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Ein Versprechen, das ewig währt. Eine Geschichte vor der atemberaubenden Kulisse Cornwalls. Bei Ausgrabungen auf Tintagel Castle entdeckt die junge Archäologin Sam eine geheime Kammer, in der sich die Überreste einer Frau aus längst vergangener Zeit befinden. Nie zuvor hat sie ein Fund derart aufgewühlt und gleichzeitig fasziniert. Wer war die Tote und wie ist sie umgekommen? Gemeinsam mit dem Forensiker John will Sam die Fäden der Vergangenheit entwirren. Dabei stoßen sie auf die Geschichte einer verbotenen Liebe, die beide nicht mehr loslässt und auf schicksalhafte Weise zusammenschweißt.
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Seitenzahl: 277
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Kurzbeschreibung:
Ein Versprechen, das ewig währt. Eine Geschichte vor der atemberaubenden Kulisse Cornwalls.
Claudia Romes
Georgianas Gemälde
Roman
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2019 by Claudia Romes
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Ashera Agentur
Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart
Lektorat: Cathérine Fischer
Korrektorat: Ver�a Baschlakow
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-346-5
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Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Anmerkung der Autorin
Tintagel Castle, West Cornwall – Gegenwart
Fremde Gezeiten hatten Sam an den Ort geführt, der ihr so vertraut vorkam, als wäre sie nie irgendwo anders gewesen. Die Wellen brachen sich an den steilen Klippen entlang der Küste. In den rauen, zerklüfteten Felsen nisteten Möwen.
Sie stand auf einem der begrünten Hügel, die sich zur Landseite der Ruine befanden, als ein dunkelblauer Van den unbefestigten Weg hinauffuhr. Neben dem provisorischen weißen Zelt, in das sich Sam und ihr Team bei schlechtem Wetter und zur Pause zurückzogen, hielt er an.
„Nicht mal die Sonne kennt diese gottverlassene Gegend“, fluchte Mr Svensson, der sie unangekündigt besuchte. Grummelnd deutete er mit seinem Spazierstock zum wolkenbedeckten Himmel, knallte die Autotür zu und zog seinen Hut auf. „Dr. Bellings.“ Er winkte ihr aus der Ferne zu, dann quälte er sich den Hügel hinauf. „Ich weiß ja nicht, was Sie an England so schätzen. Das Klima ist nichts für meine alten Knochen.“ Er machte eine Pause und schnaufte durch. „Ich hätte Ihnen auch die Ausgrabungen in Karnak finanziert … für etwa einen Monat.“ Er kämpfte sich weiter die Anhöhe hinauf und blieb, völlig aus der Puste, neben ihr stehen.
„Es ist die beeindruckende Geschichte, die vielen mittelalterlichen Burganlagen und die malerische Landschaft.“ Sam blieb völlig unbeeindruckt von seiner schlechten Laune.
„Wie bitte?“ Svensson hechelte immer noch wie ein alter Hund nach einem ausgedehnten Spaziergang.
„Sie wollten wissen, was ich an England mag“, erinnerte sie ihn.
„Ah.“ Er nickte knapp. „Nun, jedem das Seine“, sagte er und warf einen kurzen Blick auf das Panorama. „Und hier soll sich das also damals abgespielt haben?“
„Hm?“ Sam runzelte die Stirn.
„Na, diese Artus-Sache.“ Er wedelte abfällig mit einer Hand.
„Oh ja, ja. Seine Zeugung, um genau zu sein.“
„Ich weiß ja nicht, wie man so etwas behaupten kann“, sagte er abschätzig. „Darüber werden die Menschen damals wohl kaum Buch geführt haben.“
„Es gibt doch immer irgendwelche Menschen, die sich erinnern, Mr Svensson.“
Er seufzte. „Sie wissen schon, dass es nur eine Legende ist? Nach neuesten Erkenntnissen geht die Artus-Sage auf einen römischen Feldherrn namens Lucius Artorius Castus zurück.“
Sam nickte schwerfällig und wandte sich wieder der Aussicht zu. Wie oft hatte er ihr das schon eingetrichtert? Als hätte sie nicht auch schon davon gehört. Für sie war es jedoch nichts weiter als eine Behauptung. Sie fußte lediglich auf Vermutungen. Als Archäologin sah sie sich auch in der Pflicht, den faszinierenden Zauber alter Legenden zu bewahren und nichts auszuschließen.
Die Wolken zogen schnell. Der Wind schob sie weiter in Richtung Meer. Zaghaft bahnten sich die Sonnenstrahlen ihren Weg hinab auf die raue See, wo sie die Wellen zum Glitzern brachten.
„Es ist unglaublich schön, nicht?“ Ihre Augen strahlten vor Freude. Svensson hingegen zückte erst einmal sein Fernglas, das ihm um den Hals baumelte. Mürrisch schaute er hindurch. „Na ja, ich muss zugeben, es hat einen gewissen Reiz.“
Sam verkniff sich ein Lachen. „Ich weiß, es hat nichts mit der Wüstenlandschaft in Ägypten gemein.“
Schnaubend ließ Svensson das Fernglas sinken.
„Mir ist bewusst, dass Sie nichts für die Antike übrighaben, aber vielleicht sollten Sie es dennoch in Erwägung ziehen, irgendwann an einem vorchristlichen Fundort mitzuwirken. Wir wissen beide, dass Sie in den vergangenen Jahren mit dem Mittelalter kein Glück hatten.“
„Das mag sein.“ Sam war es leid, dass er sie ständig daran erinnerte, aber sie musste sich zusammennehmen. Dieser Mann finanzierte schließlich ihre Arbeit.
