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Warum und aus welchen Motiven agieren Täter? Jeder von uns trägt eine »gute« und eine »böse« Seite in sich. Welche Seite in bestimmten Situationen das Steuer übernimmt, scheint häufig gar nicht beeinflussbar, dennoch ist es möglich, wenn wir eigene und gesellschaftliche Ressourcen aktivieren. Man kann es lernen. Besonders wichtig ist es, dies Kindern und Jugendlichen zu vermitteln. Kriminalität an sich hat hohe Korrelationen zu Rassismus, Sexismus, Armut, Missbrauch, Trauma und Persönlichkeitsstörungen. Die verschiedenen Aspekte der kriminellen beziehungsweise unmoralischen Handlung im individuellen und gesamtgesellschaftlichen Kontext müssen berücksichtigt werden, um zu verstehen, wie Täterschaft entsteht und wo man ihr bereits früh entgegenwirken kann.
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Seitenzahl: 171
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Claudia Fischer
Wir sind eineTätergesellschaft …
… und warum wir so daranfesthalten!
Pädagogische Ansichten,Thesen und Meinungen
Copyright: © 2019: Claudia Fischer
Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlag & Satz: Erik Kinting
Die Zitate aus der Süddeutschen Zeitung erfolgen mit mit freundlicher Genehmigung von Süddeutsche Zeitung Content (www.sz-content.de).
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-7497-5356-7 (Paperback)
978-3-7497-5357-4 (Hardcover)
978-3-7497-5358-1 (e-Book)
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J.: Kein Mensch kann sich das Leid vorstellen, das ich durchgemacht habe … Man ehrt Menschen, die Großes vollbracht haben. Aber man sollte noch mehr für manche tun, die trotz dem, was sie waren, sich davon abhalten konnten, die größten Schandtaten zu begehen. Ja, ehrt mich.1
1 Albert Camus Der erste Mensch, Rowohlt Verlag, 1995, Seite 254
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Sexismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diffamierungen
Jugend und Gewalt
Jugend und Sucht
Narzisstische Persönlichkeitsstörung
Narzisstische Persönlichkeitsstörung im Zusammenhang mit dem Verlust eines moralischen Verständnisses
Thesen und alltäglicher Sexismus in Verbindung mit Kriminalität
Sexueller Missbrauch
Krankheitsbilder überprüfen
Realer Täter-Opfer-Ausgleich
Meinungen
Biologie des Bösen
Armut
Erziehung
Mütter
Trauma und posttraumatische Belastungsstörungen
Einleitung
In der Gesellschaft gibt es zurzeit ein großes Interesse, zu erfahren, warum einige Menschen imstande sind, Böses zu tun. Kriminologen und Kriminologinnen, deren Arbeit unsere Neugier in Teilen stillt, sind der Meinung, dass es dieses Interesse und gar die Faszination daran schon immer gegeben hat. Die Menschen an sich haben ein Faible für Krimis, Thriller und Gruselgeschichten. – Man erzählt sich Böses.
Warum tun die Menschen das schon seit jeher? Gruselige Geschichten werden von Generation zu Generation weitergegeben, zuweilen schüren sie nicht nur Angst, sondern auch Gemeinschaft. Auf Klassenfahrten gab es immer jemanden, der mithilfe gruseliger Gestalten wie Vampiren, Hexen und Monstern eine kribbelige Gänsehaut bei den Zuhörern erzeugte.
Joe Bausch, der als Pathologe im Kölner Tatort bekannt wurde und gleichzeitig über Jahrzehnte als Gefängnisarzt im Hochsicherheitsgefängnis Werl gearbeitet hat, verweist in seinem Buch Knast auf den schwedischen Autor Hakan Nesser. Der antwortete auf die Frage nach dem Grund, warum Kriminalgeschichten so beliebt seien, dass sich die Leute im Grunde deshalb für den Tod interessieren, weil sich um diesen die zentrale Frage der Menschheit dreht. Der Tod würde als eine Art Themen-Medium fungieren, das der Mensch nutzt, um über das Leben nachzudenken.
