Abby II - Claudia Fischer - E-Book

Abby II E-Book

Claudia Fischer

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Beschreibung

Butch Cassidy kehrt 1910 unerkannt in die USA zurück und sucht seine einstige Weggefährtin Abby auf, die seit 16 Jahren mit ihrer Familie in San Francisco lebt. Abby erkennt durch ihn, dass sie im Verlauf ihrer Ehe alles einbüßte, was ihr einst wichtig war. Als Butch ihr vorschlägt, mit ihm neu zu beginnen, fällt ihr die Entscheidung leicht, auch wenn ein Leben an der Seite des gesuchten Outlaws Verzicht und eine ungewisse Zukunft bedeutet. Zunächst muss Abby jedoch ihrer eigenwilligen Tochter Alison alle Wege ebnen und ihr zeigen, was wahre Freiheit bedeutet. So begeben sich Mutter und Tochter auf eine abenteuerliche Reise, die sie einander näherbringen und ihr Leben für immer verändern wird.

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Buchbeschreibung:

Diese Geschichte ist die Fortsetzung des Buches „Abby – Mit Butch Cassidy auf dem Outlaw Trail“.

Abby Hart lebt seit 16 Jahren mit ihrem Mann James und ihrer Tochter Alison in San Francisco. Als Butch Cassidy nach seinem angeblichen Tod aus Südamerika zurückkehrt und sie aufsucht, erkennt sie, dass sie und James in ihrer Ehe nicht mehr glücklich sind. Doch Abby kann James erst verlassen, nachdem sie Alison alle Wege für ihre Zukunft als Ärztin geebnet hat.

Über die Autorin:

Seit meiner Kindheit träume ich von den USA. Das Land der Freiheit, das Land aller Möglichkeiten.

Daher siedle ich alle meine Geschichten dort an, denn die scheinbare Unbegrenztheit öffnet mir so viele Türen.

Dann kommt natürlich dazu, dass ich schon immer vom sogenannten Wilden Westen fasziniert war, von Pferden, weiten Ebenen, Wüsten und felsigen Höhen.

In den Filmen und Büchern geht es jedoch stets nur um verwegene Männer, ich dagegen schreibe über Frauen.

Frauen, die alles erreichen können, was sie nur wollen.

Frauen, die so ganz anders sind als ich selbst, die ich brav verheiratet bin, im soliden Bayern lebe und zwei erwachsene Söhne habe. Dazu war ich noch Lehrerin, bis mich eine Erkrankung in die Pensionierung zwang.

Aber in meiner Fantasie bin ich schon immer dort gewesen, wohin meine Sehnsucht mich nach wie vor treibt.

„Ihr seid beide tot, jetzt könnt ihr leben!“

Inhaltsverzeichnis

San Francisco

Pläne und Vorbereitungen

Das Ende einer Ehe

Unterwegs zum Grand Canyon

Wiedersehen mit Fynn

In Denver

Das Wiedersehen

Das Leben auf der Ranch

Flucht durch die Berge

Im Haus der Lays

Abby und Robert

Im Haus der Lays

Rückkehr zur Ranch

In Meadow

Rückkehr nach San Francisco

Die Abmachungen

Alison kehrt heim

Schwere Entscheidungen

Alles fügt sich

Leben und Tod

San Francisco

Das kleine private Glück

San Francisco

Los Angeles

Danksagung zur zweiten Auflage

Nachwort der Autorin zur zweiten Auflage

Weitere Informationen

San Francisco

13.02.1910

Alison Hart war das jüngere Ebenbild ihrer Mutter Abby. Sie war groß und schlank, hatte lange, rotblonde lockige Haare, ein sommersprossiges Gesicht und grünbraune Augen. Sie war 15 Jahre alt und mit der festen Überzeugung aufgewachsen, dass die Welt ihr auch als Mädchen offenstehen würde, denn sie hatte es nie anders gehört.

Sie kannte die aufregende Geschichte ihrer Mutter, die sich mit 16 Jahren in Wyoming den dort lebenden Banditen angeschlossen und mit ihnen mehrere Banken überfallen hatte. Nach drei gesetzlosen Jahren hatte Abby jedoch ihrer Verbrecherkarriere den Rücken gekehrt und war nach San Francisco gezogen, um mit James Hart, dem reichen Erben einer Kaufmannsfamilie ein neues Leben zu beginnen und die Welt zu entdecken.

Als Alison sich ankündigte, waren Abby und James gerade auf einer langen Reise, sie kehrten daher nach Kalifornien zurück und heirateten dort. Alison blieb das einzige Kind, und die Stärke ihrer Mutter Abby hatte sich auf sie übertragen.

Dazu hatte sie den Eigensinn ihrer Großmutter Jacky Hart geerbt, die ebenfalls auf eine bewegte Geschichte zurückblicken konnte, und die 1906 beim großen Erdbeben zusammen mit ihrem Mann Ben gestorben war und von allen immer noch schmerzlich vermisst wurde.

Großmutter Jacky hatte sich rührend um die kleine Alison gekümmert und sie mit aufgezogen, denn Abby und James waren vor allem in ihren ersten Lebensjahren viel auf Reisen gewesen.

Später hatten die beiden ihre Tochter mitgenommen, so dass Alison für ihr junges Alter ungewöhnlich viel gesehen und erlebt hatte, und unter den gleichaltrigen Mädchen durch ihre Weltoffenheit und Erfahrung herausstach.

Da sie äußerst wissbegierig und intelligent war, brachte sie ihre Lehrerinnen auf der renommierten Hamlin Schule für Mädchen oft zur Verzweiflung. Alison nahm nichts als gegeben an, hinterfragte alles, und besorgte sich selbst Bücher oder Schriften, mit denen sie Theorien untermauerte oder widerlegte.

Überhaupt waren Bücher ihre Leidenschaft, sie las ständig und gab später ihr Wissen freigebig preis. Oft genug musste sie von Eltern und Lehrern gebremst werden, denn nicht alles, was sie las, war für ihr Alter gedacht, und sie hatte wenig Gefühl dafür, was für die Öffentlichkeit geeignet war und was nicht. Ihre Zensuren in der Schule waren stets ausgezeichnet und man war sich dort einig, dass Alison unbedingt an die Stanford University gehen sollte, sie würde eine hervorragende Lehrerin werden.

Alison selbst hatte jedoch ihre eigenen Pläne, sie wollte Medizin studieren, der Arztberuf hatte sie schon immer fasziniert. Das einzige Problem war ihr Vater, der von ihr verlangte, das Geschäft weiterzuführen, und der sich da kaum auf Diskussionen einließ. Nun, es waren noch zwei Jahre Zeit bis zur Entscheidung, aber schon jetzt gab es immer wieder Unstimmigkeiten und Streit in der Familie.

Doch an diesem Sonntag war das alles uninteressant. Am Abend zuvor waren zwei fremde Männer aufgetaucht und von ihrer Mutter sofort eingeladen worden. Diese beiden Besucher hatten sich ihr als Robert und Harry vorgestellt, aber ansonsten war nicht viel in Erfahrung zu bringen. Sie schienen freundlich und solange Alison dabeigesessen war, war kaum ein Wort gefallen, das verraten hätte, wer diese Männer in Wirklichkeit waren. Man hatte nur gewartet, bis Alison in ihr Zimmer geschickt wurde.

Das Mädchen hatte die Anspannung fast körperlich gefühlt und sie war sehr böse geworden, dass man sie wie ein kleines Kind behandelte. Aber wenn ihre Eltern sich ausnahmsweise einig waren, gab es wenig Widerspruch und Alison hatte wutschnaubend gehorchen müssen.

Sie hatte gehört, dass lange Gespräche geführt wurden, doch leider hatte sie keinen Ton verstanden.

