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Kein anderer war in der deutschen Theaterlandschaft über Epochen und Systeme hinweg so präsent wie der Schauspieler und Regisseur Gustaf Gründgens (1899–1963). Auch 50 Jahre nach seinem Tod polarisiert der Künstler nicht zuletzt wegen seiner kontrovers diskutierten Rolle im Dritten Reich. Gründgens' anhaltende Bedeutung zeigt sich auch in der großen Zahl der wissenschaftlichen Untersuchungen, Romane und Theaterstücke, die sich mit ihm und seinem Leben beschäftigen. Was die Biografie des Gründgens-Experten Thomas Blubacher aus diesen Werken heraushebt, ist die Fülle an neuen biografischen Details, die der Theaterwissenschaftler in akribischer Recherche und durch zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen herausgefunden hat. Seine lebendige Darstellung des "Mythos GG" ist somit das Porträt eines erstaunlich unsicheren, an sich selbst verzweifelnden, zutiefst einsamen Menschen. Blubacher zeigt, was häufig in Vergessenheit gerät: Gustaf Gründgens ist weit mehr als Mephisto, seine bekannteste Rolle.
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Seitenzahl: 726
Veröffentlichungsjahr: 2013
THOMAS BLUBACHER
GUSTAF GRÜNDGENS
Biographie
HENSCHEL
www.henschel-verlag.de
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-89487-742-2
© 2013 Thomas Blubacher, Basel, und Henschel Verlag in der Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig
Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.
Lektorat: Sabine Bayerl
Bildredaktion: Katharina Schweizer
Titelbild: Gustaf Gründgens als Mephisto, © ullstein bild
Umschlag: Carolin Scheffler, Berlin
1. Ich würde mich selbst nicht erkennen
2. Leben lernen
3. Schließlich haben wir alle auf dem Eisbärfell gelegen
4. Ein Fonds fürs Leben
5. Ein eigentümlicher Mensch, so quer
6. Mit Temperament und Manier
7. Der Monokelprinz
8. Und ik bin Neese
9. Parfümierte Nebenkünste
10. Konjunktur
11. Durch die Opernwelt zur Hölle
12. Das Schwert des Damokles?
13. Des Teufels Intendant
14. Ein neurasthenischer Schwächling?
15. Ordnung und Klarheit
16. Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles!
17. Das ist grotesk!
18. Zurück am Rhein
19. Gesellschaft mit beschränkter Haftung
20. Nun bin ich also Schwiegervater
21. Ich habe das Meinige getan
Anmerkungen
Auswahlbibliographie
Rollen- und Inszenierungsverzeichnis
Danksagung
Personenregister
Ein Glückskind sei er gewesen, meinte Gustaf Gründgens und mußte sich doch am Ende seines Lebens eingestehen, daß es darin nur wenig Freude gegeben habe. Bloß im Spiel, verborgen hinter einer Maske, konnte er ein tiefes Glücksgefühl empfinden, im Spiel suchte er seine Existenz zu behaupten. Die von Ordnung und Exaktheit bestimmte Bühne war für ihn die Wirklichkeit. Auf diesem Planquadrat, wie er sie nannte, fühlte er sich sicher – über alle Systemwechsel hinweg.
Als artistisch brillanter Darsteller im Expressionismus der Weimarer Republik groß geworden, in seinen Rollen oft affektiert und von beängstigender Kälte, gelegentlich auch frivol und lasziv, erschien der zum Bühnenstar avancierte Bohemien und ehemalige Salonlinke vielen Nationalsozialisten als typischer Vertreter der verhaßten »Systemzeit« und wurde doch der führende Theatermann des »Dritten Reiches«. Er war – je nach Perspektive – der skrupellose, erfolgssüchtige Karrierist, »ein Virtuose im Sich-Arrangieren mit dem NS-Regime«1, der dessen Kulturfassade aufpolierte, oder der menschlich integere und dabei persönlich gefährdete Intendant, der mit seinem Theater einen Freiraum innerhalb des totalitären Staates schuf und couragiert bedrohte Kollegen schützte. Zweifellos muß er als Nutznießer jenes Systems, das er verachtete und dem er doch seine Kunst zur Verfügung stellte, gelten – und hat »zugleich jenen gedient, die an der Herrschaft der Nationalsozialisten litten und mitten im ›Dritten Reich‹ Trost und Hilfe suchten im Theater, zumal bei den Klassikern«2, wie Marcel Reich-Ranicki betonte. Nach dem Krieg spielte und inszenierte Gründgens im sowjetischen Sektor der Trümmerstadt Berlin und wurde in der Bundesrepublik ein für den Klassizismus seiner maßstabsetzenden Inszenierungen gefeierter, autokratischer Theater-Repräsentant der Adenauer-Restauration. Gustaf Gründgens, der Kunst sein Leben lang als autonomen Raum begriff, war über Epochen und Systeme hinweg der deutsche Theatermann, der »Nationalspieler« der Deutschen, vergleichbar Laurence Olivier in England und Jean-Louis Barrault in Frankreich – und doch der denkbar undeutscheste Schauspieler, der einzige seiner Generation, dem der Regisseur Peter Zadek die Qualität sophisticated zubilligte.3
Doch nicht nur die Widersprüche Deutschlands im 20. Jahrhundert kulminieren in seiner Person. Auf eine »einmalig persönliche Weise« hätten sich in ihm »alle positiven wie auch unübersehbar negativen Eigenarten zu einer künstlerischen Persönlichkeit«4 verbunden, meinte Ullrich Haupt. Gründgens war im Leben der leicht zu Kränkende und zeitweise lebensbedrohlich Kranke, der Demonstrant äußerster Disziplin und Selbstzucht und der exaltierte Hysteriker. Er schien vielen ein unterkühlter Rationalist und hing doch mit kindlicher Liebe an seinem Talisman, einem kleinen Stoffaffen. Er war der von seinen Anhängern geliebte, fast kultisch verehrte Künstler und zugleich ein an seiner Liebe Verzweifelnder, der sein Leben lang bemüht war, sein Innenleben zu schützen, Männer begehrte, Frauen heiraten wollte, entsetzliche Angst vor dem Altern hatte und unter Einsamkeit litt … Für Lotte Betke war er »als Mensch unangenehm bis widerwärtig, eitel und selbstherrlich«5, für ihre Schauspielerkollegin Elsa Wagner hingegen »ein himmlisches Wesen, ein zauberhafter Mensch«6. Friedrich Schoenfelder sah Gründgens, der »sprunghaft, oft völlig unbeherrscht« gewesen sei und »mit dem Fuß halbe Kulissen eingetreten« habe, als »eine seltsame, großartige, sehr schillernde Erscheinung«7, Bernhard Minetti erlebte ihn als »eine einseitige Persönlichkeit, die unerhört fähig war, sich selbst und die Wirklichkeit in eine straffe Form zu bringen«8. Gründgens selbst zitierte gerne Ernst Jüngers Epigramm »Unter den Masken der Freiheit ist die der Disziplin die undurchdringlichste«9, um zu bekennen, er habe »lange die Maske der Disziplin getragen«10.
Seit vor nunmehr 80 Jahren die erste, natürlich noch schmale Biographie11 von Robert Ramin über den 33jährigen Gründgens erschien, haben ihn zahlreiche Publikationen zu glorifizieren oder zu demontieren versucht. Wissenschaftliche Untersuchungen, Essays und fast ein Dutzend Monographien befassen sich mit Gründgens, aber auch Erzählungen und Romane. Die Figur des Tänzers Gregor Gregori in Klaus Manns 1932 erschienenem TREFFPUNKT IM UNENDLICHEN hat ebenso unverkennbar Gründgens zum Vorbild wie der Oliver in Lotte Betkes FEUERMOOR. Der berühmteste Roman, Klaus Manns 1936 veröffentlichter MEPHISTO, in dem der Autor den ehemaligen Freund und Schwager kolportagehaft als verabscheuungswürdigen und dennoch faszinierenden, chamäleonhaften Opportunisten Hendrik Höfgen porträtiert, der zynisch und vor Eitelkeit blind den Nazis als Aushängeschild dient, hat nicht nur das Bild von Gründgens verfälscht, sondern auch dafür gesorgt, daß sein Nachruhm noch immer gegenwärtig ist. Ariane Mnouchkines Dramatisierung – das »Theaterstück der ahnungslosen Französin« sei die »Diffamierung eines Mannes, der wie kaum ein zweiter sich in schwerster Zeit als Mann erwies«12, empörten sich ehemalige Kollegen von Gründgens – und István Szabós opulente, aber den Roman simplifizierende Verfilmung mit Klaus-Maria Brandauer erregten international Aufsehen. Auf Manns Roman basieren auch Mathieu Bertholets Stück RIEN QU’UN ACTEUR, das erstmals 2006 in Genf gezeigt wurde, und Tom Lanoyes MEFISTO FOREVER, 2007 in Antwerpen uraufgeführt. Gründgens wurde zudem zum Sujet weiterer Theaterstücke: Johann Kresniks GRÜNDGENS nach einer Vorlage von Werner Fritsch, der dann auch das in Gründgens letzten Stunden spielende CHROMA. FARBENLEHRE FÜR CHAMÄLEONS verfaßte. Als Streifzug durch Gründgens Leben sind Frank Raddatz’ Szenenfolge ALLES THEATER und Volker Kühns G WIE GUSTAV. MIT F. konzipiert, das als Revue mit Georg Preuße (bekannt als Travestiekünstler Mary)13 und als Solostück mit Helmut Baumann zu sehen war.
Autogrammkarte von Gustaf Gründgens aus den 30er Jahren
© privat
Ruhm sei die Summe aller Mißverständnisse, heißt es bei Rainer Maria Rilke. »Ich denke mir manchmal, wenn ich meiner Fama auf der Straße begegnen würde, ich würde mich selbst nicht erkennen«14, meinte Gustaf Gründgens 1955 in seiner Antrittsrede als Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Durch die jahrzehntelange, emotional und kontrovers geführte Diskussion um Recht und Unrecht, Schuld oder Unschuld des von Hermann Göring protegierten Intendanten des Preußischen Staatsschauspiels ist der Künstler geradezu zum Mythos geworden. Der Platz vor dem Düsseldorfer Schauspielhaus, Straßen in Stuttgart und Hamburg tragen seinen Namen.15 1977 wurde die Marmorplatte seines Ehrengrabes auf dem Ohlsdorfer Friedhof durch das Einkratzen eines Hakenkreuzes stark beschädigt.16 1984 errichtete man im Düsseldorfer Hofgarten ein 23 Tonnen schweres Denkmal17 für ihn – allerdings gegen heftigen Widerstand vor allem aus den Reihen der FDP.18 1987 wandte sich Jürgen Flimm, der damalige Intendant des Hamburger Thalia Theaters, dagegen, daß ein Preis des Deutschen Bühnenvereins den Namen von Gründgens tragen sollte, »der sein ganzes Talent auf dubioseste Weise in den Dienst der fürchterlichsten Diktatur gestellt hat«19, und war mit seinem Protest erfolgreich. Der 2011 in Hamburg durch das Deutsche Schauspielhaus und den Lions Club initiierte, von der Mercedes-Benz-Niederlassung Hamburg gestiftete »Gustaf-Gründgens-Preis« ist dafür wohl kaum ein Ersatz. Bis heute polarisiert Gründgens.