Das Böse ist menschengemacht. Ist jeder Mensch zu bösen Taten fähig oder sind es besondere Persönlichkeiten, die etwas Böses vollbringen können?
Es gibt Menschen, die aufgrund von Persönlichkeitsstörungen dazu neigen, anderen Menschen zu schaden. Was sie bei anderen verursachen und auslösen, können sie jedoch nicht in das eigene Gefühlserleben integrieren. Sie haben keinerlei Mitgefühl, sind in keiner Weise emphatisch. Dazu gehört die narzisstische Persönlichkeitsstörung, der ein ganzes Kapitel gewidmet ist.
Julia Shaw, eine deutsch-kanadische Rechtspsychologin am University College in London, vertritt die für mich sehr einleuchtende These, dass jeder Mensch über gute und böse Anteile verfügt. Jeder Mensch wäre dazu fähig, etwas Kriminelles zu tun, meint sie. Sich dem bewusst zu sein trage dazu bei, den eigenen Täter in sich in der Selbstanalyse entlarven zu können und ihn zu kontrollieren, um andere Wesen, also Mensch und Tier, nicht zu schädigen.
Lydia Benecke, die Verfasserin von Psychopathinnen: die Psychologie des weiblichen Bösen spricht von sogenannten Schwellen, die zu übertreten sind, wenn Menschen beginnen, unmoralisch zu handeln. Bei einigen Leuten seien die Schwellen niedriger und ihre Taten befänden sich schneller im kriminellen Bereich, bei anderen wiederum müssen etliche Umstände vorausgehen, damit sie kriminell agieren.
Vor und während meines Lehramtsstudiums habe ich über 20 Jahre Deutsch als Zweitsprache unterrichtet. In den von der Bundesrepublik in Kooperation mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vor über zehn Jahren eingeführten sogenannten Integrationskursen, sollen Migranten sowie Flüchtlinge die Gelegenheit bekommen, in 600 Stunden Deutschunterricht das B1-Niveau nach dem europäischen Referenzrahmen zu erreichen. Das gilt in Deutschland als Voraussetzung für das Einbürgerungsverfahren.
Nach wie vor denke ich, dass die Einführung der Integrationskurse, gerade mit den gemachten Erfahrungen der Einwanderung ab 1960 durch italienische, griechische, türkische und ehemals jugoslawische Gastarbeiter längst überfällig war. Vor den Integrationskursen blieb es jedem selbst überlassen, ob er oder sie die Sprache lernt. Oft war es auch eine finanzielle Frage. Das BAMF beteiligt sich seit Einführung der Integrationskurse an den Kosten für die Sprachkurse. Wir verdanken es den Integrationskurse, dass wir so viele verschiedene Stimmen im Land haben, denn gerade verschiedene Stimmen schaffen demokratische Verhältnisse und halten sie aufrecht.
Um am Ende das Zertifikat B1 zu erhalten, war es vorgesehen, noch einen 30-stündigen Orientierungskurs zu besuchen. Die Kursinhalte waren geschichtlicher, politischer und kultureller Art. Genauso wie im Rahmenplan der schulischen Bildung für Gesellschaft und Geschichte wurde Wert darauf gelegt, dass die Migranten etwas über die Weltkriege erfahren, natürlich insbesondere über den Zweiten Weltkrieg, den Nationalsozialismus und den Holocaust. So ein Kurs wurde damals zum größten Teil von jungen, meist minderjährigen unbegleiteten männlichen Flüchtlingen aus Afghanistan oder dem Iran besucht.