Wer waren diese Männer? Warum wurde so ein Geheimnis um sie gemacht?

Ihre Mutter hatte sich sehr über den Besuch gefreut und Alison vermutete, dass die Männer zu den Outlaws gehörten, mit denen die Mutter in ihrer Jugend herumgezogen war. Wer konnte es nur sein?

Fast alle waren tot, Elzy Lay, der oft schrieb, lebte in Wyoming und auf dem Bild, das er einmal geschickt hatte, sah er nicht so aus wie einer der Besucher, ebenso wenig Matt Warner, der Friedensrichter geworden war.

Weder von einem Harry noch von einem Robert hatte Alison je gehört.

Sie musste es herausfinden!

Beim Frühstück bekam Alison die Männer nicht zu Gesicht, sie schliefen länger und danach schickte die Mutter das Mädchen zu ihrer Tante Maddie, man wollte sie also weiterhin aus dem Weg haben.

Alison war empört und stampfte mit dem Fuß auf. „Ich will nicht zu Tante Maddie! Die Kusinen sind so scheinheilige Petzen und die Köchin dort ist eine Katastrophe. Sie lässt immer alles anbrennen, ich verstehe nicht, wie Tante Maddie das dulden kann!“

„Du gehst jetzt sofort, Alison, hast du mich verstanden? Tante Maddie wartet auf dich, sie braucht deine Hilfe bei der Vorbereitung zum Basar!“

„Auch das noch“, stöhnte Alison. „Ich hasse Handarbeiten, das weißt du. Ich kann das nicht und ich will das nicht! Und wenn mir dann noch vorgehalten wird, wie sauber und ordentlich Kusine Louise arbeitet, dabei ist sie dumm wie Bohnenstroh.“

„Das ist sie nicht, Alison und es schadet dir überhaupt nicht, dich ein wenig mehr für Dinge zu interessieren, die du später im Haushalt brauchen kannst.“

„Das sagst ausgerechnet du, Mutter! Seit wann magst du Haushalt? Du meidest ihn, wo es geht.“

„Nun werde nicht frech, junge Dame! Ich will, dass du Tante Maddie hilfst, und zwar jetzt!“

Alison stöhnte verzweifelt auf. „Ich werde keinen Haushalt führen, dafür werde ich keine Zeit haben. Außerdem werde ich sowieso niemals heiraten.“

„Nanu, Streit so früh am Morgen?“, ertönte eine belustigte Männerstimme.

Alison und Abby fuhren herum.

Einer der Besucher war eingetreten und lächelte die beiden Frauen freundlich an.

„Guten Morgen, die Damen! Ist nicht ein wunderschöner Tag heute?“

„Guten Morgen … Robert!“

Alison war sich sicher, dass ihre Mutter einen anderen Namen auf der Zunge gehabt und sich gerade noch besonnen hatte.

„Ich fühle mich um 20 Jahre zurückversetzt“, grinste Robert. „Alison, deine Mutter wollte auch nie heiraten, mir scheint, du bist sehr nach ihr geraten.“

„Es ist genug!“ Abbys Stimme klang sehr zornig und sie sah den Mann drohend an. „Ich will jetzt kein Wort mehr hören, von euch beiden nicht. Alison, bitte!“

Alison nahm murrend ihren Umhang und machte sich endlich widerstrebend auf den Weg. Doch spitzte sie die Ohren und hörte noch, wie ihre Mutter dem Mann Vorhaltungen machte.

„Lass meine Tochter aus dem Spiel. Ich will nicht, dass sie zu viel weiß!“

„Du wirst das kaum verhindern können, wenn sie nur im Geringsten so ist wie du, Abby, besser du redest gleich mit ihr.“

„Verstehst du nicht? Ich muss uns und euch beide schützen! Je weniger man von euch weiß, desto besser für uns alle.“

Mehr konnte Alison nicht verstehen, aber ihre Neugierde wuchs ins Unermessliche. Sie seufzte und verbrachte einen schrecklichen Tag bei ihrer Tante Maddie.

Sie hasste diese Basare, für die alle möglichen unnützen Dinge gefertigt wurden, die jeder nur aus Gefälligkeit kaufte, um sie zuhause gleich wegzuwerfen. Die Sachen, die sie selbst kreierte, fanden meist nicht einmal einen Käufer, denn sie hatte weder Geschick noch die Geduld für Handarbeiten, und der unverhohlene Spott der fleißigen Kusinen, verbunden mit Tante Maddies scharfer Kritik, machte sie rasend.

Endlich konnte sie nach Hause laufen und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass die Männer noch nicht abgereist waren. Nun würde sie mehr herausfinden!

Das Abendessen fand in ähnlich gezwungener Atmosphäre statt wie am Abend zuvor. In Anwesenheit von Alison wurde nur über belanglose Dinge gesprochen, aber das Mädchen hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt und ihre eigenen Schlüsse gezogen.

Dass die Männer so verheimlicht wurden, konnte nur zwei Ursachen haben: Sie wurden entweder gesucht, was eigentlich ausschied, denn Alison wusste, dass Mutters alte Freunde tot oder inzwischen auf dem rechten Weg waren, oder sie galten als tot und wollten das für die Öffentlichkeit weiter bleiben.

Und da gab es nur zwei Männer, die in Frage kamen: Butch Cassidy und The Sundance Kid, die in Bolivien bei einer Schießerei ums Leben gekommen waren.

Alison wusste, dass ihre Mutter das lange nicht hatte glauben können und jemanden auf die Suche geschickt hatte, der jedoch mit dem Ergebnis zurückgekehrt war, dass es keine Spur von den beiden gab und beide bestimmt tot waren. In Bolivien sei man überzeugt davon. Die Mutter war wegen der Nachricht sehr traurig gewesen.

Alison beschloss, die Bombe platzen zu lassen, denn sie wollte nicht länger wie ein kleines Kind behandelt werden.

Als der Nachtisch gereicht wurde, hob sie den Kopf. „Ihr braucht euch übrigens nicht weiter Mühe zu geben, ich weiß sowieso, wer ihr seid.“

Alle wandten ihr den Kopf zu.

Robert lächelte sie an. „Nun, junge Dame, dir kann man anscheinend nur wenig vormachen.“

„Alison, du weißt gar nichts, sei still!“, ließ sich der Vater vernehmen.

„Ich bin nicht dumm und ich bin kein kleines Kind“, begehrte Alison auf. „Ihr beiden seid nämlich nicht tot, ihr seid Butch …“

„Alison!“, unterbrach die Mutter mit lauter und scharfer Stimme. „Keine Namen! Nicht hier!“

Das Mädchen sah erstaunt auf, wieso war die Mutter so zornig?

Abby fasste ihre Hand und erklärte: „Die Namen bleiben unter uns. Hier sitzen Robert und Harry. Die anderen sind tot, du musst das begreifen!“

Robert, oder besser gesagt Butch, nickte dazu. „Deine Mutter hat recht, Alison. Wände haben Ohren. Aber ich muss sagen, du bist wirklich eine junge Dame mit Verstand.“

„Frech und vorlaut!“ James war sehr ärgerlich über seine Tochter. In seinen Augen war sie mit viel zu leichter Hand erzogen worden, Abby hatte sie zu oft ermutigt und sie mehr wie eine Erwachsene behandelt als wie ein Kind, das sie noch war. Natürlich war er stolz auf Alison, weil sie intelligent und hübsch war, aber er wünschte sich, sie würde ein wenig gehorsamer und fraulicher sein.

Es war eben mit Alison oft schwierig, denn sie ging eigensinnig ihre eigenen Wege und hielt sich nicht gerne an Regeln, und immer fand sie Unterstützung bei ihrer Mutter, was ihn rasend machen konnte.

