Abby I - Claudia Fischer - E-Book

Abby I E-Book

Claudia Fischer

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Beschreibung

Utah, 1889 Wenige Tage vor ihrer arrangierten Hochzeit mit einem alten Mann verlässt die junge Abigail Clearwater zusammen mit dem Banditen Fynn ihr Elternhaus, um ein Leben in Freiheit zu beginnen. Sie entschließt sich, selbst gesetzlos zu werden. Als sie auf die später so berühmten Outlaws Butch Cassidy und Elzy Lay trifft, erlebt sie mit ihnen und Fynn viele Abenteuer, auch in der Liebe, und sie findet Freunde fürs Leben. "Ich kann tun, was ich will, ich bin frei!", wird zu Abbys Lebensmotto. Sie weiß, dass jeder für sein Glück selbst verantwortlich ist. Alle Wege stehen ihr offen und sie zögert nicht, diese zu gehen!

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Buchbeschreibung:

Dieses Buch rankt sich um die Menschen, die auf dem Outlaw Trail lebten, um ihre Abenteuer und auch um ihr alltägliches, manchmal sehr eintöniges Leben. Alle Erlebnisse rund um Abby sind meiner Fantasie entsprungen, doch ist die Geschichte so geschrieben, dass sie theoretisch hätte passieren können.

Butch Cassidy hatte eine Ranch in Lander, er musste 1889 von dort fliehen, weil er verfolgt wurde, er lernte wohl zu der Zeit Elzy Lay kennen und es könnte sein, dass die beiden damals schon Räubereien begingen, die niemals aufgedeckt wurden.

Aber bis auf den Bankraub in Telluride 1889 fand keiner meiner beschriebenen Überfälle statt, ich habe sie alle frei erfunden.

Über die Autorin:

Claudia Fischer lebt in Bayern, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Sie war Lehrerin an einer Realschule und unterrichtete Englisch und Musik. Inzwischen arbeitet sie als Lektorin und Autorin.

Ihre historischen Romane spielen vor dem Hintergrund des Wilden Westens in Nordamerika, sie handeln von starken Frauen, die ihre Probleme ebenso bewältigen mussten wie die Frauen von heute.

Claudia Fischers weiteres Genre sind Thriller.

„The best way to hurt them is through their pocket book. They will holler louder than if you cu1t off both legs. I steal their money just to hear them holler. Then I pass it out among those who really need it.“ *

Butch Cassidy

1*Larry Pointer: „In Search of Butch Cassidy“ University of Oklahoma Press Norman 1977 S. 147 Bildnachweis: https://www.marysvale.org/history/butch_cassidy.htm

Inhaltsverzeichnis

Buchbeschreibung:

Über die Autorin:

San Francisco

Meadow, Utah

Unterwegs

Der Zugüberfall

In Bitter Creek

Ritt nach Lander

Ein neues Leben beginnt

Der Wettkampf

Eine Heimat für den Winter

Abby setzt sich durch

Der strenge Winter

Auf dem Pfad der Gesetzlosen

Der Saratoga-Bankraub

Browns Hole

Der zweite Winter in Lander

Ein neuer Aufbruch

Der Evanston-Bankraub

Wieder vereint in Browns Hole

Unterwegs nach Arizona

Getrennte Wege

Ein Winter in San Francisco

Rückkehr zum Outlaw Trail

Der Glenrock-Bankraub

The Hole in the Wall

Wieder beginnt ein neues Leben

Die lange Reise

Heimkehr

Das Geschenk des Lebens

Die Jahre vergehen

Das Wiedersehen

Nachwort

San Francisco

12.02.1910

Die Sonne versank schon beinahe im Pazifik. Es war ein schöner Tag gewesen, sonnig, aber nicht allzu warm.

Fast vier Jahre nach dem großen Erdbeben, bei dem alles zerstört worden war, was sie besessen hatten, stand Abby fröstelnd im Vorgarten ihres neu gebauten Hauses und schnitt ein paar Blumen zurecht. Sie liebte diese Arbeit und überließ sie nicht dem Gärtner.

Bald war es Zeit zum Abendessen, aus der Küche erklangen die vertrauten Geräusche, das Klappern der Töpfe, das leise Klirren von Geschirr und das Gezanke der Köchin mit dem Dienstmädchen.

Ein friedlicher Abend lag vor ihr, sie freute sich darauf, auf das wärmende Feuer, das im Salon brennen würde, und auf die gute Mahlzeit. In ihrem Leben hatte sie zu schätzen gelernt, was es bedeutete, regelmäßig essen zu können und ein bequemes Bett zum Schlafen zu haben.

Plötzlich unterbrach ein schriller Pfiff von der Straße her diese Idylle. Abby blickte auf, wer wagte es …

Als sie den Mann erkannte, der ihr fröhlich zuwinkte, schwankte der Erdboden unter ihren Füßen. Er lebte!

Er war zurückgekehrt, sie hatte es gewusst, er war immer viel zu schlau gewesen für das Gesetz.

Langsam trat sie auf ihn zu, berührte ihn leicht, um sich zu vergewissern, dass er keine Traumgestalt war.

Er lachte sie an, sein Lächeln war immer noch unwiderstehlich, und er begrüßte sie mit den vertrauten Worten: „Jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe, bist du noch schöner geworden, Abby!“

Sie schloss die Augen und mit einem Schlag überkamen sie die Erinnerungen.

Sie war wieder 16 Jahre alt, ein junges Mädchen, hungrig nach dem Leben und nach Abenteuern, doch gefangen in einer Welt, in der sie gehorchen musste.

Und dann wurde sie befreit!

Meadow, Utah

14.8.1889

Abigail Clearwater erwachte wie immer sehr früh. Sie wohnte mit ihrer Familie seit vielen Jahren mitten in der lebhaften Mormonensiedlung Meadow, die eine beliebte Durchgangsstation für reisende Mormonen auf ihrem Weg nach Südkalifornien war. Abigails Familie betrieb ein kleines, sauberes Hotel und konnte sich dank der vielen Gäste durchaus als wohlhabend betrachten.

Obwohl die Sonne freundlich und warm schien und einen herrlichen Sommertag versprach, gelang es Abby nicht, sich darüber zu freuen, denn ständig musste sie daran denken, was die Zukunft für sie bereithalten würde. Ihr Herz zog sich zusammen, mit dem nächsten Sonntag würde sich ihr Leben grundlegend ändern und das sicher nicht zum Guten.

Sie stand seufzend auf, wusch sich und kleidete sich sorgfältig an, dann schlich sie leise in die Küche hinunter und verrichtete die anfallenden Morgenarbeiten, wie es von ihr erwartet wurde.

Kurz darauf erschien auch die Mutter und gemeinsam bereiteten sie das Frühstück für sich selbst, den Vater, die drei kleineren Geschwister und die Gäste. Sie arbeiteten schweigend, Mutter und Tochter hatten sich nicht viel zu sagen, Abby kannte das gar nicht mehr anders. Der Vater bestimmte im Haus und er hatte auch angeordnet, was nächsten Sonntag geschehen würde.

Es gab keinen Widerspruch und selbst wenn die Mutter nicht einverstanden wäre, es würde nichts nützen. Abby konnte weder Mitgefühl noch Trost erwarten, sie hatte zu tun, was ihr bestimmt war, denn der Vater wollte das und die Mutter war seit Jahren daran gewöhnt, sich widerspruchslos zu fügen.

Der Tag zog sich hin, es gab viel zu tun, die Zimmer mussten saubergemacht und vorbereitet werden, es waren endlose, mühsame, sich immer wiederholende Arbeiten, die Abby bis jetzt gehasst hatte, aber hätte sie die Wahl, würde sie diese Arbeiten liebend gerne weiter bis an ihr Lebensende verrichten. Für die nächsten Tage erwarteten sie zahlreiche Gäste, Verwandtschaft würde von weit her anreisen, um dabei zu sein, wenn man Abbys Leben und Zukunft zerstören würde, denn genau so empfand sie es. Quälend langsam verging der Tag, für Abby jedoch viel zu schnell, der Sonntag rückte unaufhaltsam näher.

Gegen Abend tauchte ein unerwarteter Gast auf, ein junger Mann, etwas abgerissen und schmutzig, er schien schon lange unterwegs zu sein, und er fragte nach einem Zimmer für eine Nacht. Das war kein Problem, die Mutter wählte eines der billigen Zimmer im obersten Stock und schickte Abby mit dem Mann hinauf, damit sie es ihm zeigte und ihm ein dringend notwendiges Bad in der Badestube bereitete. Der Mann hatte sich als Mr. Smith vorgestellt und angesichts seines etwas verwahrlosten Äußeren hatte Mrs. Clearwater das Geld für das Zimmer bereits kassiert, man wusste ja nie. Es kamen viele sogenannte Mr. Smiths, die dann, ohne zu bezahlen, einfach verschwanden.

Abby führte den Gast in das kleine Zimmerchen und öffnete das Fenster, um frische Luft hineinzulassen.

Der junge Mann gähnte und warf sich aufs Bett.

„Soll ich Ihnen jetzt ein Bad machen9?“, fragte Abby, denn er sah nicht so aus, als würde er noch einmal aufstehen wollen.

