Ausgespielt - Thomas Blubacher - E-Book

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Thomas Blubacher

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Beschreibung

Münchenstein, 1938: Im Atelier der Tonfilm Frobenius liegt der Schauspieler Robert Alberti tot auf dem Boden. Das Requisitenmesser, mit dem seine Kollegin Hilde Ehinger auf ihn eingestochen hat, wurde ausgetauscht. Die Studenten Max und Simon, die sich als Statisten ausgegeben und so in die Dreharbeiten eingeschlichen haben, verlassen fluchtartig das Studiogelände. Ausgerechnet Simon hat das Messer vor der Szene aus der Garderobe geholt, wo die Schauspielerin es vergessen hatte. Als vor den Nationalsozialisten aus Deutschland geflohener Emigrant darf er keinesfalls ins Visier der Polizei geraten. Dennoch wird er identifiziert und zur Fahndung ausgeschrieben. Um seinen Freund zu schützen, will Max den wahren Täter finden. Dass sein Patenonkel die Ermittlungen als Kriminalkommissär leitet, macht die Sache nicht eben einfacher. Denn dieser weiss genau, wo er suchen muss. Mit seinem augenzwinkernd erzählten Debütroman legt der bekannte Sachbuchautor Thomas Blubacher einen spannenden, tempo- und wendungsreichen Kriminalroman vor, der gleichzeitig ein stimmungsvolles Porträt des Basler Kulturlebens der späten 1930er-Jahre ist.

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Inhalt

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Über das Buch

Impressum

Titel

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Über den Autor

Backcover

Thomas Blubacher

Ausgespielt

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur miteinem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

© 2024 Thomas BlubacherZytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, BaselAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Thomas Gierl

Thomas Blubacher

Ausgespielt

Kriminalroman

1

«Du musst mir deinen Frack borgen, Mäxchen!»

«So, muss ich das?» Max gönnte seinem Kommilitonen Simon, der sich im Lesesaal der Basler Universitätsbibliothek vor ihm aufgebaut hatte und, beide Hände auf den Tisch gestützt, erwartungsvoll zu ihm herabbeugte, nicht mehr als einen flüchtigen Blick. Unbeeindruckt setzte er die Lektüre von Franz Kafkas «Urteil» fort, in das er sich schon den halben Vormittag vertieft hatte, obgleich es natürlich nicht auf der Liste der obligatorischen Semesterliteratur stand.

«Mein lieber, lieber Max, ich bitte dich inständig, nein, ich flehe dich an, leih mir deinen Frack. Du bekommst ihn übermorgen zurück. Wenn es sein muss, sogar fleckenlos. Ich schwöre es bei allem, was dir heilig ist.» Als Max erneut aufsah, versuchte es Simon mit seinem bewährten Opossumblick. «Bitte, bitte, bitte.»

Max musste grinsen. «Lass mich raten. Walter Muschg will dich vorzeitig promovieren, damit er dich schneller wieder loswird. Zu diesem festlichen Anlass solltest du dich tatsächlich in Schale werfen, aber ein Frack ist übertrieben. Glaub mir.»

«Pscht!» Als ob ihre Mitstudenten dieses noch nie gesehen hätten, wies die blasse, rothaarige Studentin, der aushilfsweise die Aufsicht oblag, von ihrem erhöhten Platz links neben dem Eingang auf ein Pappschild: «Es wird um absolute Ruhe gebeten!» Sie versuchte, möglichst streng über den Rand ihrer Lesebrille hinwegzublicken.

Max gelang es, ein so glaubhaft zerknirschtes Gesicht aufzusetzen, dass sich die Rothaarige, deren Namen er sich seit sieben Semestern nicht merken wollte, zufriedengab. Kaum hatte sie weggesehen, verdrehte er die Augen hinauf zu den neobarocken Stuckornamenten, die den hellgrünlichen Lesesaal schmückten. Dann flüsterte er Simon verschwörerisch zu: «Jetzt weiss ich’s: Du hast dich entschlossen, eine Scheinehe mit einer aus Einsamkeit verzweifelten Schweizerin einzugehen, weil du denkst, so erhältst du automatisch die Niederlassung. Aber da täuschst du dich gewaltig. Im Gegenteil. Wenn du die Rote da drüben zum Altar führst, wird sie Adolfs Untertanin.»