Ich erinnere mich sehr genau an eine bestimmte Stunde über die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und den Nationalsozialismus. Zu diesem Zeitpunkt waren wir schon im Bereich 70 Jahre nach dem Krieg. Die Stimmung in der Unterrichtsstunde irritierte mich. Ich wertete sie, wie sich im Nachhinein als falsch herausstellte, als eine Art von Unbeteiligtsein. Die Lehrerin in mir wollte mehr Beteiligung, die Pädagogin in mir wollte mehr Nachhaltigkeit, der Mensch in mir wollte mehr Interesse und die Demokratin in mir wollte mehr Meinungen und Diskussion für, an und um dieses so wichtige Thema. Es muss dieses Gefühlsgemisch gewesen sein, von dem Lehrkräfte, zumindest ich, im Unterricht angetrieben werden. Es verleitete mich zu der Aussage: »Also ich … ich könnte keiner Fliege was zuleide tun.« Darauf herrschte eisiges Schweigen im Unterrichtsraum. Ein junger Mann aus Afghanistan schaute mich bewegungslos an, zog eine Augenbraue hoch und fragte, ob ich denn tatsächlich glaube, was ich da sage. »Daran hege ich großen Zweifel«, erklärte er. »Die meisten meiner Kollegen hier haben gesehen, wie ihre Mütter an den Haaren aus Häusern gezerrt, wie ihre Onkel und Tanten verletzt und getötet, wie ihre Brüder und Schwestern misshandelt und vergewaltigt wurden. Was ist denn mit dir? Was würdest du dann tun?«
Selbstverständlich ergibt sich daraus der entscheidende Auftrag; in den Worten von Lydia Benecke: »Wo ist die ganz persönliche Schwelle eines jeden, wo ist meine ganz persönliche Schwelle, wo ist der berühmte Tropfen auf den heißen Stein, der das Fass zum Überlaufen bringt?« Und dann als wichtiges Ergebnis: »Wie schaffen wir es, die empathischen Fähigkeiten eines jeden Menschen so zu fördern und zu bestärken, dass Gewalt anderen gegenüber sofort von allen als unmenschlich begriffen wird, natürlich bestenfalls von den Tätern, die aus verschiedenen Gründen eher niedrige Schwellen haben?« Das ist möglicherweise die wichtigste pädagogische Aufgabe.
Empathie für andere Wesen auszubilden gelingt besser, wenn man als Kind in einem empathischen und Empathie fördernden Umfeld aufwächst. Das gilt nur in einem gewissen Rahmen, denn bei Menschen, die schon frühkindlich eine narzisstische Persönlichkeit oder später eine diesbezügliche Persönlichkeitsstörung ausbilden, können fürsorgliche und eventuell überbehütende Eltern den Verlauf der Erkrankung beschleunigen und noch schwerwiegender machen. Kinder, vor allem Söhne, die von ihren Eltern auf einen Sockel gestellt werden, erinnern schon in frühen Jahren an einen Pascha. Die Natürlichkeit, mit der sie abfällig über andere richten, ist bereits auf Schulhöfen erschreckend.
Um Kinder und Jugendliche stark zu machen und sie darüber aufzuklären, dass sie und ihr Wirken von ihnen selbst beein flussbar sind und bleiben, dient eine indianische Weisheit zum Thema Gefühle:
Ein Indianerhäuptling erzählt seinem Sohn folgende Geschichte: »Mein Sohn, in jedem von uns tobt ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Der eine Wolf ist böse. Er kämpft mit Ärger, Neid, Eifersucht, Angst, Sorgen, Gier, Arroganz, Selbstmitleid, Lügen, Überheblichkeit, Egoismus und Missgunst. Der andere Wolf ist gut. Er kämpft mit Liebe, Freude, Frieden, Hoffnung, Gelassenheit, Güte, Mitgefühl, Großzügigkeit, Dankbarkeit, Vertrauen und Wahrheit.«
Der Sohn fragt: »Und welcher der beiden Wölfe gewinnt den Kampf?«
Der Häuptling antwortet ihm: Der, den du fütterst.«
Der Psychotherapeut Dr. Rolf Merkle, der dieses Gleichnis als Beispiel im Internet anführt, erklärt dazu, dass wir alle positive sowie negative Gefühle verspüren, die nicht unberechenbar über uns hineinstürzen. Wir füttern unsere Gefühle regelrecht, wie in dem Gleichnis. Wir halten dadurch unsere Gefühle am Leben.