„Das wäre nett, es war heute doch ziemlich heiß, aber danach möchte ich nur noch schlafen, denn morgen habe ich wieder eine längere Strecke vor mir.“

Abby blickte ihn mit großen Augen an. „Wohin wollen Sie denn?“

Er sah überrascht und ein wenig überrumpelt auf.

„Nach Norden, nach Salt Lake City, und in Ogden in den Zug und dann nach Wyoming!“

„Haben Sie es gut!“, seufzte Abby sehnsüchtig.

Der Mann betrachtete das Mädchen genauer.

Sie trug ein einfaches, dunkles Kleid mit einer weißen, sauberen Schürze, war noch sehr jung, und sie hatte lange, lockige, rotblonde Haare, die zu einem Knoten hochgesteckt waren. Sie war ziemlich groß und schlank und ihr sommersprossiges Gesicht war ebenmäßig mit vollen Lippen und grünbraunen Augen.

Eigentlich ein wirklich hübsches Ding, doch natürlich war sie eine Mormonin und offensichtlich kein Mädchen, das leicht zu haben war.

„Sie wollen doch bestimmt nicht nach Wyoming, Miss!“, lachte er und beschloss, sie ein wenig zu necken. „Hier haben Sie doch alles, was Sie brauchen und sicher warten gutaussehende junge Männer in Scharen darauf, Sie zur Frau zu nehmen! Ich würde mir das bei Ihnen jedenfalls nicht zweimal überlegen!“

Abby wich langsam an die Wand zurück, lehnte sich haltsuchend dagegen und ließ seine Worte wirken. Er würde es sich nicht zweimal überlegen, sie zu heiraten … hatte er das ernst gemeint? Gab es denn noch eine Möglichkeit, dem Schicksal auszuweichen?

Er setzte sich auf. Hatte er etwas Falsches gesagt? Wieso wirkte sie so verstört?

„Was ist los?“, fragte er. „Ich hoffe, ich bin Ihnen nicht zu nahegetreten. Es tut mir leid, ich hätte das nicht sagen sollen, Sie sind natürlich bereits versprochen …“

Er hatte nur geraten und sah sofort, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Sie wurde plötzlich kalkweiß, als sei sie einer Ohnmacht nahe.

„Aber anscheinend sind Sie nicht glücklich darüber?“, fragte er vorsichtig.

Abby starrte ihn an. Sie wusste es noch nicht, doch hier und jetzt entschied sich ihr künftiges Leben. Sie hätte schweigen können und alles wäre so gekommen, wie man es für sie geplant hatte. Aber sie blieb und somit stellte sie alle Weichen neu.

„Es fragt niemand danach, ob ich glücklich bin“, flüsterte sie.

„Ich frage danach. Was ist los? Mit wem will man Sie vermählen?“

Abby schluckte. „Tom Brigham ist ein reicher Mann. Er wohnt draußen am Rand des Canyons. Er hat eine große Ranch, aber er hat keine Söhne. Nur Töchter. Er braucht einen Sohn.“

„Und da kommen Sie ins Spiel? Er hat bereits Töchter? Also er ist schon verheiratet?“

„Er hat vier Frauen. Sie können keine Kinder mehr bekommen, sie sind …“

„Zu alt? Um Himmelswillen, wie alt sind die Frauen denn? Und wie alt ist dieser Tom?“

„Er ist über 60 und seine jüngste Frau ist 42.“

„Und wie alt sind Sie?“

„Ich bin 16.“

Der Mann, der sich Smith genannt hatte, sank nachdenklich auf das Bett zurück. Das war ja eine schöne Geschichte! Da sollte dieses junge, hübsche Mädchen an einen alten Bock verschachert werden, sie sollte einziehen in ein Haus, in dem vier Frauen lebten, die alle ihre Mütter sein könnten, nur damit sie den ersehnten Sohn gebar.

„Und das lassen Sie sich gefallen? Sie machen da mit? Sie können diesen alten Mann doch unmöglich lieben“, wunderte er sich.

„Ich habe keine Wahl, ich muss!“

„Natürlich haben Sie eine Wahl. Wann ist denn die Hochzeit?“

„Am Sonntag.“ Abbys Stimme klang sehr traurig.

„Am Sonntag bereits! Na, dann ist es wohl höchste Zeit.“

„Höchste Zeit … wofür?“

„Wegzulaufen natürlich. Heute ist Mittwoch! Nehmen Sie die Beine in die Hand und schauen Sie, dass Sie hier wegkommen. Sie werden doch wohl nicht einem Leben an der Seite eines Greises den Vorzug geben?“

„Ich kann doch nicht einfach weglaufen!“ Abby war höchst erstaunt.

„Sie können auch nein sagen. Kein Mensch kann Sie zwingen zu heiraten, es gibt Gesetze in diesem Land. Und jetzt wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir das versprochene Bad bereiten würden.“

Das Mädchen erinnerte sich schuldbewusst an ihre Pflichten und eilte in die Badestube. Die Mutter hatte schon Wasser heiß gemacht und Abby füllte die Wanne damit. Als sie fertig war, klopfte sie an die Zimmertür des Mannes und führte ihn hinunter.

Er lächelte sie freundlich an und bevor er die Tür hinter sich schloss, meinte er: „Es gäbe natürlich noch eine Möglichkeit, sorgen Sie dafür, dass der alte Mann Sie nicht will!“

„Wie denn?“

Doch sie bekam keine Antwort mehr.

Während Abby überlegte, was er gemeint haben könnte, genoss der Mann das Bad. Er lag gemütlich im warmen Wasser, seifte sich ab und dachte an das Mädchen. Sie hatte ihm sehr gefallen und es war eine reine Verschwendung, so ein hübsches Ding an einen alten Mann zu verschachern.

Er überlegte. Er könnte sie mit nach Salt Lake City nehmen, von dort würde sie sich allein durchschlagen können, das war tatsächlich eine Möglichkeit. Und für ihn konnte dabei durchaus etwas herausspringen, schließlich schien die Familie nicht gerade arm zu sein.

In seinem eigenen Leben hatte sie dann natürlich keinen Platz, sein Name war ja auch nicht Smith, er hieß Fynn Johnson, aber das ging niemanden etwas an, zumal so mancher Sheriff vielleicht sogar interessiert daran war, ihn hinter Schloss und Riegel zu sperren. So ganz rein war seine Weste schließlich nicht und es war besser, kein Aufsehen zu erregen. Er hatte vor, sich in Ogden mit seinen Freunden zu treffen und dann mit ihnen nach Wyoming zu fahren. Zusammen würde man neue Pläne machen, ob er einen ehrlichen Weg einschlagen würde oder nicht, würde er dann sehen und sich entscheiden.

Ja, das Mädchen, sie ging ihm nicht aus dem Kopf.

Sie passte nicht ganz in eine Mormonenfamilie. Dazu wirkte sie zu eigensinnig und frech, wie hatten ihre Augen aufgeblitzt, als er vom Weglaufen gesprochen hatte, es war bestimmt nicht einfach für sie, sich gehorsam und demütig zu zeigen. Wenn er es genau überlegte, der alte Mann konnte einem eigentlich fast leidtun, sie würde sich nicht sehr lange alles bieten lassen und den Haushalt dort bald bestimmen. Dennoch, es war ein freudloses Leben, das sie erwartete, und das war schon auch ein Grund zu überlegen, ob er ihr nicht helfen sollte.

Schließlich erhob er sich aus der Wanne und zog frische Kleidung an. Nun konnte er sich sehen lassen, seine ziemlich langen Haare waren wieder blond und nicht staubig und fielen locker über seine Schultern, seinen Bart würde er gleich ordentlich stutzen und seine strahlend blauen Augen, mit denen er die Damen zu betören wusste, blickten aus einem Gesicht, das von der Sonne und nicht vom Dreck gebräunt war.

Fröhlich pfiff er vor sich hin, während er sein Erscheinungsbild komplettierte, dann packte er seine Sachen zusammen und überlegte, ob er nicht doch noch etwas essen sollte, das Bad hatte ihn munter gemacht. Also suchte er die Gaststube des Hotels auf, wo er wieder auf Abby traf.

Als sie ihn sah, trat ein erfreutes Lächeln in ihr Gesicht und machte sie noch hübscher.

Nein, sein Entschluss stand so gut wie fest, er würde ihr seine Hilfe anbieten, aber zunächst fragte er, ob er etwas zu essen bekommen könnte.

Sie nickte freundlich. „Setzen Sie sich, Mr. Smith, es ist noch Eintopf da, den will ich Ihnen gerne bringen!“

Sie verschwand in die Küche und kam kurz darauf mit einem dampfenden Teller und einem Löffel zurück. Danach brachte sie noch Brot und einen Krug Wasser und sah zu, wie er es sich schmecken ließ. „Sagen Sie mir, wenn Sie mehr haben möchten, Mr. Smith.“

„Sehr freundlich von Ihnen, es ist wirklich köstlich, ja, ich denke, ich nehme gerne noch etwas, Abby, ich darf Sie wohl so nennen? Ich hörte, wie Ihre Mutter Sie so ansprach. Ich heiße Fynn.“

„Fynn“, wiederholte Abby. „Ja, natürlich können Sie Abby zu mir sagen, jeder nennt mich so, mein richtiger Name ist aber Abigail.“

In diesem Moment kam ein kleines, rothaariges Mädchen, das wie eine Miniaturausgabe von Abby aussah, in den Raum gestürzt, offensichtlich eine ihrer Schwestern.