«Und wenn du, Mäxchen, einmal ernst sein und dich von deiner Lektüre losreissen könntest, würde ich dir alles erklären.» Ohne eine Reaktion abzuwarten, ging Simon Richtung Ausgang. Kurz vor der zweiflügeligen Tür wandte er sich noch einmal um und deutete hinauf zur grossen, runden Uhr: «In fünf Minuten! Draussen!»

«Pscht!», zischte die Rothaarige. Und gleich noch einmal: «Pschschscht!»

«Etwas frische Luft schadet uns beiden nicht», meinte Simon, als Max die sieben Stufen vom Eingang der Universitätsbibliothek an der Ecke von Schönbein- und Bernoullistrasse herunterkam. «Zum Botanischen Garten sind es nur ein paar Schritte. Und es wären noch weniger, wenn das Eisengitter des Hinterausgangs endlich einmal geöffnet würde.» Ohne auf ein Zeichen des Einverständnisses zu warten, schlenderte er los. «Von der Baustelle des Kollegienhauses ist kaum noch etwas zu hören, seit man endlich mit dem Innenausbau begonnen hat. Wir haben also Ruhe. Zumal sich um diese Uhrzeit gewöhnlich kein Mensch im Botanischen Garten aufhält.»

«Oha, du willst mir etwas verraten, was niemand sonst erfahren darf! Geht es um irgendwelche Intimitäten? Ich bin ganz Ohr.» Rasch hatte Max ihn eingeholt.

«Morgen wird in den Frobenius-Studios in Münchenstein eine Schlüsselszene des neuen Grossfilms gedreht, das hat mir Curt gestern Abend im Löwenzorn erzählt.»

«Curt? Aha.» Max grinste. «Und was ist mit Peter?»

Simon beschloss, den Unterton zu überhören. «Das mit Peter war im Mai.»

«Heute ist der 24. Juni.»

«Eben.» Schweigend spazierten sie weiter. «Curt ist der Requisiteur.»

Max hob die linke Augenbraue.

«Ja, ja, er ist eine Sahneschnitte. Aber darum geht es nicht. Jedenfalls im Moment.» Simon setzte sich auf die dunkelgrün lackierte Holzbank, die am Kiesweg zum Viktoriahaus zu einer Ruhepause einlud, und wartete, bis auch Max Platz genommen hatte. «Ich darf bei dem Dreh kiebitzen, hat er mir versprochen, aber dazu muss er mich unter die Komparsen mogeln. Und deshalb brauch ich morgen deinen Frack.»

Max beschloss, seinen Freund noch ein wenig zappeln zu lassen. «Ist denn Kostüm-Kaiser in der Utengasse abgebrannt? In den ‹Basler Nachrichten› stand gar nichts davon. Oder ist das beim Film so üblich, dass Komparsen ihre Kostüme selbst mitbringen?»

«Unsinn. Erstens hat die Anprobe schon stattgefunden, und zweitens sind die Klamotten abgezählt, natürlich, denn für jeden Frack muss die Frobenius an Kostüm-Kaiser Leihgebühr löhnen. La Roche kontrolliert sämtliche Ausgaben bis ins Detail und spart, wo er kann.»

Max sah Simon fragend an.

«La Roche heisst der kaufmännische Leiter. Wolfgang La Roche, wenn du es genau wissen willst.»

«Sieh an, La Rococos Filius – du weisst, dass Emanuel La Roche die Unibibliothek entworfen hat? – macht jetzt in Film.»

«War ja klar, dass du ihn kennst. Typisch Teig.»

«Daig, Simon, man sagt Daig mit ‹d› wie Dalbeloch. Tein teutonisches ‹Teig› tönt total tämlich.»

«Seit wann agieren ausgerechnet Sie als Fürsprech des inzüchtigen Basler Patriziats, werter Werthemann?»