Das Gefühl der Eigenverantwortlichkeit und der Selbstwirksamkeit hindert uns daran, anderen Wesen die Schuld an unserem Unglück und unseren negativen Gefühlen zu geben. Wenn wir den guten Wolf füttern, stellen wir die schlecht formulierten Entschuldigungen und Rechtfertigungsstrategien, die unser Tun und Handeln (auch das kriminelle Handeln) erklären sollen, ab und machen weder die Umstände noch die Mitmenschen für unsere Fehler oder unser Misslingen verantwortlich.
Wir müssen uns aber auch im Klaren darüber sein, dass wir menschliches Verhalten niemals komplett aufklären können. Menschliches Verhalten ist oft nicht erklärbar und dennoch streben wir beständig danach, Erklärungsmodelle zu suchen. Da ist im Prinzip auch nichts Falsches dran. Für das ganze Bild eines Verhaltensmusters bräuchte man jedoch nahezu alle biografischen Daten eines Menschen, damit man wie ein Schulmediziner, der auch immer möglichst viele Untersuchungsergebnisse zusammentragen muss, diagnostische Aussagen treffen kann. Die Psychologie/Psychiatrie macht das im Grunde. Diese Disziplin hat sich über das letzte Jahrhundert enorm entwickelt und Erklärungs- sowie Behandlungsmodelle geschaffen. Die Ergebnisse bleiben jedoch interpretierbar.
Das Streben nach Erklärung und Analyse birgt eine enorme Heilungschance für alle. Gerade wenn Menschen zu Opfern werden und von anderen zugefügtes Leid erfahren, verschafft es Linderung, mögliche Erklärungen für das Täterverhalten zu finden. Dieses kann mithilfe des Täters, muss aber oft ohne ihn geschehen.
Letztendlich muss auch ein Unterschied zwischen Tätern gemacht werden, die sich fortwährend und über Jahre unaufhörlich in Rechtfertigungsstrategien einhüllen, jenen, denen die Sicherung durchgebrannt ist, weil man von ihnen sagen könnte, dass sie eine kurze Zündschnur haben, und jenen, deren Schwelle im Grunde enorm hoch ist, bevor sie kriminell agieren, die jedoch zuvor jahrelang selbst Opfer waren. Die letzte Gruppe besteht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem größeren Teil aus Tätern, die nach der Tat zutiefst bereuen und geläutert sind, als die beiden erstgenannten Gruppen.
Im Großen und Ganzen stehen die Menschen immer hauptsächlich unter dem Eindruck ihrer eigenen Erfahrungen. Um hinter den gemachten Erfahrungen Motive für Handlungen in der Gegenwart herauszuhören, ist Empathie erforderlich.
Sexismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diffamierungen
Die Titel-tragenden Strömungen in der Gesellschaft haben über die Jahrhunderte hinweg ähnliche und in einigen Fällen genau die gleichen Strukturen und Wirkungsweisen entwickelt.2
Der Artikel von Emilia Smechowski3 beschreibt in einem sehr plakativen Maße, wie sehr unser aller Leben in den alltäglichen Sexismus eingebettet ist: Das Magazin fragte an, ob ich eine Art Selbstversuch starten und auf Sexismus in meinem Alltag reagieren wolle … Sexismus? In meinem Alltag? »Ich weiß nicht recht«, sagte ich. Ob ich Me-too-technisch überhaupt die Richtige bin, als Autorin, die nicht im Büro, sondern zu Hause am Schreibtisch sitzt? Als junge Mutter, die eher selten ausgeht? Als Partnerin eines Mannes, der die Hälfte der Elternzeit genommen hat?4
Viele Frauen fühlten sich von Me-too erst mal nicht betroffen. Es ging zunächst nicht darum, den Frauen, die im Zusammenhang mit der Affäre um Harvey Weinstein an die Öffentlichkeit getreten sind, nicht zu glauben. Geglaubt habe ich das sofort, es fühlte sich aber nicht danach an, dass es mich auch betraf. Nach dem Lesen des Artikels von Emilia Smechowski und einer der Überschriften – Wir nehmen Sexismus hin wie das Wetter. Wozu sich über Regen aufregen?5 – begriff ich, dass Sexismus wie eine Subkultur unter uns lebt. Mal wird sie ganz offensichtlich, mal benutzen Frauen und Männer sie wie ein Treppengeländer – man hangelt sich an etwas Bekanntem und dadurch Sicheren entlang.