„Abby, dein Verlobter kommt!“

Abby wurde wieder sehr blass.

Doch dann straffte sie die Schultern und blickte den Ankommenden gefasst entgegen.

Tom Brigham war ein stattlicher Sechzigjähriger mit einem ellenlangen weißen Bart. Er war ein gottesfürchtiger, strenger Mann, der seine kleine Ranch mit starker Hand führte und auch seine vier Frauen und sieben Töchter gut im Griff hatte. Er war es gewohnt zu befehlen und erwartete, dass seinen Anordnungen widerspruchslos Folge geleistet wurde. Seine Frauen hatten ihm viele Kinder geboren, doch hatte keiner der Söhne länger als ein Jahr überlebt, er hoffte nun, ein junges Mädchen könnte ihm seinen sehnlichsten Wunsch nach einem Sohn erfüllen. Abby erschien ideal, sie war hübsch, stark und gesund und er wusste, dass sie ihren Eltern gehorchte und fleißig arbeiten konnte.

Auf dem Fuß folgte ihm seine erste Frau, Corinna, sie war in seinem Alter und hatte nach wie vor in seinem Haushalt das Sagen. Corinna war eine gebeugte, griesgrämige Frau, der man nur schwer etwas recht machen konnte. Sie hielt ein schlecht verschnürtes Paket in der Hand, das sie nun Abby überreichte.

„Wir bringen dein Kleid für die Hochzeit!“ Ihre Stimme war knarzend und barsch.

Abby wickelte das Paket neugierig aus und starrte gleich darauf entsetzt auf den schmutzig weißen Fetzen. Sie bemerkte gar nicht, dass ihre Mutter eingetreten war und die Brighams begrüßt hatte.

„Nein“, rief Abby voller Abscheu, „nein, das ziehe ich nicht an!“

Sie hielt das Kleid hoch, es war völlig unmodisch gerüscht, zumindest da, wo die Motten etwas übriggelassen hatten. Abby bemerkte auch mehrere Löcher in dem zerschlissenen Stoff, der einst sicher weiß gewesen war, aber nun vergilbt und teilweise schmutzig war.

Auch Fynn starrte ungläubig auf das sogenannte Brautkleid. Das war ja eine reine Zumutung.

„Was soll das heißen?“, fauchte Corinna Brigham.

Mrs. Clearwater versuchte zu besänftigen. „Man muss es vielleicht gründlich reinigen …“

„Es ist gereinigt! Wir haben es mit eigenen Händen gewaschen, gesäubert und ausgebessert. Es war gut genug für uns, da wird es auch für die Missy hier passend sein.“ Corinnas Stimme triefte vor Zorn.

Abby schüttelte den Kopf. „Ich habe wohl das Recht, in einem schönen Kleid zu heiraten. Diesen Fetzen hier werde ich jedenfalls nicht anziehen, man kann ihn zum Putzen verwenden, das ist alles!“

Tom Brigham mischte sich ein. „Miss Clearwater, Sie werden tun, was von Ihnen verlangt wird. Ich habe alle meine Frauen in diesem Kleid geheiratet, Sie werden keine Ausnahme sein.“

„Vielleicht haben Sie deshalb keine Söhne“, mischte sich plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund ein. Alle drehten sich zu Fynn um. Er hatte sich erhoben und blickte die Anwesenden spöttisch an.

„Müsste ich eine Frau in diesem … Kleid … heiraten, würde ich es mir dreimal überlegen, ob ich sie mit in mein Bett nehme, zumindest hätte ich gewisse Schwierigkeiten, denn das Bild würde ich so schnell nicht aus dem Kopf kriegen.“

Alle starrten Fynn an. Was erlaubte er sich? Abby konnte sich das Lachen nur mühsam verbeißen, vor allem, als sie sah, dass Corinna die Worte fehlten, das kam bei dieser alten Hexe einer Sensation gleich.

Tom Brigham fand als Erster seine Sprache wieder. „Mein Herr, was fällt Ihnen ein? Verschwinden Sie hier, bevor ich mich vergesse!“ Er tastete nach seinem Gürtel, an dem er einen Revolver trug.

Mrs. Clearwater bemerkte es mit Sorge. „Bitte, bitte, keine Aufregung. Mr. … Smith, es wäre wohl besser, Sie verlassen uns jetzt. Sie sind ja fertig mit dem Essen.“

„Ja, danke, es schmeckte wirklich vorzüglich. Ich empfehle mich! Guten Abend, die Damen, der Herr!“

Er verbeugte sich übertrieben höflich und verschwand. Was mochte nun wohl weiter dort geschehen?

Nun ja, er würde es von Abby schon noch erfahren. Wie sie sich das Lachen verbissen hatte, er hatte sie richtig eingeschätzt, sie war ein freches Ding und konnte sich bestimmt gut in der freien Welt behaupten.

Tatsächlich klopfte es wenig später an seiner Zimmertür.

„Herein!“, rief er.

Abby stürmte atemlos in das Zimmer. „Wie konnten Sie nur! Sie unverschämter Kerl! Corinna wusste nicht mehr, was sie sagen sollte, herrlich!“

Er musste lachen. „Nun ja, ich fand, Sie könnten ein wenig Unterstützung brauchen. Das Kleid haben Sie hoffentlich weggeworfen?“

Sie schüttelte betrübt den Kopf. „Nein, ich werde es wohl tragen müssen.“

„Wie bitte, Sie wollen tatsächlich diesen ekelhaften Fetzen anziehen?“

„Mir wird nichts übrigbleiben. Mein Vater ist dazugekommen und damit war die Sache entschieden. Er wird mich sowieso noch verprügeln, weil ich es wagte, zu widersprechen, aber ich schwöre, das war es wert! Corinna sprachlos zu sehen, die alte Hexe!“

Ihre Augen leuchteten.

Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Fynn zu. „Nun gut, Sie sagten vorhin, ich solle hier weglaufen. Ich habe mir das überlegt. Ich denke, das ist meine einzige Möglichkeit! Wenn ich dafür sorgen würde, dass Tom mich nicht heiraten will, würde mich mein Vater totprügeln, also scheidet das aus. Bleibt daher nur die Flucht, nicht wahr?“

„Haben Sie denn einen Plan?“

„Ja, nehmen Sie mich mit nach Salt Lake City?“

Fynn war erleichtert. Sie war von ganz allein auf diese Lösung gekommen, somit konnte es später keine Vorwürfe geben, falls irgendetwas schiefgehen sollte.

Dennoch äußerte er ein paar Bedenken. „Sie sind sich im Klaren, was das bedeuten wird? Nächte im Freien, tagelange Ritte durch die Sommerhitze, Sie werden sicher verfolgt werden, also sollten wir die offiziellen Routen meiden und uns durch die Wälder im Osten schlagen. Was die Strecke etwas verlängert, von den Gefahren der Wildnis spreche ich erst gar nicht.“

Sie überlegte kurz. Dann sah sie ihm in die Augen. „Vor den Gefahren der Wildnis werden Sie mich beschützen, Sie sind schon lange unterwegs und kennen sich aus. Ich vertraue Ihnen. Ich habe keine Angst vor Nächten im Freien, als Kind bin ich oft nachts heimlich aus dem Haus und habe mit anderen Kindern irgendwo gelagert. Es waren Mutproben, die Jungs fürchteten sich im Gegensatz zu mir. Ich kann gut reiten, auch längere Strecken. Ich brauche nur ein Pferd, ich besitze keines. Und ich habe kein Geld.“

„Ich habe es mir fast gedacht, dass Sie das Wort Furcht nicht kennen. Das ist gut! Besorgen Sie sich ein Pferd und Geld, wozu hat Ihre Mutter eine Kasse unten? Da steht Ihnen doch ein wenig Lohn zu …“

„Sie meinen, ich soll … stehlen?“ Abby war ganz erschrocken.

„Stehlen, was für ein grausames Wort, Sie nehmen sich einfach Ihren Lohn für jahrelange unbezahlte Arbeit. Überlegen Sie, was ein Dienstmädchen gekostet hätte. Und außerdem stelle ich meine Dienste ja auch nicht umsonst zur Verfügung.“

„Ich soll Sie bezahlen?“

„Mein Kind, alles in der Welt muss bezahlt werden. Ich muss schließlich auch von etwas leben.“

„Wie viel wollen Sie haben?“

Fynn hatte sich das bereits überlegt. „400 Dollar!“

Abby erschrak. „Das ist zu viel, so viel kann ich unmöglich bezahlen.“

„Das ist der Preis.“

Sie wandte sich um. „Dann gehe ich eben ohne Sie, ich schaffe das auch allein, ich brauche Sie nicht!“

„Sind Sie sicher? Sie kennen sich aus in der Wildnis? Sie haben keine Angst vor Indianern und all den wilden Kerlen, die unterwegs sind?“

„Ich werde mich zu verteidigen wissen!“

Fynn grinste. „Das glaube ich Ihnen sogar. Also gut, solch Heldenmut lässt mich nicht kalt. Wie viel sind Ihnen meine Dienste wert?“

„Die Hälfte! Mehr zahle ich nicht.“

Er beschloss sie zu testen und sah sie anzüglich an. Er wollte herausfinden, was sie zu tun bereit war.