Alison dagegen lehnte sich zufrieden zurück, sie hatte richtig geraten. „Dann seid ihr also wirklich … die zwei Männer, die in San Vicente starben?“

„Zum Glück nicht! Wer da starb, wissen wir nicht. Aber die beiden liegen dort unter falschem Namen, so viel ist sicher“, lachte Robert.

„Ich würde die Geschichte gerne ganz hören. Ich verstehe nicht, warum man mir alles verheimlicht, als sei ich noch ein Baby. Ich weiß doch, was meine Mutter früher getan hat.“

„Oho, hoffentlich nicht alles!“ Robert grinste Abby an.

Alison warf den Kopf zurück. „Sie hat mit euch zusammengelebt, mit dir und Elzy Lay.“

„Alison“, stöhnte Abby, während Robert und Harry laut auflachten. „Alison, du weißt doch gar nicht, wovon du redest, ich hoffe nur, du hältst dich mit solchen Bemerkungen in der Schule zurück.“

James war aufgestanden. Sein Gesicht war rot vor unterdrückter Wut. „Du gehst jetzt sofort auf dein Zimmer, Alison, ich will nie wieder solche Worte aus deinem Mund hören!“

„Was habe ich denn …?“

„Du hast gehört, was ich gesagt habe. Keine Widerrede!“

Alison gehorchte zögernd. Wenn ihr Vater so mit ihr sprach, war es zwecklos und sie wollte es nicht riskieren, dass er sie vor allen über das Knie legte, wie er es getan hatte, als sie noch kleiner war.

Sie verstand nicht, was sie Schlimmes gesagt hatte, so und nicht anders war es doch gewesen?

Ihre Mutter war mit Butch Cassidy und Elzy Lay herumgezogen und hatte Überfälle begangen, also hatten sie zusammengelebt. Sie konnte absolut nichts Verwerfliches an ihrer Aussage entdecken.

Und es war Unsinn, sie würde niemals in der Schule etwas über die Vergangenheit ihrer Mutter verraten. Es waren Mädchen aus geringerem Anlass hinausgeworfen worden, da hatte es genügt, dass über eine Mutter Gerüchte verbreitet worden waren, über die nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde.

Außerdem hatte Alison gar keine echte Freundin, der sie so etwas anvertrauen könnte, ihre Klassenkameradinnen waren richtige Gänse in ihren Augen, albern und dumm. Sie gingen nur zur Schule, bis sie heiraten konnten, mehr erwarteten sie nicht vom Leben. Alison legte sich auf ihr Bett und träumte von ihrer Zukunft, sie würde eine berühmte Ärztin werden und Krankheiten bekämpfen, gegen die man heute noch kein Mittel wusste. Jeder würde sie bewundern und sie würde viel Geld verdienen! Sie nahm ein Buch zur Hand, begann zu lesen und vergaß sehr schnell die Welt um sich herum.

Unten im Salon drehten sich die Gespräche dagegen weiter um Alison.

„James, Alison weiß doch gar nicht, was sie da angedeutet hat“, meinte Abby mit mildem Vorwurf in der Stimme.

„Es ist egal, was sie weiß, oder nicht weiß, sie ist ein Kind und hat zu schweigen, wenn Erwachsene reden.“

„Alison ist kein wirkliches Kind mehr, sie macht sich ihre Gedanken und …“

„Das kommt alles nur von diesen neuen unsinnigen Ideen, Frauenwahlrecht, Selbstbestimmung der Frauen und was weiß ich noch alles. Sie hat mir zu gehorchen, solange sie in diesem Haus lebt. Und du auch!“

Abby war blass geworden und sie straffte den Rücken. Sowohl James als auch Robert kannten dieses Anzeichen zur Genüge, es würde nun wahrscheinlich gleich ungemütlich werden.

Doch der Ausbruch blieb zu Roberts Überraschung aus.

Daher hob er sein Glas.

„Ich würde sagen, wir trinken einfach auf eure kluge Tochter, ihr solltet stolz auf sie sein, sie erinnert mich doch sehr an Abby, die auch nie ein Blatt vor den Mund genommen hat und immer wusste, was sie wollte, und die uns damals ganz schön herumkommandiert hat. Wir standen alle unter deiner Fuchtel, Abby, der Einzige, der es wagte, dir die Stirn zu bieten, war Elzy. Und selbst er hatte Angst vor dir.“

Abby musste lächeln.

„Das ist doch Unsinn, keiner von euch hatte Angst vor mir, ich war eine von euch.“

„Ja, und wir hatten dich zu respektieren! Du meine Güte, haben wir das oft gehört von dir. James, eure Alison ist nicht anders, wie sollte sie auch bei dieser Mutter.“

James schluckte seinen Ärger hinunter, es war nun wirklich nicht die Zeit für Streit. Das würde er mit Abby allein ausmachen müssen, das letzte Wort war sicher noch nicht gesprochen.

Trotzdem wandte er ein: „Zwischen Abby und Alison ist aber ein gewaltiger Unterschied, Alison geht zur Schule und wird das Geschäft übernehmen, sie muss lernen, wie man sich benimmt.“

„Ja, das ist einsehbar“, stimmte Robert zu. „Und dann kann man wirklich gratulieren, es scheint bei euch alles zum Besten geregelt zu sein.“

Abby blickte James an. „Du weißt, dass Alison Ärztin werden möchte?“

„Ja, ich weiß, das sind die Flausen im Kopf eines Kindes. Ärztin, ich bitte dich, das ist doch kein Beruf für eine Frau. Was sie da zu sehen kriegen wird …“

„Wenn sie Ärztin werden will, wird sie es werden!“

„Ich werde es nicht erlauben. Und damit ist dieses Thema erledigt!“

Abby hielt ihren Zorn nur mit Mühe zurück, sie wollte nicht vor ihren alten Freunden einen immer wiederkehrenden Streit mit James entfachen.

Sie erhaschte Roberts Blick, der sehr nachdenklich auf ihr ruhte. Diese vertrauten blauen Augen, die einen zu durchdringen schienen, das schalkhafte Lächeln, von dem sie immer betört worden war.

Robert – sie bemühte sich sehr, nicht mehr an den Namen ‚Butch‘ zu denken – war stets ihr bester Freund gewesen, das hatte sich auch in den 20 Jahren nicht geändert, in denen sie nur über Briefe Kontakt gehalten hatten.

Abby suchte verlegen nach neuem Gesprächsstoff. „Unser Harry ist heute aber wieder sehr gesprächig“, scherzte sie. „Wenn ich nur daran denke, wie er mich in The Hole in the Wall vollgequasselt hat. Ich bin kaum zu Wort gekommen.“

„Diese Geschichte wurde noch lange erzählt“, lachte Robert. „Du hast damals gelogen, nicht wahr, Abby? Keiner konnte das wirklich glauben.“

„Nein, es war die Wahrheit!“

Harry hob den Kopf. „Wir haben geredet damals, ich wollte wissen, wie gut sie war. Und ich habe mich entschuldigt.“

„Ja, du fragtest mich, wer mir das Schießen beigebracht hat. Wer war nun eigentlich besser, du oder Elzy? Ihr habt das doch bestimmt später ausprobiert.“

„Harry war schneller und besser“, antwortete Robert. „Aber viel fehlte nicht. Ich hätte gegen beide nichts gewinnen können, keiner von uns konnte das. Harvey Logan sowieso nicht, aber er, ja, was soll ich sagen, er war dennoch kaum zu halten. Wenn es Tote gab, gingen sie auf sein Konto. Manchmal war es einfach nicht zu vermeiden.“

Er schwieg und sein Gesicht zeigte Trauer. Abby wusste, dass er Gewalt verabscheute.