„Vielleicht werde ich mich irgendwann zur Antike überwinden“, ergänzte sie. „Aber bis dahin bleibe ich lieber, wo ich bin.“
Er sah sie kritisch durch seine buschigen weißen Augenbrauen an. „Sie sind noch jung mit Ihren vierunddreißig Jahren, Dr. Bellings. Ich hingegen habe meine besten Jahre hinter mir. Und einen Vorteil hat das Alter. Das sage ich Ihnen“, er tippte sich an die Stirn und lachte leise, „mit jedem Jahr schenkt es uns mehr an Erfahrung.“
Sam nickte hinnehmend. Sie musste nicht erst fragen, worauf er hinauswollte: Er hatte recht, sie unrecht.
„Das Mittelalter war schon immer ein schwieriges Fachgebiet“, fuhr er unbeirrt fort. „Geschichte und Museumsbesuche, pah“, er schüttelte den Kopf, „das war früher einmal eine attraktive Freizeitgestaltungsmöglichkeit. Heutzutage dominieren diese grauenhaften Achterbahnparks, Videospiele und andere Unterhaltungselektronik. Schrecklich, wenn Sie mich fragen. Die meisten Menschen interessieren sich, wenn überhaupt, nur für die Römer, die alten Griechen oder …«, er beugte sich zu ihr vor, „die Ägypter.“
Sam nickte beiläufig. Wahrscheinlich gefiel ihm die Vorstellung, aus Artus einen römischen Legionär zu machen, deshalb so gut. Ohne auf ihn einzugehen, ließ sie ihren Blick über die Burgruine gleiten. Es war eine Schande, dass sie nicht mehr Menschen in ihren Bann zog. Die Verwaltung historischer Schlösser und Burgen von England dachte sogar darüber nach, die Gelder für die Erhaltung der Burganlage zu streichen. Im Vergleich zu anderen mittelalterlichen Orten fehle es ihr an Attraktivität. Ihr Bezug zur Artuslegende änderte daran nichts.
In dem Moment, als sich Sam diese Tatsache durch den Kopf gehen ließ, dachte sie daran, wie wundervoll die Burg einst ausgesehen haben musste. Bestimmt hatte sie die Jahrhunderte hindurch einiges mit angesehen. Welche Geschichten diese Mauern doch zu erzählen hätten. Sie wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass dieser Ort ihre Bestimmung war. Er hielt etwas für sie bereit. Und vielleicht wartete er nur darauf, dass sie an der richtigen Stelle danach suchte.
„Alles hat sich verändert.“ Svensson Stimme nahm sie nur am Rande wahr. „Für die Menschen von heute muss es ausnahmslos spektakulär sein. Kriege um Ländereien, die ständigen Thronwechsel Englands … das alles ist nicht genug, um die Kinder von heute dazu zu bringen, dem Geschichtsunterricht in der Schule zu folgen. Da wird längst nur noch auf die Ereignisse gesetzt, die die Kids wirklich fesseln: Dinosaurier – nur als Beispiel. Auch wir müssen uns dieser neuen Welt anpassen, meinen Sie nicht auch, Dr. Bellings?“
Zögernd wandte Sam ihren Blick vom Meer, über die uralten Mauern, hin zu ihrem Finanzier. „Wie bitte?“
„Haben Sie mir nicht zugehört?“
„Doch, doch“, angespannt prustete sie aus, „das habe ich.“ Svensson war nur schwer zu überhören. Verstehen wollte sie seine Meinung jedoch nicht. Sie weigerte sich, ihre Leidenschaft für das Mittelalter aufzugeben, selbst wenn es sie am Ende in eine Sackgasse führen würde. Gedankenversunken ließ sie ihren Blick wieder aufs offene Meer hinausschweifen. Hinter dem Wellengang umkreiste ein Möwenschwarm ein kleines Fischerboot mit ausgefahrenem Netz.
„Beschränken Sie sich nicht nur auf eine Epoche.“ Svensson folgte ihrem Blick. „Davon können Sie auf Dauer nicht leben. Nehmen Sie meinen Rat an. Ich meine es nur gut mit Ihnen. Andere Investoren hätten die Zusammenarbeit mit Ihnen längst beendet.“ Er rückte den Hut auf seinem Kopf zurecht.
„Ich weiß Ihre Geduld zu schätzen, Mr Svensson“, stellte Sam klar, ohne ihn anzusehen.
Einen Moment betrachtete er sie von der Seite. „Gut“, sagte er und atmete hörbar ein. „Ich schätze Ihren Spürsinn und Ihre saubere Arbeitsweise, Dr. Bellings. Weshalb ich Sie nur ungern als Archäologin verlieren würde. Und wenn Sie irgendwann bereit für die Antike sind, dann reicht mir das. Fürs Erste.“
Sie rang sich ein Lächeln ab und nickte.
„Aber wie Sie schon sagten: Dieser Tag ist nicht heute. Wir sind schließlich die Bewahrer der Vergangenheit. Ganz so ernst sollten wir es mit der Zukunft also nicht nehmen, was?“ Er zwinkerte ihr mit einem Auge zu. „Also … zeigen Sie mir die Funde, die Sie bisher auf Tintagel Castle gemacht haben.“
Sam nickte erneut und ging voraus.