«Treiben Sie es nicht zu weit, Herr Dr. des., ich betone: des. Schrage, sonst sorge ich dafür, dass Ihr Studentenvisum nicht weiter verlängert wird. Sie wissen, der Vorsteher des Kantonalen Polizeidepartements ...»

«... ist der Patenonkel ...»

«Götti heisst das. Lass dir Ejzes geben von einem weisen Mann: Du solltest dich wirklich ein wenig mehr akkulturieren.»

«... einer Cousine von dir», beendete Simon ungerührt seinen Satz.

Max schmunzelte. «Nein, er ist nicht einmal der Schwippschwager irgendeines Coucousins. Aber Fritz Brechbühl und Papa haben beide im Grossen Rat politisiert und waren, obwohl Papa kein eingefleischter Roter war, gute Kollegen. Ich glaube, ich habe Brechbühl zuletzt vor drei Jahren bei einer Hochzeit von irgendeinem Vischer gesehen. Oder war es auf dem Hörnli-Friedhof bei der Abdankung von Paul Speiser? Wolfi La Roche jedenfalls, dessen Eltern beide schon verstorben sind, ist ein Enkel von Andreas Heusler, dem Gerichtspräsidenten, der aber auch nicht mehr unter uns weilt, und seiner Frau Adelheid Sarasin. Und ein Urenkel von Antistes Stockmeyer, der mit einer Burckhardt verheiratet war und natürlich noch länger tot ist.»

«Dass du dir das alles merken kannst: wer mit wem wie ... Aber ich sag’s ja, in Basel besitzt das schöne deutsche Wort ‹Familienbande› eine ganz eigene Bedeutung.»

Max lachte auf. «Jetzt mal in medias res, Simon. Die Filmfräcke sind abgezählt und den eingeteilten Komparsen zugeordnet, das hab’ ich verstanden. Also musst du dein Kostüm selbst mitbringen. Gut. Aber fällt denn niemandem auf, wenn dein Name auf der Honorarliste oder Gagenliste, oder wie immer das beim Film heisst, fehlt? Du mit deinem Studentenvisum hast striktes Beschäftigungsverbot, wenn ich nicht irre. Oder willst du dich unter Pseudonym verdingen, so wie bei deinen sporadischen Filmkritiken für die ‹National-Zeitung›?» Wieder lachte Max auf, diesmal klang es frech. «Überhaupt, hättest du dir dafür eigentlich nichts Besseres als ‹Curd von Stauffen› ausdenken können? Warum nicht gleich ‹Nathan der Weise›? Es nimmt mich schon lange wunder, dass noch niemand herauszufinden versucht hat, wer sich hinter diesem dämlichen Decknamen verbirgt. Da hast du ordentlich Massel gehabt.»

«Weil die Beamten der Fremdenpolizei keinen Schimmer von Lessing haben, weil der Feuilletonredakteur Otto Kleiber ‹a Mensch› ist, wie es im von dir warum auch immer gerne eingestreuten Jiddischen so schön heisst, und weil das hilfreiche Fräulein Wassermann, an das meine bescheidenen Honorare zum Schein gehen, absolut verschwiegen ist. Aber morgen benötige ich keinen falschen Namen. Curt ist sich sicher, dass es niemandem auffallen wird, wenn ich mich unter die bestellten Komparsen mische – sofern ich im eigenen Frack erscheine. Oder vielmehr in deinem. Ich will kein Geld verdienen, gut bezahlt wird so etwas eh nicht. Ich will einmal, wenigstens ein einziges Mal bei Dreharbeiten dabei sein.»