„Ich wäre mit weniger zufrieden, wenn die Bezahlung Sie miteinschließen würde.“

„Wie bitte?“

„Wir beide könnten eine schöne Zeit miteinander verbringen, Sie werden schließlich um Ihre Hochzeitsnacht gebracht, ich könnte Mr. Brigham mehr als gut vertreten.“

„Was erlauben Sie sich? Das kommt überhaupt nicht in Frage. 200 Dollar, oder wir lassen es. Und mich rühren Sie nicht an!“

Fynn, der sich durchaus auch mit weniger Geld zufriedengegeben hätte, tat, als überlege er, und nickte schließlich. „Abgemacht. Ich bringe Sie sicher nach Salt Lake City.“

„Dort bekommen Sie dann Ihr Geld“, bestimmte Abby.

„Nein, im Voraus!“

„Sie bekommen Ihr Geld, wenn wir in Salt Lake City sind und Ihr Benehmen mir gegenüber in Ordnung war.“

„Also gut, einverstanden!“

Er reichte ihr die Hand und sie schlug ein. Ihre Antwort und Reaktion hatten ihm gefallen, sie achtete auf sich und würde ihm nicht zu nahekommen. Er hatte nicht vor, sich auf irgendetwas einzulassen.

Dann fuhr er fort: „Aber nun zu den Einzelheiten, hat Sie jemand hier hereinkommen sehen?“

Abby schüttelte den Kopf. „Nein, ganz bestimmt nicht, alle denken, ich sei in der Badestube und würde dort saubermachen. Dort sieht niemand nach mir.“

„Gut, dann verlieren wir keine Zeit. Sie gehen sofort und verstecken sich irgendwo in der Gegend, kennen Sie ein gutes Versteck, wo Sie die Nacht verbringen können und wo niemand Sie findet?“

„Ich soll allein weg? Jetzt?“

„Ja, natürlich, keiner darf wissen, dass ich mit im Spiel bin. Jeder soll denken, Sie sind auf sich allein gestellt. Ich werde morgen Vormittag in aller Ruhe zu Ihnen stoßen und dann machen wir uns gemütlich auf den Weg, während alle Verfolger uns voraus sind und Sie irgendwo in weiter Ferne suchen.“

Abby lachte. „Ja, das klingt nach einem guten Plan. Und ich weiß auch ein Versteck nicht weit von hier, eine kleine Höhle, die wir vor Jahren einmal gefunden haben, sie ist fast zugewachsen, niemand würde sie dort vermuten.“

„Nehmen Sie etwas mit, womit Sie Feuer machen können, falls Sie eine Fackel brauchen. Aber machen Sie kein Lagerfeuer, das würde man von weitem sehen.“

„Halten Sie mich für so dumm?“

„Wer weiß?“, lachte Fynn. „Wo finde ich denn diese Höhle?“

Abby erklärte ihm den Weg genau. Dann verließ sie das Zimmer. Sie zitterte vor Aufregung und auch vor Angst.

Wie sollte sie das Geld beschaffen? Würde sie es wagen, ganz allein eine Nacht in der Höhle zu verbringen? Würde Fynn tatsächlich am nächsten Tag kommen und sie holen? Was sollte aus ihr in Salt Lake City werden?

Sie riss sich zusammen und dachte an das Nächstliegende. Sie musste schnell eine Tasche packen.

Woher sollte sie nur ein Pferd nehmen? Sie sah aus dem Fenster und musste plötzlich grinsen.

Tom Brighams Pferd stand immer noch angebunden vor dem Hotel. Er war sicher auf ein paar Besuche gegangen und das dauerte für gewöhnlich länger. Wenn sie nun rasch handelte, konnte sie sein Pferd stehlen, er würde sowieso wütend auf sie sein, sie gab ihm nur einen Grund mehr. Und gesucht wurde sie so und so, dann lieber wegen Pferdediebstahls hängen, als ein Leben neben Tom Brigham zu verbringen. Das Pferd konnte sie dann in Salt Lake City verkaufen und damit Fynn bezahlen.

Ja, das war eine gute Lösung!

In Windeseile packte sie eine Tasche zusammen, nahm Wäsche, einen Rock und eine Bluse und ein weiteres Kleid mit, eine Decke und allen Schmuck, den sie besaß, nur Tom Brighams Verlobungsring streifte sie ab und hinterließ ihn auf ihrem Bett. Leise schlich sie nach unten.

Niemand von ihrer Familie war zu sehen, die Mutter wirtschaftete in der Küche, man konnte die Töpfe und Pfannen klappern hören. Die Geschwister spielten artig in ihren Zimmern, es war schon bald Schlafenszeit.

Abby nickte den zwei Gästen, die in der Wirtsstube saßen, freundlich zu und ging hinter den Empfangstresen. Nachdenklich betrachtete sie die Kasse.

Sollte sie? Es war Diebstahl, das brachte sie nicht fertig. Nicht bei ihren Eltern. Aber was sprach eigentlich dagegen, wenn sie sich etwas zu leihen nahm?

Sie würde es eines Tages zurückzahlen, das schwor sie sich. Flink holte sie alle Dollarscheine aus der Kasse und schrieb einen Zettel, auf dem sie ihr Tun erklärte, und versprach, das Geld zurückzugeben, sobald es ihr möglich war.

Sie blickte auf die Gäste, denen nichts Ungewöhnliches aufgefallen war und die ruhig aus ihren Wasserkrügen tranken.

Natürlich! Wasser, Essen, sie würde tagelang unterwegs sein. Verhungern und verdursten wollte sie nicht!

Gelassen schlenderte sie in die Speisekammer und sah sich um. Sie nahm ein Brot, gedörrtes Fleisch, Schwefelhölzer und einen Wasserbeutel, den ein Gast einmal vergessen hatte und der seitdem an einem Haken hing und auf seinen Besitzer wartete.

Abby entschied, dass der Beutel lange genug gewartet hatte, und hängte ihn sich um den Hals. Sie vergaß auch nicht das scharfe Messer, das in der Speisekammer bereitlag, um Fleisch zu schneiden. Die Tasche war nun ziemlich voll, dennoch, etwas fehlte noch.

Vorsichtig spähte Abby in den Flur, vielleicht war der Vater irgendwo unterwegs und saß noch nicht in seinem Arbeitszimmer. Das Glück blieb ihr hold, die Tür des Raumes stand sogar offen und unbemerkt schlüpfte sie hinein. Sie öffnete den Schrank mit den Gewehren, der Vater hatte mehrere für die Jagd, sie wählte eines aus, mit dem sie selbst schon hatte schießen dürfen, und suchte Munition dafür. Sie fand sie praktischerweise in einem Beutel, den sie sich einfach an ihren Gürtel hängte.

Nun noch ein Hut, denn die Sonne schien heiß und man musste sich tagsüber schützen. Im hinteren Teil des Flures hingen die Hüte der Familie und Abby setzte sich ihren eigenen Lederhut auf den Kopf, den sie getragen hatte, als sie einmal den Vater zur Jagd hatte begleiten dürfen.

Ein seltener Moment des Glücks war das gewesen, bis sie bemerkt hatte, dass ihr Vater sie nur mitgenommen hatte, weil Tom Brigham mit von der Partie war, der gerade verlauten hatte lassen, dass er wieder eine Frau suchte. Der Plan des Vaters war aufgegangen, Tom hatte um sie angehalten und der Vater hatte sofort zugestimmt.

Abby verscheuchte die trüben Gedanken, nun war es wichtig, unbesehen zu entkommen.

Die Sonne versank allmählich, sie leuchtete schon in warmen roten Farben, viel Zeit blieb nicht mehr, wenn sie Toms Pferd nehmen wollte.

Doch da sah sie das entsetzlich hässliche Brautkleid, das ordentlich auf einem Bügel im Flur hing. Sie betrachtete es mit Abscheu.

Keinem Menschen konnte man dieses Gewand zumuten.

Sie holte das Messer aus der Tasche und schnitt das Kleid in Fetzen. Große Mühe machte es nicht, denn der zerschlissene Stoff bot kaum Widerstand.

Danach atmete sie befreit auf. Jetzt oder nie!

Sie wusste, um diese Zeit würden alle in ihren Häusern sitzen, das Abendbrot zu sich nehmen oder beten, es war der günstigste Moment für eine Flucht.

Sie verließ das Haus und ging ohne Zögern zu Toms Pferd, einer kräftigen braunen Stute, die sehr gut eingeritten war, davon konnte Abby ausgehen. Sie lockte das Tier mit einer Handvoll Zucker, die sie in der Speisekammer in ihre Rocktasche gesteckt hatte, und streichelte ihren Hals. Die Stute schmiegte sich an Abby, sie würde kein Problem machen. Abby befestigte die Tasche, stieg auf und ritt einfach davon, Richtung angrenzender Wald. Niemand hielt sie auf, denn kaum jemand hatte sie gesehen.

Nur zwei Stockwerke höher bewegte sich ein Vorhang und über Fynns Gesicht zog ein anerkennendes Lächeln. Dieses kleine Biest hatte doch tatsächlich das Pferd ihres Verlobten gestohlen, um damit vor ihm zu fliehen.