„Harvey starb in Colorado“, berichtete sie. „Soweit man erfahren konnte, wurde er gestellt und als es keinen Ausweg gab, hat er sich selbst erschossen. Ich denke, man hätte ihn gehängt, wenn man ihn erwischt hätte. Elzy schrieb mir einmal, es gäbe Gerüchte, dass er noch lebt, aber er selbst hat nichts mehr von Harvey gehört, daher glaubt er es nicht.“

„Wenn er so tot ist, wie wir beide, wird er sich stillhalten“, grinste Robert. „Und nun zum Wichtigen, wir möchten euch nicht länger belästigen.“

„Das tut ihr nicht“, versicherte Abby.

„Doch, Abby, wir wollen euch nicht in Gefahr bringen, wir werden so schnell wie möglich verschwinden. Es wäre nur wirklich wunderbar, wenn ihr uns finanziell ein bisschen unterstützen könntet. Ihr bekommt alles zurück, so schnell wie möglich.“

„Ich werde morgen zur Bank gehen und Geld besorgen“, verkündete James mit fester Stimme. „Und ich werde dafür sorgen, dass Alison nichts Unbedachtes verlauten lässt.“

„Das wird sie nicht, James“, widersprach Abby mit Stirnrunzeln. „Aber wenn du davor Angst hast, werde ich noch einmal mit ihr reden.“

„Ich werde mich darum kümmern, Abby. Das ist meine Sache! Halte dich da raus, du bist viel zu nachgiebig! Alison tanzt dir auf der Nase herum.“

Wieder schluckte Abby ihren aufkommenden Zorn hinunter.

Nicht vor ihren alten Freunden! Nicht jetzt!

Eine Weile herrschte betretenes Schweigen.

Dann ergriff Robert wieder das Wort und begann, alte Geschichten zu erzählen.

Abby hörte dankbar zu, aber nur mit halbem Herzen.

Endlich war es Zeit, zu Bett zu gehen. Abby fing Roberts Blick auf. Er nickte ihr leicht zu und sie wusste Bescheid. Er würde in der Nacht auf sie warten.

Und sie fand keinen Grund, sein Angebot abzulehnen.

Sie wartete, bis James tief und fest schlief, dann schlich sie sich aus dem Bett und dem gemeinsamen Zimmer. Würde er aufwachen und sie vermissen, nun, er konnte sich denken, wo sie war. In ihrer Ehe hatte es viele Dinge gegeben, über die sie nicht sprachen, James hatte mehrere Affären gehabt, ihrem Wissen nach gab es auch gegenwärtig eine Geliebte, aber sie konnte ihm nie vorwerfen, dass er sie vernachlässigt hätte, er war zu jeder Zeit ein perfekter Familienvater und Ehemann. Ab und zu übernachtete er eben woanders, das war für sie in Ordnung.

Eifersucht kannten sie beide nicht, ihre Liebe war immer stark genug gewesen, dass sie sich gegenseitig auch loslassen konnten. Abbys Weste war ebenfalls nicht ganz rein geblieben in all den Jahren und es hatte nichts bedeutet.

Butch, oder Robert, wie sie ihn nun nennen musste, war jedoch ein anderer Fall und das war ihr bewusst.

Er gehörte zu ihrer Vergangenheit und hatte sie stärker beeinflusst als jeder andere Mensch, den sie kannte. Er war ihr erster Liebhaber gewesen und sie hatte sich nie wirklich von ihm lösen können.

Sie dachte daran, wie allein sein Herzschlag sie immer beruhigt hatte, er hatte sie nur in seine Arme ziehen müssen und ihre aus den Fugen geratene Welt war wieder in Ordnung gewesen.

Leise klopfte sie an seine Zimmertür und trat ein. Er lag wach im Bett, hatte das Licht noch an und auf sie gewartet.

„Was ist mit James?“, fragte er flüsternd.

„Er schläft.“

„Komm zu mir!“ Er breitete seine Arme aus und sie legte sich zu ihm. Wie hatte sie ihn vermisst, sie schloss die Augen und genoss einfach nur seine Nähe. Sein vertrauter Herzschlag beruhigte sie immer noch.

Er strich über ihr Haar. „Ach, Abby, warum nur sind wir beide nicht zusammengeblieben? Ich hätte dich niemals loslassen dürfen!“

„Du warst nicht bereit für nur eine Frau“, lachte sie. „Und eine von vielen wollte ich nicht sein.“

„Nein, da hast du recht. Du bist einzigartig, ich hätte das erkennen müssen. Und eines wollte ich dir schon lange einmal sagen, du hast unseren Blick auf Frauen damals verändert. Du weißt ja, dass in der Wild Bunch auch Frauen mitritten? Nie hätten wir das zugelassen, wenn es dich nicht gegeben hätte. Und Etta, ach ja, Etta, leider gehörte sie immer zu Sundance. Oder fast immer. Aber sie ist eine starke Frau, sie ist dir sehr ähnlich, sie ist kompromisslos.“

„Fast immer? Du warst mit Etta also auch zusammen?“

„Das eine oder andere Mal, Sundance hat es nicht so gern gesehen, aber er sagte nicht viel.“

„Was mich nun nicht so sehr wundert.“

„Ja, da magst du recht haben. Sag, Abby, bist du wirklich glücklich?“

„Wer ist das schon?“

„Du und James, was ist da los bei euch?“

„Wir sind seit beinahe zwanzig Jahren zusammen, James ist ein hart arbeitender Geschäftsmann und er hat seine eigenen Ansichten, wie man eine Tochter erziehen sollte.“

„Und die stimmen nicht mit deinen Ansichten überein?“

„Nicht im Geringsten. Als meine Schwiegermutter noch lebte, war es einfacher. Sie hat Alison so liebevoll umsorgt und mich in allem unterstützt, auch gegen James. Sie teilte meine Meinung, Mädchen sind genauso viel wert wie Jungen und können alles erreichen, was sie wollen. Du hättest sie kennenlernen sollen, sie war eine unglaublich starke Frau, sie hatte bis zu ihrem Tod im Geschäft das Sagen, auch wenn sie sehr aus dem Hintergrund wirkte. Sie hatte viel Schlimmes erlebt, aber sich niemals unterkriegen lassen. Nur das große Erdbeben, dagegen war sie machtlos. Alison und ich vermissen sie sehr. Seit sie tot ist und James übernommen hat, ist es mit ihm schwer geworden, er will bestimmen, auch über mich, er sagt, er sei der Mann im Haus und wir hätten zu gehorchen.“

„Und du lässt dir das bieten?“ Robert kannte seine ehemalige Weggefährtin kaum wieder.