«‹Sonderbarer Schwärmer›», zitierte Max aus Schillers «Don Carlos» und fuhr prosaischer fort: «Nur Kintopp im Kopf, der Herr Studiosus! Und in Gedanken schon auf dem Weg nach Hollywood. Vergiss doch diese Provinzstudios im Baselland. Ich lade dich morgen lieber ins Kino ein. Im Eldorado gibt es ein Lustspiel mit Danielle Darrieux, und das Corso zeigt ‹Die Flucht aus dem Kloster› mit Marlene Dietrich. Oder lass uns in ‹Die Teufelspuppe› mit Barrymore gehen, die läuft im Odeon, da sitzt man unter der aufklappbaren Decke wie unter freiem Himmel. Weisst, wie herrlich, bei diesem Wetter? Du möchtest doch hoffentlich nicht in Leni Riefenstahls ‹Fest der Schönheit› im Capitol? Jedenfalls alles besser als solch ein dummer Schwank, wie ihn die Tonfilm Frobenius vermutlich dreht. Sag, spielt Fredy Scheim mit? Oder, noch schlimmer, Rudolf Bernhard? Ich hab ihn auf der Küchlin-Bühne als Conférencier ertragen, das genügt mir. Wer will denn sein Pferdegesicht auf zehn Quadratmeter aufgeblasen sehen?»

«Du hast keine Ahnung. In Münchenstein entsteht seit vierzehn Tagen ein Kunstwerk, sagt Curt. ‹Dämmerung› wird die Tonfilm Frobenius an die Spitze der Schweizer Filmproduktion katapultieren. Eigentlich hätte Gustav Hartung, du weisst, der Oberspielleiter des Stadttheaters, Regie führen sollen.» Simon sprudelte geradezu über vor Enthusiasmus. «Und Hartung ist genial, als Bühnenregisseur zumindest, du hast doch auch ‹Die weisse Krankheit› gesehen und im Mai die Uraufführung von ‹Talleyrand und Napoleon› mit dem grossen Albert Bassermann.»

«Vier Stunden waren zwei zu viel», bemerkte Max trocken.

«Hartungs Klassikerinszenierungen besitzen Grossstadtniveau, da sind sich sämtliche Kritiker einig. Zwar hat er noch nie für die Leinwand inszeniert, aber ein Genie wie er kann alles, da bin ich mir sicher. Doch dann hat die Eidgenössische Fremdenpolizei seine Verpflichtung untersagt, kurz vor Beginn der Dreharbeiten, nicht aus künstlerischen Gründen, sondern weil er ein Emigrant ist und weil, so hat Curt mir erzählt, aber woher er das weiss, weiss ich auch nicht, weil ein paar mediokre Schweizer, die neidisch auf Hartungs Verpflichtung waren, dagegen bei den Behörden protestiert haben. Das war natürlich eine Katastrophe für die Tonfilm Frobenius, also musste deren künstlerischer Leiter Guggenheim notgedrungen selbst einspringen ...»

«René Guggenheim?», unterbrach Max den Redeschwall. «Guggenheim ist kaum älter als wir und ein Stümper. Dieser versoffene Möchtegernegross hat von Filmkunst so viel Ahnung wie ein Murmeltier vom Rudern.»

«Es heisst Möchtegern oder Gernegross. Ich denke, auch du studierst Germanistik?»

«In Guggenheims Fall kann man nicht deutlich genug sein!»

«Du kennst ihn?»

«Nicht persönlich. Aber man hat so einiges von ihm gehört. Eigentlich kommt er aus einem bürgerlichen Haus, sein verstorbener Vater war Kaufmann, sein Bruder ist Versicherungsagent, und er selbst hatte zunächst Medizin studiert, nein, Zahnmedizin, glaube ich. Egal, er führt seit Jahren ein Bohèmeleben. Seine Trinkgelage im ‹Club 33› neben dem Variété Küchlin waren Stadtgespräch. Mal hat er in einer surrealistischen Pantomime von Marie-Eve Kreis einen Pariser Typen zwischen Boulevard und Banlieue gespielt, also quasi sich selbst, dann wieder hat er sich für einen genialen Maler gehalten. Wobei die Annoncen, die er für das Herren-Konfektionsgeschäft Merkur gezeichnet hat, und seine Fasnachtslaternen gar nicht so übel waren Und jetzt spielt er offenbar den Filmregisseur.»