Alle Achtung!

Unterwegs

Abby fand sofort den kleinen Pfad, der sie quer durch das Wäldchen zu der Bergkette im Westen führen würde. Erleichtert folgte sie ihm und trieb ihr Pferd an, denn es wurde nun rasch dunkel. Sie wollte rechtzeitig bei der Höhle sein, damit sie auch noch etwas erkennen konnte.

Schließlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie stieg vom Pferd und band es an einen Baum. Im allerletzten Dämmerlicht suchte sie den Eingang zur Höhle und sah sich um, nein, hier wollte sie nicht übernachten, sie würde im Freien bleiben, die Höhle hatte einen steinigen harten Boden.

Das Pferd würde sie warnen, wenn jemand kommen sollte, dann konnte sie sich immer noch leicht mit dem Pferd hier verstecken.

Es war eine warme Nacht, besser war es, bei dem kleinen Bächlein zu bleiben, das gleich unterhalb der Höhle seinen Lauf hatte. Niemand würde sie hier vermuten, alle würden denken, sie sei so schnell und so weit wie möglich weggeritten, Fynn hatte sich das schon richtig überlegt.

Fynn … Abby wusste nicht so recht, was sie von ihm halten sollte. Er schien nicht ganz ehrlich zu sein, aber für den Moment blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen. Im Gegensatz zu ihr hatte er Erfahrung und kannte vor allem den Weg nach Norden, es war sicher besser, sich seiner Führung anzuvertrauen, als allein herumzuirren.

Obwohl sie kein bisschen müde war, kramte Abby nach ihrer Decke und breitete sie auf den Boden aus. Dann sattelte sie das Pferd ab und versteckte den Sattel und ihre Tasche in einem Gebüsch. Das Pferd trank ruhig aus dem Bächlein und schien sich bei Abby wohlzufühlen. Tom Brigham hatte es wohl öfter mit in die Berge genommen, es war gut, dass sie dieses Tier ausgewählt hatte.

Sie lehnte sich gegen einen Baum, legte das geladene Gewehr griffbereit neben sich und horchte in die Dunkelheit. Angst hatte sie nicht, sie fühlte sich vollkommen sicher. Um sie herum war Stille, nur das Rauschen der Bäume im Wind und das weit entfernte Heulen von Kojoten war zu hören.

Was mochte wohl nun zuhause los sein?

Im Hotel legte sich Fynn gemütlich auf sein Bett und lauschte auf die Geräusche im Haus. Bald würde man Abbys Verschwinden bemerken, ob man sie sofort suchen würde? Oder den nächsten Tag abwarten?

Er hörte schließlich, wie ihr Name mehrmals gerufen wurde. Leise schlich er an die Tür und öffnete sie einen Spalt. Er wollte keinesfalls auffallen, musste aber wissen, was vor sich ging. Es kostete ihn jedoch wenig Mühe, die laute Schimpftirade von Mrs. Clearwater zu verstehen.

Sie äußerte ihren Unmut darüber, dass Abby das Bad nicht saubergemacht hatte, in scharfen Worten und Fynn hörte schließlich, wie schwere Schritte die Treppe heraufpolterten. Schnell schloss er die Tür und legte sich aufs Bett, aber die Schritte entfernten sich von seinem Zimmer und eine Tür am Ende des Ganges wurde aufgerissen.

„Abby, wo bist du?“, rief eine laute zornige Männerstimme. „Mach deine Arbeit, sonst kannst du was erleben!“ Nach einer kleinen Weile rief der Mann laut: „Sie ist nicht da!“

Wenig später wurde Fynns Tür geöffnet. Fynn tat, als schrecke er hoch. Der Schein einer Kerze erhellte sein Zimmer.

„Was soll das? Was wollen Sie?“, fragte er, scheinbar empört.

„Ich suche meine Tochter, ist sie hier? Meine Frau meinte, Sie hätten heute mit ihr geredet!“

„Ihre Tochter? Sie hat mir ein Bad gemacht und Essen gebracht. Sie ist nicht hier, was denken Sie eigentlich? Aber überzeugen Sie sich ruhig!“

Mr. Clearwater hob die Kerze an und sah sich in der winzigen Kammer um. Dann verließ er wortlos das Zimmer und macht die Tür sorgfältig zu.

Fynn grinste in sich hinein. Mrs. Clearwater hatte tatsächlich die richtigen Schlüsse gezogen und bemerkt, dass Abby länger als nötig Zeit mit ihm verbracht hatte.

Gut, dass sie schon weg war und kein Verdacht auf ihn fallen würde. Hoffentlich hatte sie sich versteckt und ihr Mut verließ sie nicht.

Die schweren Schritte polterten die Treppe wieder hinunter und Fynn begab sich erneut auf seinen Beobachtungsposten an der Tür. Viel war nicht mehr zu hören, dann doch, ein Aufschrei.

Und gleich darauf kreischte Mrs. Clearwater: „Sie ist weggelaufen! Amos, sie ist weg! Du bist schuld, sie wollte diesen Brigham nicht heiraten, warum hast du sie gezwungen, das zu tun? Bring mir meine Tochter zurück!“

Was Mr. Clearwater sagte, war nicht zu verstehen, Fynn hörte Abbys Mutter weinen, dann war Stille.

Er gähnte, es war wohl nun besser, zu schlafen, die nächsten Nächte würde er im Freien verbringen, also lieber noch einmal ein bequemes Bett genießen.

Doch es kehrte keine wirkliche Ruhe ein. Vor dem Hotel hörte man wütende Stimmen, anscheinend war der Sheriff informiert worden, der sich lautstark weigerte, in der Nacht einen Suchtrupp loszuschicken.

Und schließlich ertönte lautes, zorniges Geschrei von Tom Brigham, der sein Pferd suchte und alle und jeden verfluchte und dem Pferdedieb ewige Rache schwor. Es war lange nach Mitternacht, bis es Fynn endlich vergönnt war, zu schlafen.

Er erwachte früh am Morgen, goss das bereitgestellte Wasser aus der großen Kanne in die Schüssel und wusch und rasierte sich. Dann packte er seine Sachen zusammen und stieg pfeifend die Treppen hinunter. Im Speisesaal traf auf eine verweinte Mrs. Clearwater, die ihn kurzangebunden fragte, ob er ein Frühstück wolle.

„Gern!“, antwortete er und wollte dann wissen: „Ist Ihre Tochter wieder aufgetaucht? Ihr Mann war ja gestern noch bei mir.“

Mrs. Clearwater schüttelte den Kopf und brach in Tränen aus.

„Nun, nun …“, sagte Fynn begütigend. „Sie kann nicht weit sein. Sie wird schon wieder heimkommen, schließlich soll sie doch heiraten. Vielleicht hat sie ein wenig Angst vor dem großen Tag bekommen?“

„Nein, sie ist weg!“, schluchzte Mrs. Clearwater. „Sie hat das Brautkleid zerstört und ein Pferd gestohlen, das Pferd ihres Verlobten. Wer weiß, wo sie ist, wer weiß, was ihr passiert, mein Kind, mein kleines Mädchen!“

„Informieren Sie den Sheriff, der wird sie schon finden. Keine Sorge. Ich kann ja auch nach ihr Ausschau halten und sie zurückbringen, wenn Sie wollen!“

„Werden Sie das tun, Mr. Smith? Wenn ich mein Kind wiederbekomme, werde ich Sie reichlich entlohnen!“

„Aber sicher werde ich das.“

„Ich bringe Ihnen sofort etwas zu essen und packe Ihnen noch etwas ein, das müssen Sie nicht zahlen, suchen Sie meine Tochter, bitte!“

Sie verschwand in die Küche und kam gleich darauf mit einem schwer beladenen Tablett zurück.

Fynn ließ es sich schmecken, na, das hatte sich doch gelohnt. Er hätte sowieso kaum mehr Geld für das Essen übriggehabt und sich schon Gedanken gemacht, wie er, ohne zu bezahlen, verschwinden konnte. Und Abby hatte das Brautkleid zerstört, sie gefiel ihm immer besser und er freute sich darauf, sie gleich zu treffen.

Als Fynn satt war, verabschiedete er sich und holte sein Pferd aus einem Stall, wo er es untergestellt hatte und wo es gutes Futter bekommen hatte. Dann ritt er gemütlich los Richtung Norden.

Erst als er sicher war, dass er nicht mehr gesehen werden konnte, bog er nach links in den lichten Wald ab und suchte den Pfad, von dem Abby gesprochen hatte. Er fand ihn nicht, ritt aber immer weiter westlich bis zu der Bergkette, und wandte sich dann nach Süden.

Irgendwo hier musste Abby ja sein. Und tatsächlich kam sie ihm kurz darauf entgegen, sie hatte nach einer ziemlich schlaflosen Nacht genug von der Warterei gehabt, das Pferd gesattelt und sich auf den Weg gemacht.