Doch auch wenn Gründgens länger als die meisten Theaterleute im öffentlichen Gedächtnis geblieben ist, ist das Andenken heute deutlich verblaßt. Nur noch wenige dürften sich an Vorstellungen mit dem 1963 verstorbenen Schauspieler erinnern oder an Inszenierungen des Regisseurs, der auf Tradition und präzise beherrschtes Metier bestand und proklamierte, es sei unwichtig, »ob in Deutschland gut oder schlecht Theater gespielt wird«, viel wichtiger sei, »ob richtig oder falsch Theater gespielt wird«20.
* * *
Bei der Annäherung an den Mythos Gründgens haben neben der Sichtung zahlreicher Dokumente im Theatermuseum Düsseldorf und in der Staatsbibliothek zu Berlin sowie einiger bisher noch nie ausgewerteter Briefe aus Privatbesitz vor allem – teils schon vor Jahren geführte – Gespräche mit Zeitzeugen geholfen: Interviews mit Verwandten wie Gründgens’ Schwiegertochter Ingeborg Gründgens-Gorski und seinem Halbbruder Gerrit Gründgens, mit Freunden oder deren Nachkommen wie André Pozner, dem Sohn Ida Liebmanns, Marcel Ophüls, dem Sohn von Max Ophüls, Erich Zacharias-Langhans’ Großneffen Warner Poelchau, Christoph Bernoullis Sohn Carl Christoph, Alex Vömels Sohn Edwin und Hermann Kleinhubers Sohn Ingo, mit Sekretärinnen, Mitarbeiterinnen des Betriebsbüros, Regieassistenten und Dramaturgen, mit Heinz Tietjens Witwe Liselot und Wilhelm Furtwänglers Witwe Elisabeth, vor allem aber mit zahlreichen Schauspielerinnen und Schauspielern wie Ilse Bally, Gerd Baltus, Maria Becker, Lotte Betke, Volker Brandt, Charles Brauer, Ella Büchi, Volker von Collande, Heinz Drache, Rosemarie Fendel, Sebastian Fischer, Uwe Friedrichsen, Sabine Hahn, Ruth Hellberg, Hanne Hiob, Marianne Hoppe, Jenny Jugo, Johanna von Koczian, Otto Kurth, Dieter Laser, Bert Ledwoch, Heidi Leupolt, Erni Mangold, Kurt Meisel, Bernhard Minetti, Lola Müthel, Lilo Pulver, Friedrich Schoenfelder, Gisela Uhlen, Wolfgang Wahl, Antje Weisgerber, Kurt Weitkamp und Jürgen Wilke, um nur einige zu nennen. Manche hatten bislang noch nie Auskunft gegeben, so etwa die im kalifornischen Atherton lebende ehemalige Stewardeß Hildur Kirchdörfer, die 1963, als man den toten Gründgens in seinem Hotelzimmer in Manila fand, für die Polizei dolmetschte …
»Ich will jetzt versuchen, leben zu lernen«1, verkündet Gründgens 1963 nach seinem Rücktritt als Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Angebote, an den Städtischen Bühnen Frankfurt oder am Bayerischen Staatsschauspiel in München zu gastieren, lehnt er ebenso ab wie die Offerte, am Wiener Burgtheater den Prospero in Shakespeares STURM zu spielen.2 Erst am 28. Dezember sollen die Proben für eine Tournee mit Hermann Bahrs KONZERT beginnen. Organisiert durch die von Will Quadflieg und Maria Becker gegründete »Schauspieltruppe Zürich«, soll sie nach der Premiere am 31. Dezember 1963 in Düsseldorf bis zum 8. April 1964 durch die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz führen, Gründgens für ein stattliches Honorar von 160000 DM inszenieren und die Hauptrolle übernehmen, neben Marianne Hoppe, Heinz Reincke und Sabine Hahn. Im Herbst 1964 will Gründgens vier Monate lang dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg zur Verfügung stehen, nach einer Pause von anderthalb Monaten ist eine Gastinszenierung am Burgtheater vorgesehen, auch ein Gastspiel mit FAUST in Tokio wird schon seit längerem vorbereitet.
Am 10. Mai 1963 fährt Gustaf Gründgens zunächst nach Madeira – seiner bevorzugten Urlaubsdestination seit dem Frühjahr 1958 –, wo er sich bereits im Februar vier Wochen lang erholt hatte und nun weitere drei Monate verbringen will. Mit dem Flugzeug geht es nach Lissabon, von dort erreicht man Madeira per Schiff in knapp zwei Tagen. Gründgens liebt die Insel, ihre »Eukalyptuswälder, Orchideenwälder, Dörfer, wo alle Mädchen vor den Türen sitzen und sticken«, findet sie »an manchen Sommerabenden zum Weinen schön, immer wird ein anderer Heiliger mit [ein] bißchen Feuerwerk gefeiert, und alle Leute sind unfaßlich herzlich, unkompliziert und bereitwillig«3. In den ersten Jahren hatte Gründgens im traditionsreichen Hotel Reid’s in Funchal logiert, seit Januar 1960 besitzt er ein eigenes Domizil in São Gonçalo unweit des Ribeiro Sêco, 250 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, mit einem pittoresken Blick über die Bucht und die Häuser von Funchal – Gründgens mag es, mit seinem Fernglas die Uhrzeit am Turm der Sé Catedral de Nossa Senhora da Assunção abzulesen – und nur zehn Autominuten davon entfernt; er hat sich für seine Inselaufenthalte einen Peugeot 203, Baujahr 1949 zugelegt. Die »Vivenda Maria do Carmo«, wie sein erstmals Ende Juni 1960 bewohntes Zuhause an der Rua do Conde de Carvalhal Nr. 222 heißt, ist ein recht kleines, zweistöckiges Haus mit Wohn- und Eßraum sowie zwei Schlafzimmern, weiß getüncht, mit rot lackierten hölzernen Fensterläden, das Dach mit roten Ziegeln gedeckt, daneben Palmen und Bougainvilleen, zwei Orangen- und ein Zitronenbäumchen – und eine kleine casa de palha, ein strohgedecktes Häuschen, in dem Gründgens im Sommer gerne die Nacht verbringt. Wie das auf der Insel üblich ist, wachsen Unmengen von Orchideen, Rosen und Azaleen in Blumentöpfen, rund 1500 sind es an der Zahl: »Ich bin ganz verrückt damit. Hier blühen die Mimosen und Camelien und viele andere Blumen, deren Namen ich nicht weiß«4, hatte er gleich nach dem Kauf seiner Sekretärin Ursula Stadermann5 berichtet. Um das nahezu spartanisch eingerichtete, aber mit Strom- und Telephonanschluß ausgestattete Anwesen kümmert sich der Gärtner Antonio, »ein stiller netter Junge, der nicht so recht begriff, in was er da hineingeraten war«6, wie ein langjähriger Freund von Gründgens meint. Doch meist versorgt sich Gründgens selbst, er kocht leidenschaftlich gerne und ist stolz auf »seine Rezepte«7. Regelmäßig fährt er ins Reid’s, um dort zu schwimmen: Über Treppen erreicht man vom Hotel eine Plattform knapp über dem Meeresspiegel mit einem Pool und direktem Zugang zum Ozean. Zu Gründgens’ wenigen Bekannten auf Madeira gehören Walter Belmonte8, ein 1933 aus Deutschland emigrierter jüdischer Kinderarzt, und seine Frau Alice, ansonsten genießt Gründgens seine Anonymität und lebt völlig zurückgezogen. Um sich mit den Nachbarn rudimentär verständigen zu können, hat er sich etwas Portugiesisch angeeignet, »aber ich nehme an, daß, wenn ich mit meinem Portugiesisch nach Lissabon käme, das wäre ungefähr so, [wie] wenn ein Oberbayer nach Hamburg käme«9.
Dem Journalisten Günter Gaus gibt ein entspannt wirkender Gründgens am 17. Mai 1963 sein einziges Fernsehinterview, erstmals ausgestrahlt wird es in der Sendereihe »Zur Person« am 10. Juli im ZDF. Er sei »wahrscheinlich […] ein Glückskind gewesen«, erzählt er, denn das sei »die einzige Erklärung […], wieso das so hoch hinauf ging«, doch habe er »kräftig […] zahlen müssen für das Glückskindsein, in den Schoß gefallen« sei ihm nichts. »Ich habe in den letzten 30 Jahren immer zu viel gearbeitet und vergessen zu leben. Wenn ich jetzt diesen Einschnitt gemacht habe, so mache ich ihn, um vor Toresschluß noch rasch zu lernen, wie man lebt. Sehen Sie, mein Leben bestand darin: Das ist der Tag vor FAUST und der Tag nach FAUST oder der Tag vor HAMLET und der Tag nach HAMLET. Irgendeinen entspannten Tag gab es eigentlich ganz selten. Und wenn ich von dem Intendantenberuf sprechen soll: Der hat absolut nie Ferien.«10 In diesem Sommer besucht ihn für fünf Wochen das Schauspielerehepaar Ehmi Bessel und Werner Hinz, dem sich Gründgens besonders verbunden fühlt; die Abende verbringt man meist beim Skat. Dreimal wöchentlich nimmt er bei einer älteren Dame Englischunterricht, um sich auf eine lange geplante Weltreise vorzubereiten.