«Natürlich fehlt Guggenheim noch eine gewisse Routine, sagt Curt, aber der Chefoperateur, der schon für Max Ophüls gearbeitet hat, und die Darsteller werden das Kind schon schaukeln. Robert Alberti spielt mit, als vermeintlich zwielichtiger, aber letztlich herzensguter Vorstandsvorsitzender einer chemischen Fabrik, das ist natürlich die Hauptrolle, eine andere käme für Alberti nicht in Frage. Die intrigante Halbschwester des Fabrikanten gibt Friedel Forst, die am Stadttheater gastiert und ab Herbst fest engagiert ist, und es steht jetzt schon fest, sagt Hartung, also, ich meine, Curt hat gesagt, dass Hartung das gesagt hat, dass sie sich als allererste Kraft des Hauses etablieren wird. Kein Wunder, die Forst hat am Berliner Staatstheater gespielt und am Theater in der Josefstadt in Wien geglänzt, und nach dem Anschluss ist sie nach Basel emigriert. Nach Basel, nicht etwa nach Prag oder nach Zürich, natürlich nicht wegen Egon Neudegg, diesem Schmierendirektor, operette sich, wer kann, denke ich immer, wenn ihn sehe, sondern wegen Gustav Hartung, und weil sie Rudolf Schwabe kennt, den Präsidenten der Theaterkommission, der hier das Sagen hat ...»

«Ich weiss. Und wenn du nicht zwischendurch mal Luft holst, wirst du den morgigen Drehtag nicht erleben», versuchte Max den Monolog zu beenden.

Doch Simon war noch nicht fertig. «Und eine blendend aussehende junge Schauspielerin ist dabei, die zum allerersten Mal vor der Kamera agiert, aber gleich eine wichtige Rolle erhalten hat. Curt sagt, sie ist der kommende Stern am Schweizer Filmhimmel.»

«Na ja, viel leuchtet dort ja nicht. Da strahlt selbst eine müde Funzel. Aber Curt, Curt muss es ja wissen», machte sich Max über Simons Flirt lustig.

«Auf der Bühne jedenfalls hat Hilde Ehinger neulich sogar die Forst an die Wand gespielt.»

«Hilde Ehinger?» Plötzlich veränderte sich Maxens Ton. «Ich war in der Première der ‹Maria Stuart›, und ich muss sagen ...» Er zögerte einen kurzen Moment, bevor er umso entschiedener postulierte: «Dein Schwarm muss zwei Komparsen reinschmuggeln.»

«Max, vergiss es. Ich brauche deinen Frack, sonst funktioniert der Plan nicht!»

«Rosa soll für dich den alten Frack von Papa vom Estrich holen. Wenn sie den Staub abklopft, wird er schon noch kameratauglich sein. Du musst dich allerdings ein wenig anstrengen, bis morgen reinzuwachsen. Papa hat deutlich mehr hergemacht als du.» Als Max Simons unglücklichen Blick sah, fügte er hinzu: «Keine Angst, mit Hosenträgern wird’s gehen. Vor allem unscharf im Hintergrund, während die Kamera auf Hilde Ehinger fokussiert und auf den blendend aussehenden jungen Mann, der direkt neben ihr steht.» Und er fragte, ohne weiteren Einwänden eine Chance zu geben: «Wann müssen wir morgen in Münchenstein sein?»

«Spätestens um drei viertel acht.»

«Abends, hoffe ich.»

Simon verdrehte schweigend die Augen.

«Was tut man nicht alles für die Kunst. Ich hol dich um sieben Uhr früh ab.»

«Das ist ein kolossaler Umweg für dich.»

«Ich will, dass du für immer und ewig in meiner Schuld stehst.»

Simon ging das alles zu schnell. «Curt hat gesagt, ich soll schon tipptopp angezogen erscheinen, damit ich gar nicht erst in die Garderobe muss, wo vielleicht jemand Fragen stellt, sondern direkt ins Atelier kann. Also gibst du mir den Frack deines Vaters besser schon ...»

«Ich hol dich um sieben ab.»