Sie lächelte ihn an. „Da sind Sie ja! Sie sind wirklichgekommen!“

„Ich hoffe, Sie haben nicht daran gezweifelt?“

„Nur ein wenig! Aber erzählen Sie bitte, was war zuhause los? Hat man bemerkt, dass ich fort bin?“

Fynn berichtete haarklein von den Ereignissen der letzten Nacht, verschwieg aber natürlich, dass er von Mrs. Clearwater den Auftrag hatte, Abby zurückzubringen. Dieses Detail wollte er sich für den Fall aufsparen, dass man sie doch erwischte, dann hatte er eine gute Ausrede, warum er mit ihr unterwegs war, und würde die Belohnung eben nicht von Abby, sondern von ihrer Mutter bekommen.

So oder so, Fynn hatte nicht vor, ein Risiko einzugehen.

Abby war erstaunt und berührt, als sie erfuhr, dass ihre Mutter ihretwegen geweint hatte, das hätte sie nicht erwartet und ein wenig regte sich ihr Gewissen.

Andererseits war die Mutter bereit gewesen, sie an Tom Brigham zu verschachern, und das war Grund genug, sich nicht lange Gedanken zu machen.

Während Fynn erzählte, waren sie ein gutes Stück nordwärts durch den Wald geritten und Fynn schlug vor, nun eine östliche Richtung einzuschlagen und über die Wildnis der Berge zu reiten, wo dichte Wälder Schutz vor Entdeckung und vor der heißen Sonne boten.

Abby war einverstanden und bald darauf überquerten sie vorsichtig die schmale Ebene, in der der Weg nach Salt Lake City nordwärts führte. Niemand war zu sehen, die Verfolger waren bestimmt schon weit voraus, da sie vermuten würden, dass Abby möglichst zügig nach Norden geritten war.

Abby konnte nicht anders, sie fühlte sich plötzlich glücklich und frei, sie hatte keine Angst, war unterwegs in ein neues Leben, niemand würde ihr mehr vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen hatte, alle Wege standen ihr offen. Leise summte sie vor sich hin und genoss den langsamen Ritt, der nun wieder durch schattige Wälder führte.

Fynn wandte sich zu ihr um und stimmte mit einem etwas unreinen Bass in ihr Lied ein.

„Ich kenne dieses Lied, wie heißt es?“, fragte er am Ende.

Abby lachte. „Sagen Sie bloß, Sie sind auch Mormone, das ist ein Kirchenlied, Mr. Fynn, und heißt This Earth was Once a Garden Place.“

„Mag sein, dass ich mal Mormone war, aber bitte, Abby, lass doch das ‚Mister‘ weg, wir werden einige Zeit zusammen unterwegs sein und es könnte rau werden, Förmlichkeiten brauchen wir da wirklich nicht.“

Abby zögerte, ihr wäre es lieber gewesen, den Abstand zu bewahren, aber vielleicht hatte Fynn recht, sie waren die nächsten Tage auf sich allein gestellt und wer wusste schon, welche Gefahren vor ihnen lagen.

Daher gab sie nach. „Also gut, Fynn.“

Es wurde später Nachmittag, als sie eine Pause einlegten, die Pferde brauchten Ruhe. Sie hatten vor, in ein paar Stunden bis zum Sonnenuntergang weiterzureiten und noch eine weite Strecke zurückzulegen.

Abby sattelte ihr Pferd ab und band es an einem kleinen Bächlein an einen Baum. Dann legte sie sich in den Schatten und schloss die Augen. Sie hatte in der Nacht kaum geschlafen und war müde.

Fynn betrachtete sie.

Sie war ihm vollkommen ausgeliefert, es war naiv von ihr, ihm so zu vertrauen, zumal sie ihn nicht ein bisschen kannte. Er konnte alles Mögliche mit ihr anstellen, niemand würde ihn zur Rechenschaft ziehen, doch das kam für ihn nicht in Frage. Er kannte ein paar Kerle, für die es kein Halten gegeben hätte, aber er, Fynn, gehörte nicht dazu. Er würde sogar noch einen Schritt weitergehen und Abby beibringen, etwas vorsichtiger gegenüber Männern zu sein.

Das konnte bestimmt nicht schaden, es wäre tatsächlich schade um das Mädchen, wenn er sich nun so viel Mühe gab, sie nach Salt Lake City zu bringen, und dann machte sich der Nächstbeste über sie her.

Er lehnte sich an einen Baum und lauschte wachsam auf die Umgebung, er hielt nichts von Überraschungen.

Doch nichts störte ihre Ruhe und Fynn weckte Abby schließlich, die tief und fest geschlafen hatte, damit sie weiterreiten konnten.

Sie legten tatsächlich noch ein gutes Stück zurück und lagerten endlich in einem geschützten, einsamen Tal an einem kleinen See.

Fynn machte ein Feuer und Abby wärmte Wasser in einem Topf. Sie aßen Brot und das Fleisch, das Abby mitgebracht hatte, und Abby dachte, wie gut es ihr doch ginge und wie glücklich sie sein konnte.

Fynn machte es sich so bequem wie möglich. Er übernachtete eigentlich nicht gerne im Freien, zog weiche Betten vor, aber nun ging es nicht anders und er fügte sich ins Unvermeidliche.

„Übrigens, Abby, du hast die erste Wache, weck mich in ein paar Stunden, dann übernehme ich und du kannst schlafen.“

„Nachtwache? Ich?“

„Wer sonst? Du hast heute Nachmittag geschlafen, jetzt bin ich dran. Weck mich, sobald du etwas Ungewöhnliches hörst, aber bitte nur, wenn es wirklich etwas Ernstes ist, ein Grizzly oder Indianer zum Beispiel. Dein Gewehr ist geladen? Halte es bereit!“

Er grinste in sich hinein, als er ihr erschrockenes Gesicht sah und zog sich den Hut über das Gesicht.

Er glaubte nicht, dass es viel Grund zur Sorge gab, aber Wasserstellen zogen in der kargen Landschaft immer Mensch und Tier an, also war es besser, vorsichtig zu sein.

Abby lehnte sich an einen Baum und umklammerte ihr Gewehr. Aufmerksam lauschte sie in die Dunkelheit.

Wie unverschämt von Fynn, ihr eine Wache zuzumuten, er war doch derjenige, der für ihre Sicherheit zu sorgen hatte, dafür bezahlte sie ihn.

Sie hatte Mühe, wach zu bleiben, aber sie wollte nicht einschlafen, Fynn sollte sehen, dass man sich auf sie verlassen konnte. Träumerisch betrachtete sie die unzähligen Sterne am Himmel und den Mond, der schon beinahe voll war und die Umgebung in ein geisterhaftes Licht tauchte.

Plötzlich raschelte es hinter ihr und etwas brummte. Sie erschrak zutiefst, war das ein Bär?

„Fynn, wach auf!“

Sie hastete schnell und leise zu ihm hinüber und rüttelte ihn. Er war sofort hellwach und griff nach seinem Gewehr.

„Was ist?“, flüsterte er.

„Ein Brummen, dort bewegt sich etwas! Ein Bär, ganz bestimmt!“

„Ein Bär, aha!“

Fynn erhob sich und warf einen Stein in das Gebüsch, auf das Abby zeigte. Ein kurzes Jaulen ertönte, dann raschelte es heftig und ein kleiner dunkler Schatten machte sich schleunigst davon.

Abby klammerte sich an Fynn. „Was war das?“

„Keine Ahnung, vielleicht ein Dachs, oder ein Biber, auf jeden Fall nichts wirklich Gefährliches. Ein Bär versteckt sich nicht im Gebüsch! Und nun möchte ich weiterschlafen. Du weißt ja jetzt, wie man kleinere Tiere verscheucht.“

Er löste ihre Hände von seinem Arm und legte sich wieder hin. Abby schämte sich sehr. Eigentlich war sie nicht so schreckhaft, aber vor Bären hatte sie Respekt. Das Brummen hatte sich so gefährlich angehört. Hier in der Wildnis, so weit weg von zuhause, wer wusste schon, was sich hier alles herumtrieb.

Dann schalt sie sich selbst, wäre es ein Bär gewesen, wären die Pferde unruhig geworden. Aber die standen angebunden unter einem Baum und schienen zu schlafen.

Abby hätte das auch gern getan, doch sie musste wach bleiben.

Es fiel ihr schwer, ein paarmal schlummerte sie ein und Träume überwältigten sie und dann war da plötzlich ihr Vater, der vor ihr stand, mit einem Lederriemen, mit dem er sie schlagen wollte.

Abby schrie auf und sprang hoch, doch als sie sich umsah, war nur Fynn bei ihr, der sich wieder aufgesetzt hatte und sein Gewehr in Anschlag hielt.

„Was ist jetzt wieder los?“, fragte er flüsternd.

„Mein Vater war hier“, antwortete sie zitternd, der Schreck war ihr durch alle Glieder gefahren.

„Verdammt, Abby, reiß dich zusammen, du hast geträumt. Dabei solltest du wach bleiben, ist das denn so schwer? Ich muss mich schon auf dich verlassen können!“

„Es tut mir leid. Wirklich! Ich muss eingeschlafen sein. Aber es schien so echt.“

„Also gut, schlaf jetzt, ich werde übernehmen, nur wenn du morgen wieder so ein Theater machst, kannst du allein weiterreiten.“

„Nein! Ich will das jetzt richtigmachen.“ Abby warf eigensinnig ihren Kopf zurück. „Leg dich wieder hin, Fynn!“

Er lachte kurz auf. „Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass die Sonne demnächst aufgeht? Es wird bald dämmern. Du hast wahrscheinlich länger geschlafen, als dir bewusst ist. Also ruh dich noch ein wenig aus. Heute wird wieder ein anstrengender Tag werden.“

Abby legte sich wortlos hin. Es war ihr furchtbar peinlich, dass sie tatsächlich die Nachtwache verschlafen hatte. Was musste Fynn nur von ihr denken?

