Abgehängt - Thomas Blubacher - E-Book
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Thomas Blubacher

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Beschreibung

Basel, im Juni 1939: Aufgelöst berichtet Hermine im Tearoom der Confiserie Schiesser ihrer Tante Rosa, deren Arbeitgeber Max und dessen Freund Simon von einer merkwürdigen Begebenheit im Hause ihres Dienstherrn. Professor Merian habe ihr letzten Sonntag ausser der Reihe freigegeben. Zufällig sei sie dennoch Zeugin geworden, wie er anschliessend einen Gast empfangen habe, mit dem er wohl in Streit geraten sei. Am nächsten Morgen von ihr auf den Besuch angesprochen, habe er erklärt, den Abend allein verbracht zu haben. Aber da hänge doch noch dieser fremde Hut an der Garderobe … Tags darauf erfahren Max und Simon von Max' Onkel, Kommissär Staehelin, dass Professor Merian in seinem Haus niedergeschlagen wurde. Er liegt im Spital und kann sich an nichts mehr erinnern. Gestohlen wurde nichts. Doch der Hut ist weg. Ein verzwickter Fall in der Basler Oberschicht kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs – spannende und wendungsreiche Ermittlungen vor historischer Kulisse.

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Seitenzahl: 252

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

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Über das Buch

Impressum

Titel

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Über den Autor

Backcover

Thomas Blubacher

Abgehängt

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur miteinem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.

© 2025 Thomas Blubacher© Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, BaselAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Thomas Gierl

Thomas Blubacher

Abgehängt

Kriminalroman

1

«Bitte, Rosa!» Obschon sich das eigentlich nicht schickte, liess Max ihr den Vortritt auf der Treppe, die hinter dem länglichen Verkaufsraum der Confiserie Schiesser hinauf zum Tearoom führte. Als er oben anlangte, hatte sie bereits einen freien Tisch mit bester Aussicht auf die in der Junisonne leuchtende rote Sandsteinfassade des Basler Rathauses erspäht.

«Was meinen Sie, Max, wie wäre es dort am Fenster?»

Gerade wollte er antworten, da vernahm er neben sich eine hohe, näselnde Stimme: «Ah, der junge Werthemann! Schön, gehen Sie mit Ihrer Hausangestellten in den Ausgang. Als ich in Ihrem Alter war, galt so etwas als inkonvenient.»

Das ist auch ein halbes Jahrhundert her, dachte Max, sprach das aber selbstverständlich nicht aus, sondern beobachtete interessiert, wie der Truthahnhals der bejahrten Dame, den sie vergeblich mit einer enganliegenden Perlenkette zu kaschieren versuchte, energisch hin und her wackelte, als sie empört den Kopf schüttelte. Er setzte sein vorzugsweise bei weniger verblühten Geschöpfen erfolgreich erprobtes Filmstarlächeln auf. «Frau Burckhardt!» Zum Glück war ihm ihr Name rechtzeitig in den Sinn gekommen. «Mein Kompliment, Sie sehen fabelhaft aus, noch jünger als beim letzten Mal. Wie machen Sie das bloss?» In Wirklichkeit betonte die viel zu üppige Schminke sogar noch die Makel, die Zeit und Zwist in ihrem verdriesslichen Gesicht angerichtet hatten. Als wollte er ein Geheimnis preisgeben, beugte sich Max hinab bis auf die Höhe ihrer vom schweren Schmuck ganz ausgeleierten Ohrläppchen. «Sie wissen doch, damit alles gleichbleibt, muss alles sich ändern.» Er deutete auf den Rest eines Japonais-Törtchens, das der stadtbekanntermassen vereinsamten Fabrikantenwitwe Gesellschaft leistete. «Aber ich sehe, Schiessers Patisserie mundet wie eh und je. Sie entschuldigen uns? Dort drüben», wandte er sich wieder an Rosa, «ist es, glaube ich, behaglicher.»

Rosa verdrehte die Augen zur Decke, sobald sie der konsternierten Seniorin den Rücken zugekehrt hatte, und steuerte auf einen vor allzu neugierigen Blicken durch eine Sichtblende aus satiniertem Glas geschützten Vierertisch in der abgerundeten Ecke des Tearooms zu. Von dort konnte man die Brodlaube mit ihren beiden ungleichen, von Zwiebelhelmen gekrönten Türmchen sehen und die prächtige Jugendstilfront des Warenhauses Globus. «Erinnern Sie mich, dass ich nachher noch posten gehe. Es hat holländische Melonen im Angebot. Und ein paar Büchsen Thon könnten wir auch brauchen.» Ostentativ rückte Max ihr den Stuhl zurecht, doch zu seinem Bedauern konzentrierte sich die standesbewusste Frau Burckhardt bereits wieder auf ihr Japonais. Kaum hatte auch er Platz genommen, stürmte überraschend Simon die Treppe zum Tearoom herauf.