Sie lächelte traurig. „Was bleibt mir übrig? Wenn ich nicht nachgebe und er lässt sich scheiden, stehe ich vor dem Nichts. Er hat das Recht auf seiner Seite und ich weiß, dass er das ausnützen wird. Mir gehört gar nichts. Als wir damals heirateten, habe ich nie daran gedacht, dass ich meine sämtlichen Rechte in die Hände eines Mannes lege. Wir liebten uns, wir hatten so viel miteinander erlebt, wir erwarteten ein Kind. Ich wäre bei der Geburt beinahe gestorben und Alison dazu, es war schwer, aber wir haben es geschafft und alles schien klar zwischen uns. Wir führten wirklich eine gute Ehe, ich will mich nicht beklagen, doch die letzten Jahre hat sich etwas verändert. Wir streiten so oft, gerade wegen Alison.“

Robert konnte es kaum glauben. „Droht er dir denn mit Scheidung?“

„Ab und zu, wenn wir heftig aneinandergeraten.“

„Ach, Abby, warum gehst du dann nicht einfach? Wieso lässt du so mit dir umspringen?“

„Weil ich, wie gesagt, alles verlieren würde, auch Alison.“

„Aber, wenn er dich wirklich liebt, würde er dich doch nicht einfach so verlassen.“

„Doch, das würde er. Du kennst ihn nicht, er ist noch kompromissloser, als ich es jemals war. Er hasst es, wenn er glaubt, jemand sei ihm überlegen. Wenn ich gehe, oder wenn er mich aus dem Haus wirft, wird er Alison zwingen, ihre Pläne aufzugeben.“

Robert lachte leise. „Also um deine Tochter würde ich mir die geringsten Sorgen machen. Niemand wird sie dazu zwingen, ihre Pläne aufzugeben. Eher friert die Hölle zu.“

Abby musste ebenfalls lachen. „Woher willst du das jetzt wieder wissen?“

„Weil sie ist wie ihre Mutter. Und wenn die sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war nichts mehr zu machen. Unsere erste Begegnung damals in Bitter Creek, du wolltest, dass ich dich mitnehme, ich sehe noch deinen eigensinnigen Blick, ich hatte keine Chance gegen dich.“

„Du hast gegen niemanden Chancen, du hast ein zu weiches Herz“, spottete Abby liebevoll.

„Ja, okay, daran könnte es schon auch liegen. Aber Abby, ich habe eine gute Idee. Komm einfach mit mir und wir fangen neu an, wir beide, ich bin jetzt bereit für nur eine Frau. Ich schwöre!“

Sie starrte ihn an.

„Nein, das kann ich nicht, ich kann James nicht verlassen, ich habe nichts, und ich kann Alison nicht … nein, das geht nicht.“

„Ich meine es ernst, Abby!“

„Ich weiß, und das beunruhigt mich so. Es beunruhigt mich, dass ich überhaupt darüber nachdenke.“

Er nahm ihre Hand. „Du bist hier nicht glücklich, zumindest nicht zurzeit. Ich will, dass du glücklich bist, das wollte ich immer und ich kann dich glücklich machen. Mit mir ging es dir doch gut.“

Sie barg ihren Kopf an seiner Schulter und schwieg eine Weile.

„Was genau hält dich hier, Abby? Du kannst mir erzählen, was du willst, ein Mann, der seiner Frau mit Scheidung droht, nur weil sie nicht das tut, was er will, liebt sie nicht. Nicht wirklich. Ich würde dich nie zu etwas zwingen, das weißt du.“

Und nach kurzer Überlegung fügte er an: „Ich würde dich auch nicht heiraten.“

Sie lachte laut auf und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, hoffentlich hatte sie niemanden aufgeweckt. Aber alles blieb ruhig.

Sie dachte über seinen letzten Ausspruch nach, ja, er würde sie nicht heiraten, weil er nicht wollte, dass sie ihre Rechte aufgab.

Das und nichts anderes hatte er damit sagen wollen.

„Butch, ich wollte sagen, Robert, ich werde darüber nachdenken. Ich kann das nicht jetzt entscheiden, es muss gut überlegt sein, was ich will. Ich müsste zunächst hier alles ordnen, ich müsste wissen, dass Alison ihren Weg gehen kann. Dann werde ich dir schreiben, ob ich komme. Falls du mich dann noch willst, ich werde ja auch nicht jünger.“

„Aber immer schöner, jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe, bist du schöner, ich schwöre“, wiederholte Robert die vertrauten Sätze.

„Ich habe Spiegel hier und sehe, was für eine alte Schachtel ich geworden bin. Und falls du Kinder möchtest, damit kann ich leider nicht dienen.“

Er seufzte tief. „Ach, die Zeit für Kinder ist doch vorbei, ich habe bestimmt das eine oder andere Kind, von dem ich nichts weiß, vielleicht stammt auch Ettas Kind, das sie erwartete, in Wahrheit von mir, sie hat so etwas angedeutet, als sie heimfuhr. Aber genau werden wir das nie erfahren.“

Abby prustete los. „Warte es ab, wenn das Kind redet wie ein Wasserfall, weiß ich, dass es bestimmt nicht von Sundance, ich meine Harry, ist.“

„Dann werde ich Etta wohl mal einen Besuch abstatten müssen, um mich zu vergewissern.“

„Erzähle mir bitte, wie es ausging.“

„Ich hoffe, ich muss es dir nicht erzählen, sondern du begleitest mich!“

„Ach, Robert, du alter Träumer! Ich werde jetzt gehen, es war schön, mit dir zu reden.“

„Nein, Abby, so lasse ich dich nicht weg.“ Er fasste sie fest und zog sie an sich. Dann küsste er sie und es war, als wären 20 Jahre einfach weggewischt, sie wurde kurzzeitig wieder zu einem jungen Mädchen und fühlte, wie eine lang verborgene Leidenschaft erwachte.

Doch sie war eine 36-jährige Frau und sich ihrer Verantwortung und Stellung bewusst.

Daher löste sie sich und erhob sich.

„Ich werde mich bei dir melden, so oder so“, sagte sie. „Aber erst brauche ich Zeit!“

Er nickte. „Ich werde auf dich warten, Abby. Überstürze nichts!“

Sie sah ihn nachdenklich an. „Ich glaube, meine Entscheidung würde schon beinahe feststehen, wenn nicht die Winter wären.“

Er lachte. „Wir könnten die Winter im Süden verbringen, ich hätte nichts dagegen!“

„Dann, mein lieber Robert, rechne vielleicht doch mit mir.“

Sie winkte ihm noch einmal zu und ging zurück zu James. Leise legte sie sich neben ihn und horchte auf seine ruhigen Atemzüge. Wie würde es sein, ihn zu verlassen? Sie liebte ihn doch, aber sie waren beide nicht mehr glücklich zusammen.

Es hatte sich lange abgezeichnet.

James hatte sich verändert, Reisen kam nicht mehr in Frage, denn er wollte das Geschäft nicht verlassen, er war ganz in seinem Ehrgeiz aufgegangen, er wollte es besser machen als seine Eltern, noch besser, noch größer, er wollte noch reicher und mächtiger werden. Er war bereits im Stadtrat, strebte eine politische Karriere an, etwas, das Abby missbilligte.

Sie hatte nie gefunden, dass man für andere verantwortlich war, höchstens noch für die Kinder, aber die sollten dann auch ihre eigenen Wege gehen.

Sie hasste es, wenn sie zu offiziellen Anlässen mitkommen musste und mit Leuten reden, deren Ansichten sie nicht teilte. Sie mochte die anderen Frauen nicht, die so offensichtlich hinter ihren Männern standen und keine eigene Meinung ausdrücken konnten und durften.

Schon öfter hatte sie James blamiert, indem sie, wie es ihre Art war, frei ausgesprochen hatte, was sie dachte, die Streits und Vorwürfe hinterher waren entsetzlich gewesen. Daher blieb sie inzwischen einfach still und schluckte alles hinunter, sie wollte ihrem Mann ja auch nicht schaden.

Aber sie war nicht mehr die Frau, die sie einst gewesen war, stolz und unabhängig, ihr Lebensmotto „ich bin frei, ich tue, was ich will“ hatte seine Gültigkeit verloren.

Und sie hatte auch das Gefühl, dass sie nicht mehr wirklich respektiert wurde, sie war nur noch Mrs. James Hart, nicht mehr Abigail Clearwater.

Die Entwicklung war schleichend gewesen, unmerklich hatte sie ein Stück nach dem anderen von sich aufgegeben. Vom vielen Hinunterschlucken hatte sie oft Magenschmerzen, zumindest vermutete sie, dass das der Grund war.

Wie würde James reagieren, wenn sie ihn verlassen würde?