Acht Tage vor deren Antritt unterzieht sich Gründgens in Hamburg einer größeren zahnärztlichen Behandlung. Er wohnt in der Universitätsklinik Eppendorf – seine Wohnung im Harvestehuder Weg 19 hatte er bereits zum 31. Juli gekündigt. »Er war aufgeschlossen, heiter, voll mit Reiseplänen angefüllt, wirkte so ›unpsychiatrisch‹, daß wir ihm wenig Aufmerksamkeit schenkten«, berichtet der Psychiater Michael Winzenried. »Jetzt bin ich frei … Ist Freiheit Macht, oder werde ich noch einsamer?«, habe ihn Gründgens gefragt. »Ich freue mich unbändig auf die Welt, oder soll ich lieber hierbleiben? Freude gab es so wenig in meinem Leben, und nun fürchte ich, an diesem fetten Bissen zu ersticken …«11 Im Anschluß holt Gründgens in München, wo er im Bayerischen Hof absteigt, beim Herrenausstatter L. H. van Hees in der Brienner Straße die bestellte Reisegarderobe ab, begutachtet den Plakat-Entwurf für die geplante Tournee, verabredet sich unter anderem mit Emmy Göring und Marianne Hoppe, erhält Besuch von Antje Weisgerber und trifft sich in der Lobby des Hotels Vier Jahreszeiten mit Fritz Kortner, unter dessen Regie er in Hamburg den Lear spielen soll.12
Am 13. September 1963 fliegt Gründgens nach London. Begleitet wird er von seinem Geliebten, dem Regieassistenten Jürgen Schleiß13, der auch die KONZERT-Tournee leiten soll. Gründgens hatte den damals 21jährigen gelernten Mechaniker im November 1959 als Beleuchter am Schauspielhaus kennengelernt, bei der Arbeit an Lawrence Durrells SAPPHO. Seither verbringt er mit dem Sohn eines Hamburger Obst- und Gemüsehändlers, der vom Herbst 1960 an die Schauspielklasse von Eduard Marks an der Hamburger Musikhochschule besucht und am Schauspielhaus gelegentlich assistiert hat, regelmäßig die Ferien, obwohl dieser, nicht ganz unanstrengend für Gründgens, oft »vor Vitalität aus dem Anzug fällt«14. Am Abend des 13. September sehen sie im Londoner Cambridge Theatre das Musical HALF A SIXPENCE mit dem britischen Rock-’n’-Roll-Star Tommy Steele und feiern so den 25. Geburtstag von Schleiß. Am 15. September schiffen sie sich in Southampton auf der 1960 vom Stapel gelaufenen SS Canberra ein, dem größten Ocean Liner der Peninsular & Oriental Steam Navigation Company. »Das Schiff: man glaubt es nicht 2300 Passagiere.15 Alles in mißverstandener Sachlichkeit; die Aufenthaltsräume unterscheiden sich nur in ihren Namen, sonst sieht einer wie der andere aus. Das Essen grenzt an Skandal. Die Auswahl beschränkt sich auf je 2 Gerichte. Der Service ist gut und ein Schlager meine Kabine: sicher 40 qm«16, schreibt Gründgens seinem Adoptivsohn Peter Gründgens-Gorski. Die Zeit an Bord vertreibt er sich unter anderem mit der Lektüre von Günter Grass’ soeben erschienenem Roman HUNDEJAHRE; eine zentrale Figur darin ist der opportunistische Schauspieler Walter Matern, der, zunächst Kommunist, dann SA-Mitglied, seine Vergangenheit umdeutet, verdrängt und nur zum Teil eingesteht, bis diese schließlich zum Gegenstand einer öffentlichen Rundfunkdiskussion wird.
Via Gibraltar und Neapel steuert die SS Canberra Port Said an und durchquert dann den Suez-Kanal, »und ich muß sagen, daß das zum Eindrucksvollsten gehört, was ich gesehen habe. Ein imponierendes Werk von Menschenhand. […] Jetzt ist es schon ganz schön heiß. Swimmingpool heute morgen um 7 Uhr 30 80° Fahrenheit.«17 Durch das Rote Meer und den Golf von Aden erreicht das Schiff nach zwei Wochen schließlich das vom Monsun durchnäßte Colombo, die feuchte Hitze ist schier unerträglich, selbst das Bettzeug klamm. Gründgens und Schleiß wohnen im an der Küste gelegenen Mount Lavinia Hotel, der 1806 errichteten, 1877 zum Hotel umgewandelten Residenz des britischen Gouverneurs, zwölf Kilometer südlich der Hauptstadt. Am hoteleigenen Strand geht Gründgens im Meer schwimmen, und obschon »kaum zum Aushalten«, da »nur heiß und feucht«, machen die beiden eine »große Überlandfahrt«18 in die einstige singhalesische Hauptstadt Kandy mit dem berühmten »Zahntempel«. Per Flugzeug reisen sie am 3. Oktober weiter nach Singapur, erst seit einem Monat unabhängig von den Briten, steigen dort im Hotel Inter-Continental an der Orchard Road 585 ab, »das fabelhaft ist; mit Klimaanlage und Swimmingpool«19, und besuchen trotz Regens eine Orchideenschau sowie am Abend die drei nahezu menschenleeren Vergnügungsparks »The Great World« in der Kim Seng Road, der neben seiner Hauptattraktion, einer Geisterbahn, weitere Fahrgeschäfte, vier Kinos, einen Nachtclub und zahlreiche Restaurants bietet, »The Happy World« in der Geylang Road, wo man sich ebenfalls in Kinos, Theatern, Cabarets und Tanzlokalen amüsieren kann, und den ganz ähnlichen Park »The New World« in der Kitchener Road, berühmt für die Auftritte des Wrestlers King Kong und der »Queen of Striptease« Rose Chan. »Bis jetzt seit Suez keine Sonne mehr gesehen. Aber jetzt geht es wieder aufwärts (auf dem Globus)«20, berichtet Gründgens. Von Singapur fliegen die beiden in die philippinische Hauptstadt Manila, wo sie am Sonntag, dem 6. Oktober, eintreffen. Über Hongkong, Tokio, Honolulu, Los Angeles, Mexiko-Stadt, Acapulco, San Juan in Puerto Rico, die jamaikanische Hauptstadt Kingston, Miami und New York soll die Reise rechtzeitig zu den Weihnachtsfeiertagen zurück nach Hamburg führen.
Gründgens und sein Freund checken kurz nach 14 Uhr im Manila Hotel am Rizal-Park ein, dem 1912 eröffneten ersten Haus am Platz. Der übermüdete und aufgrund der Nachricht, er müsse wegen einer für die Weiterreise erforderlichen Cholera-Impfung sechs Tage lang auf den Philippinen bleiben, ungehaltene Gründgens ist unzufrieden mit dem reservierten Zimmer und wartet in der Lobby, während Schleiß in einem Taxi andere Hotels abklappert, um eine bessere Unterkunft aufzutreiben. Schließlich findet sich im Manila Hotel dann doch ein akzeptables Apartment: Room 326, zwei Schlafzimmer, verbunden mit einem Korridor, von dem aus eine Tür ins Bad führt. Beim Abendessen verabredet man für den nächsten Tag eine Fahrt ins Landesinnere, bespricht den zu verschiebenden Weiterflug nach Hongkong. Als sich Gründgens um halb elf schlafen legen will, Schleiß aber noch ausgehen möchte, kommt es, wie dieser später erzählen wird, zu einem »furchtbaren Streit«, so heftig und lautstark, daß die Zimmernachbarn an die Wand klopfen. »Mach, daß du rauskommst, verschwinde«, habe ihn Gründgens angeschrieen.21 Jürgen Schleiß begibt sich um halb zwölf hinunter in die »Jungle Bar« des Hotels, von der er eine Stunde später zurückkehrt. Er zieht seinen Pyjama an und geht zu Bett, findet jedoch wegen der Neonreklame, die in sein nicht zu verdunkelndes Zimmer scheint, keinen Schlaf. So hört er etwa eine halbe Stunde später »irgendetwas bumsen«22. Er sieht Licht in Gründgens’ Schlafzimmer, klopft, bleibt ohne Antwort, macht die Tür auf – das Bett ist leer. Die Badezimmertür läßt sich nur schwer öffnen, Gründgens liegt mit dem Kopf dagegen auf dem Boden. Schleiß hebt den Kopf vorsichtig an: Noch lebt Gründgens, ist aber besinnungslos, seine Atmung sehr flach. Herzschlag und Puls sind kaum spürbar, die Oberlippe weist eine leichte Blaufärbung auf. Über das Haustelephon verlangt Schleiß bei der Rezeption nach einem Arzt, dann legt er ein Kissen unter Gründgens’ Kopf. Zunächst erscheint eine Krankenschwester, nach ihr Dr. Tiongson, der Hausarzt des Hotels, der sogleich eine Koffeinspritze aufzieht, dann aber nochmals Gründgens’ Herz abhorcht und den Tod konstatieren muß. Auf Drängen von Schleiß injiziert die Krankenschwester die Spritze dennoch.
Luftpostumschlag mit der letzten Notiz von Gustaf Gründgens
© Theatermuseum Düsseldorf
Fortunato Angeles, der Security Supervisor des Hotels, ruft um 1.45 Uhr die Polizei. Beamte des vierten Reviers unter Leitung von Detective Avelino Evangelista von der Mordkommission sowie der 55jährige Mariano B. Lara, der erfahrene Chief Medical Examiner des Police Departments, untersuchen die Leiche und deren Fundort. Im Waschbecken entdeckt man ein leeres, zerbrochenes Tablettenröhrchen des Schlafmittels Nembutal23 – an einer Überdosis dieses Barbituratsäure-Derivats war ein Jahr zuvor Marilyn Monroe gestorben. Auf einen Briefumschlag, den man in Gründgens’ Schlafzimmer findet, hatte er geschrieben: »Ich habe glaube ich zu viel Schlafmittel genommen, mir ist ein bißchen komisch. Laß mich ausschlafen.«24 Die 24jährige Stewardeß Hildur Kirchdörfer hatte Gründgens und Schleiß auf dem Herflug mit Pan American Airways begleitet und schläft nun im Zimmer 436. Man weckt sie auf Wunsch von Schleiß, der nur Deutsch spricht, damit sie bei der Vernehmung, die in einem unbelegten Hotelzimmer stattfindet, dolmetscht. Der in Tränen aufgelöste Schleiß, von der Polizei zunächst verdächtigt, er habe seinen Reisegefährten umgebracht, beteuert immer wieder, er sei nicht schuld, sei ja gar nicht auf dem Zimmer gewesen.25 Hildur Kirchdörfer übersetzt auch Gründgens’ letzte Zeilen für die philippinischen Polizisten ins Englische. Ungewöhnlich ist eine solche Notiz für Gründgens indes keineswegs. »Bitte nicht wecken / Kein Telephon / Kein gar nichts / Und wenn es 5 Uhr wird«, heißt es etwa auf einem Zettel aus dem Jahr 1952, der mit den Worten endet: »Ob ich spiele, entscheide ich, wenn ich wach bin.«26 Ein Polizeiphotograph macht Aufnahmen des mit einem Pyjama bekleideten Toten. Der von Mariano B. Lara ausgestellte Totenschein vermerkt: »Asphyxial cardio respiratory failure secondary to an ingested substance causing hemorrhage in stomach and duodenum and congestion of visceral organs, to be verified by toxological analysis.«27 Die Polizisten halten fest, es handle sich entweder um Suizid oder um eine unbeabsichtigte Überdosis, und ordnen eine Autopsie an. Gegen 4.30 Uhr – im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg läuft gerade Gründgens’ wiederaufgenommene Inszenierung von Tirso de Molinas DON GIL VON DEN GRÜNEN HOSEN – wird die Leiche durch einen Ambulanzwagen ins städtische Leichenschauhaus überführt. Als das von Schleiß aufgegebene Telegramm mit der Todesnachricht Peter Gründgens-Gorski in seiner Wohnung in der Enzianstraße 20 erreicht, ist es in Hamburg tief in der Nacht. Am Morgen werden die Mitglieder des Schauspielhaus-Ensembles telephonisch benachrichtigt und ins Theater gerufen, stundenlang sitzen sie im Konversationszimmer beieinander; die Probe zu den LUSTIGEN WEIBERN VON WINDSOR unter Gorskis Regie wird abgesagt.