2

Simon trat in der bereits 19 Grad warmen Sommermorgensonne seit einer Viertelstunde ungeduldig von einem Bein aufs andere und sah alle zwei Minuten auf seine Armbanduhr, als zu seiner Erleichterung um kurz nach sieben der tomatenrote Lancia seines Freundes in die Hebelstrasse einbog. Mit quietschenden Pneus hielt er vor dem etwas heruntergekommenen Haus Nr. 41. Margarethe Wassermann, eine alleinstehende ehemalige Telefonistin, vermietete bevorzugt an Menschen, die aus dem Dritten Reich geflohen waren, denn die meisten von ihnen waren unkomplizierte Bewohner. Glücklich, eine günstige Unterkunft gefunden zu haben, stellten sie keine besonderen Ansprüche und gaben sich mit einer Toilette im Treppenhaus zufrieden, und wer duschen oder baden wollte, suchte eben das städtische Brausebad St. Johann auf. Ausserdem half Fräulein Wassermann diesen Emigranten gerne. Besonders einem so höflichen Studenten wie Simon Schrage, für den sie heute in der Früh sogar schon einen Kaffee gebraut hatte.

«Guten Morgen, Mäxchen!», rief Simon quecksilbrig vor freudiger Erwartung. Auch Max hatte trotz der in seinen Augen unanständig frühen Stunde blendende Laune. In seinem massgeschneiderten Frack sah er aus wie Willy Fritsch, doch obschon Simon nicht frei von Neid war, sagte er nichts dergleichen, sondern wollte wissen: «Hast du den Frack für mich dabei?»

«Au weh ... Du weisst doch, um diese Zeit funktioniert mein Gehirn noch nicht. Es braucht mindestens zwei Stunden, bis es in die Gänge kommt.»

Max registrierte zufrieden, dass sein Freund für zwei Sekunden so blass wie die Rote im Lesesaal wurde. Doch Simon hatte sich schnell gefasst und nahm auf dem extravagant mit Zebrafell bezogenen Beifahrersitz Platz. «Dass ich jedes Mal auf deine dummen Scherze reinfalle. Du wirst schon sehen, eines Tages erleide ich vor Schreck einen Herzinfarkt und falle tot um. Und dann?»

«Dann überreicht mir der deutsche Gesandtschaftsrat Albert Duckwitz höchstpersönlich eine Flasche Henkell-Schaumwein. Zum Dank dafür, dass ich die Welt von einem Juden befreit habe. Weisst du was? Vielleicht spendiert er ja für einen schwulen Juden wie dich gleich zwei Flaschen, was meinst du?»

«Haha, sehr witzig.» Vorsichtshalber warf Simon doch noch einen Kontrollblick auf die Rückbank, wo er tatsächlich den Frack liegen sah, und steckte sich eine Memphis an, während Max auf der Klingelbergstrasse am Bernoullianum vorbeifuhr.

«Und der Fahrer?», fragte Max, als sie das Spalentor passierten.

Simon nahm die Zigarette aus seinem Mund und steckte sie Max zwischen die Lippen.

«Aha, so machst du also deinen Kerls Avancen? Chapeau!», lobte Max nach dem ersten Zug. «Ist das übrigens was Ernstes mit diesem Curt?»

«Was weiss ich», wiegelte Simon ab und griff nach seinem Zigarettenpäckchen, beschloss dann aber, sich doch erst einmal umzuziehen. Er verspürte nicht die geringste Lust, schon wieder sein schwules Liebesleben mit Max zu diskutieren, der von so etwas keine Ahnung hatte. Fast keine Ahnung, um genau zu sein, aber daran wurde Max nicht allzu gern erinnert. Simon musste grinsen. Während er sich im Sitzen umständlich aus seinen Knickerbockern schälte, konterte er: «Und du hast es also auf Hilde Ehinger abgesehen, Mäxchen?»

«Ich bin doch kein Jägersmann auf der Pirsch! Wie redest du mit einem Gentleman?» Er bog von der Schützenmattstrasse nach links auf den Steinenring.

«Im passenden Alter wäre sie. Sie ist im April zwanzig geworden. Hat Curt erzählt», liess Simon nicht locker und setzte ein wenig zu angriffig hinzu: «Aber vielleicht nicht ganz standesgemäss für Sie, so eine Schauspielerin, werter Werthemann. Na ja, die Frau Mama weilt ja weit weg in Florenz.»