„Vor zwei Tagen haben wir eine Reihe von Tonscherben entdeckt. Wir gehen davon aus, dass es zeitweise eine Art Markt auf dem Burggelände gegeben hat. Die Scherben waren sauber angeordnet, und einige weisen einen maurischen Stil auf.“
Svensson ließ ein Brummen hören, während er gemächlich hinter ihr hertrottete. „Maurisch, ja?“
„Genau.“
„Na, das wäre wenigstens mal etwas Abwechslung. Hat Brian die Funde schon gesehen?“
„Er kommt morgen früh vorbei, um sie zu begutachten“, antwortete Sam. Brian war ihr Spezialist für Keramik.
Svensson schloss zu Sam auf und nickte. „Lassen Sie mich unbedingt wissen, was er dazu sagt.“
„Natürlich“, versicherte Sam ihm.
Wieder nickte Svensson.
Peter McBride hob gerade die Plane des Zeltes an, als Sam mit Svensson davor ankam.
„Guten Morgen, Chef.“ Der junge Ausgrabungshelfer hakte die Plane seitlich ein, grinste und machte eine einladende Geste. Svensson zog kurz den Hut. „Morgen, Jungchen. Auch schon auf den Beinen?“
„Na klar, Chef. Der frühe Wurm fängt den Vogel.“
Svensson grinste hinter vorgehaltener Hand. „Ja. So ähnlich Bursche, so ähnlich.“ Er sah zu Sam, die mit hochgezogenen Brauen zu dem Tisch mit den Tonscherben ging. Svensson kam neben sie und warf einen skeptischen Blick auf die Auslage. „Nun, angenommen diese Scherben sind nicht maurischen Ursprungs, was haben wir noch?“
Sam schluckte nervös. Sie war überzeugt gewesen, die Malereien auf den Scherben würden für sich sprechen und ihren Investor besänftigen. Hilfe suchend schaute sie zu Peter. Dieser wirkte teilnahmslos. Wenigstens war er heute zur Abwechslung mal pünktlich gekommen. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, groß und kräftig, aber wirklich gearbeitet hatte er noch nie. Sam war zufällig auf ihn gekommen, als sie in der Mensa der Universität von Exeter nach Praktikanten für ihre Ausgrabung gesucht hatte. Anders als Cathy, die Sam ebenfalls bei den Ausgrabungen unterstützte, studierte Peter nicht. Stattdessen hatte er eine Vorliebe für zerkleinertes Rindfleisch auf matschigen Brötchen – eine Delikatesse der Kantine. Als Sam ihm von ihrem Plan erzählte, in Cornwall nach einem Schatz zu suchen, war er sofort bereit, ihr zu helfen, sofern sie ihn am Fund beteiligen würde. Sie willigte ein – wohl wissend, dass eine Beteiligung ausgeschlossen war, weil alles, was sie fand, England gehörte. Aber das sagte sie ihm nicht.
„Werde ich hier noch gebraucht?“, riss Peter Sam aus ihren Gedanken. Unmerklich schüttelte sie sich.
„Sonst ziehe ich jetzt mal mit dem Metalldetektor los.“
„Mach das, Bursche.“ Svensson winkte ihn davon. Peter nickte und verschwand aus dem Zelt. Eines musste Sam ihm zugutehalten: Anstrengungen scheute er nicht. Leider fehlte ihm jegliches Interesse an Geschichte. Das Einzige, was Sam und er gemeinsam hatten, war eine Vorliebe für Indiana-Jones-Filme. Und in genauso einem schien er sich selbst zu sehen, seit er in Tintagel war.
„Was haben Sie noch?“, hakte Mr Svensson ungeduldig nach.
„Äh, Münzen.“ Sam konnte ihre Anspannung nicht verstecken. Eilig ging sie zu einem zweiten Auslagentisch. „Schätzungsweise aus dem dreizehnten Jahrhundert.“
„Münzen.“ Svenssons abfälliger Ton verriet, wie wenig begeistert er war. Unbeeindruckt warf er einen prüfenden Blick auf die nebeneinandergelegten Fundstücke und ließ ein lautes Seufzen hören.
„Das hier könnte etwas sein!“ Cathy stürmte aufgeregt ins Zelt, als hätte sie davor gelauscht. In Händen hielt sie einen Eimer. Auf einem der hinteren noch leeren Ablagetische breitete sie vorsichtig ihre Funde aus. In Sam keimte erneut die Hoffnung. Mit nervös klopfendem Herzen kam sie neben Svensson, der neugierig auf den kleinen klumpigen Haufen starrte, den Cathy mitgebracht hatte.
„Mehr Münzen“, säuselte Sam, nachdem sie eine davon in die Hand genommen und mit einer Lupe näher betrachtet hatte. „Wo hast du die gefunden?“, fragte sie und drehte eine der erdverkrusteten Münzen in der Hand.
„An der nördlichen Befestigung. Da, wo die Mauer nur noch kniehoch steht. Der Metalldetektor hat sie aufgespürt. Sie waren unter Geröll und massenhaft Erde. Ich habe mit bloßen Händen danach gegraben.“
„Das war gut“, lobte Sam lächelnd, während sie grob die Oberfläche der Münze in ihrer Hand säuberte. Mit der Lupe besah sie sich diese genauer.