In Manila hat man den Toten derweilen obduziert. Eine chemische Analyse des Mageninhalts ergibt Spuren von Barbiturat, jedoch keine Zyanide. Man findet weder Magengeschwüre noch Hinweise auf eine Krebserkrankung. Hatten die Schlafmittel im tropischen Klima der Philippinen womöglich eine stärkere Wirkung entfaltet? Hätte Gründgens auch die von ihm ständig benötigten Blutgerinnungshemmer neu dosieren müssen? Hatte er, durch den Streit erregt, eine zu hohe Dosis eingenommen? Oder hatte er geglaubt, nur der Tod könne ihn von der Sehnsucht nach Leben erlösen? Am 9. Oktober 1963 verfaßt in Manila der zuständige Polizeioffizier Enrico C. Quemi einen abschließenden Bericht, der vermerkt, Gustaf Gründgens sei eines natürlichen Todes gestorben. Dennoch veröffentlicht die deutsche Boulevardpresse Photos der halb entblößten Leiche, garniert mit – lange anhaltenden – Spekulationen über die Todesursache. »Polizei in Manila erklärt: Gustaf Gründgens beging Selbstmord«, lautet der Aufmacher der Hamburger Morgenpost am 9. Oktober 1963. 1967 gewinnt Peter Gründgens-Gorski die Klage wegen schwerer Verunglimpfung des Andenkens gegen die Lübecker Nachrichten, die eine angebliche Behauptung von Gründgens’ Mitarbeiter Ulrich Erfurth zitiert hatten, daß Gründgens »im bekanntesten Homosexuellen-Hotel Manilas« gewohnt und »sich in seinem Zimmer umgebracht habe, weil ihn sein ›Bubi‹ […] betrogen habe«28. Noch Jahrzehnte später raunt man, zwei Stricher hätten Gründgens »massakriert«29, und nicht nur der Stern kolportiert 1995 Johann Kresniks Behauptung, Gründgens sei »einem homosexuellen ›Ritualmord‹ zum Opfer gefallen und eilig eingeäschert worden«30.
Zeitungsausschnitte aus »Bild am Sonntag«, 13.10.1963
beide: © Theatermuseum Düsseldorf
An der knapp einstündigen Trauerfeier in der Funeraria Quiogue, einem Bestattungsinstitut an der Calle Azcarraga (der heutigen Claro M. Recto Avenue), nehmen am 8. Oktober um 14 Uhr rund 40 Mitglieder der deutschen Kolonie teil; die Botschaft und das Goethe-Institut haben Kränze geschickt. Der 28jährige, aus Royal Oak im US-Bundesstaat Michigan stammende Pastor David John Schneider von der Trinity Lutheran Church in Quezon City spricht ein kurzes Gebet – Gründgens war 1929 aus Steuergründen aus der katholischen Kirche dissidiert, 1953 wieder ein- und später erneut ausgetreten. Franz Ferring, der Geschäftsträger der deutschen Botschaft, hält die Trauerrede. Von Schallplatten ertönt noch einmal die Stimme Gründgens’ als Hamlet, darauf der zweite Satz aus Beethovens 3. Sinfonie, der sogenannten EROICA, ein Trauermarsch in c-Moll. Danach wird der schlichte braune Sarg kurz geöffnet, um den Anwesenden einen letzten Blick auf den Toten zu gestatten, und anschließend zur Einäscherung ins San-Lazaro-Krematorium gebracht. Schleiß fühlt sich nicht fähig, beim Rückflug die Urne aus Tropenholz mit sich zu führen, so trifft diese erst am 18. Oktober in Hamburg ein; Ursula Stadermann nimmt sie am Flughafen in Empfang. Einige Tage später werden die sterblichen Überreste ohne jedes Zeremoniell in einem Ehrengrab der Stadt auf dem Ohlsdorfer Friedhof bestattet, am südlichen Rand des Althamburgischen Gedächtnisfriedhofs, nahe dem Haupteingang; am 4. Dezember 1964 wird die Grabplatte aus hellem Marmor gesetzt.
Bereits am 16. Oktober 1963 hatte das Amtsgericht Hamburg das Testament eröffnet, verfaßt am 29. September 1956 und zwei Tage später mit dem Siegel des Hamburger Notars Günther Grethe versehen. Nur der Adoptivsohn Peter Max Walter Gründgens-Gorski, geboren am 7. September 1921 in Berlin, war zur Testamentseröffnung erschienen. Er ist der Alleinerbe, überläßt indes das Häuschen auf Madeira Jürgen Schleiß. Beide werden beim Versuch, künstlerisch in die Fußstapfen von Gründgens zu treten, scheitern. Schleiß ändert zwar zunächst seinen Namen in Georg Arndt, um nicht mehr mit Gründgens in Verbindung gebracht zu werden, erkennt aber schon bald die Werbewirksamkeit von Attributen wie »GGs Begleiter auf der Weltreise, die so tragisch endete«31 oder »Gründgens’ letzter Assistent«32 – auch Gründgens’ 1941 geborener Neffe Michael Geimer wird versuchen, vom berühmten Namen zu profitieren, und als Michael Geimer-Gründgens die Klamotte KOMM IN DIE WANNE, SCHÄTZCHEN, die 1971 in die Kinos kommt (»Brennende Jungfrauen – tanzende Polizisten – Galopprennen im Ehebett«, verspricht das Filmplakat), und 1976 den Hardcore-Porno SOCK IT TO ME inszenieren: »Wenn mein Onkel das erfahren hätte, wäre er sicherlich zunächst in Ohnmacht gefallen«33, verkündet er werbeträchtig. Jürgen Schleiß, der eine Zeitlang im Nachbarhaus von Peter Gründgens-Gorski an der Hamburger Enzianstraße mit seinem Lebensgefährten, dem Pianisten Christoph Eschenbach, zusammenwohnt, spielt von 1964 an einige kleine Rollen in Köln, Düsseldorf und Bochum, studiert unter anderem das teils umbesetzte Hippiemusical HAIR im Hamburger Besenbinderhof neu ein und inszeniert Fernando Arrabals GARTEN DER LÜSTE an den Düsseldorfer Kammerspielen. Bald jedoch gibt er die Bühnenkarriere auf und übersiedelt im November 1973 mit seinem neuen Lebenspartner Wolfgang Wandert nach Hongkong, wo die beiden als General Manager für ein deutsches Textilunternehmen die dortige Produktion überwachen. Nach zwölf Jahren kehren sie wohlhabend nach Deutschland zurück; Schleiß stirbt 1991 in München an den Folgen von AIDS. Auch Peter Gründgens-Gorski wird künstlerisch eher wenig Erfolg haben. Schon zu Lebzeiten seines Adoptivvaters hatte er nicht nur regelmäßig am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Regie geführt, sondern gelegentlich auch an anderen Bühnen gastiert, nun inszeniert er unter anderem 1964 Gounods Oper FAUST in Pretoria, 1968 in Kopenhagen Goethes FAUST nach Gründgens’ Konzeption. Am 17. Februar 1972 heiratet er in Hamburg seine Lebensgefährtin Ingeborg Bleckwedel34, eine Schulfreundin aus Berlin, die er bereits 1956 beim Tennisturnier am Hamburger Rothenbaum wiedergetroffen hatte, und entzieht sich ein Jahr später einem deutschen Steuerverfahren durch die Flucht nach Ibiza, wo er seit den 60er Jahren eine Finca im typisch ibizenkischen Stil nahe der Cala Vadella besitzt. Am 1. Dezember 1999 wird diese erste Ehe geschieden, und Gorski, inzwischen nach Mallorca übergesiedelt, heiratet dort am 19. Januar 2001 die 1948 geborene Gabriele Hesse. Am 3. März 2007 stirbt er in Manacor an einem Schlaganfall, wenige Wochen darauf, am 12. April 2007, erliegt Gabriele Gründgens-Gorski ihrem Krebsleiden.