Doch Max lachte. «Und vergnügt sich dort mit einem aufstrebenden Cellisten, der mein Bruder sein könnte.»

Simon zog die von Rosa sorgsam aufgebügelte, in der Tat erheblich zu weite Frackhose hoch. «Ein Skandal allererster Sahne. Wenn die feinen Baslerinnen darüber tratschen würden. Aber sie ziehen es ja vor, diskret zu schweigen.»

«Die haben sich genug das Maul zerrissen, als Papa keine von ihnen, sondern eine Katholikin mit italienischem Vater und französischer Mutter zum Altar geführt hat, weil, wie er meinte und wie er auch überall verkündet hat, eine Blutauffrischung der Stadt dringend nottue. Quod erat demonstrandum, Papas blendendes Aussehen gepaart mit Mamas südländischem Temperament hat eine unschlagbare Mischung ergeben. Ich jedenfalls finde mich gelungen. Übrigens habe ich dir keine Lackschuhe mitgebracht. Ich nehme an, deine Füsse werden nicht auf der Leinwand zu sehen sein.»

Simon wechselte sein Hemd und band die Fliege über den Stehkragen. «Ich habe deine Mutter ja nur einmal erlebt, als sie vor zwei Jahren unangekündigt auf Stippvisite nach Basel kam und plötzlich im Garten stand. Ja, temperamentvoll ist sie, energisch und impulsiv. Und von einer geradezu königlichen Arroganz. Du hast einiges von ihr, mein liebes Mäxchen.» Als ob er seinen Worten Nachdruck verleihen wollte, liess Simon dabei die Hosenträger auf die Brust schnellen. Dann griff er nach dem weissen Gilet.

«Ich hoffe doch, ich komme nicht nur vom Aussehen her nach Papa, Gott hab ihn selig.» Max musste kurz schlucken beim Gedanken an den Vater, der vor neun Jahren, wenige Tage nach der Konfirmation seines einzigen Sprösslings, einem Nierenleiden erlegen war. Obwohl ihm sein Arzt strikt verboten hatte, Alkohol zu trinken, hatte er Max immer wieder den Schlüssel zum Weinkeller zugesteckt, und dieser hatte dem vergötterten Vater heimlich den geliebten Bordeaux geholt, ihm damit eine Freude gemacht und zugleich die gestrenge Mutter ausgetrickst. Aber wenn er vernünftig gewesen und nicht seinem Herzen gefolgt wäre, hätte Papa dann länger gelebt? «Ich wusste zwei Jahre lang, wie krank er war und dass ich ihn jeden Augenblick verlieren konnte, und er durfte es nicht merken, dass ich es wusste. Einen offeneren, toleranteren Menschen als ihn kann man sich kaum vorstellen. Was denkst du, sind es nicht immer die Väter, die unser Leben prägen, im Guten wie im Schlechten? Hast du eigentlich Kafkas ‹Urteil› schon gelesen?»

Simon warf seine Kleider auf die Rückbank, behielt aber den Rock auf dem Schoss, um ihn nicht zu zerknautschen. Eigentlich hatte er noch eine Bemerkung in Sachen Arroganz nachschieben wollen, aber es war ihm nicht entgangen, wie ernst Max geworden war. Und er musste an seinen eigenen Vater denken. Simon hatte ihn, seit er 1934 nach Basel gekommen war, nur ein einziges Mal gesehen und gesprochen, vor gut einem Jahr, als dieser ihn besucht hatte. Schon am ersten Abend hatte sich der verwitwete Professor Dr. med. Ernst Schrage in Selbstvorwürfen gesuhlt, seine Erziehungsfehler seien schuld an Simons «Veranlagung», wie er es genannt hatte. Traurig und wütend hatte Simon ihn im Hotel Krafft sitzen lassen, hatte am Rheinufer erst einmal durchgeatmet und sich nie mehr bei ihm gemeldet. Von seiner Schwester, die mit ihrem Mann, einem Kinderarzt, nach Amsterdam emigriert war, wusste er nur, dass der Vater, obwohl man ihm längst die Kassenzulassung als Pneumologe entzogen hatte, sich noch immer nicht hatte entschliessen können, sein geliebtes Berlin zu verlassen.