„Glauben Sie auch, dass diese Münzen aus dem dreizehnten Jahrhundert sind?“ Svenssons Frage war an Cathy gerichtet.
Sie blickte verunsichert drein. „Hm, ja. Das würde ich schon sagen.“
„Was macht Sie so sicher?“ Svensson prüfte sie mit schmalen Augen.
„Na ja“, begann sie stockend, „ich habe einen Kurs in mittelalterlicher Münzprägung besucht, darin wurde eine solche Münze, wie wir sie auch hier haben, erwähnt.“
Svenssons Brauen schnellten seinen dünnen Haaransatz hinauf. „Welches Semester sind Sie, Kindchen?“
„Erstes, Sir“, antwortete Cathy verlegen.
„Sie macht sich sehr gut“, lobte Sam ihren Schützling. „Ich lege großen Wert auf ihre Meinung.“ Sam sah sich gezwungen, für Cathy zu sprechen, denn sie wusste, dass Svensson es nicht mochte, wenn ein Laie sich überschätzte. Allein ein akademischer Abschluss berechtigte laut ihm dazu, sich in die Beurteilungen von Fundstücken einzubringen. Sam dachte anders darüber. Sie war froh, jemand so Engagiertes wie Cathy in ihrem Team zu haben.
Svensson räusperte sich verhalten, dann fiel sein durchdringender Blick auf Sam – wartend auf ihr Urteil über das tatsächliche Prägejahr der Münze. Langsam schaute Sam ohne Umschweife zu Cathy auf und lächelte. Dann nickte sie anerkennend. „Zweifellos dreizehntes Jahrhundert.“
Svenssons Blick wanderte zwischen den beiden Frauen hin und her. „Wie ist der Zustand?“
Sam drehte die Münze in ihren Fingern. „Ganz gut, würde ich sagen.“
„Material?“ Forsch lehnte sich Svensson vor. Cathy tat es ihm nach. Knisternde Spannung lag in der Luft. Sollte dies etwa der Moment des Durchbruchs sein? Der Moment, auf den jeder Archäologe sein Leben lang wartet?
Prüfend hielt Sam die Münze gegen das Licht. Obwohl sie mehrere hundert Jahre in der Erde vergraben gewesen war, schimmerte sie unverkennbar. Sam konnte sich ein erleichtertes Lachen nicht verkneifen. „Gold. Ich denke, sie ist aus Gold.“
Freudig klatschte Svensson in die Hände. „Das ist doch ein Erfolg! Grandios, Cathy. Das war wirklich gute Arbeit.“ Er klopfte ihr lobend auf die Schulter. „Aus Ihnen wird mal eine großartige Archäologin.“
Cathy war so überrascht von Svenssons Kompliment, dass sie kein Wort herausbrachte. Aufgeregt wandte sich Svensson wieder Sam und dem Fundstück zu. „Was ist mit den anderen Münzen?“
Sam besah sich jede Einzelne. Am Ende zählte sie insgesamt sieben Münzen auf dem Tisch. Ernüchtert ließ sie die Schultern hängen, blickte zu Svensson, der sie erwartungsvoll betrachtete. „Die sind alle aus Kupfer.“
Man sah ihm die Enttäuschung an. Verbissen rückte er seinen Hut zurecht und schnalzte mit der Zunge. „Tja, aber wir haben gute Chancen, noch weitere Goldmünzen zu finden. Wo eine ist, da gibt es oft noch mehr. Kein Grund, jetzt den Mut zu verlieren.“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf den Münzfund, anschließend drehte er sich zu Cathy. „Ich möchte, dass Sie an besagtem Fundort weitersuchen. Und suchen Sie gründlich.“
„Ja, Sir.“ Cathy lächelte enthusiastisch und machte sich wieder an die Arbeit.
„Das könnte interessant werden.“ Svensson wandte sich an Sam. „Sofern es da noch weiteres Gold gibt.“
Sam nickte betreten. „Da ist noch mehr. Das kann ich fühlen.“
Svensson machte ein zerknittertes Gesicht. „Wir wissen beide, dass andere vor Ihnen schon mehrmals diese Burg auf den Kopf gestellt haben. Sie haben nie sonderlich viel gefunden.“
„Das habe ich nicht vergessen“, meinte Sam. „Aber ich denke positiv. Ich weiß, dass auf Tintagel etwas Außergewöhnliches ist. Und ich weiß, wir werden es finden.“
Svensson nickte mürrisch. Seine Lippen bildeten eine schmale Linie. „Aber verlieren Sie sich nicht in Träumen, die vielleicht nie in Erfüllung gehen. Davor kann ich nur warnen.“ Svensson schüttelte beharrlich den Kopf. „Da wird man nur allzu oft enttäuscht. Ich weiß, was Ihr Vater Ihnen über diese Burg erzählt hat. Sie wissen, ich habe große Stücke auf Winston gehalten. Er war ein herausragender Mensch und Wissenschaftler, der viel zu früh von uns gegangen ist.“
Sam biss die Zähne aufeinander. Dass er das Gespräch auf ihren Vater gelenkt hatte, versetzte ihr einen Stich ins Herz. Noch immer hatte sie dessen Tod nicht verwunden. Aber … würde sie das je?