«Etwas Gutes hat ja dein tomatenroter Lancia, Mäxchen, man kann ihn selbst inmitten all der Autos auf dem Marktplatz schwerlich übersehen.» Er zwinkerte Rosa zu und räusperte sich. «Aber ich will Sie natürlich nicht bei Ihrem Rendez-vous stören, werter Werthemann. Der junge Herr von Welt bevorzugt heutzutage bekanntlich die etwas reifere Dame.» Anerkennend schürzte er die Lippen. «Welch gute Wahl! Bislang hast du Frauen ja von einem eher oberflächlichen Standpunkt aus beurteilt.»

«Möchtest ausgerechnet du über Beuteschemata mit mir diskutieren?», konterte Max. «Aber erspar mir bitte Détails. Ich kann mir ohnehin nur mit Mühe merken, ob gerade ein Hans oder ein Franz bei dir en vogue ist. Und müsste ich mit jedem neuen Schwarm von dir dinieren, wäre ich schon längst so adipös wie Onkel Jakob. Wenn ich geahnt hätte, dass mein Lancia dich anlockt wie das Licht die Motten, hätte ich ihn um die Ecke parkiert.»

«Reden Sie keinen Kabis, Max. Und Sie, Herr Simon, Sie setzen sich zu uns.» Rosa freute sich aufrichtig, ihn zu sehen, obschon sie ihn erst vor zwei Tagen in der Werthemannschen Villa im Gellert mit Kalbsvögeln und Kartoffelstock beköstigt hatte.

«Mein liebes Mäxchen, ich wollte dich eigentlich nur kurz fragen, ob du mich morgen Abend in die Safranzunft begleitest.»

«Dich interessiert unser Zunftwesen? Du weisst schon, dass ausschliesslich wohlbeleumdete Männer, die das Bürgerrecht der Stadt Basel besitzen, aufgenommen werden? So wie ich also. Für einen schwulen jüdischen Emigranten sehe ich da wenig Chancen.»

«Im Saal der Safranzunft findet eine Protestversammlung gegen das dreimonatige Verbot der ‹Schweizer-Zeitung am Sonntag› statt. Die beiden Redakteure Eduard Behrens und Fritz Lieb werden sprechen.»

«Was haben diese Redaktoren denn geschrieben? Warum wird eine Schweizer Zeitung verboten?», wollte Rosa wissen, die politisch nicht uninteressiert war, aber im vorderen Teil der «Basler Nachrichten», die Max aus Familientradition abonniert hatte, allenfalls blätterte.

«Weil dieses antifaschistische Blatt eine Belastung für die schweizerische Aussenpolitik darstelle», erklärte dieser.

«Wegen angeblicher ‹Hetze› gegen Hitler. Dabei ist ‹Hetze› ein Begriff, den Goebbels benutzt, um die Welt im Einschätzen der nationalsozialistischen Wirklichkeit zu verwirren und zu verunsichern», echauffierte sich Simon. «‹Hetze›, das ist für die Nazis jeder wahrheitsgetreue Bericht über Ereignisse und Zustände im Dritten Reich, ‹Hetze› sind beglaubigte Schilderungen der Gräuel in den Konzentrationslagern, ‹Hetze› sind Augenzeugenberichte über die Judenpogrome, da nach den eigenen Worten des ‹Führers› ‹keinem einzigen Juden auch nur ein Haar gekrümmt wurde›. Je mehr Menschen sich gegen dieses Verbot empören, desto besser.»

«D’accord. Aber darfst du dagegen demonstrieren? Bei deinem Aufenthaltsstatus ist es dir doch untersagt, dich politisch zu betätigen, oder etwa nicht?»

Simon stutzte. Das hatte er sich noch gar nicht überlegt.

«Und ausserdem habe ich für morgen bereits ein Billett fürs Stadttheater.»

«Was wird denn gegeben?», mischte sich Rosa ohne ersichtliches Bemühen, ihre Absicht zu verbergen, ein.

«Also gut», stöhnte Max gespielt. «Kürzen wir die Diskussion ab. Ich tue der Welt etwas Gutes und protestiere mit Simon, dem dieses löbliche Engagement mit ein bisschen Massel schon nichts schaden wird, tue Rosa etwas Gutes und überlasse ihr meinen Logenplatz, und sie tut sich etwas Gutes und amüsiert sich in Oscar Wildes ‹Idealem Gatten›. Und wieder einmal habe ich alle beglückt.»

Simon erhob sich. «Ich hoffe, du behältst recht. Bis morgen also! Rosa, viel Vergnügen im Theater!»

«Nein, bitte bleiben Sie, Herr Simon. Es fügt sich gut, dass Sie hier sind.»

«Wir erwarten nämlich eine junge Dame.»

«Hübsch?» Simon nahm wunderfitzig wieder Platz.

«Hermine ist eine Verwandte Rosas.»

Rosa runzelte die Stirn. «Und was, bitte, soll das heissen?» Ohne eine Antwort seines Freundes abzuwarten, erläuterte sie Simon: «Hermine Leitz stammt aus Hasel und ist die vor Kurzem mündig gewordene jüngste der vier Töchter meiner Cousine Friederike. Es geht aber nicht um eine Eheanbahnung, sondern», sie senkte ihre Stimme, «höchstwahrscheinlich um einen Kriminalfall.»

«Du weisst, meine famose Rosa wittert überall Verbrechen.»