Weiter unten heißt es: Wir spüren, wenn unsere Grenze überschritten wurde. Wir spüren, wenn wir eine Grenze überschritten haben. Allerspätestens dann, wenn es hinterher peinlich still wird.6
Der Text machte mich auch auf den kanadischen Film von Attiya Khan7 aufmerksam. Emilia Smechowski schreibt: Der Film hat mich sehr beeindruckt, und er geht weit über meinen Selbstversuch hinaus. Khan trifft darin ihre erste Liebe: einen Mann, der sie grün und blau schlug, als beide 16 und ein Paar waren. Während sie, Opfer und Täter, Schicht für Schicht abtragen, um zu begreifen, was damals passiert ist, musste ich mehrmals auf Pause drücken. Ihre immer wieder stockenden Gespräche sind unerträglich ehrlich. Wie nun sie die Starke ist und er der Schwache, sie mutig und er beschämt, wie sich beide ihrer Angst stellen. In einem Interview sagte Khan, sie habe diesen Film nicht nur gemacht, um ihren Ex-Freund zu verstehen. Sie habe sich, indem sie aktiv auf ihn zuging, endlich befreien wollen.8
Ich möchte Emilia Smechowski in allem zustimmen, möchte jedoch hinzufügen, dass mögliche Erklärungsmodelle seitens des Täters sehr begrenzt sind. Zweifellos ist dieser Film das mutigste Experiment, das ein Opfer häuslicher Gewalt wagen kann! Die Besonderheit in diesen Treffen liegt auch darin, dass sie überhaupt stattfinden. Das ist zum größten Teil Attiya Khan zu verdanken und zu keinem geringen Teil dem Ex-Freund, der sich einer Situation stellt, der sich ein Täter üblicherweise nicht stellt.
In dem Film gibt es einen Therapeuten, der mit beiden spricht und die Begegnung therapeutisch begleitet. In einem alleinigen Gespräch mit dem Therapeuten sagt Attiyas Ex-Freund, nachdem er die ganze Dokumentation über eher wenig spricht: »Justice takes its place.«9 Es ist keine Erklärung für die Taten und auch keine Entschuldigung. Er war damals 16. Es ist aber so viel mehr als Opfer häuslicher Gewalt normalerweise bekommen. Er hält die Anklage aus. Auch das ist mehr, als jede nicht verurteilte gewaltvolle Tat nach sich zieht, sei sie häuslich oder nicht.