„Letztendlich bin ich auch wegen ihm immer noch Ihr Investor“, spielte sich Svensson als Wohltäter auf. „Damit Sie sein Werk vollenden oder es ein für alle Mal begraben. Denn … die Wahrscheinlichkeit, dass er nur ein Gerücht an Sie weitergab, ist groß.“
Sam war sicher, dass dem nicht so war. Hinter den Erzählungen ihres Vaters über einen Schatz auf Tintagel Castle steckte mehr als nur leeres Gerede. Doch sie war es leid, sein Andenken ständig in Schutz nehmen zu müssen. Die Leute glaubten ohnehin nur das, was sie wollten. „Ich verliere mich nicht in Träumen“, wehrte sie sich schließlich mit fester Stimme. Svensson horchte auf.
„Der Trick ist, seine Träume in die Tat umzusetzen“, fuhr sie fort.
Er blickte sie verblüfft an, dann hob er seinen Hut und strich sich das kinnlange weiße Haar glatt. „Ich bewundere Ihren Eifer. Das tue ich wirklich. Aber Sie müssen mich auch verstehen. So eine Ausgrabung ist kostspielig. Ich muss auch an den wirtschaftlichen Nutzen denken. Deshalb fürchte ich, komme ich nicht drum herum, Ihnen nun ein Ultimatum zu setzen.“
Sams Augen wurden groß. War er deshalb heute hergekommen? Sie hatte es bereits befürchtet. „Ein Ultimatum?“, wiederholte sie stockend.
„Ja, leider.“
„Wie viel Zeit bleibt mir noch?“
„Bis Ende der Woche müssen Sie Ihren Schatz gefunden haben.“
„Aber, das sind ja nur noch …“
„Drei Tage“, beendete er ihren Satz. „Es tut mir leid.“
„Was soll ich mit so wenig Zeit anfangen?“
„Was Sie damit anfangen, bleibt Ihnen überlassen. Ich rate Ihnen, sie zu nutzen. Danach werde ich Dr. Cockburns Sendung in Karnak mitfinanzieren.“
„Cockburn ist ein Stümper. Er interessiert sich nur noch für seine Fernsehkarriere und ist ohne Leidenschaft dabei.“ Sie fühlte sich persönlich angegriffen, weshalb sie sich nicht zurückhalten konnte.
„Er ist ein Experte auf seinem Gebiet, und die Leute lieben ihn. Wussten Sie, dass er Nofretete, nach dem jüngsten Fund im Tal der Könige, ein neues Gesicht gegeben hat? In Wahrheit standen ihre Augen viel weiter auseinander als bei der Büste, die allen bekannt ist.“
„Es ist noch nicht einmal bewiesen, ob es wirklich Nofretetes Mumie war, die gefunden wurde“, belehrte Sam ihn hitzköpfig.
„Das ist völlig nebensächlich“, zischte Svensson. „Tatsache ist, dass ihn diese Darstellung über Nacht zu einem Star der Wissenschaft gemacht hat. Seine Instagram-Seite hat vier Millionen Follower. Seine Sendung New History wird jetzt auch in den USA ausgestrahlt, wussten Sie das?“
Sam schüttelte verächtlich den Kopf.
„Und dieses Foto von ihm, wo er auf der Spitze der Cheops-Pyramide meditiert …“ Svensson lachte, sichtlich angetan von Cockburn, „es ging um die Welt. Dieser Mann kann sich vor Investoren kaum retten. Er ist eine Goldgrube, sage ich Ihnen. Selbstvermarktung heißt das Schlüsselwort – Social Media.“ Er musterte sie mit schmalen Augen. „Haben Sie einen Instagram-Account, Dr. Bellings?“
„Ich habe nicht acht Jahre lang studiert, um auf Instagram mein Frühstück mit der Welt zu teilen!“ Sie verschränkte zornig die Arme vor der Brust. „Ich will nicht wegen meiner Person anerkannt werden, sondern wegen meiner Arbeit.“
„Eben“, er seufzte leidend, „genau das meine ich. Sie müssen sich mehr für die Welt öffnen. Überlegen Sie es sich. Das Angebot steht. Cockburn würde sich sicher freuen, Sie in Karnak dabeizuhaben.“
„Ich habe kein Interesse, mit diesem Mann zusammenzuarbeiten, weder in Karnak noch sonst wo.“
Wieder seufzte er. „Nun, vielleicht müssen Sie das ja auch nicht.“
„Können wir nicht noch einmal über den zeitlichen Rahmen sprechen?“ Sam hasste es zu betteln, aber er ließ ihr keine Wahl. „Drei Tage sind doch verdammt wenig. Ich verspreche Ihnen, wir werden etwas finden. Dieser Ort wird uns etwas zeigen.“
„Dann schlage ich vor, dass Sie dem Ort sagen, er soll sich damit beeilen.“ Er drehte sich um und ging.
Sam folgte ihm den Hügel hinab. „Tun Sie das bitte nicht! Investieren Sie nicht um. Ich bitte Sie!“
„Ich kann nicht länger warten und zusehen, wie sich andere ertragreicheren Investitionen widmen. Sie müssen dabei auch meine Situation verstehen.“
„Nur noch zwei Wochen länger. Das wäre kaum mehr.“
Er öffnete die Autotür und stieg ein. „Die Frist steht. Und das ist mein letztes Wort. Es tut mir leid, Dr. Bellings.“
Fassungslos sah Sam ihm nach, wie er mit dem Auto rückwärts den engen Weg hinunterfuhr, im Tal wendete und davonrauschte. Sam hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wäre sie doch nur schon auf etwas gestoßen, das Svensson zufriedenstellte. Wie sollte sie nur in drei Tagen finden, was anderen jahrzehntelang nicht gelungen war?