«Inspiriert Sie denn gerade wieder einer dieser aufregenden Fortsetzungsromane, die Sie am laufenden Band verschlingen? Worum dreht es sich diesmal? Unterschlagung? Hehlerei? Nötigung? Oder gar Notzucht?»

«Hermine hat mich um Rat gebeten. Und da Max, wie Sie ja bestens wissen, vor einem Jahr so erfolgreich den Fall Alberti untersucht hat ...»

«Onkel Jakob war der Ermittler.»

«Zusammen mit Kommissär Staehelin, das ist wahr. Doch die Kriminalpolizei muss zumindest fürs Erste aussen vor bleiben, also ist er genau der Richtige. Und nun hat der liebe Gott auch noch Sie vorbeigeschickt.»

«Ich helfe immer gerne, und in einem solchen Fall umso lieber. ‹Es bereitet deshalb solches Vergnügen, anderer Leute Geheimnisse herauszufinden, weil dadurch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den eigenen abgelenkt wird.›» Da Rosa ihn etwas verwirrt ansah, setzte er hinzu: «Sagt Lord Goring im ‹Idealen Gatten›.»

«Nie um ein literarisches Zitat verlegen, der Herr Doktor», stichelte Max. «Ich fürchte, wir kennen die Geheimnisse, von denen du ablenken willst.»

«Was macht denn deine akademische Karriere, Mäxchen?», gab Simon Paroli. «Oder hängst du sie Ende der Woche mit dem Umzug der Uni vom Rheinsprung ins neue Kollegiengebäude an den Nagel, weil dir künftig der stimulierende Rheinblick fehlt? Ich fürchte, dein Studium wird zum Reinfall.»

Beinahe zaghaft näherte sich eine rotwangige junge Frau in graublauem Glockenjupe und heller Bluse dem Tisch. Während Max sich comme il faut erhob, musterte er sie so unauffällig wie möglich. Dass sie ihre Lippen mit kräftiger Farbe zu einem Rosenknospenmund geschminkt hatte, war ungewöhnlich für ein junges Dienstmädchen, zumal eines, das aus einem Bauerndorf am Südrand des Schwarzwalds stammte. Die grünen Augen, die unter honigblonden Locken strahlten, erinnerten ihn für einen Augenblick an die gleichaltrige Hilde Ehinger, in die er sich vor einem Jahr verschossen hatte; trotzdem hatte er sie eines Mordes überführt, und nun sass sie hinter Gittern. Doch vom Charme und der scheinbar unbekümmerten Direktheit der Nachwuchsschauspielerin schien Rosas Verwandte nichts zu besitzen. Statt ihm ins Gesicht sah sie schüchtern zu Boden.

«Liebe Hermine, das ist Herr Werthemann, von dem ich dir gestern erzählt habe», stellte Rosa ihren Arbeitgeber förmlich vor. «Und das ist ein guter Freund von ihm, Herr Dr. Schrage.» Sie betonte Simons erst kürzlich erworbenen akademischen Grad so stolz, als wäre sie selbst promoviert worden.

«Sind Sie Arzt?»

Während Max sich setzte, registrierte er erstaunt, dass die junge Frau seinem Freund, der im Gegensatz zu ihm das Aufstehen nur angedeutet hatte, lange und tief in die Augen blickte. «Nein, er kann Sie nicht behandeln. Auf keinerlei Weise. Weil er nämlich ...» Ein unmissverständlicher Tritt gegen sein Schienbein liess Max abrupt verstummen.

«‹Germanist ist›, wollte Max sagen. Ich bin Germanist.» Simon erzählte allen Menschen, ob diese ihn danach fragten oder nicht, wie in den meisten Fällen, liebend gerne vom Thema seiner Dissertation, das ihn jahrelang beschäftigt hatte und noch immer faszinierte – ausser Max, denn obschon dieser selbst deutsche Literatur studierte, war sein philologisches Interesse «pitoyabel limitiert», wie einer ihrer Professoren einmal bemerkt hatte. Also hob er zu einem kurzen und angesichts von Hermines, wie er unterstellte, eher überschaubarer Schulbildung angemessen niederschwelligen Vortrag über die Frauenfiguren in Arthur Schnitzlers frühen Dramen an, als die Serviertochter die Bestellung aufnehmen wollte.

«Was darf ich den Herrschaften bringen?»

«Fräulein Leitz, was möchten Sie? Einen Café crème?» Die junge Frau nickte. «Und dazu etwas Süsses?» Verschämt schüttelte sie den Kopf. «Das ist Nervennahrung, die können Sie offenbar brauchen. Eine Charlotte russe? Oder nein ... was hatte die Burckhardt gleich noch? Ein Japonais! Und du, Rosa?»

«Ich hätte auch gern einen Café crème und dazu ein Stück Linzer.»

Max blickte zu Simon, der noch unschlüssig war. «Eigentlich wäre mir ein Eis mit Sahne am liebsten.»

«Also ein Glacé für den reizenden jungen Mann. Einen Coupe Nelusko!» Da Simon ihn fragend ansah, erklärte er knapp: «Schoggiglacé, Ganache, Caramel-Streusel und Rahm.» Dann wandte er sich wieder der Serviertochter zu: «Und für mich ein Schoggi-S ...»