Opfer haben ein tiefes Bedürfnis nach Klärung. Sie ist ein kleiner Baustein zur Aufarbeitung. Darüber hinaus bleiben jedoch immer viel Verzweiflung, jede Menge Chaos und Wunden. Das Überleben hängt von den Ressourcen eines Einzelnen ab.10
Kanada hat eine sehr offensive Bewegung zum Thema Häusliche Gewalt gestartet. Eine Gruppe der Initiative tourt mit dem Film A better man durch Kanada und zeigt ihn einem ausgewählten Publikum, mit anschließender Gelegenheit zur Diskussion. Es gibt Material, das zur Vor- und Nachbesprechung in Klassen eingesetzt werden darf.11
Ich bin der Meinung, dass diese Form der Aufklärung auch in Deutschland gestartet werden muss! An der Hamburger Universität habe ich in den 90er-Jahren das Fach Phonetik studiert. Wir hatten einen isländischen Professor, der sich aufgrund seiner Freundlichkeit allerhöchster Beliebtheit erfreute. Auch über seine Person hinaus war dieser kleine Fachbereich voller Charakter-Professoren, die auf die eine oder andere skurrile, aber stets freundliche Art nachhaltig beeindruckten. Der erwähnte isländische Professor machte uns darauf aufmerksam, dass die isländische Sprache keine männlichen oder weiblichen Färbungen enthielte, alles würde sehr neutral ausgedruckt. Ich konnte es mir kaum vorstellen, aber die Tatsache, dass ich es heute noch so erinnere, ließ mich weiterhin glauben, dass es wohl so sei. Gleichzeitig las ich gerade ein Buch namens Die Töchter Egalias12. In diesem Buch werden alle geschlechtsspezifischen Rollen umgetauscht: der Ehemann ist Hausmann und trägt Lockenwickler im Haar, die Ehefrau arbeitet ständig und möchte abends pünktlich essen, wenn sie müde heimkommt, der Sohn spielt mit Puppen, die Tochter mit Autos. Dem nicht genug: In diesem Buch werden alle Personalpronomen vertauscht. Manche Seiten musste ich drei- oder viermal lesen und im Kopf wieder zurücksortieren, damit ich die Geschichte dahinter verstand. Das fand ich höchst lästig, weil ich mich selbst als eingefahren entlarvte.
Nun gut. Seit dieser Zeit hatte ich ein besonders liebevolles, verklärtes und höchst gendertaugliches Bild von Island im Kopf. – Bis zum 10.12.2018: Da las ich den Artikel Feine Gesellschaft – Sechs Abgeordnete sind in Reykjavik in eine Bar gegangen undhaben mal ein bisschen über Frauen geredet. Von Männern, Abgründen und fehlenden Konsequenzen:13
Island. Insel der starken Frauen. Vorreiter im Kampf gegen Diskriminierung an allen Fronten. Erstes demokratisch gewähltes weibliches Staatsoberhaupt weltweit (1980). Erste offen lesbische Premierministerin (2009). Neun Jahre in Folge Platz eins im Global-Gender-Bericht des Weltwirtschaftsforums.14
Bis hier hin fühlte ich mich bestätigt. Dann las ich weiter:
Tja. Man weiß nicht, was Sveinsson, mittlerweile Abgeordneter der Opposition, sich heute mehr wünscht: Dass er den Aufsatz15nie geschrieben hätte? Oder aber, dass er an jenem Dienstag vor drei Wochen nie in Reykjaviks Klaustur-Bar marschiert wäre, um sich dort mit fünf befreundeten oppositionellen Parlamentariern zum Bier zu treffen … Das Gespräch nimmt einen obszön niederträchtigen Verlauf gegen Frauen, Behinderte und Homosexuelle.
Als Bára Halldórsdóttir am selben Abend zufällig auch in diese Bar ging und sich an den Nachbartisch setzte, glaubte sie selbst nicht, was sie dort mithören musste. Unter dem Pseudonym Marvin spielte sie ihre Aufnahme des Gespräches den Medien zu. Sie enthüllte später ihre Identität: Bára Halldórsdóttir ist Isländerin, sie ist eine Frau, sie ist lesbisch – und sie ist behindert.
Das Traurige an diesem Vorfall ist, dass er den Glauben daran beschädigt, dass ein diskriminierungsfreies Klima vor so einem Gedankengut schützt. Das tut es hier ja offensichtlich nicht.