«Mama ist eine dumme Gans», riss ihn Max aus den Gedanken. «Nicht zuletzt, was ihre Begeisterung für Benito Mussolini anbelangt. Doch Papa hat Mama geliebt, also liebe ich sie auch. Trotzdem bin ich froh, dass ich sie los bin.»

«Logisch. So residierst du allein zwischen all den schönen Teppichen, dunklen Bildern, wertvollen Bronzen und tickenden Uhren, all dem Porzellan, Silber und Kristall in eurem Tudorschloss im Gellert, mal abgesehen von der famosen Rosa, die dich bestens versorgt, nein: umsorgt, und kannst den lieben langen Tag ...»

«Vergiss die Nächte nicht, die sind viel wichtiger!»

«... kannst Tag und Nacht machen, was du willst. Überhaupt wirst du dein ganzes Leben lang niemals zu ernsthafter Arbeit gezwungen sein, weil das bestens angelegte väterliche Vermögen dich allein mit den Zinsen, die es einbringt, geradezu fürstlich alimentiert.»

«Simon, seit wann übst du dich denn in Kapitalismuskritik? Jüdisch und schwul reicht dir wohl nicht, dass du dich jetzt auch noch als Kommunist versuchst?»

«Gott bewahre», entgegnete Simon, «gelobt seien deine Villa, dein Auto und nicht zuletzt dein Weinkeller ...»

«Papas Frack nicht zu vergessen», warf Max ein.

«Gelobt sei Papas Frack und meinetwegen auch das Mieder deiner Mama.»

«Amen. Jedenfalls bin ich mir sicher, dass sie sich hüten wird, sich in meine amourösen Angelegenheiten einzumischen», kam Max aufs Thema zurück.

«Gemach, gemach, mein liebes Mäxchen. Amourös ist noch lange nichts. Die Ehinger kennt dich ja noch nicht einmal.»

Max trat scharf auf die Bremse und brachte den Wagen am Anfang der St. Jakobs-Strasse zum Stehen.

«Sag nichts. Ich weiss schon, wenn ich nicht augenblicklich den Mund halte, kann ich nach Münchenstein laufen.»

«Nebbich. Hast du die junge Frau nicht gesehen, die über den Aeschenplatz gehastet ist, ich nehme an, um den Crème-Schnitte-Express noch zu erreichen? Es gibt keine Zufälle! Los, auf die Rückbank», befahl Max knapp. «Und benimm dich!»

Simon begriff überhaupt nichts, doch er wusste, wann man am besten einfach tat, was Max verlangte. Er sass noch nicht einmal richtig, da setzte Max, während die gelben Waggons der Birseckbahn an ihnen vorüberrumpelten, bereits den Lancia schwungvoll bis zur Tankstelle der Auto-Service Aeschenplatz AG an der Ecke zum Aeschengraben zurück. Ohne dem Polizisten in seiner Plantonkanzel Beachtung zu schenken, der mit weissen Handschuhen wild zu gestikulieren begann, überquerte er den Aeschenplatz in Richtung des Turmhauses, wechselte auf die linke Fahrbahn und hielt beim Bahnhof der Vorortslinien. Eine sichtlich nervöse junge Frau wartete auf das nächste Tram. Unter honigblonden Locken strahlten helle grüne Augen in einem offenen Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem vollen Mund. Ihre etwas zu enge, eierschalenfarbene Bluse und der glockenförmige, schilfgrüne Jupe mit seiner hoch angesetzten Taille betonten all jene Körperpartien, denen Max üblicherweise nicht gerade die geringste Beachtung schenkte. Auch ein Bein war hübscher als das andere, stellte er zufrieden fest.

«Massel muss man haben», raunte er Simon zu, stiess die Beifahrertür auf und rief: «Mein schönes Fräulein, darf ich’s wagen?»