Cathy kam schnellen Schrittes auf sie zu. An Sams bekümmertem Gesichtsausdruck erkannte sie, dass etwas nicht stimmte. „Was hat er gesagt?“
Mutlos ließ sich Sam auf den Boden sinken. Sie stützte die Unterarme auf die aufgestellten Knie und vergrub das Gesicht unter ihren Händen.
Cathy ging vor ihr in die Hocke. „So schlimm?“
Sam seufzte schwerfällig. In diesem Moment stürzte einfach alles auf sie ein. Sie spürte die Erschöpfung der vergangenen Wochen in ihren Gliedern, den stechenden Schmerz in ihrem Rückgrat, der von der dauergebeugten Haltung herrührte. Seit zwei Monaten rackerte sie sich auf dieser Ruine ab. Sie tat es für Tintagel, und sie tat es für ihren Vater, weil sie das Gefühl hatte, dass es richtig war. Dass sie irgendwann dafür belohnt werden würde. Sie war nicht wegen Leuten wie Svensson Archäologin geworden, nicht des Geldes wegen und erst recht nicht, um berühmt zu werden. Sie hatte dieses Studium ausgesucht, weil sie Geschichte so sehr liebte, und das, was sie einen lehrte. Das Leben der Menschen in einer längst vergangenen Zeit faszinierte sie, seit ihr Vater sie im Alter von drei Jahren das erste Mal mit auf eine seiner Ausgrabungen genommen hatte. War das alles nun wertlos?
„Was hatte das gerade zu bedeuten?“ Cathy reichte Sam die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
„Ist schon gut, Cathy. Ich danke dir.“ Sam klopfte sich den Schmutz von der Jeans und rappelte sich ohne Cathys Hilfe auf.
„Was hat Svensson dir erzählt?“
Sam schluckte, um ihre Stimme zu festigen. „Er hat uns eine Frist gesetzt. Wenn wir noch etwas finden wollen, werden wir uns sehr beeilen müssen.“
„Okay.“ Cathy stemmte entschlossen die Hände in die Hüfte. „Dann werden wir morgens früher anfangen und abends länger bleiben.“
Der Anflug eines Lächelns umspielte Sams Mundwinkel. Cathys Ehrgeiz rührte sie. Zu dumm, dass sie sie mit der Wahrheit bremsen musste. „Es ist weit weniger, als wir dachten.“
„Also gut. Raus mit der Sprache. Wie lange haben wir noch?“
Sam nahm einen tiefen Atemzug, ehe sie antwortete. „Drei Tage.“
„Was?“
Sam sah dieselbe Enttäuschung in ihren Augen, wie sie sie empfand. Sie legte Cathy die Hand auf die Schulter. „Das ist schon in Ordnung. Wir müssen es so sehen: Was wir in den drei Tagen nicht finden, das will auch nicht von uns gefunden werden.“
Zögerlich nickte Cathy.
„Geht’s nun weiter, oder was?“ Peter stand neben dem Rest eines Torbogens und schaute verwundert zu den Frauen hinüber.
„Wir sind sofort da“, versicherte Sam ihm. Lächelnd wandte sie sich daraufhin wieder Cathy zu. „Wir müssen die Zeit nutzen, so gut es eben geht.“
Cathy legte den Kopf schief und nickte entschlossen. Gemeinsam gingen sie zu Peter. Sam stellte sich vor ihn. „Meinst du, du kannst dir drei Tage lang Mühe geben, rechtzeitig aufzustehen?“
Peter sah skeptisch zwischen den Frauen hin und her. „Wieso?“
Cathy versenkte die Hände in den Hosentaschen und grinste. „Wir haben beschlossen, etwas zu finden ‒ und das so schnell wie möglich.“
Peters Blick fiel auf Sam. Er schnaubte. „Ah, verstanden. Er will nicht länger zahlen, richtig?“
Sam räusperte sich nickend. „Wir wussten von Anfang an, dass es eine unsichere Ausgrabung werden würde. Uns bleiben jetzt nur noch drei Tage, um eine Entdeckung zu machen, die Svensson umstimmt. Gut möglich, dass wir nichts finden. Dass wir mit leeren Händen hier weggehen. Ich kann verstehen, wenn du jetzt lieber aussteigen willst.“
„Aussteigen?“ Peters Augen weiteten sich. „Dann wäre ja alles umsonst gewesen – die ganze Schufterei. Nein! Ich gehe mit euch, bis zum bitteren Ende. Auch wenn das für mich weniger Schlaf bedeutet. Dieses Opfer ist es mir wert.“
Sam und Cathy blickten einander perplex an.
„Was ist?“ Peter zuckte die Schultern, dann tippte er mit dem Finger auf seine Armbanduhr. „Die Zeit läuft. Wir sollten aufhören rumzustehen und endlich weitermachen.“
Sam lachte. „Du hast absolut recht!“ Sie schnappte sich Kelle und Handschaufel und steuerte den Fundort der Goldmünze an.
„Wisst ihr“, begann Peter, während er den Frauen folgte. „Ihr müsst euch immer fragen: Was würde Indiana Jones in so einer Situation tun?“
Sam und Cathy tauschten verschmitzte Blicke aus.