«Sie meinen ein Schiesser-S?»

Max hob die linke Augenbraue. «... und dazu einen Café nature, ohne Zucker, möglichst heiss.» Etwas zu prononciert setzte er hinzu: «Bitte.»

Die in seinen ungnädig taxierenden Augen zu mollige und mopsgesichtige Serviertochter, die schon längst selbst hätte Töchter haben können und womöglich auch hatte, nickte mit der duldsamen Gelassenheit einer erfahrenen Mitarbeiterin und begab sich ohne Eile zum Buffet.

«Es tut mir furchtbar leid, dass ich zu spät gekommen bin», entschuldigte sich Hermine. «Der Herr Professor Merian hat mich aufgehalten. Als ich den Mittagstisch abgeräumt hatte, hab ich ihm erst noch dies und das holen sollen, dann hab ich ihm helfen müssen, ein Buch zu suchen, das er verlegt hatte ...»

«Von einem Merian-Verlag hab ich noch nie gehört», kalauerte Simon und fing sich ein vorwurfsvolles «Pscht!» Rosas ein.

«... und schliesslich musste ich auch noch seinen dunkelblauen Veston aufbügeln, obwohl er den heute nicht mehr anzieht, da könnte ich wetten. Und das alles, wo er genau weiss, dass mittwochs um halb drei mein einziger freier Nachmittag in der Woche beginnt. Aber ihm ist das egal gewesen. Er muss ja erst um halb vier bei seinem Hausarzt sein. Na ja, manche Menschen sind halt gewohnt, zu bekommen, was sie wollen.» Sie lächelte und entblösste dabei eine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, die Max ganz besonders bezaubernd dünkte.

«Bitteschön, zwei Café crème, ein Café nature.» Die Serviertochter sah Max durchdringend an, während sie die Tasse fast geräuschlos auf die Marmorplatte des Tisches stellte. «Heiss und ohne Zucker.» Sie sagte das mit einem Ton, den die Patronin Clara Schiesser zweifelsohne gerügt hätte, wäre sie zugegen gewesen. «Ein Japonais für das Fräulein, eine Linzer für die Dame. Der Rest kommt sofort.»

«Was für eine schnippische Serviertochter!», monierte Max.

«Gibt es eigentlich auch Serviersöhne?», wollte Simon wissen.

«Das könnte dir so passen!»

«Schrage, haben Sie endlich die Vorzüge des Kaffeehauses entdeckt? Küss die Hand, die Damen, meine Verehrung, der Herr.» Ein vielleicht Dreissigjähriger deutete einen Diener an, die Haare aus der für sein Alter recht hohen Stirn streng zurückgekämmt, auf der Nase eine runde Hornbrille, im Mundwinkel eine kalte Pfeife, unter dem Arm eine vom Zahn der Zeit abgeschabte lederne Schultasche. Unüberhörbar stammte er aus jener vor einem Jahr ans Reich angeschlossenen Gegend, die man nun «Ostmark» nannte.

«Das», Simon wies auf den Wiener, «ist im weitesten Sinne ein Kollege von mir. Er schreibt nämlich ebenfalls. Allerdings nicht fürs Feuilleton der ‹National-Zeitung› wie ich, sondern für Bühnen und Cabarets: Hans Weigel.»

«Hans Israel Weigel, um korrekt zu sein, zumindest steht das so in dem neuen Reisepass, den mir das deutsche Konsulat Ende März ausgestellt hat. Ein rotes ‹J› gab’s gratis dazu.»

«Frau Rosa Oertlin, Frau Hermine ...»

«Leitz», half Rosa Simon auf die Sprünge.

«Natürlich, wie die Ordner. Und das ist mein guter Freund Max Werthemann.»

«Sie befinden sich in Basel vermutlich in derselben fatalen Situation wie Simon, nicht wahr?», erkundigte sich Max, beantwortete die Frage aber gleich selbst: «Sie müssen belegen, dass Sie sich um die Weiterreise in ein anderes Land bemühen, stellen alle paar Monate hoffnungsvoll ein Gesuch, man möge die Ausreisefrist ein weiteres Mal erstrecken, und haben keine Ahnung, wovon Sie Ihre Existenz bestreiten sollen, weil man ihnen untersagt hat zu arbeiten. Darf ich Sie zur Aufmunterung wenigstens auf einen Kaffee einladen, Herr Weigel?»

«No na, da sag ich nicht nein.»

«Wir können offen reden, denke ich. Wenn Simon, um dennoch ein paar Stutz zu verdienen, gelegentlich eine Filmbesprechung veröffentlicht, dann unter falschem Namen. Zum Glück hat die Fremdenpolizei noch immer nicht herausgefunden, wer ‹Curd von Stauffen› ist.»

«Sieh da, ein Lessing-Liebhaber. Wie dichtete der Dichter? ‹Die Kunst geht nach Brot.› Damit ich auch mal ein Kipferl gustieren kann, bediene ich mich gleich eines guten Dutzends verschiedener Pseudonyme, mein liebstes ist ‹D. K. Denz›.»