Vier Tage nach der Testamentseröffnung findet am Sonntag, dem 20. Oktober 1963, vormittags um 11 Uhr im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg die offizielle Trauerfeier für Gustaf Gründgens statt. Auf der Bühne hat man die Dekoration zum »Vorspiel auf dem Theater« aus Gründgens berühmter FAUST-Inszenierung aufgebaut. Ganz vorne nimmt, ein schwarzes Tuch um den Kopf geschlungen, Elisabeth Flickenschildt Platz, in einer der hinteren Reihen der Dirigent Herbert von Karajan. Marianne Hoppe verbirgt sich hinter einem Logenvorhang. Fritz Kortner und Rolf Liebermann sind gekommen, Pamela Wedekind, Käthe Gold und Lola Müthel. Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchesters unter Leitung von János Kulka spielen das Adagio aus Mozarts Bläserserenade in Es-Dur KV 375 und das Adagio aus der GRAN PARTITA, der Serenade in B-Dur KV 361. »Du warst immer der leuchtende Stern vor meinem Wagen – ich werde Dir nachstreben bis ans Ende meiner Tage. Gute Nacht – Mein Prinz«35, schließt der Schauspieler Ullrich Haupt seine Rede. »Er war eine hochgefährdete Natur, wir wußten es alle. […] Er war ein Misanthrop, von Einsamkeit umgeben, verletzlich, sogar mißtrauisch, dabei von erstaunlicher Hellsichtigkeit gegenüber den Menschen. […] Im Umgang oft nervös und schwierig, bewies er bei Proben eine unendliche Geduld«, würdigt Senator Hans-Harder Biermann-Ratjen den Verstorbenen. »Unter allen Rollen, die er gespielt hat, war die Rolle des Intendanten nicht die schlechteste.«36
»Vom Vater her aus Aachen, von der Mutter her aus Köln stammend, bin ich in Düsseldorf geboren. Beide Familien hatten ihre große Zeit. Die Familie meines Vaters mit holländischem Einschlag ist durch viele Heiraten weit verzweigt und stellte in diesem Jahrhundert einen großen Teil der rheinischen Industrie. Die Familie meiner Mutter hatte unter anderem einen sehr bekannten Kölner Oberbürgermeister und beherrschte eine Zeitlang die Rheinschiffahrt. Der Verfall dieser Familien setzte aber bereits vor meiner Geburt ein. Was blieb, war die äußere Fassade, die angeblich gehalten werden mußte«1, heißt es in dem »Entwurf zu einer Selbstbiographie«, den Gustaf Gründgens 1952 auf eineinhalb Seiten zu Papier brachte. So oft er auch später noch davon sprach, eine Autobiographie mit dem Titel DER KÜNSTLER UND DIE MACHT verfassen zu wollen, verwirklicht hat er diese Pläne nie und auch sonst nicht ausführlicher von seiner Familie berichtet.
Am 22. Dezember 1899 zeigen Arnold Gründgens und seine Frau Emilie »ergebenst« die »glückliche Geburt eines prächtigen Jungen«2 an. Er ist um 10 Uhr vormittags zur Welt gekommen, wie damals üblich nicht im Krankenhaus, sondern zu Hause in der Graf-Adolf-Straße 92 im Zentrum der rasch wachsenden Industriestadt Düsseldorf; 85,5 Prozent ihrer 213000 Einwohner sind 45 Jahre oder jünger. Erst am 16. März hatten Arnold und Emmi Gründgens, die am 11. Februar in Köln geheiratet hatten, diese Mietwohnung bezogen. In den übrigen drei Wohnungen der gutbürgerlichen, nur wenige Schritte vom Wilhelmsplatz (dem heutigen Stresemannplatz) entfernten Liegenschaft leben Kaufleute mit ihren Familien; Arnold Gründgens ist laut Adreßbuch als Fabrikant tätig. Heute versuchen die Anwohner der Graf-Adolf-Straße, deren durch Leihhäuser und Pornokinos ramponiertes Image aufzubessern, und präsentieren die von wenig ansehnlichen acht- bis zehngeschossigen Bauten aus den 50er und 60er Jahren geprägte Straße, die vom Bahnhof zur Glamourmeile Königsallee führt, mit dem Slogan »Vielfalt, die ich mag«. Als Gründgens geboren wird, gilt sie, gesäumt von meist im Stil des Historismus erbauten, mit eleganten Stuckfassaden versehenen Häusern, als »eine der schönsten Straßen der Stadt«3, die sich bald zur Vergnügungsmeile mit Cafés, Restaurants und Theatern entwickelt. Nicht weit von der Gründgensschen Wohnung setzt an der Graf-Adolf-Straße Nr. 44 das »Arabische Café« mit mehreren Kuppeln und einem Minarett einen orientalischen Akzent. Im Erdgeschoß befindet sich das erste Selbstbedienungsrestaurant Düsseldorfs, in den reich verzierten, mit Kamelsesseln und maurischen Hockern ausgestatteten Räumen des ersten Stocks servieren als Beduinen verkleidete Bedienstete. 1906 wird im selben Gebäude das erste Kino der Stadt eröffnet werden: Die Wunderhalle zeigt bis zu 15 Minuten dauernde Streifen – längere Filme mag man dem menschlichen Auge nicht zumuten. Im Jahr darauf wird auch das Graf-Adolf-Theater in der Graf-Adolf-Straße 69 »singende und sprechende Photographien, verbunden mit Auxetophon-Vorträgen«4 bringen.
Arnold Gründgens, am 1. Januar 1872 in Aachen als Sohn des Tuchfabrikanten Gustav Gründgens und seiner Ehefrau Maria, einer Tochter des Ahrweiler Papierfabrikanten Wilhelm Dahmen, zur Welt gekommen, ist seit 1898 Teilhaber der Firma C. A. Heinemann & Cie., einer Großhandlung in Sanitätsartikeln, die sich keine fünf Gehminuten entfernt ebenfalls an der Graf-Adolf-Straße befindet. Schon im Gründungsjahr 1896 hatte Carl Arnd Heinemann mit der Fertigung von Waschmaschinen zunächst für größere Haushalte begonnen, von 1902 an wird die Firma Krankenhäuser, Klöster und Hotels mit vollständigen »Dampfwäschereien« beliefern, zudem Zentrifugen, Spülmaschinen, »Vakuum-Staubabsaug-Apparate« und eine Kartoffel-und-Rüben-Schälmaschine vertreiben, über die ein Herr Kons, »Restaurateur der Festhalle und des Haupt-Weinrestaurants« 1904 im Werbeprospekt der Firma rühmt: »Die 25–30 Zentner Kartoffeln, welche täglich hier in meinem Haupt-Restaurant gebraucht werden, sind in ganz kurzer Zeit geschält.«5 Arnolds Vater, der 1836 geborene Gustav Johann Peter Gründgens, war »in jüngeren Jahren […] ein schöner Mann in des Wortes wahrster Bedeutung, später mit seinem wohlgepflegten Patriarchenbart, alle anderen um Haupteslänge überragend, beherrschte er das Bild des Tisches, an dem er saß, auch was Rede und Trinken anging. Dabei zeichnete ihn bei aller Derbheit ein goldener Humor aus.«6 Schon vor längerer Zeit hatte sich Gustav Gründgens aus der Tuchfabrik, die er 1862 in Aachen-Burtscheid zusammen mit Fritz und August Vassoll unter dem Namen »Gründgens & Gebr. Vassoll« gegründet hatte, zurückgezogen und lebt nun als Rentner in Aachen. Dort zählt die ursprünglich aus Holland stammende, dann im Dorf Pier bei Düren ansässige Familie seit langem zu den Honoratioren und beteiligt sich rege am kulturellen Leben; beim Niederrheinischen Musikfest 1846 etwa hatten gleich drei Mitglieder der Familie unter Leitung des Königlich Preußischen General-Musikdirektors Felix Mendelssohn Bartholdy im Chor gesungen, als Solistin hatte die legendäre »schwedische Nachtigall« Jenny Lind gastiert. Die Aachener Wohnsitze der Familie sind durchaus repräsentativ zu nennen, so hatte der Holzhändler Arnold Hubert Gründgens, Arnolds Großvater, zeitweise das prunkvolle, im 14. Jahrhundert errichtete Haus Löwenstein am Marktplatz bewohnt.
Auch Emilie Gründgens, am 1. Februar 1874 in Köln geboren, wo ihr Vater Johann Heinrich Ropohl eine »Uhren- und Fourniturenhandlung« führt, in der seine Frau Therese seit 1868 als im Handelsregister eingetragene Prokuristin mitarbeitet, blickt auf respektable Vorfahren zurück: »Emmi« ist die Urenkelin7 des kurfürstlichen Titularhofrates und Erbvogts8 Johann Baptist Fuchs, 1798 für knapp neun Monate Präsident der Munizipalität im damals französisch besetzten Köln, später Advokat und schließlich königlich preußischer Regierungsrat. Dessen aus Oberwinter stammender Vater Jakob Fuchs, verheiratet mit der Schiffertochter Maria Catharina Weyl, erwarb 1757 als Mitglied der Fischmengerzunft das Kölner Bürgerrecht. 1764 übernahm er gegen eine jährliche Pachtsumme von 2000 Rheinischen Thalern das Amt eines kurkölnischen Brückenmeisters (erst 1822 wurde die »fliegende Brücke« zwischen Köln und Deutz in eine feste Brücke umgewandelt), später wurde er Teilhaber der im Holländerholzgeschäft tätigen Großhandelsfirma von Hausen in Saargemünd.9
Arnold und Emmi Gründgens lassen ihren Erstgeborenen nach katholischem Ritus auf den Namen Gustav Heinrich Arnold taufen10 – mit »f« wird Gründgens seinen Namen erstmals in einem am 18. April 1921 unterzeichneten Vertrag mit den Vereinigten Städtischen Theatern Kiel schreiben.11 Benannt wird er nach seinen beiden Großvätern Gustav und Heinrich sowie nach seinem Vater Arnold. Dieser versucht sich indes mit wechselndem Glück in verschiedenen Tätigkeiten. Schon bald nach der Geburt seines Sohnes verläßt er die Wäschereimaschinenfabrik Heinemann, betreibt vorübergehend eine Eisen- und Stahlwarenhandlung und vertritt dann die Firma Otto Gruson & Cie., Magdeburg-Buckau, ein in der Stahlformgußherstellung führendes Eisen- und Stahlwerk, das unter anderem Zahnräder produziert. Schließlich leitet er die Düsseldorfer Niederlassung von Rheinhold & Co., Vereinigte Norddeutsche und Dessauer Kieselgur-Gesellschaft. Die 1887 in Celle gegründete Firma fördert aus eigenen Gruben Kieselgur, die man unter anderem als Filter für Wasser und Öle, als Füllstoff in Wärmeisolierungen, Anstrichmitteln und Tabletten und als natürliches Pestizid verwendet; während des Zweiten Weltkrieges wird sie als Trägermaterial für das in deutschen Vernichtungslagern eingesetzte Zyklon-B-Gas dienen.