„Und?“ Cathy nickte in seine Richtung. „Was würde er tun?“
„Na, auf keinen Fall aufgeben“, sagte Peter überzeugt. „Und ihr wisst ja – am Ende findet er immer den Schatz.“
Cathy grinste. „An Motivation fehlte es ihm jedenfalls nicht.“
„Da geht es uns nicht anders“, warf Sam ein. Am mit einem Feldschirm überspannten Fundort angekommen, verschaffte sie sich einen groben Überblick. Er befand sich dicht an der Ringmauer. Weit darunter brachen sich, in schwindelerregender Tiefe, die tosenden Wellen an den steilen Klippen.
„Wir sollten alle Fundorte nochmals gründlich absuchen“, meinte Peter. „Vielleicht haben wir ja etwas übersehen.“
Sam war überrascht, dass dieser Vorschlag ausgerechnet von Peter kam. Womöglich hatte sie ihn zuvor nur nicht richtig motiviert. Sie drehte sich halb zu ihm um. „Ich würde auch sagen, dass wir uns auf die Stellen konzentrieren, an denen wir bereits etwas gefunden haben.“
Cathy nickte zustimmend und reichte Sam Pinsel und Handfeger. Während Peter in unmittelbarer Nähe des Münzfundes mit dem Metalldetektor suchte, legte Sam eine verschüttete Mauer frei, die unmittelbar an die Felsen grenzte. Sam ging bis zum östlichen Teil der Ruine, an die eine lange, hölzerne Treppe grenzte, welche die zerklüfteten Felsvorsprünge miteinander verband. Sie stammte aus neuerer Zeit und machte alle Abschnitte der Ruine für Touristen erreichbar.
Sam schickte ihren Blick über die Mauern, die wie Mahnmale in den Himmel stoben. Der Wind frischte nochmals auf. Er trug die restlichen Wolken fort, und die Sonne schickte ihre wärmenden Strahlen wie einen Fingerzeig auf Tintagel Castle. Es war selten, dass der Himmel hier ein solch klares Blau trug. Und ein wenig wünschte sich Sam, dass Svensson noch hier wäre, damit er sähe, wie idyllisch die Ruine im Sonnenlicht dalag. Das darunterliegende Meer schimmerte smaragdgrün. Rauschend trafen die Wellen in die Bucht, in der laut Legende die riesige Höhle des Zauberers Merlin verborgen war. Für Sam gab es keinen märchenhafteren Ort. Sie nahm einen tiefen Atemzug und schloss die Augen. Während sie den Möwen und der ungebändigten See lauschte, schob sich plötzlich das Bild ihres Vaters vor ihr geistiges Auge. In diesem Moment war es, als wäre er tatsächlich bei ihr und würde ihr Mut zusprechen, sie anhalten, nicht aufzugeben. Langsam atmete sie aus. Sie öffnete die Augen, und ein gutes Gefühl durchströmte sie.
„Drei Tage“, wisperte sie mit neuem Mut. Sie ließ die atemberaubende Landschaft hinter sich, kehrte zum abgesteckten Fundort zurück, kniete sich auf den harten Boden und wühlte vorsichtig mit dem Spatel die Erde auf. Zentimeter für Zentimeter. Stein für Stein. Sie spürte nicht länger den stechenden Schmerz in ihrem Rücken, das lähmende Gefühl in ihrem Nacken. Nur den überwältigenden Drang weiterzusuchen. Und als der Wind ihr Haar umwehte, war es, als trüge er die Stimme ihres Vaters in sich, die sie anspornte und ihr leise zuflüsterte: „Hör nicht auf, Sam. Grab weiter … tiefer.“
Die Zeit verging wie im Flug, und ehe sich‘s Sam versah, nahte der letzte Tag von Svenssons aufgestellter Frist. Am Tag zuvor hatte Brian die gefundenen Tonscherben als eindeutig maurische Keramik bestätigt. Noch war die Frage nicht geklärt, wie sie auf Tintagel Castle gekommen waren. Sam hatte Sorge, dass sie schon bald keine Gelegenheit mehr haben würde, es herauszufinden. Peters Eifer hatte seit seiner Ansprache über das Nicht-aufgeben-Wollen nicht nachgelassen. Er hatte Sam in den letzten Tagen mit unerwarteter Verlässlichkeit, Fleiß und schier unerschöpflichem Tatendrang überrascht und somit gezeigt, was wirklich in ihm steckte. Er und Cathy hatten sich als wahre Freunde bewiesen. Für Sam war es ein Trost zu wissen, dass sie in ihrem Glauben an den Schatz von Tintagel nicht allein war. Doch auch das konnte ihren Kummer darüber nicht mildern, dass ihr Abenteuer schon bald zu Ende sein würde. Nicht mehr lange und Svensson würde auftauchen und ihr buchstäblich die Kelle aus der Hand reißen. Bei dem Gedanken daran wurde ihr schwindelig. Ihr Herz begann zu rasen, und sie hatte Mühe zu atmen.
Ein seltsamer Traum hatte sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Ihr Vater war darin vorgekommen. Er hatte sie zur Ruine geschickt, wo sie von einer ihr unbekannten Frau in einem roten, altertümlich aussehenden Kleid erwartet wurde. Ihr langes dunkles Haar war vom Wind verweht worden, während sie aus traurigen Augen zu ihr aufgesehen hatte.