«Einen Coupe Nelusko für Sie, junger Mann», unterbrach die Serviertochter. «Und Sie bekommen das ...», sie machte eine bedeutungsschwere Pause, «Schiesser-S.» Dann wandte sie sich Weigel zu. «Und der Herr? Wie immer ein Glas Hahnenwasser? Einen Augenblick, ich hole gleich einen Stuhl, damit Sie sich zu den Herrschaften gesellen können.»

«Verbindlichsten Dank, aber bemühen Sie sich nicht um einen Sessel. Ich werde mich dort drüben in Ruhe in die Lektüre der Tagespresse vertiefen. Bedauerlich ist nur, dass sich das Angebot dieses Etablissements auf lokale Journale beschränkt. Wenn ich denke, welch fulminante Auswahl internationaler Blätter das Café Raimund offeriert hat ...» Zwei Atemzüge lang geriet er ins Sinnieren, und seine Mundwinkel wiesen traurig nach unten. «Verzeihen Sie meine Nostalgie. Eine Melange hätte ich gerne.»

«Eine Schale für den Herrn», bestätigte die Serviertochter trocken und schlurfte wieder davon.

«Österreicher und Schweizer haben vieles gemeinsam, eines aber trennt sie deutlich: die gemeinsame Sprache.» Weigel kaute an seiner Pfeife. «Wissen Sie, ein Kaffeehaus ist der ideale Ort für Menschen wie mich, die allein sein wollen, dazu aber der Gesellschaft bedürfen. Eine Art verlängerter Wohnraum, in dem man nicht zu Haus und doch nicht an der frischen Luft ist.» Er deutete eine Verbeugung an. «Habe die Ehre. Und verbindlichsten Dank für die Melange.»

«Hermine, am besten schilderst du der Reihe nach und so genau wie möglich, was geschehen ist», nahm Rosa den Faden auf, nachdem Weigel gegangen war. «Und die jungen Herren ...», ihre Augen funkelten Max und Simon an, «hören erst einmal kommentarlos zu, nicht wahr?» Die beiden nickten wie Pennäler, denen ein gestrenger Gymnasialprofessor klarmachte, dass sie kein einziges Mal mehr abschreiben dürften, wollten sie nicht des Lehrinstituts verwiesen werden.

Hermine Leitz trank einen Schluck Kaffee, atmete tief durch und nagte mit den oberen Zähnen an der geschminkten Unterlippe, so dass diese einen roten Rand bekamen, als hätte sie in etwas Blutiges gebissen. Endlich begann sie mit gedämpfter Stimme, damit man sie auf keinen Fall an einem Nachbartisch hören konnte, zu erzählen.

«Seit einem Dreivierteljahr stehe ich bei Herrn Professor Merian in Diensten.»

«Bei dem Musikwissenschaftler Wilhelm Merian? Oder beim Privatgelehrten Felix?», fragte Max dazwischen und kassierte einen gestrengen Blick Rosas, der ihn, da Hermine beim zweiten Namen genickt hatte, nicht davon abhielt, Simon ausführlich aufzuklären: «Dank seines einträglich angelegten Erbes muss Felix Merian keinem Broterwerb nachgehen.»

«Das kommt mir bekannt vor, Mäxchen», stichelte Simon. «Nur, dass ich dich nicht gerade als Privatgelehrten bezeichnen würde.»

«Er beschäftigt sich mit der mitteleuropäischen Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, sammelt Kunst und bibliophile Bücher, sitzt für die Liberal-demokratische Partei im Grossen Rat, ist Mitglied etlicher Stiftungsräte und hochzufrieden, dass ihm die Basler Universität den langersehnten Titel Ehrenprofessor verliehen hat, nachdem sie von ihm, wie zuvor schon das Historische Museum und das Frey-Grynaeische Institut, mit einer grosszügigen Summe bedacht worden war. Erben, die ihm diese Freigiebigkeit verübeln könnten, hat er keine; er war nie verheiratet. Zwar soll es da mal ein Techtelmechtel ...»

«Max, bitte. Lassen Sie doch Hermine erzählen.»

«Entschuldigt. Behandelt Sie unser edler Wohltäter Merian denn auch entsprechend gut, Fräulein Leitz? Oder drangsaliert er Sie?»