Er war bestimmt böse auf sie. Würde er sie wirklich irgendwo allein zurücklassen?

Als er sie weckte, glaubte sie, nur kurz die Augen geschlossen zu haben, aber es war inzwischen Morgen geworden und die Sonne erschien langsam über den Bergen.

Sie ging zum See und wusch sich darin, dann stieß sie plötzlich einen Schrei aus, rannte aus dem Wasser und klammerte sich erneut an Fynn.

„Was ist jetzt wieder los?“, stöhnte er, während er sich von ihr befreite.

„Da war eine Schlange!“

„Ja und? Sie beißt dich schon nicht, wenn du sie in Ruhe lässt.“

„Aber …“

„Hör zu, Abby, ich habe es dir gesagt, es ist nicht so ungefährlich in der Wildnis, aber wenn du auf dich achtgibst, passiert dir nichts. Wo Wasser ist, sind immer alle möglichen Tiere, gerade jetzt im Sommer. Sei einfach vorsichtig und mach Augen und Ohren auf.“

„Ich wusste nicht, dass Schlangen schwimmen können.“

„Oh, einige können es. Und jetzt hol Wasser, dann brechen wir endlich auf!“

„Ich gehe nicht wieder zu diesem See!“

Fynn hob die Augenbrauen. „Nun gut, aber du wirst diejenige sein, die ohne Wasser weiterreitet. Ich hole dir bestimmt keins!“

„Wir kommen heute doch gewiss an einem Bach vorbei.“

Fynn zischte wie eine Schlange, ließ seine Hand vorschnellen und packte sie am Arm. Abby schrie wieder erschrocken auf und er lachte sie aus.

„Der Bach könnte voller Schlangen sein“, neckte er sie. „Pass auf, wo du hintrittst!“

Sie wurde wütend, auch auf sich selbst, weil sie so schreckhaft war. Sie schlug seine Hand weg, fasste den Wasserbeutel und wandte sich um, um zum See zu gehen. Er sollte sie kennenlernen!

Aber er ließ sie nicht in Ruhe, ihm machte die Szene Spaß. Sobald sie sich gebückt hatte, um den Beutel zu füllen, zischte er.

Wieder erschrak sie. Doch sie fasste sich und als er sich umdrehte, leerte sie das Wasser über seinem Kopf aus.

„Du hast dich heute noch nicht gewaschen“, spottete sie.

Er packte sie und hob sie hoch. Sie wehrte sich heftig, aber er war einfach stärker.

„Lass mich sofort los!“, schrie sie.

„Gerne“, grinste Fynn, trat ein paar Schritte vor und ließ sie ins Wasser plumpsen. Sie prustete und planschte im eiskalten Wasser und beeilte sich, ans Ufer zu kommen.

„Das zahle ich dir heim, du Mistkerl“, brüllte sie ihn zornig an.

„Ich warte darauf! Und jetzt beeil dich ein bisschen, sonst kommen wir vor der Mittagshitze nicht mehr weit. Sauber bist du ja jetzt.“

Schnaubend vor Wut zog Abby sich um und überlegte, wie sie sich rächen konnte, es musste etwas wirklich Schlimmes sein, selbst als sie endlich weiterritten, konnte sie an nichts anderes mehr denken, aber ihr fiel nichts ein. Schließlich war sie auch von Fynn abhängig, wenn er wollte, konnte er sie einfach zurücklassen, das musste sie sich zähneknirschend eingestehen.

Der Tag verging ereignislos und sie schafften ein schönes Stück nach Norden. In dieser Nacht riss Abby sich bei der Wache zusammen, sie wollte sich auch keine weitere Blöße geben, und weckte Fynn nach ein paar Stunden, damit er übernehmen konnte. Sie fiel sofort in einen traumlosen, erholsamen Schlaf.

Als sie am nächsten Morgen weiterritten, brachte Fynn das Gespräch auf Abbys Zukunft, er war neugierig, was sie vorhatte.

„Was gedenkst du eigentlich in Salt Lake City zu tun?“, fragte er. „Wie willst du leben dort?“

Abby blickte erschrocken auf. Sie hatte bis jetzt nur daran gedacht, von zuhause wegzukommen, alles Weitere hatte sie von sich geschoben.

„Ich weiß nicht“, antwortete sie zögernd. „Ich werde wohl irgendwie Geld verdienen müssen.“

„Das wird nicht so einfach sein. Wie willst du das anstellen?“

Sie überlegte lange. „Wie machst du das, Fynn? Wie kommst du zu Geld?“

„Ich? Ich nehme, was kommt, so wie dich nach Salt Lake City zu bringen, dafür wirst du mich bezahlen, und ich finde immer wieder Arbeit auf irgendeiner Ranch. Ich habe zusätzlich noch die eine oder andere Möglichkeit, die werde ich dir aber bestimmt nicht auf die Nase binden.“

Es ging Abby tatsächlich nichts an, wie er sich Geld verschaffte, auf nicht immer ehrliche Weise.

Doch sie hatte bereits ihre eigenen Schlüsse gezogen. „Du bist ein richtiger Gauner, nicht wahr, Fynn? Wirst du in Utah denn gesucht? Mit Steckbrief? Bekomme ich Geld, wenn ich dich verrate?“

Er lachte laut auf. „Da hast du dir ja was Schönes ausgedacht. Das versuch mal, ich fürchte, da habe ich dann etwas dagegen. Das könnte übel für dich ausgehen. Überlege dir lieber was anderes.“

„Du wirst Utah verlassen, das hast du mir ja erzählt, du willst nach Wyoming, ich könnte doch mitkommen.“

„Du? Mit mir mitkommen? Das vergiss ganz schnell, wo ich hingehe, kann ich dich wirklich nicht brauchen.“

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht allein sein werde und meine Freunde nicht so nett sind wie ich. Ich hätte keine Lust, die ganze Zeit auf dich aufzupassen, damit dir nichts passiert.“

„Ich kann auf mich selbst aufpassen.“

„Wie gesagt, vergiss es. Ich bringe dich nach Salt Lake City und das war es. Du hast noch etwa zwei Tage Zeit, dir Gedanken zu machen. Nütze sie lieber!“

„Aber Fynn …“

„Nein, Abby, bis Salt Lake City, keinen Schritt weiter!“

‚Das werden wir ja sehen‘, dachte Abby. Sie war ziemlich verletzt, dass Fynn sie nicht weiter dabeihaben wollte. Ihr gefiel es eigentlich in seiner Begleitung, er war im Grunde freundlich und strahlte Sicherheit aus, und sie hatte gedacht, dass er sie auch mochte. Warum sonst hätte er sie mitgenommen? Nur wegen des Geldes?

Nun gut, sie hatte noch zwei Tage Zeit ihn umzustimmen. So ein gesetzloses Leben musste doch aufregend sein, sie stellte sich vor, wie es sein würde, einen Überfall zu begehen, dem Sheriff flink und geschickt zu entkommen, es war so romantisch und wild und ihr Herz klopfte schneller vor Erregung. Wer hatte nicht von Jesse James oder Calamity Jane und Wild Bill Hickock gehört, die zu Legenden des Westens geworden waren.

Sie träumte vor sich hin, mit Fynn an ihrer Seite konnte sie doch auch eine Berühmtheit werden, sie musste ihn nun nur noch davon überzeugen, dass sie ebenfalls diesen Weg einschlagen wollte.

Aber Fynn ließ sich auf keine weiteren Gespräche mehr ein, das war ihm zu gefährlich geworden. Er hatte ein eigensinniges Aufblitzen in Abbys Augen gesehen und war gewarnt. So nett und hübsch sie war, er konnte und wollte sich nicht weiter mit ihr belasten und war nur noch gespannt, wie sie ihre Schulden bei ihm bezahlen würde. Hatte sie nun von ihren Eltern Geld gestohlen?

Er würde auf jeden Fall zu seinem Lohn kommen, wenn Abby nicht zahlen konnte, würde er sie einfach beim nächsten Sheriff abliefern und eine Belohnung kassieren. Das war sein geringstes Problem und vielleicht auch eine Lösung, falls sie sich tatsächlich nicht abwimmeln ließ.

Abby hatte mehrmals versucht, mit Fynn zu reden, doch er antwortete kaum und ritt lieber schweigend vor ihr her, während sie vor Wut fast kochte. Warum nur wollte er sie nicht mitnehmen? Sie verstand es nicht.

Und dann erreichten sie endlich Salt Lake City. Abby verschlug es die Sprache, als sie die hohen Gebäude erblickte,den Tempel, der sich immer noch im Bau befand, aber seine spätere Pracht und Größe schon zeigte, und die breiten Straßen, die sich vor der majestätischen Kulisse der hohen Berge erstreckten. So etwas hatte sie noch nicht gesehen und sie wurde fast ehrfürchtig.