Sie wusste, dass auch er sie liebte, aber sie war nicht mehr die perfekte Frau für ihn, denn inzwischen war sie hinderlich geworden. Er nahm sie nicht gerne mit, hatte Angst, sie würde zu viel sagen, sie vermutete, dass James sehr schnell Ersatz für sie finden würde. Eine jüngere, leicht beeinflussbare Frau, die wunderbar für ihn sorgen würde und den Boden anbetete, den er betrat.

Somit wäre doch allen geholfen!

Wenn es nicht mehr passte, musste man seine Konsequenzen ziehen, das hatte sie immer getan.

Seltsam, dass erst Butch sie wieder zur Besinnung gebracht hatte. Es war wirklich merkwürdig mit ihm, sie hatte immer gedacht, er sei nicht der Mann ihres Lebens, doch hatte sie sich geirrt, er war es, er war es immer gewesen, mit ihm war sie frei gewesen, frei, was für ein schönes Gefühl.

Eine wichtige Aufgabe hatte sie noch, sie musste Alison beibringen, was es hieß, wirklich unabhängig von allem zu sein. In ihrem Kopf begann sich ein Plan herauszukristallisieren, doch erst musste Alison die Schule beenden.

Dann sollte sie den Weg gehen, den sie wollte, egal, was James sagte.

Und, Abby seufzte bei dem Gedanken, sie brauchte Geld. Alles, was sie besaß, gehörte James, so wollte es das Gesetz. Sie musste dafür sorgen, dass sie ein Auskommen hatte, sie konnte doch nicht wieder losziehen und Banken überfallen. Sie hatte damals selbst Geld in die Ehe gebracht, die erste Reise war vor allem von ihr finanziert worden, dieses Geld stand ihr einfach zu und das würde sie sich irgendwie besorgen, sie konnte ihren Schmuck veräußern und das Geld beiseiteschaffen, daran war nichts Unrechtes in ihren Augen. Sie hatte früher Geld gestohlen und davon gelebt, diesmal war es nicht einmal richtiges Stehlen, sie nahm sich zurück, was ihr gehört hatte.

Mit diesen Gedanken schlief sie endlich ein.

Am nächsten Morgen musste Alison wieder zur Schule. Sie sah die zwei Besucher nicht mehr, sie konnte nur hoffen, dass sie noch da waren, wenn sie nach Hause kam. Doch als sie endlich die Haustür öffnete, fand sie nur ihre Mutter vor, die still und nachdenklich im Salon saß, vor sich ein Glas Whisky.

Whisky am frühen Nachmittag?

„Sind sie weg?“, fragte Alison als Erstes.

„Ja, sie sind abgereist. Und das ist besser so, du weißt ja, wer sie sind, es könnte deinem Vater sehr schaden, wenn herauskommt, wer bei uns war.“

„Mutter, ist Robert mein richtiger Vater? Oder gar Elzy Lay?“

Abby sah überrascht auf. „Wie kommst du auf diesen Gedanken? Nein, natürlich nicht!“

„Ich weiß jetzt, was ‚zusammenleben‘ heißt, ich habe Miss Hamilton gefragt.“

„Alison, wie konntest du!“

„Keine Angst, Mutter, ich erfand eine Geschichte, dass ich ein Buch bei unserer Köchin entdeckt und heimlich gelesen hätte, und da hätten ein Mann und eine Frau zusammengelebt. Und du hättest mich fürchterlich verprügelt, weil das Buch nichts für mich sei, und ich wusste nicht, warum. Ich habe geweint vor Miss Hamilton und sie hatte Mitleid mit mir und erklärte mir, dass man nicht ohne Trauschein zusammenleben darf, weil man da sündige Dinge tut und dass dabei Kinder entstehen können, die Kinder der Schande sind.“

„Wie kommst du nur immer auf solche Dinge, Alison?“

„Du hättest es mir einfach erklären können, anstatt mich ins Bett zu schicken wie ein Baby.“

„Ja, du hast recht, das hätte ich tun müssen. Verzeih mir bitte.“

„Hast du mit Butch und Elzy zusammengelebt? So, wie es Miss Hamilton beschrieb?“

Abby blickte ihre Tochter lange an. „Ja, das habe ich.“

„Aber es ist kein Kind entstanden?“

„Nein, ist es nicht. Oder doch, aber die Kinder blieben nicht bei mir, ich verlor alle sehr schnell. Erst als ich deinen Vater kennenlernte und mit ihm zusammenlebte, geschah ein Wunder, und dieses Wunder bist du, Alison. Das beste Wunder, das ich erleben durfte.“

„Aber dann hast du in … Sünde gelebt?“

„Nein, ich habe in Freiheit gelebt. Ich habe getan, was ich wollte, so wie die Männer. Ich war niemandem Rechenschaft schuldig. Dieses Gerede von Sünde ist Unsinn. Und außerdem gilt das sowieso immer nur für Frauen, Männer können sich jede Frau nehmen und niemand wird es wagen, sie als Sünder abzustempeln.“

„Ach darum!“

„Was meinst du Alison?“

„Nun, dann begeht Vater also keine Sünde, wenn er zu dieser Frau in der Claystreet geht? Weil bis jetzt dachte ich immer, er besucht sie nur, aber er bleibt ja auch manchmal über Nacht dort, nicht?“

„Woher weißt du das?“

„Ich bin ihm einmal nachgegangen, er hat mich nicht entdeckt, aber recht heimlichgetan, schaute sich um, dass ihn ja niemand beobachtete, und dann habe ich durchs Fenster gesehen, wie sie sich umarmten.“

„Nein, er begeht keine Sünde, Alison, nicht in meinen Augen, er kann tun, was er will.“

„Weil er ein Mann ist?“

„Nein, weil er ein freier Mensch ist.“

„Aber was ist mit dir, Mutter? Bist du auch frei?“

„Ich war einmal frei und eines Tages werde ich es wieder sein.“

„Wie meinst du das?“

„Du stellst zu viele Fragen, Alison, ich verspreche dir, ich werde dir diese Fragen eines Tages beantworten, aber heute nicht. Ich muss selbst noch ein wenig nachdenken über alles. Und ich wünsche mir, dass du auch frei bist. Du kannst alles schaffen, was du willst. Vertraue darauf!“

„Das werde ich. Dennoch bin ich sehr traurig, weil ich so gerne gehört hätte, was Butch, ich meine Robert und Harry alles hätten erzählen können, ich bin euch wirklich böse, dass ihr mich wegschicktet, als ob ich jemals etwas verraten hätte, für wie dumm haltet ihr mich eigentlich? Vater ermahnte mich heute Morgen, das hätte er bleiben lassen können, ich weiß, was ich zu tun habe.“

Abby seufzte. „Einiges, was wir besprochen haben, war eben nicht für deine Ohren bestimmt, Alison, für einiges bist du noch zu jung, das musst du einsehen. Und Robert und Harry kennen dich nicht, sie wissen nicht, wie sehr sie dir vertrauen können, sie brauchten Sicherheit. Aber ich kann dich trösten. Robert hat sich heute Vormittag hingesetzt und dir einen langen Brief geschrieben. Ich legte ihn in dein Zimmer, es wäre allerdings besser, du würdest diesen Brief niemandem zeigen, auch nicht deinem Vater.“

Alison starrte sie mit offenem Mund an. „Robert schrieb mir einen Brief? Weißt du, was drinsteht?“

„Nein, aber ich kann es mir denken. Nun lauf und lies ihn.“

Alison ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie stürmte sofort auf ihr Zimmer und sah gleich den Umschlag auf ihrem Bett liegen. Neugierig riss sie ihn auf und begann zu lesen.

Meine liebe Alison, es war mir eine große Freude, dich kennenzulernen, und es tut mir wirklich leid, dass wir nicht die Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch hatten.