«Ich will nichts Schlechtes von ihm sagen. Wobei ... Platz in dem riesigen Haus an der Rittergasse ist reichlich, aber mir hat der Herr Professor eine Mansarde zugewiesen, in der sämtlicher unbrauchbarer Hausrat abgelegt worden ist. Zwischen dem Gerümpel steht mein Bett. Immerhin gibt es einen Schrank, in dem ich meine Sachen verstauen kann; ich kenne Mädchen, die schlimmer dran sind. Seit der Herr Professor vor zwei Monaten die elsässische Köchin entlassen hat, muss ich mich allein um alles im Haushalt kümmern, wenigstens kommt jemand für die Pflege der Gartenterrassen zum Rhein hin. Nicht zu arbeiten brauche ich bloss am Mittwochnachmittag und alle vierzehn Tage abends.» Hermine hatte ihre Schüchternheit offenbar abgelegt und redete wie ein Wasserfall. «Deshalb bin ich so erstaunt gewesen, als er mich letzten Samstag zu sich gerufen und mir verkündet hat, ich hätte ausser der Reihe am Sonntag ab sieben Uhr abends frei. Er hat gemeint, ich könne doch mal wieder ein Lichtspieltheater besuchen, so hat er das gesagt, und mir einen Zweifränkler in die Hand gedrückt. Was zu viel ist für ein Kinobillett, aber vermutlich hat der Herr Professor von so was keine Ahnung. Und als ich mich artig mit einem Knicks bedankt habe, hat er mir den Zweifränkler wieder weggenommen, sein Portemonnaie gezückt, einen Fünfliber herausgeholt und gesagt: ‹Wissen Sie was? Erfrischen Sie sich doch nach der Vorstellung noch mit einer prickelnden Limonade. Oder präferieren Sie Bier?› Und dann hat er laut gelacht, als hätte er einen guten Witz gemacht, und natürlich habe ich so tun müssen, als würde auch ich das lustig finden. Jedenfalls war so etwas noch nie vorgekommen. Fünf Franken! Der Herr Professor ist sonst nicht gerade spendabel, zumindest nicht zu mir. Und die Ausgaben für die notwendigen Einkäufe kontrolliert er akribisch. Ein regelrechter Rappenspalter, so sagt man doch hier in Basel, oder?»

«Im Kleinen muss man sparen, im Grossen wirft man’s hinaus.»

«Natürlich bin ich am Sonntag in den Ausgang und tatsächlich ins Kino, ins Odeon in der Greifengasse.»

«Was lief denn?» Simons grösste Leidenschaft galt der Filmkunst.

«Das spielt doch gar keine Rolle», versuchte Rosa, ihn zur Raison zu rufen. «Erzähl weiter, Hermine.»

«Das Odeon ist ein richtiger Palast.»

«Gebaut für neunhundert Zuschauer», wusste Simon und schwärmte: «Das Cinéma Palace um die Ecke fasst sogar fünfzehnhundert.»

«So was gibt’s bei uns in Hasel nicht. Das gibt’s nicht mal in Lörrach. Aber der Film, ‹Über die Grenze entkommen› hiess er, der hat mir so gar nicht gefallen. Also bin ich nach einer halben Stunde gegangen. Der Abend ist schön gewesen, die Luft mild, an die zwanzig Grad hat es noch gehabt. Ich hab mir die Schaufenster vom Kaufhaus zur Rheinbrücke angesehen, und dann bin ich runter an den Rhein, weil ja an diesem Tag die erweiterte Wettsteinbrücke eingeweiht worden ist, und den Oberen Rheinweg hatte man als Festpromenade hergerichtet, alle Bäume waren mit roten und weissen Lichterketten geschmückt. Die Sonne war ja gegen halb neun untergegangen, flackernde Flämmchen, rot und grün und gelb, haben die Fassaden der alten Häuser erstrahlen lassen. Das hat bezaubernd ausgesehen! Einen Sitzplatz gefunden hab ich an den Biertischen nicht, ich glaube, auf jeden hat es schon zehn Anwärter gegeben, als ich gekommen bin. Es war ein irrer Betrieb! Also bin ich am Ufer entlang geschlendert und hab der Musik gelauscht, all den Jodlern und Chören und den Handorgelspielern, die haben mir am besten gefallen, und dann bin ich über die neue Brücke spaziert, natürlich auf der Seite zum Münster hin, weil für mich dieser Blick der schönste der ganzen Stadt ist. Riesige Reflektoren haben das Grossbasler Ufer angeleuchtet, in warmen Farben, es hat ausgesehen wie im Abendrot. Ich hab zum Hohenfirstenhof geschaut, ob dort noch Licht brennt oder ob der Herr Professor schon schläft. Und mich gewundert, dass es auch im Gartensaal hell gewesen ist.»

«Simon, du musst wissen, das ist der grosse Raum im obersten Stock des Gartenhauses, direkt an der Rheinböschung», mischte sich Max abermals ein. «Ich war als Kind mal mit meinem Vater, Gott hab ihn selig, zu Gast im Hohenfirstenhof. Immerhin hat dieser spätgotische Adelssitz einst einem Werthemann gehört. Andreas Werthemann-Stähelin war der Schwager von Johann Jakob Vischer-Stähelin und ...»

«Nicht schon wieder ein genealogischer Vortrag über den Daig! Ersparen Sie uns das!» Wenn sie es für nötig befand, konnte Rosa, die meist mit warmer Stimme säuselte, recht resolut werden.

«Es hat dort also Licht gebrannt», fuhr Hermine fort, «was ich mir gar nicht hab erklären können. Denn der Gartensaal wird nie benutzt. Angeblich früher gelegentlich, bei einem Empfang im Sommer, das hat mir mal ein Dienstmädchen vom Ritterhof erzählt, das aus Wehr stammt, aber noch kein einziges Mal, seit ich beim Herrn Professor in Stellung bin. Er ist ... wie soll ich das sagen? ... nicht sehr gesellig.»