Nun war Fynn wieder bereit zu reden. „Wir sind hier, wie versprochen. Kann ich nun mein Geld haben?“

In ihrer Antwort lag Verzweiflung. „Du willst mich also wirklich hier zurücklassen?“

„Ja, ich sagte dir das schon, bis Salt Lake City und nun möchte ich mein Geld!“

„Ja gut, ich muss nur erst das Pferd verkaufen.“

„Du verkaufst das Pferd, das du deinem Verlobten gestohlen hast? Du liebe Güte, Abby, du weißt schon, dass man dich dafür hängen kann?“

Sie warf den Kopf zurück. „Das soll nicht dein Problem sein!“

Fynn betrachtete sie kurz und überlegte. „Also gut, wie viel Geld hast du bei dir?“

Er wusste das natürlich inzwischen genau, denn während Abby geschlafen hatte, hatte er ihre Sachen durchsucht. Er war nur neugierig, ob sie ihn anlügen würde.

Sie sah ihm fest in die Augen und nannte die Summe, die er erwartet hatte.

Es war nicht allzu viel, aber eigentlich würde es ihm reichen, schon, damit er Abby schnell los war. „Dann gib mir das, es ist okay für mich, und behalte dein Pferd, du wirst es brauchen können, denn hier kannst du wahrscheinlich nicht bleiben.“

Er deutete auf einen Baum am Straßenrand und Abby entdeckte voll Entsetzen eine Art Steckbrief, mit dem nach ihr gesucht wurde. Sogar eine Belohnung war ausgesetzt worden, das hatten wohl ihre Eltern veranlasst.

Hastig schob sie ihre Haare in den Hut und zog ihn tief über den Kopf.

Dann suchte sie ihr Geld hervor und überreichte es Fynn mit kurzem Zögern.

Er nahm es, ohne zu zählen, und tippte mit der Hand an seinen Hut. „Mach es gut, Abby, du wirst es schon schaffen! Und trau keinem, hörst du? Du bist viel zu vertrauensselig. Du hattest nur Glück, dass ich es war, der dich hierher brachte.“

Im Nachhinein erkannte Fynn, dass es ihn hätte misstrauisch machen müssen, wie bereitwillig Abby den Abschied hinnahm.

Aber er war nur froh, dass sie ihm keine Szene machte.

„Alles Gute auch für dich, Fynn, und danke für deine Hilfe.“

Sie reichten sich kurz die Hände und dann ritt Fynn die staubige Hauptstraße entlang Richtung Norden, wo er in Ogden auf den Bahnhof der transkontinentalen Eisenbahn und auf seine Freunde treffen würde, während Abby ihm trotzig hinterher starrte.

Sie hatte die letzten Tage ihre eigenen Pläne gemacht, Fynn würde sie schon noch kennenlernen!

Zunächst jedoch tastete sie nach dem Geld, das sie in ihrem Mieder versteckt hielt. Sie hatte nur eine kleinere Summe in ihre Tasche gelegt, für den Fall, dass Fynn schnüffeln sollte. Es ging ihn überhaupt nichts an, wie viel sie tatsächlich besaß. Und seiner Reaktion nach zu urteilen – er hatte nicht weiter verhandelt – hatte er genau gewusst, was sich in ihrer Tasche befand.

Doch nun musste sie vorsichtig sein. Sie wollte weder von Fynn noch von sonst jemandem entdeckt werden, der sie nach Hause bringen und die Belohnung kassieren würde.

Daher ritt sie ebenfalls die Hauptstraße entlang und tauchte in der Menge der Leute, Kutschen und Fuhrwerke unter, die geschäftig auf und ab eilten. Es war laut und heiß, Abby sehnte sich in die Einsamkeit der kühlen Wälder zurück.

Wo mochte der Bahnhof sein?

Als Abby zum nördlichen Ende der Stadt kam, sah sie Fynn in einiger Entfernung eine belebte Straße entlangreiten. Sie reihte sich ein in die lange Kolonne von Kutschen und folgte ihm weiter Richtung Norden.

Er wandte sich kein einziges Mal um. Abby lächelte verächtlich. Fynn hatte keine Ahnung, dass sie ihn verfolgte. Die Räder der Kutschen wirbelten viel Staub und Dreck auf, Abby hatte nun wenig Angst, dass irgendjemand sie erkennen könnte, so schmutzig wie sie war.

Es dauerte lange, bis sie Ogden erreichten, und die Sonne ging bereits unter.

Ogden war der Bahnhof, der sehr nahe bei Promontory lag, wo der berühmte letzte Nagel für die transkontinentale Eisenbahn eingeschlagen worden war.

Fynn war schon öfter hier gewesen und kannte sich aus. Er ritt ohne Aufenthalt zu einem etwas schäbigen Hotel nahe beim Bahnhof, band sein Pferd an die Tränke und trat ein. Innen ging es recht lebhaft zu, Gäste saßen an Tischen und spielten Karten oder aßen und tranken etwas und im Hintergrund spielte jemand auf einem Klavier.

Fynn sah sich um und entdeckte sehr schnell seine Freunde, Tom McCarty und Matt Warner.

Tom war etwa 25 Jahre alt und hatte ein weiches Gesicht mit blassblauen Augen und struppigen, schmutzig blonden Haaren. Matt dagegen sah ziemlich gefährlich aus mit seinen eng zusammenstehenden dunklen Augen. Seine Haare waren fast schwarz und sehr gepflegt.

Er hatte etwas von einem Raubtier und tatsächlich war Matt dafür bekannt, dass er leicht in Zorn geriet und kaum einer Auseinandersetzung aus dem Weg ging.

Fynn winkte den beiden zu, bestellte sich an der Theke ein Bier und setzte sich dann zu ihnen.

„Hallo zusammen, schön euch zu sehen!“

„Wo bleibst du so lange? Was hat dich aufgehalten? Wir warten schon seit drei Tagen hier auf dich, morgen wären wir abgereist“, wurde er begrüßt.

„Ich habe unterwegs einen kleinen Auftrag erledigt, musste ja irgendwie zu Geld kommen“, entschuldigte er sich. „Aber nun zu euch, ich habe gehört, die Sache in Telluride ging reibungslos und ihr habt jede Menge Zaster erbeutet …“

„Nicht so laut, Fynn“, zischte Matt. „Hier gibt es viele Ohren, die zuhören könnten.“

„Du hast doch nicht etwa Angst, Matt?“, lachte Fynn. „Hier oben in Utah werdet ihr wohl doch nicht gesucht.“

„Hör zu, Fynn, die Sache ist zum Teil schiefgelaufen. Der Kerl, für den wir dort unten gearbeitet haben, hat uns auf der Flucht getroffen und dem Sheriff unsere Namen genannt. Jeder weiß jetzt, dass wir es waren. Butch ist über den Trail nach Norden, er wartet auf uns in Point of Rocks. Er sagte, nun seien wir echte Outlaws und müssen auch so leben!“

„Und ihr tut brav, was Butch euch sagt?“, grinste Fynn.

„Davon kann keine Rede sein“, erwiderte Tom ruhig. „Aber in dieser Sache hat er recht und ich muss sagen, er hat alles geplant und wir haben es so durchgezogen, wie er sagte.“

„Nicht ganz“, widersprach Matt. „Es war vor allem mein Plan gewesen!“

„Ich streite nicht mit dir darüber, Matt!“

„Ich wäre gern dabei gewesen“, seufzte Fynn. „Und ich hörte, es hat sich für euch gelohnt!“

„Über 7000 Dollar für jeden von uns“, prahlte Tom strahlend. „Und ich sage dir, Fynn, wenn Butch und Matt etwas Neues planen, bin ich dabei.“

„Das werde ich auch. Nochmal macht ihr das nicht ohne mich! Wann fährt der nächste Zug?“

„Morgen früh soll einer kommen. Man wird uns Bescheid geben, wann er eintrifft.“

„Das ist gut!“, gähnte Fynn, „Ich möchte eigentlich nur noch kurz etwas essen und dann in ein Bett, hab seit Tagen keins mehr gesehen!“

„Was hast du denn gemacht?“

„Ich habe eine junge Dame nach Salt Lake City gebracht, sie ist ausgerissen und wir sind durch die Wälder geritten.“

„Na, wenn das kein angenehmer Auftrag war“, grinste Matt.

„Es ging so, sie war recht anhänglich und ich war froh, als ich sie los war!“

„War sie wenigstens hübsch?“

„Ja, doch, sie war sehr ansehnlich. Aber sie ging ganz schön auf die Nerven nach einer Weile!“

„Das tun alle Weiber“, lachte Tom.

„Egal, ich werde sie wohl nicht wiedersehen.“

Selten hatte Fynn sich so getäuscht!

Der Zugüberfall

Während Fynn mit seinen Freunden zusammen im Gastraum des Hotels saß, überlegte Abby draußen vor der Tür, wie sie weiter vorgehen sollte.

Von Fynn wusste sie, dass er nach Wyoming wollte, daher war es wohl am besten, sie erkundigte sich nach dem nächsten Zug und legte sich auf die Lauer, um zu sehen, welchen er nehmen würde. Sie würde ebenfalls mit an Bord sein, so viel stand fest.