Ich möchte dir einige deiner Fragen beantworten und ich setze die Erlaubnis deiner Mutter voraus. Sie weiß nicht, was ich dir schreibe, aber sie kennt mich gut und hatte nichts dagegen.

Dein Vater wäre gewiss nicht einverstanden, also wenn du ein gehorsames Mädchen sein willst, wäre es besser, sofort mit dem Lesen aufzuhören und diesen Brief zu verbrennen.

Nun, ich gehe nicht davon aus, dass du das tust, dazu bist du deiner Mutter viel zu ähnlich und das ist gut so. Ich habe deine Mutter kennengelernt, als sie gerade ein Jahr älter war als du jetzt, und sie war und ist die faszinierendste Frau, der ich je begegnet bin. Ich kann dir nur raten, ihrem Beispiel zu folgen und dir von niemandem etwas bieten zu lassen. Sie lehrte unsere eingeschworene Männerbande, dass Frauen das Gleiche tun können wie Männer. Sie setzte sich bei uns durch mit eisernem Willen und mit einer Sturheit, die ihresgleichen suchte. „Ihr habt mich zu respektieren!“, das sagte sie so oft.

Sie hat sogar Wettkämpfe ausgefochten, um zu beweisen, dass sie alles so gut konnte wie ein Mann. Sie rang Männer nieder, die ihr zu nahetraten und ließ sich von niemandem etwas gefallen.

Ihretwegen haben wir alle unseren Blick auf Frauen verändert, Laura Bullion und Etta Place wurden später von uns ebenfalls als Mitglieder der Wild Bunch akzeptiert und keiner wäre auf den Gedanken gekommen, sie zu belächeln, nur weil sie Frauen sind. Josie und Ann Bassett waren von ähnlichem Kaliber, und wie ich von ihnen höre, sind sie es heute noch.

Deine Mutter und ich lebten eine Zeitlang zusammen, ich hoffe, man hat dir inzwischen erklärt, was das bedeutet. Du hast nicht so ausgesehen, als würdest du dieses Rätsel auf sich beruhen lassen.

Es heißt ganz einfach, dass wir wie ein Ehepaar waren, ohne verheiratet zu sein. Ich habe deine Mutter immer sehr gemocht, wahrscheinlich sogar geliebt, und ich könnte mir heute noch vorstellen, mit ihr zusammen zu sein.

Aber ich habe mich leider nie eindeutig für sie entschieden, das war vielleicht der größte Fehler meines Lebens.

Du wolltest wissen, was in San Vicente passiert ist, deine Mutter kennt die Geschichte, du kannst sie fragen, ich sage dir hiermit nur, dass Harry und ich die beiden sind, die man dort für tot hält, wie du ja schon erraten hast. Wir bezahlten Leute, die genau das bestätigten, und konnten unerkannt aus Südamerika abreisen. Deine Eltern werden uns Geld geben, damit wir neu beginnen können, und wir werden es zurückzahlen, sobald wir wieder Fuß gefasst haben. Wir sind ihnen sehr dankbar, vor allem deinem Vater, der ein großes Risiko eingeht.

Liebe Alison, es ist sehr wichtig, dass niemand von unserem Besuch erfährt, aber ich denke, das weißt du sowieso. Deinen Vater könnte es die Karriere kosten, und was das bedeutet, brauche ich dir bestimmt nicht zu erklären.

Ich habe mir immer so eine Tochter gewünscht, wie du es bis. Mit deiner Mutter war es mir leider auch nicht vergönnt, vielleicht wäre dann alles anders gekommen, vielleicht wäre sie bei mir geblieben und ich hätte nun das Vergnügen, dein Vater zu sein.

Aber ich bin es nicht und du wirst deinen Weg gehen.

Deine Mutter wird dich unterstützen, lass dich nicht beirren, Alison. Tu, was du willst, du bist niemandem Rechenschaft schuldig.

Ich habe gehört, dass du nicht heiraten willst, ich denke, das ist eine gute Entscheidung. Du würdest alles aufgeben, wenn du an den falschen Mann gerätst.

Bleibe, wie du bist, und verfolge deine Ziele. Sei frei und unabhängig! Aber vor allem, denke an dich selbst und werde glücklich.

Nur du allein bist für dein Glück verantwortlich, höre auf deine Mutter, sie weiß das.

Nun bleibt mir nur noch, dir alles Gute für deine Zukunft zu wünschen. Ich hörte, du seist eine sehr gute Schülerin und überaus klug, deine Eltern können stolz auf dich sein.

Ich freue mich darauf, wenn wir uns eines Tages wiedersehen, und ich weiß, dass wir das tun werden. Dann kann ich dir deine restlichen Fragen beantworten.

Mit respektvollen Grüßen an ein wunderschönes Mädchen

Robert Leroy Parker

Alison ließ den Brief sinken und dachte nach. Dann las sie ihn noch einmal, Wort für Wort, suchte nach Bedeutungen, versuchte zu begreifen.

Robert und ihre Mutter, da war mehr als nur Freundschaft. Alison war nicht gut darin, Gefühle zu verstehen, aber so traurig wie die Mutter vorhin im Salon gesessen war, der Whisky am Nachmittag, dann Roberts Brief und seine Andeutungen, da musste man nur eins und eins zusammenzählen.

Ihre kleine heile Welt bekam Risse.

Nichts war mehr so, wie es gewesen war, ihr Vater war nicht so hochmoralisch, wie er sich in der Öffentlichkeit zeigte, es war alles Lüge. Wie konnte er gegen Unzucht wettern, wie er es vor kurzem erst getan hatte, wenn er selbst Dinge tat, die er als Sünde bezeichnete?

Und warum sagte Mutter nichts dagegen?

Warum duldete sie alles und billigte es?

Er war frei und was war mit Mutter?

Alison fühlte die drohenden Wolken fast körperlich, die sich über dem Haus zusammenzogen, und das machte ihr Angst. Sie wollte nicht, dass sich etwas änderte, alles sollte so bleiben, wie es war.

Sie wünschte sich jemanden, mit dem sie sprechen konnte, aber da gab es niemanden, dem sie wirklich vertraute. Zu ihrer Mutter wollte sie jetzt nicht gehen, vielleicht morgen, ja, morgen würde sie mit ihr reden.

Nach diesem Entschluss begab sie sich an die Hausaufgaben. Sie hatte Latein und Griechisch, beides lernte sie eifrig, denn sie würde es für das Medizinstudium brauchen.

Die Arbeiten waren schnell erledigt, Alison fand sie einfach und daher nahm sie die Lehrbücher und arbeitete ein paar Kapitel voraus, ihr ging alles viel zu langsam.

Die Schönheit der beiden Sprachen erschlossen sich doch erst richtig, wenn man die Klassiker las, und sie hatte sich aus der Bibliothek ein paar Schriften besorgt, die sie Stück für Stück übersetzte.

Mathematik wurde an der Mädchenschule nur in Grundzügen gelehrt, auch hier hatte sich Alison Lehrbücher ausgeliehen und brachte sich alles selbst bei.

Als sie zum Abendessen gerufen wurde, war ihr Kopf wieder voll angenehmer Dinge, sie sang ein lateinisches Gedicht zu einer selbsterfundenen Melodie vor sich hin und freute sich an den fremden Klängen.

Die Stimmung zwischen ihren Eltern war angespannt, aber das war schon lange nichts Neues mehr. Alison beachtete das nicht, sie versank in ihrer Welt und antwortete auf die Fragen des Vaters nur sehr einsilbig und nichtssagend.

Erst als Abby wissen wollte, was sie denn heute gelernt habe, hellte sich ihr Gesicht auf und sie rezitierte das eben gefundene lateinische Gedicht.