«Jeder in Basel weiss, dass Felix Merian jene Bekanntschaften am liebsten sind, die ihm erspart bleiben», riss Max schon wieder das Wort an sich. «Ich hab den Kauz ein, zwei Mal bei einer Einladung erlebt, der er sich offenbar nicht hatte entziehen können. Er ist klug, besitzt profunde Geschichtskenntnisse und könnte sicher stundenlang dozieren, wenn ihm jemand zuhörte, verfügt aber weder über die nötige Ungezwungenheit im Gespräch mit anderen noch die Gewandtheit, einen toten Punkt in der Unterhaltung zu überwinden. Einzig wenn es um die Malerei geht, glänzen seine Augen, und er gerät ins Schwärmen wie ein verliebter Backfisch ...»

«Max, ich bitte Sie!» Langsam wirkte Rosa aufgebracht. «Hermine?»

«Als ich genauer hingesehen hab, hab ich die Umrisse zweier Männer erkannt. Der eine ist der Herr Professor gewesen, da hab ich keine Zweifel. So gross und hager wie er ist schliesslich kaum jemand. Wenn er mit einem redet, steht er immer leicht gebückt da, als müsse er sich herablassen, die linke Hand auf dem Rücken, mit der rechten gestikulierend, das ist unverwechselbar. Und an dem Abend hat er rumgefuchtelt wie wild. Der andere Mann ist einen Kopf kleiner gewesen, schmächtig, geradezu zierlich und ... Na ja, mehr hab ich nicht erkennen können auf die Entfernung. Jedenfalls haben die beiden heftig gestritten. Und dann ...» Hermine nahm einen weiteren Schluck Kaffee. «Dann hab ich einen Knall gehört.»

«Die Herrschaften sind bedient?» Die Serviertochter blickte auf die noch volle Tasse vor Max und zog die Haut neben ihrer breiten, flachen Nase in die Höhe. «Ich hoffe, der Café nature ist nicht zu heiss für den Herrn?»

«Wir rühren uns schon, wenn wir noch etwas bestellen möchten. Aber bringen Sie doch bitte dem Herrn Weigel dort drüben noch eine Schale. Ebenfalls auf meine Rechnung, natürlich.»

«Wie der Monsieur wünscht.» Die Serviertochter ging zum Buffet, um das Getränk zu ordern.

«Ich hab also einen Knall gehört», fuhr Hermine fort. «Und dann noch einen und noch einen und noch einen und noch einen.»

Max und Simon waren ganz Ohr.

«Das ist das Feuerwerk gewesen, der Höhepunkt der Brückeneinweihung. Eine Viertelstunde lang hat es geklöpft. Erst haben am Himmel lauter goldene Sterne geglitzert, dann haben sich alle Farben über mir ausgebreitet, es hat rot und grün und blau gefunkelt. Die Reflektoren hatte man natürlich ausgemacht, da haben die bunten Lichter am Nachthimmel umso heller gestrahlt. Und am Ende hat es ausgesehen, als ob sich ein silberner Wasserfall in den Rhein ergiesst. So etwas hab ich mein Lebtag noch nicht gesehen! Wie gut, dass ich nicht bis zum Schluss von diesem blöden amerikanischen Film im Kino geblieben bin, sonst hätte ich das verpasst.»

«Und weiter?»

«Als ich wieder zum Gartensaal geschaut habe, habe ich dort nur noch die Umrisse des Herrn Professors erkennen können. Der andere Mann war offenbar gegangen. Ich hab mich gefragt, ob ihn denn der Herr Professor nicht hinausbegleitet hat, so wie sich das gehört? Er legt sonst allergrössten Wert auf Umgangsformen. Wehe, ich serviere ihm einmal die Suppe von links oder lege versehentlich von rechts vor. In diesem Moment hat sich der Herr Professor vom Fenster entfernt, gleich darauf ist das Licht im Gartensaal erloschen. Als ich eine halbe Stunde später den Hohenfirstenhof betreten habe, ist alles dunkel und mucksmäuschenstill gewesen.»

«Offenbar war Merian schlafen gegangen. So etwas soll vorkommen.» Max begriff nicht, weshalb er sich diese unspektakuläre, ja geradezu belanglose Geschichte anhören sollte.

«Ich hab im Salon geschaut, ob dort noch Gläser stehen, die ich wegräumen müsste. Der Herr Professor lebt abstinent, doch wenn ein Besucher da ist, offeriert er natürlich ein Glas Wein. Aber wahrscheinlich war der Besucher ein Blaukreuzler, wobei ... Ein Eptinger oder einen Süssmost hätte der Professor anbieten können, oder nicht? Jedenfalls hat alles so ausgesehen, als ob gar niemand da gewesen wäre. Ich dachte schon, ich kann mich unmöglich derart getäuscht haben, als ich an der Garderobe einen Hut entdeckt habe, den der Besucher offenbar vergessen hatte.»

«Beschreib ihn genau! Er ist ein wichtiges Indiz!», wies die durch Dutzende von Kriminalromanen geschulte Rosa ihre junge Verwandte an.

«Ein Indiz?», wunderte sich Simon. «Wofür?»