Arnold Gründgens um 1940
© Privatbesitz Gerrit Gründgens
Mit Arnold Gründgens’ permanenten Berufswechseln einher gehen zahlreiche Umzüge12: im März 1900 in die Lennéstraße 16, bereits sieben Monate später in die Luisenstraße 53, 1904 in die Kronprinzenstraße 47 und 1909 in eine Wohnung an der Kavalleriestraße 64, die Arnold Gründgens vom jüdischen Tabakkaufmann Robert Samuel mietet, dem späteren Stifter der Robert-und-Hedwig-Samuel-Stiftung, die noch heute die Ausbildung von Jugendlichen insbesondere in Südamerika und Asien fördert. Im August 1912 übersiedelt die Familie Gründgens schließlich nach Düsseldorf-Oberkassel. Zunächst bewohnt man ein Haus in der Düsseldorfer Straße 84 (zu dieser Zeit noch eine ausgesprochen ruhige, beschauliche Wohngegend), im März 1915 wechselt man an die mit Bäumen bewachsene Glücksburger Straße. Dort mietet Arnold, der inzwischen Isolierrohre fabriziert, vom Photographen Jean Kronenberg das schmale, aber durchaus repräsentative Haus mit der Nr. 6: drei Stockwerke und ein Tiefparterre, von welchem man ebenerdig den hinter dem Haus gelegenen kleinen Garten betritt. Die Eheleute Gründgens richten sich im großbürgerlichen Stil der Zeit ein, mit schweren Möbeln aus dunklem Holz; an der Wand hängen die beiden Porträts, die sie bei Fritz Reusing in Auftrag gegeben hatten, einem überregional gesuchten Bildnismaler der Düsseldorfer Schule. Das Bild der Mutter wird Gründgens zeit seines Lebens begleiten.
Sie hätten »eine unbeschreiblich schöne und unbeschwerte Kindheit«13 gehabt, so Gustavs am 23. Mai 1903 geborene, also dreieinhalb Jahre jüngere Schwester Maria Theresia, die sich später als Vortragskünstlerin Marita Gründgens14 nennt. Im Spiel imitieren die Kinder, wie Besucher dem Dienstmädchen distinguiert ihre Visitenkarten überreichen und dann im Salon gestelzte Konversation mit den Eltern pflegen, oder treten voreinander als berühmte Pianisten oder Sänger auf – das jeweils andere Geschwister gibt dann das kritische Publikum. Gustav verkleidet sich gerne als Priester und zelebriert die Messe, Marita fungiert – der Zeit 70 Jahre voraus – als Ministrantin. Beeindruckt ist Gustav besonders, wenn die Mutter große Toilette macht, um an einer gesellschaftlichen Soiree teilzunehmen. Gelegentlich tritt die musisch veranlagte Emmi Gründgens, die in ihrer Jugend bei der Sopranistin Lilli Lehmann, einer der bedeutendsten Wagner- und Mozart-Interpretinnen ihrer Zeit, Gesang studiert hatte, im Rahmen von Wohltätigkeitsveranstaltungen auf. Setzt sie sich zu Hause an den Flügel und singt Lieder von Schumann, Schubert, Wolf oder Brahms, lauscht Gründgens »andächtig den Tönen«15. Während die enge Bindung zu »Mui«, wie der »Gui« gerufene Junge seine über alles geliebte Mutter nennt, der er stupend ähnlich sieht, bis zu deren Tod am 3. Mai 1935 einen großen Raum in seinem Leben einnimmt, wird er den Vater später als schwierigen, verschlossenen, starren und wenig umgänglichen Menschen bezeichnen, »von formaler Korrektheit, geringer Schwingungsfähigkeit und wohl auch mangelnder Durchsetzungsfähigkeit«16. Das Verhältnis zu ihm ist nicht zuletzt deshalb angespannt, weil seine Affären mit den wechselnden Dienstmädchen der Familie nicht zu übersehen sind. Doch erst als Arnold Gründgens am 3. September 1937, also gut zwei Jahre nach Emmis Tod, eine weitere Ehe mit der fast 38 Jahre jüngeren Erica Neuy eingeht, wird Gründgens endgültig von seinem Vater Abstand nehmen17, die Stiefmutter auf Distanz halten und sich weigern, seinen am 23. Oktober 1940 geborenen Halbbruder Gerrit auch nur kennenzulernen.
Emmi Gründgens mit ihren beiden Kindern, 1914
© Theatermuseum Düsseldorf
»Er war ein reicher rheinischer Kaufmannsprotz, aber was in der Realität übrigblieb, war ein Schein-Dasein. Der Vater hat nie richtig und kontinuierlich gearbeitet«18, gibt Peter Gründgens-Gorski später einmal über Arnold Gründgens zu Protokoll, »ein Industriemann mit progressivem Mißerfolg«19. Dessen Bedürfnis, trotz schwindender finanzieller Mittel, einen großbürgerlichen Lebensstil aufrechtzuerhalten, wird indes verständlicher, wirft man einen genaueren Blick auf seine Familie. Dabei weckt gar nicht so sehr die angesehene Gründgens-Sippschaft in Aachen, als deren »schwarzes Schaf«20 er gilt, seinen Neid – obgleich sein Onkel Julius, der die väterliche Metallwaren- und Holzhandlung übernommen hatte, immerhin wohlhabend genug war, sich am Aachener Lousberg durch den Stadtbaumeister Friedrich Joseph Ark einen zweigeschossigen, fünfachsigen Bau nach dem Vorbild venezianischer Renaissance-Villen errichten zu lassen, »Villa Gründgens« genannt.21 Arnolds einziger Bruder Carl Gründgens praktiziert in Aachen als »Spezialarzt für Chirurgie und Orthopädie«, die fünf Schwestern sind durch gutbürgerliche Eheschließungen wohlversorgt: Anna etwa hat den Direktor des Königlichen Hohenzollern-Gymnasiums in Düsseldorf, Julius Asbach, geheiratet. Eduard Haber, der Ehemann der jüngsten, »Toni« gerufenen Schwester Antoinette, der 1900 in den Reichskolonialdienst des Auswärtigen Amts berufen und 1910 zum Kaiserlichen Geheimen Oberregierungsrat ernannt worden war, avanciert 1917 zum letzten Gouverneur von Deutsch-Neuguinea. Lediglich der Gatte der »Erna« genannten ältesten Schwester Arnoldine, der aus einer gutsituierten Familie stammende Fritz Arnold, der vor der Ehe eine Kolonialwarenhandlung in Nicaragua betrieben hatte, war mit seiner Bank und seiner Getreidemühle in Anselmo im US-Bundesstaat Nebraska nicht allzu erfolgreich gewesen, fungiert jedoch seit seiner Rückkehr 1891 immerhin als Geschäftsführer des Mineralöl-Handels Ernst Schmidt in Oberkassel. Bei ihm in der Kavalleriestraße 19 war Arnold, als er im Juni 1898 aus Bad Godesberg nach Düsseldorf gezogen war, untergekommen, bis er im März 1899 zusammen mit seiner aus Köln übersiedelten Frau Emilie die erste eheliche Wohnung an der Graf-Adolf-Straße bezogen hatte.
Minderwertig fühlt sich Arnold Gründgens wohl vor allem angesichts seiner Kölner Verwandten: Sein Cousin väterlicherseits und Namensvetter Arnold von Guilleaume, der drittälteste Sohn seiner Tante Antoinette22, nennt wie sein ältester Bruder Theodor von Guilleaume ein Vermögen von 26 Millionen Mark sein eigen. Ihr Bruder Max besitzt sogar 27 Millionen Mark23 und ist der reichste Einwohner Kölns. Jeder der drei verfügt damit über ein ebenso großes Vermögen wie beispielsweise Wilhelm von Siemens, und alle drei sind sogar noch wohlhabender als der Berliner Bankier Robert von Mendelssohn, mit dessen Sohn Francesco sich Gustaf Gründgens 1928 eng befreunden wird – beeindruckt von dessen ihm märchenhaft scheinenden Reichtum. Die Guilleaume-Brüder wurden wegen ihrer Verdienste in den erblichen Adelsstand erhoben: Theodor bereits im Jahr 1900 (1914 wird er zudem mit dem Titel eines Freiherrn versehen), Max und Arnold vier Jahre später. Auch wenn gewisse Kreise die vor allem wegen ihres Vermögens nobilitierten Familien als »Börsenadel« ablehnen, bedeutet diese »Allerhöchste Auszeichnung« doch einen enormen Gewinn an gesellschaftlichem Ansehen für die 1094 Familien, an die zwischen 1871 und 1918 der einfache Adel des »von« verliehen wird.
Die Guilleaumes hatten einen rasanten Aufstieg erlebt: Als sich Arnold Gründgens’ Tante Antoinette einst mit Franz Carl Guilleaume verlobt hatte, war der künftige Brautvater von der beruflichen Stellung seines Schwiegersohns in spe keineswegs angetan gewesen. Der 1794 geborene, seit 1823 mit der zwei Jahre jüngeren Buchdruckerstochter Lucia Urlichs verheiratete Arnold Hubert Gründgens – der Urgroßvater von Gustaf Gründgens –, der in Aachen-Burtscheid eine Metallwaren- und Holzhandlung betrieb, hatte sich für seine 1837 geborene Tochter Antoinette eine bessere Partie versprochen als den drei Jahre älteren, zeit seines Lebens kränkelnden Franz Carl Guilleaume, der im väterlichen Unternehmen tätig war. Felten & Guilleaume, 1826 gegründet, hatten ursprünglich Hanfgespinste, Seilerwaren und Tauwerk produziert, 1835 mit der Herstellung von Stahlseilen für den Bergbau begonnen und 1853 als erste auf dem Kontinent bewehrte Telegraphenkabel24 hergestellt. Arnold Hubert Gründgens hatte vom Vater seines künftigen Schwiegersohns die Zusicherung verlangt, daß er diesem ausreichende finanzielle Mittel für den Unterhalt einer Familie bereitstelle, worauf Theodor Guilleaume seinem Sohn ein Jahresgehalt von 2000 Talern ausgesetzt hatte. Kurz nach der Trauung mit Antoinette Gründgens am 31. Dezember 1859 wurde Franz Carl an der Unternehmensleitung beteiligt, fünf Jahre später alleiniger Inhaber der Firma Felten & Guilleaume. 1873 gründete er im rechtsrheinischen Mülheim das Carlswerk und verlegte dorthin die gesamten metallverarbeitenden Betriebe des Mutterkonzerns. Man produzierte Eisen- und Stahldrähte, Freileitungsseile aus Kupfer und Aluminium, Blitzschutzanlagen, aber auch Sprungfedern und Klaviersaitendraht. Antoinette und Franz Carl konnten ein »pompöses Wohnhaus«25 unweit des Kölner Doms beziehen.