Andächtig sagte sie alle zwölf Zeilen auf, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass ihre Eltern kein Wort verstanden.

Miser Catulle, desinas ineptire, et quod vides perisse perditum ducas. Fulsere quondam candidi tibi soles, cum uentitabas quo puella ducebat amata nobis quantum amabitur nulla. Ibi illa multa cum iocosa fiebant, quae tu volebas nec puella nolebat, fulsere vere candidi tibi soles Nunc iam illa non uult: tu quoque impotens noli, nec quae fugit sectare, nec miser vive, sed obstinata mente perfer, obdura.

„Sehr schön!“, lachte Abby. „Und was heißt das?“

Über Alisons Gesicht huschte ein glückliches Lächeln und sie rezitierte andächtig und mit geschlossenen Augen:

Unglücklicher Catull, Hör auf, dich wie ein Narr zu verhalten. Und halte für verloren, was verloren gegangen ist. Einst leuchteten dir glänzende Sonnen, Immer, wenn du gingst, Wohin dein Mädchen dich führte, Das von dir geliebt wurde, wie keine geliebt werden wird! Immer, wenn dort jene vielen neckischen Dinge geschahen, Die du wolltest, sowie auch das Mädchen, Strahlten dir wahrlich glänzende Sonnen. Jetzt will jene nicht mehr: Auch du, Wehleidiger, sollst nicht mehr wollen. Und verfolge nicht die, Welche flieht, und lebe nicht elend, Sondern mit standhaftem Sinn ertrage es, sei hart!

Es herrschte Schweigen am Tisch.

„So etwas lernt ihr in der Schule?“, fragte James endlich.

„Nein, das habe ich aus der Bibliothek geholt.“

„Du wirst das zurückbringen und ich möchte nicht mehr, dass du solche Gedichte lernst!“

„Aber Vater, …“

„Du hast mich verstanden!“ James‘ Stimme triefte vor unterdrücktem Zorn.

Alison sprang wütend auf und lief mit Tränen in den Augen aus dem Raum. Was hatte sie jetzt wieder falsch gemacht? Das war doch ein wunderschönes Gedicht gewesen. Sie verstand die Welt nicht mehr, warf sich auf ihr Bett und weinte.

Nach einer Weile öffnete sich die Tür zu ihrem Zimmer und ihre Mutter trat ein.

„Ach Alison, ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Was war so falsch an dem Gedicht, Mutter?“

„Nichts war falsch. Dein Vater glaubte wohl, du hättest es extra herausgesucht, er hat es auf sich bezogen.“

„Aber wieso?“

„Hast du es denn nicht verstanden?“

„Natürlich habe ich es verstanden, Catull sagt, seine Liebe ist verloren und er muss loslassen, er muss diejenige gehen lassen, die er liebt, weil sie ihn nicht mehr liebt …“

Sie hielt sich die Hand vor den Mund und starrte ihre Mutter an. Entsetzt dachte sie an das, was Robert geschrieben und was sie sich zusammengereimt hatte.

„Oje“, stammelte sie. „Es tut mir so leid, ich wollte wirklich nicht …“

„Ich weiß, Alison, es war Zufall, reiner Zufall, dass du auf dieses Gedicht gestoßen bist. Und es stimmt auch nicht, ich liebe deinen Vater, wirklich, aber für ihn war das gerade ein Schlag ins Gesicht. Er dachte bestimmt, du wolltest ihm etwas mitteilen.“

„Ich werde ihm das erklären.“

„Das musst du nicht. Er ist sowieso gegangen. Er wird heute nicht mehr kommen.“

„Es tut mir so leid“, wiederholte sie.

„Mach dir keine Gedanken. Mit deinem Vater werde ich alles regeln. Wo hast du eigentlich den Brief von Robert aufbewahrt? Ist er sicher versteckt?“

Alison lächelte unter Tränen. „Ich habe ihn auswendig gelernt und verbrannt.“

„Das ist gut. So mache ich es auch mit seinen Briefen. Niemand darf auf seine Spur kommen!“

„Ich weiß doch, dass Alice mein Zimmer durchsucht, wenn sie aufräumt. Ich habe ihr schon mehrere Fallen gestellt und sie ist in jede einzelne hineingetappt.“

„Ja, so sind Zimmermädchen, immer und überall. Man kann nicht vorsichtig genug sein.“

„Mutter, was wird mit unserer Familie geschehen?“

„Nichts, was dich jetzt belasten sollte, Alison. Alles wird weitergehen wie bisher. Du musst deine Schulbildung beenden und darfst dich nicht beirren lassen.“

„Das schrieb mir Robert auch, ich solle tun, was ich will und ich soll nicht heiraten.“

Abby lachte. „Ja, das kann ich mir vorstellen. Nur das mit dem Heiraten ... wenn der richtige Mann in dein Leben tritt, kann alles ganz anders aussehen. Sogar ich habe geheiratet und ich wollte eigentlich nie. Und es machte mich glücklich. All die schönen Jahre hier, mit dir als größtem Geschenk, deine wundervollen Großeltern, wir hatten es so gut.“

„Und jetzt?“

„Jetzt bleibt vorerst alles, wie es ist, die Zeit für Veränderung ist noch nicht gekommen.“

„Aber sie wird kommen?“

Abby nickte und umarmte ihre Tochter.

Pläne und Vorbereitungen

Mai, 1910

Das Leben war tatsächlich weitergegangen wie bisher auch. Alison stürzte sich in ihre Schularbeiten und brachte die besten Zensuren mit nach Hause, die normalen Aufgaben langweilten sie und sie beschäftigte sich immer öfter mit den Abschlussarbeiten, doch es würde noch zwei Jahre dauern, bis sie den Abschluss machen konnte, um zur Universität zugelassen zu werden.

Abby und James sprachen wenig miteinander, sogar ihre Streitereien hatten aufgehört. Sie hatten sich nicht mehr viel zu sagen.

James weilte lange in der Arbeit oder war im Stadtrat auf Sitzungen. Immer öfter blieb er über Nacht weg und Abby fragte nicht, wo er war.

Sie merkte, dass sie resigniert hatte. Ein schönes Heim, Reichtum, eine intelligente Tochter, alle Bequemlichkeit, die man haben konnte, eine gut ausgebildete Dienerschaft, all das hätte ihr zum Glück gereichen können, aber sie fühlte sich im goldenen Käfig, unfähig, auszubrechen.

Sie hatte nichts mehr von Robert und Harry gehört, doch das beunruhigte sie nicht, keine Nachrichten waren gute Nachrichten.

Robert würde sich bei ihr melden, ja und dann?

Sie wusste, würde sie James verlassen, müsste sie zurück in die Primitivität, sie müsste wieder einen Haushalt führen, gegen Staub, Dreck und Ungeziefer kämpfen, sie müsste sich wieder täglich Mahlzeiten überlegen, müsste kochen, backen, abwaschen, putzen, nähen, all die verhassten Arbeiten erledigen.

Im Sommer wäre es wieder unerträglich heiß, im Winter gäbe es Schnee. Sie machte sich wenig Illusionen, dass sie so viel Geld haben würden, um die Winter im Süden zu verbringen.

Die Eintönigkeit der felsigen Gegend, die Einsamkeit, alles, wovor sie einst geflohen war, machte ihr Angst.

Aber auf der anderen Seite würde es einen Mann geben, der das Leben von der leichteren Seite nahm, einen großzügigen, liebevollen, weichherzigen Mann, der alles tun würde, damit sie an seiner Seite frei und glücklich war. Ein Mann, mit dem sie lachen konnte. Es würde warme Tage mit herrlichen Sonnenuntergängen geben, Lagerfeuer, den Gesang der Vögel und die wilde Schönheit der Canyons.