«Du führst dich auf, als wären wir einem Verbrechen auf der Spur, Rosa.» Max konnte keinen Anlass zum Argwohn erkennen. «Selbst dein verehrter Wachtmeister Studer würde sich um einen vergessenen Hut foutieren. Der ominöse Herr wird ihn schon holen. Oder sein Dienstmädchen danach schicken.»

Hermine überhörte den Einwurf und gehorchte Rosa. «Dunkelgrau, aus weichem Filz, mit breiter Krempe.»

«Also vermutlich ein Fedora. Die legendäre Sarah Bernhardt hat so eine Kopfbedeckung in ihrer Bühnenrolle der Prinzessin Fédora Romanoff aufgehabt und das Hutmodell bei Frauen populär gemacht, doch seit Jahrzehnten wird es vor allem von Männern getragen», protzte Max mit seinem Modewissen, «nicht zuletzt von Gangstern.»

«Na also! Ich wusste es!»

«Ach, Rosa, solche Hüte tragen auch viele chassidische Juden. Und Katharine Hepburn und Greta Garbo.»

«Besonders klein und zierlich sind beide nicht, Simeli. Also hat keine von ihnen Merian besucht.»

«Shirley Temple hat aber gewöhnlich keinen Fedora auf dem Lockenköpfchen.»

«Und ein Mann ist sie auch nicht, soweit mir bekannt ist.»

«Herr Simon, Max, Sie machen sich lustig! Jetzt lassen Sie doch Hermine erzählen!»

«Am nächsten Morgen habe ich dem Herrn Professor seinen Alpenkräutertee serviert, wie immer. Essen mag er nichts in der Früh. Und redselig ist er nie, aber ich bin wohl auch nicht die passende Gesprächspartnerin für ihn. Ich hab freundlich sein wollen und gefragt, ob er gut geschlafen habe. Er hat etwas vor sich hin gebrummelt, das hat ebenso gut ja wie nein bedeuten können. Und dann hab ich gesagt, ich hoffe, dass er einen netten Abend mit seinem Gast verbracht habe. ‹Wie kommen Sie denn darauf?›, hat er mich angefahren, als ob ich ihm weiss Gott was unterstellt hätte. ‹Ich war allein und habe gelesen. Und bin schon gegen neun ins Bett.›»

«Es geht ja auch niemanden etwas an, wer bei ihm war», warf Simon ein. «Ich würde auch nicht wollen, dass sich meine Vermieterin Fräulein Wassermann nach meinem Besuch erkundigt oder mir, Gott bewahre, sogar hinterherspioniert.»

«Das ist in deinem Fall auch besser so», frotzelte Max.

«Ich bin nicht neugierig gewesen, ich habe nett sein wollen. Jedenfalls ist es nicht wahr, was der Herr Professor behauptet hat, weil ich ja um halb zehn noch gesehen hatte, dass das Licht an war und er sich mit jemandem gestritten hatte. Ich hab gedacht, ich hab das doch nicht geträumt, bin, um mich zu vergewissern, zur Garderobe, und da hat noch immer dieser Hut gehangen. Diesmal hab ich ihn mir genauer angesehen, eben weil mir das so verdächtig vorgekommen ist, wie der Herr Professor reagiert hat. Dass er mich angelogen hat. Innen im Hut war ein Etikett angebracht. Moment, ich hab’s mir notiert.» Sie öffnete den Reissverschluss am Innenabteil ihrer Handtasche und zog einen Zettel hervor: «Rothschild, Zeil 67».

«Am nächsten Tag ist Hermine völlig ausser Atem vor mir gestanden», ergriff Rosa das Wort.

«Ich hab nicht frei gehabt, deshalb hab ich den Herrn Professor angeflunkert, ich müsse dringend ein paar Besorgungen fürs Mittagessen machen, und bin, so schnell ich konnte, zu Tante Rosa gelaufen.»

«Gestern Vormittag kam Hermine also zu mir und bat mich um Rat. Besser gesagt um Hilfe. Halten wir fest: Es ist offenkundig etwas vorgefallen, was nicht in der Ordnung ist. Warum hat Merian behauptet, er sei allein gewesen und früh zu Bett gegangen?» Rosa sah auffordernd in die kleine Runde. Max und Simon konnten wirklich nicht erkennen, was daran verdächtig sein sollte, also sagte keiner ein Wort, doch Rosa fühlte sich durch dieses Schweigen bestätigt. «Eben. Und was nun? Hermine kann unmöglich Merian noch einmal darauf ansprechen.»

«So leicht zu verärgern, wie der Herr Professor ist.»

«Soll Hermine zur Schuggerei gehen?», fuhr Rosa mit Vehemenz fort. «Dort lacht man sie aus.»

«Allerdings.» Max konnte Rosas Engagement anlässlich dieser läppischen Begebenheit nicht nachvollziehen.

«Und falls man ihr wider Erwarten doch Glauben schenkt und Professor Merian befragt, ist sie todsicher ihre Stellung los.»

«Wer will schon Personal, das einem die Polente auf den Hals hetzt? Noch dazu ohne einen vernünftigen Grund.»