Die fünf ihrer sieben Kinder, die das Erwachsenenalter erreichten, verehelichten sich alle mit Angehörigen angesehener Familien. Der 1861 geborene Theodor heiratete Hortense Mallinckrodt, eine Tochter des 1902 nobilitierten Lederfabrikanten und Kölner Großkaufmanns Gustav (von) Mallinckrodt. Seine ein Jahr jüngere Schwester Margarethe vermählte sich mit Emil Windthorst, einem Verwandten des Parlamentariers Ludwig Windthorst, des legendären Bismarck-Gegners und Gründervaters der Zentrumspartei; ihre 1888 zur Welt gekommene Tochter Elsa wird 1908 den Bergwerks- und Hüttenbesitzer Werner Carp26, einen Enkel des Großindustriellen Friedrich Wilhelm Haniel, ehelichen und nach dem Zweiten Weltkrieg eine recht enge Beziehung mit Gustaf Gründgens, ihrem Cousin zweiten Grades pflegen. Der 1866 geborene Max von Guilleaume verband sich mit Clara Michels, der Tochter des Kölner Handelskammerpräsidenten Gustav Michels, des Mitbegründers und Vorstandsmitglieds der Rhenania-Versicherungs AG. Die Eheschließung des 1868 geborenen Arnold mit Elisabeth Deichmann, der Tochter des teilhabenden Bankiers am Privatbankhaus Deichmann & Co, Otto Deichmann, schien vielen als durchgeplantes wirtschaftsbürgerliches Kalkül – nicht ganz zu Unrecht, schließlich hatten ihre Eltern »Ella« Deichmann schon als 16jährige mit dem 23jährigen Arnold von Guilleaume bekannt gemacht –, doch waren die beiden wirklich ineinander verliebt.27 Und die jüngste, 1871 geborene Schwester Marie Emma Josephine Hubertine, kurz »Ditz« genannt, heiratete in erster Ehe den besten Freund ihres Bruders Arnold, den Maler August Neven du Mont, dessen Vater die nationalliberale Kölnische Zeitung verlegte (bis heute gelten die Neven DuMonts als eine der bedeutendsten deutschen Verlegerfamilien), in zweiter Ehe den Diplomaten Robert von Scheller-Steinwartz, 1912 bis 1915 Staatsminister im Herzogtum Sachsen-Altenburg.
Seit dem Tod des im Volksmund »Siemens des Westens«28 genannten Königlich preußischen Kommerzienrats Franz Carl Guilleaume im Jahr 1887 leiten seine Söhne Theodor und Max gemeinsam das Carlswerk, das um die Wende zum 20. Jahrhundert der größte Arbeitgeber in Köln ist. Sie widmen sich dem Ausbau des Stromkabelgeschäfts und forcieren darüber hinaus Seekabelprojekte. Ihr jüngster Bruder Arnold modernisiert indessen die ihm anvertraute Seilerei Felten & Guilleaume am Kartäuserwall in Köln; darüber hinaus ist er Mitglied zahlreicher Aufsichtsräte, unter anderem stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des Gerling-Konzerns. Die Charaktere der Brüder sind zwar höchst unterschiedlich: Während der pflichtbewußte Arnold, dem eine steife gesellschaftliche Attitüde nachgesagt wird, seiner Arbeit in der von Ordnung und Exaktheit beherrschten »Erwerbshöhle«29 mit »äußerster, vorbildlicher Pflichterfüllung«30 nachgeht, gilt Theodor als visionärer Fabrikant und genußfreudiger Lebemann zugleich. Was die drei Brüder jedoch verbindet, ist ein luxuriöser Lebensstil, sie alle bewohnen neben ihren Stadthäusern stattliche Schlösser.31
Seine im Vergleich zu den Cousins und Cousinen seines Vaters ungleich bescheidenere, aber keineswegs ärmliche Kindheit und Jugend hielt Gustaf Gründgens nicht für besonders bemerkenswert: »Biographien sind meine Lieblingslektüre. Aber ich überschlage immer die Jugendzeit der Autoren. Schließlich haben wir alle auf dem Eisbärfell gelegen, sind alle in die Schule gegangen, und ich finde es nicht interessant, in welcher Klasse man sitzen geblieben ist. Und ich kann auch nicht finden, daß die Schilderung der Schullehrer für den Leser wissenswert ist.«32 Nun ja, der eher mäßige Schüler bleibt tatsächlich einmal sitzen: in der Quarta. Und manchen Pädagogen der Städtischen Oberrealschule zu Düsseldorf, die er – nach der dreijährigen Vorschule – von Ostern 1909 an, also seit Beginn des Schuljahres 1909/1910, besucht, hat vielleicht der Schriftsteller Heinrich Spoerl porträtiert, der dort bis 1905 ebenfalls die Schulbank gedrückt hatte: »Also, wat is en Dampfmaschin?«33, fragt etwa der kauzige Physiklehrer Bömmel in der 1933 erschienenen, mehrfach verfilmten FEUERZANGENBOWLE.34 Die ehemalige Höhere Bürgerschule, 1899 zur lateinlosen Oberrealschule erweitert, liegt in der Düsseldorfer Innenstadt am Fürstenwall, an der Ecke zur Florastraße; rund 600 Schüler lernen zu dieser Zeit in dem 1887 erbauten palastartigen Gebäude im Stil der Neorenaissance. Das Abgangszeugnis vom 12. September 1912, also mitten im Schuljahr, attestiert Gründgens, der seit dem Frühjahr die Quarta wiederholt hat, zwar regelmäßigen Schulbesuch; Betragen, Fleiß und Aufmerksam seien »gut«. Die Leistungen in den einzelnen Schulfächern indes sind, abgesehen von Erdkunde und Geschichte, nur »genügend«, Schreiben und Rechnen werden als »mangelhaft« bewertet, Zeichnen als »nichtgenügend«. Abschließend hat man vermerkt: »Zur Vorbereitung auf das Gymnasium soll er Privatunterricht erhalten.«35 Der Besuch der Oberrealschule ist übrigens nicht umsonst: Das Schulgeld beträgt 130 Mark per annum, was etwa einem Monatsgehalt der meisten Erwerbstätigen entspricht; für eine Mark bekommt man ein Pfund Fleisch oder einen halben Zentner Kartoffeln, die monatlichen Mietkosten einer 4-Zimmer-Wohnung belaufen sich auf etwa 40 bis 50 Mark.
Im April 1913 wird Gründgens Schüler der Höheren Knabenschule in Oberkassel, die, da das 1912 errichtete Schulgebäude am Comenius-Platz liegt, von allen Comenius-Gymnasium genannt wird, diesen Namen aber erst ab 1951 offiziell tragen wird. Mit rheinischer Liberalität und von humanistischem Geist geprägt leitet das Gymnasium seit der Gründung 190836 – und bis ins Jahr 1948! – der 1879 geborene promovierte Historiker Hans Mosler, der Griechisch, Latein und Geschichte lehrt und von den Schülern respektvoll »Zeus« genannt wird. Gründgens’ schulischer Erfolg hält sich weiterhin in Grenzen – vielleicht ist das der Grund, warum er zu Ostern 1916 das Comenius-Gymnasium verläßt und nach Mayen, dem »Tor zur Eifel«, geschickt wird. Es ist nicht das erste Mal, daß er fort von zu Hause ist, schon als Zehnjähriger hatte Gustav die Sommerferien ohne seine Eltern im Rheinholdschen Ferienheim37 in Winsen an der Aller verbracht und war durch die Heide gewandert, doch länger hatte er sein Elternhaus noch nie verlassen. Der Pennäler wird in Mayen im Marienhaus untergebracht, einem ehemaligen Krankenhaus, das seit 1907, betreut von den Barmherzigen Schwestern vom heiligen Karl Borromäus, als Internat dient38, und besucht vom 4. Mai 1916 an das städtische Gymnasium zu Mayen, die 1907 zum humanistischen Gymnasium erweiterte Höhere Stadtschule im Zentrum der rund 14500 Einwohner zählenden Stadt (seit 1988 trägt es den Namen Megina-Gymnasium; der damalige Vorschlag, die Schule nach Gründgens zu benennen, »war schnell vom Tisch«39, so die Schulchronik). Im »Steckrübenwinter«40 1916/17 schreibt er sehnsüchtige Briefe nach Hause und sorgt sich insbesondere um den Gemütszustand der Mutter – wobei unklar bleibt, ob es die Affären ihres Gatten sind, unter denen sie leidet: »Jedenfalls beherrscht mich ganz der Gedanke, daß ich Dir helfen möchte, ganz und gar. Ich will und ich muß Dir Freude machen. […] Sieh mal, wenn ich bei einer Klassenarbeit mal wieder der alte Leichtfuß sein will, dann steht auf jedem Löschblatt versteckt: Denk an Mutter! und das gibt mir dann wieder die Besinnung. Die Mathematikarbeit, die habe ich mit Deiner Hilfe so schon gut gemacht. Ein Fall, der mir in Mathematik noch nie vorgekommen ist. Siehst Du, so hilfst Du mir immer, auch ohne daß Du es weißt.«41 Den Mitschülern erscheint er als »Einzelgänger, ein Träumer zwischen zwei Welten«, allein der Deutschlehrer Kropp erkennt ihn in der Untersekunda »als artverwandte Seele«42 und diskutiert heiß mit ihm über Walter Flex’ im Oktober 1916 erschienene Novelle DER WANDERER ZWISCHEN BEIDEN WELTEN, in der der Autor ein traumatisches Kriegserlebnis verarbeitet hat: den Tod eines Freundes bei einem Patrouillengang im August 1915. Die Darstellung einer starken, homoerotisch getönten Freundschaftserfahrung wird für mindestens zwei Generationen deutscher Jugendlicher zum Kultbuch und in den Zwischenkriegsjahren zu einem der sechs erfolgreichsten deutschen Bücher avancieren. Kropp hat auch darüber berichtet, wie Gründgens, um eine Wette mit dem Mitschüler Amandus Nüchter zu gewinnen, aus Otto Crusius’ Gedichtsammlung DIE HEILIGE NOT vortrug: »Im deutschen Unterricht merkte ich bald seine Begabung, eindrucksvoll vorzulesen und zu deklamieren. Daher bestimmte ich ihn im Jahre 1917 dazu, das übliche Gedicht zu Kaisers Geburtstag vorzutragen. […] Der Untersekundaner trat im Cutaway auf und trug auf schwarzer Weste ein klirrendes und flirrendes Kettengehänge, das auffallen mußte.« Die Sextaner und Quintaner hätten Gründgens ob seines Aufzugs »weidlich ausgelacht […]. Die Deklamation selbst fand Beifall, ja sie wurde allseits gerühmt.«43 Trotz aller Vorsätze glänzt der Schüler Gründgens ansonsten jedoch kaum: Einzig im Fach Deutsch erhält er ein »gut«, die Leistungen in Latein, Französisch, Geschichte, Erdkunde, in den Naturwissenschaften und im Turnen sind »genügend«, ebenso in Mathematik (spezifiziert in ein »genügend« in Algebra und ein »mangelhaft« in Geometrie), seine Leistungen in Griechisch werden mit »mangelhaft« bewertet – »Lektüre besser«, vermerkt das Zeugnis relativierend. Sein »Betragen« wenigstens ist »gut«, Fleiß und Aufmerksamkeit indes nur »genügend«, die Handschrift »im ganzen genügend«. Aber immerhin: »Er wird nach Obersekunda versetzt. […] Er verläßt die Anstalt, um einen praktischen Beruf zu ergreifen.«44