2 Vergl. Wirkungsweisen von Rassismus und Ethnozentrismus von Annita Kalpaka und Nora Räthzel (Hg) aus: Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein, Textesammlung, Erstauflage 1986
3 S. a. Süddeutsche-Zeitung-Magazin, Nicht mehr mit mir, Emilia Smechowski, Heft Nr. 4 vom 26. Januar 2018, Seite 9-13
4 Vergl. ebenda
5 Vergl. ebenda
6 Vergl. Kapitel Thesen und alltäglicher Sexismus in Verbindung mit Kriminalität
7 Attiya Khan, A better man, Kanada 2017
8 S. a. Süddeutsche-Zeitung-Magazin: Nicht mehr mit mir, Emilia Smechowski, Heft Nr. 4 vom 26. Januar 2018, Seite 9–13
9 Übersetzt: Gerechtigkeit nimmt ihren Platz ein
10 Vergl. Kapitel Thesen und alltäglicher Sexismus in Verbindung mit Kriminalität
11 Vergl. A better man discussion guide for Unions, herausgegeben von congrés du travail du Canada in Kooperation mit tvo never stop learning und Intervention Productions
12Die Töchter Egalias, ein Roman über den Kampf der Geschlechter, Gerd Brantenberg, Verlag Frauenoffensive, München, 6. Auflage 1992
13 Vergl. Süddeutsche Zeitung vom 10.12.2018
14 Vergl. ebenda
15 Gemeint ist hier ein Essay, das Sveinsson für den britischen Guardian drei Jahre zuvor geschrieben hatte und in dem er offen die allzu weiblichen Gesellschaftsverhältnisse anklagt
Jugend und Gewalt
Den Medien kann man entnehmen, dass die Jugend scheinbar völlig verroht. Das erlebe ich in meiner Arbeit als Lehrerin auch in Teilen, aber nicht in dem Maße, wie es uns durch die Berichterstattung glauben machen will. Während meiner Tätigkeit als Lehrerin im Jugendstrafvollzug ist es hin und wieder vorgekommen, dass mir ehemalige Inhaftierte über den Weg gelaufen sind. Immer in der Absicht, in solchen Momenten auch zu grüßen oder mich auf ein kleines Gespräch einzulassen, fand ich mich in ganz anderen Situationen wieder, als die Berichterstattung suggeriert.
Als Lehrerin ist man immer eine Art Respektsperson, auch wenn es in Deutschland an Schulen zu beklagen gibt, dass dem nicht mehr so sei. Ich habe beiderlei Situationen im Schulalltag erlebt. Da wir es in der Schule im und außerhalb des Strafvollzuges auch mit Kulturen zu tun haben, in denen Lehrer und Lehrerinnen vielleicht nur durch übermäßige Strenge eben diese Respektsperson bleiben, scheint dies weiterhin zu gelten.
Daran, wie anders das Bild des Lehrers in anderen Kulturen geprägt ist, erinnert mich ganz deutlich immer wieder eine Abschiedskarte eines ehemaligen syrischen Teilnehmers eines Deutschkurses. Er hatte lange Jahre als Arzt in seinem Heimatland gearbeitet und war in der Situation, in Deutschland noch mal ganz von vorne anfangen zu müssen, zunächst mit einer völlig fremden Sprache und Schriftweise. Die Karte trägt ein arabisches Sprichwort. Die Übersetzung hat er darunter geschrieben: Wer mich den ersten Buchstaben lehrt, ist mein König.
Anscheinend prägt dieses respektvolle Bild des Lehrers auch bei Jugendlichen aus Migrantenfamilien, die in Deutschland geboren sind, auf irgendeine Art und Weise mit. Es ist anzunehmen, dass die im Ausland geborenen Eltern erzählen, wie ihre Schulzeit verlaufen ist. Gerade auch, wenn in der Schule Probleme auftauchen. Sind sie der deutschen Sprache nicht mächtig, ist das die einzige Art, wie sie die Spannungen erst mal aushalten und manchmal auch lösen können.