Der Traum war wie ein Weckruf für Sam gewesen. Vor Sonnenaufgang war sie zu Tintagel Castle gefahren, einen zusätzlichen Scheinwerfer im Gepäck, der die Grabungsstelle im Innern der Ruine ausleuchten sollte. Die Nacht verlieh dem Ort etwas Mystisches. Über ihr befand sich das beinahe sternenklare Himmelszelt. Nur vereinzelte Wolken zogen am vollen Mond vorbei und warfen ihre Schatten auf die Burgreste. Sam knipste das Licht ihrer Stirntaschenlampe an. In der Dunkelheit war das Gelände nicht ungefährlich. Spitze Steine ragten aus dem unebenen Untergrund. Die ungesicherten Stufen wurden zu nicht zu unterschätzenden Stolperfallen. Obwohl Sam das Gelände kannte, war es eine Herausforderung, in der Nacht dort zu sein. Es war ungewöhnlich kalt für Juni. Ihr Atem stieg als dampfende Wolke auf. Sie schlang sich ihren Schal enger um den Hals. Nichts war zu hören, außer das Meeresrauschen, das eine seltsam beruhigende Wirkung auf Sam hatte. Sie hatte keine Angst, des Nachts allein auf der Ruine zu sein. Was sie fürchtete, war zu versagen. Tintagel Castle aufzugeben und damit das Vermächtnis ihres Vaters.
Es war erst wenige Stunden her, dass ihr Team zusammengepackt hatte. Sam hätte am liebsten die Zeit angehalten. Aufgeben kam für sie nicht infrage – auch jetzt nicht. Es mochte verrückt sein, dass sie ihrem Traum folgte und ihren Scheinwerfer genau an der Stelle positionierte, an der die Frau gestanden hatte. Wahrscheinlich weigerte sich ihr Unterbewusstsein loszulassen – Tintagel und ihren Vater. Sam klammerte sich an ihren Traum wie an einen letzten Strohhalm. Und wie sie so auf die Mauern blickte, die silbern im Licht des Vollmondes schimmerten, war es, als wäre sie immer noch darin gefangen. Als wäre sie nicht allein auf der Burg, was sie merkwürdigerweise keineswegs als unangenehm empfand. Sie schloss den Scheinwerfer an den Generator an. Das Licht war grell. Es warf seinen runden Schein auf den harten, steinigen Boden. Was hatte sie schon zu verlieren? Sie stemmte die Arme in die Seite und schaute sich die beleuchtete Stelle genau an. Der Bereich war so unscheinbar, dass ihm bisher niemand große Beachtung geschenkt hatte. Vor fünfhundert Jahren war er nichts als ein Durchgangsweg gewesen, auf dem Pferde gerastet und vermutlich Händler ihre Waren feilgeboten hatten.
Sam ging völlig ohne Erwartungen an die Sache heran. Sie nahm den Metalldetektor und überprüfte damit den unwillkürlich geworfenen Lichtkreis. Es war, als würde der Mond sich darin spiegeln. Sorgfältig tastete sie sich Stück für Stück vor. Nachdem sie eine Weile gesucht hatte, ließ sie ernüchtert die Schultern hängen.
„Wie bescheuert“, murmelte sie, sank auf ihre Fersen und ließ den Detektor zur Seite sinken. „Das hat doch alles keinen Zweck.“
Sie wollte gerade aufstehen, als der helle Ton des Metalldetektors erklang. Stirnrunzelnd hielt Sam inne und festigte ihren Griff um das Suchgerät. Um einen Fehler auszuschließen, ließ sie es noch einmal über die Stelle gleiten, die den Alarm ausgelöst hatte. Sofort schlug der Detektor erneut an. „Okay.“ Sie legte das Gerät beiseite, nahm Handschaufel und Kelle zur Hilfe und grub vorsichtig.
Das Geräusch herabfallender Steine über die Klippe ließ sie herumfahren. Sie blickte sich danach um. Manchmal kamen Jugendliche aus dem Dorf hierher. Das war nichts Ungewöhnliches, auch wenn dieser Teil der Ruine für die Zeit der Ausgrabung für Besucher gesperrt war. Ein weiterer Grund, weshalb Svensson die Finanzierung streichen wollte. Cornwall wollte die Touristen nicht länger vertrösten. Schließlich ging es dabei ums Geld.
Erneut drang das Geräusch an Sams Ohren. Sie rappelte sich hoch und schaute in die Richtung, aus der sie es vermutete. „Hallo? Ist da jemand?“
Der Duft von Lavendel lag auf einmal schwer in der Luft. Als hätte jemand direkt neben ihr einen Raumduft oder ein Parfüm versprüht. Merkwürdig, dachte Sam. Ihr war mulmig zumute, doch sie konnte niemanden entdecken. Unmerklich schüttelte sie sich, wandte sich wieder ihren Gerätschaften zu und grub unermüdlich weiter.
Nach einer Weile war ihr von der Anstrengung ganz heiß geworden. Hastig zog sie ihre Jacke aus, warf den Schal unsanft beiseite. Sie war getrieben von dem Wunsch, diese Ausgrabung doch noch zu einem Erfolg zu bringen; von dem Glauben, dass sie diesmal richtig war. Sie wollte Svensson und allen anderen Skeptikern beweisen, dass sie recht hatte, dass diese Burg einen Schatz hütete, der größer war als alles, was in den letzten Jahren auf britischem Boden gefunden worden war.