen kann man einfach nicht über den Weg trauen.«
»Na, ich schätze, dann müssen wir eben besonders gut auf dich aufpassen.«
»Du hast doch nicht wirklich vor, noch einmal hierhin zurückzukommen?«, fragte Spencer verwundert.
»Doch, genau das hatte ich vor«, gab Lunde selbstsicher zu und Spencer machte große Augen.
»Du bist ja vollkommen verrückt«, sagte er wütend und trat nach einem herumliegenden Blütenblatt. »Hast du etwa vergessen, dass wir eigentlich auf dem Weg zu den Schmieden waren? Sie erwarten uns bestimmt.«
»Wir können immer noch zu ihnen gehen«, beschwichtigte die Fee Spencer. »Außerdem gibt es hier tausend Mal mehr Magie als bei den Schmieden. Sieh dich doch nur mal um!«
Widerwillig kam der Mäuserich ihrer Aufforderung nach und zischte: »Du wirst Monate brauchen, bis die Blumen es geschafft haben, deine Feenmagie aufzutanken.«
»Aber dafür hält sie dann auch länger.«
Spencer brummte missbilligend. »Und was ist mit den Spürern? Dieser Drego ist irgendwo dort draußen und wartet nur darauf, dich in seine Finger zu bekommen. Bestimmt hat er gesehen, wie der Junge dich ins Haus geholt hat.« Ängstlich zitterten Spencers Knie.
»Das hat er nicht. Der Laden liegt gegenüber von der Straße, aus der ich abgehoben bin. Als ich immer höher stieg, ist er stehen geblieben. Er ist mir nicht nachgelaufen, weil er dachte, dass er mich ohnehin nicht mehr erwischen könnte.«
»Aber er weiß, wo wir wohnen«, stellte Spencer fest und Lunde seufzte schwer.
»Das ist wohl so.«
»Das bedeutet, wir können erst einmal nicht dorthin zurück«, sagte Spencer bestimmend.
Lunde schwieg, während das Geräusch von raschelnden Rosenblättern näher kam. David kehrte zurück. Geschwind drehte Lunde Spencer den Rücken zu und lehnte sich gegen den Tisch.
»Die sind sehr schön«, schwärmte sie, als David mit einem Strauß weißer Rosen vor ihr stand.
»Und sie duften auch herrlich.« Er hielt Lunde die Blumen hin, damit sie daran riechen konnte.