Gründgens beendet seine Schulausbildung in der Karwoche 1917 mit dem »Einjährigen«45, wie man das »Zeugnis über die wissenschaftliche Befähigung für den einjährig-freiwilligen Dienst« nennt, und tritt eine Woche nach Ostern auf Drängen des Vaters als kaufmännischer Lehrling in die als »kriegswichtig« erklärte Schiess AG46 im Düsseldorfer Stadtteil Oberbilk ein; sein Lehrlingsgehalt beträgt 25 Mark monatlich. Das 1866 gegründete Unternehmen beschäftigt über 1000 Mitarbeiter, gehört zu den wichtigsten Großwerkzeugmaschinenherstellern der Welt und ist ein bedeutender Zulieferer für die deutschen Schiffswerften. Rasch wird Gründgens deutlich, »daß ich nie und nimmer eine innere Befriedigung in dem mir zugedachten Beruf finden könnte«, ja überhaupt »gar keine Beziehung zu den Dingen«47, mit denen er sich nun befassen soll. So läßt er sich nicht selten gleich mehrere Tage lang nicht im Betrieb blicken, sondern studiert auf den Rheinwiesen in Oberkassel Dramen. Als Kind hatte er Klavierstunden erhalten und, angeleitet von der Mutter, Brahms-, Schumann- und Schubert-Lieder gesungen, hatte sich erst eine Karriere als Sänger erträumt, am liebsten als Oratoriensänger, dann Dirigent werden wollen, nun drängt es ihn zum Schauspiel; welche diesen Wunsch möglicherweise prägenden Vorstellungen des Düsseldorfer Stadttheaters oder des Schauspielhauses er bis dahin gesehen hat, ist freilich nicht überliefert. Später wird er erzählen, er habe »nie etwas anderes gewollt«: »Als Kind habe ich Schmierseife abwiegen wollen. Das war der einzige Wunsch, an den ich mich erinnere. Aber als Beruf ist mir nie etwas anderes in den Sinn gekommen, als Schauspieler zu werden.«48 Die unter dem Zwang des Vaters eingeschlagene Laufbahn als Kaufmann endet jedoch aus einem anderen Grund. Im Juli 1917, also nach nur drei Monaten, schließt man die schmale Personalakte des kaufmännischen Lehrlings mit der Bemerkung: »Wurde eingezogen und kam nachher nicht wieder. Mit dem jungen Mann war nicht viel los.«49
Gründgens selbst wird gelegentlich behaupten, er habe sich freiwillig zum Militär gemeldet, dann wieder berichten, er habe es »als wahre Erlösung« empfunden, »als ich eines Tages den Einberufungsbefehl erhielt«50. Wie dem auch sei: Der noch nicht einmal 18jährige (die Wehrpflicht beginnt zu dieser Zeit mit dem vollendeten 17. Lebensjahr) leistet seinen Kriegsdienst in der Maschinengewehrkompanie des Infanterieregiments Nr. 30. Das »Graf Werder« benannte Regiment51 ist seit 1876 in Saarlouis stationiert, das 1815 von Frankreich an Preußen abgetreten werden mußte. Gründgens wird verwundet – nicht etwa im Feld, sondern durch einen achtlosen Kameraden, dessen Gewehrkolben ihn am Kopf trifft – und nach Kreuznach ins Lazarett eingeliefert, wo er zwar seine Verletzung kuriert, sich aber, da er mit an Ruhr erkrankten Soldaten auf einer Station liegt, ansteckt und an der Bakterienruhr erkrankt. Geplagt von Durchfällen, Fieber und Koliken, genest er nur langsam.
Noch im Lazarett liest Gründgens in einem Armeeverordnungsblatt von einem in Saarbrücken domizilierten Fronttheater: Auf Befehl des kommandieren Generals Ernst von Oven war die »Volksbühne des Stellvertretenden Generalkommandos des XXI. Armeekorps, zugleich für das XVI. Armeekorps Saarbrücken« (zu letzterem gehört auch das Infanterieregiment »Graf Werder«, bei dem Gründgens dient) am 2. Oktober 1917 errichtet worden, um »der Bevölkerung, besonders den Rüstungsarbeitern des Saar-, Nahe- und Moselgebietes sowie Elsaß-Lothringens und der Pfalz in Darstellung und Wahl von Stücken hochwertige Vorstellungen zu bringen«52. Zur Eröffnung hatte man am 3. November 1917 Lessings MINNA VON BARNHELM gezeigt, im Frühjahr den Betrieb der Bühne, der durchweg erfahrene Schauspieler angehörten53, jedoch sistiert. Als künstlerischer Leiter der am 10. Juli 1918 auf Befehl des stellvertretenden kommandieren Generals Friedrich Wilhelm von Unger wiedererrichteten, der Abteilung »Vaterländischer Unterricht« unterstellten »Volksbühne« amtiert in der Spielzeit 1918/19 – in Nachfolge von Friedrich Schiffermüller, nunmehr Intendant des Schauspielhauses der Stadt Saarbrücken – der Schauspieler Ernst Matter, bis anhin für kurze Zeit Leiter der »Südwestdeutschen Verbandsbühne«. Der Gefreite Gründgens fängt sofort Feuer und bewirbt sich: »Ich schrieb […] ein flammendes Gesuch, pries meine Fähigkeiten, schwindelte Bühnenerfahrung vor«54, und der Schwindel hat Erfolg. Er wird erst nach Saarbrücken, dann nach Saarlouis in Marsch gesetzt, doch die geplante Aufführung von Shakespeares OTHELLO mit Gründgens als Rodrigo, wird abgesagt, »weil der Darsteller des Mohren sich weigerte, jeden Abend das Gesicht schwarz anzuschmieren«55. So debütiert Gründgens, zu dessen Kollegen der später am Berliner Staatstheater tätige Walter Franck gehört, am 2. Oktober 1918 mit einem angeklebten Vollbart als älterer Gelehrter Philipp in Ludwig Fuldas harmlosem Lustspiel JUGENDFREUNDE. Aufgeführt wird es in einem Gasthof im rund 14000 Einwohner zählenden, 15 Kilometer nordöstlich von Saarbrücken gelegenen Städtchen Friedrichsthal, dessen Bürger weniger unter kulturellem, sondern fast schon seit Kriegsbeginn unter tatsächlichem Hunger leiden: Um wenigstens Säuglinge, Kranke und Alte versorgen zu können, hat die Gemeinde einen Kuhstall mit 18 Milchkühen eingerichtet, außerdem unterhält man ein kommunales Lager mit Grundnahrungsmitteln, in der Hauptsache Kartoffeln. Bald darauf tritt Gründgens im Städtischen Saalbau am Saarbrücker Neumarkt erstmals in Goethes FAUST auf – noch nicht als Mephistopheles, sondern in der Rolle des Schülers. Daneben nimmt er einige Stunden Schauspielunterricht bei Karl Zistig, der als jugendlicher Held und Charakterspieler am Schauspielhaus der Stadt Saarbrücken verpflichtet ist; mit ihm wird Gründgens wenige Jahre später an den Hamburger Kammerspielen spielen und ihn 1935 als Gastregisseur ans Berliner Staatstheater holen.
Als nach der Revolution das Fronttheater aufgelöst und Gründgens’ Truppenteil nach Thale im Harz verlegt wird, wird er dort zunächst mit der Vorbereitung und Leitung einer Weihnachtsfeier, dann sogenannter Volks- und Unterhaltungsabende betraut, die vorwiegend im Gasthaus Zur Forelle56 stattfinden, genauer gesagt in einem im Rückgebäude gelegenen Saalbau. Man zeigt vor allem »kleine Einakter, die man im Repertoire von Dilettantenbühnen zu finden pflegt«57, so Gründgens. Ob man tatsächlich auch das Harzer Bergtheater58, eine 1903 errichtete, 1350 Zuschauer fassende Freilichtbühne auf dem Hexentanzplatz hoch über dem Bodetal, bespielt hat, wie stets behauptet wird, dürfte angesichts der Temperaturen zu dieser Jahreszeit fraglich sein. Gründgens, der in einer Pension an der Kronprinzenstraße unterkommt, organisiert in dem 15000 Einwohner großen Thale aber nicht nur Theateraufführungen, sondern auch Vortragsabende und Tanzvergnügen, bei denen er, elegant im Cutaway gekleidet, während der einzelnen Tänze mit dem Teller abkassiert und zur Kontrolle farbige Bänder an diejenigen Tänzer verteilt, die ihren Obolus entrichtet haben. Mit Akribie erledigt er die Verwaltungsarbeiten und führt das Buch dieser »Theatergesellschaft«, leitet zudem sämtliche Proben und tritt auch weiterhin selbst auf, mit besonderem Erfolg als Karl-Heinz in Wilhelm Meyer-Försters populärem Rührstück ALT-HEIDELBERG – übt also schon 1919 jene drei Tätigkeiten aus, die sein künstlerisches Leben bestimmen werden, ist Darsteller, Regisseur und Intendant. Und es begegnet ihm erstmals jene Rolle, die ihn weltberühmt machen wird: Am 18. Februar 1919 rezitiert er, annonciert als Mitglied der Volksbühne Saarbrücken, im Saal des Hotels Ritter Bodo an der Thaler Hubertusstraße »im Rahmen eines etwas hochgestapelten Vortragsabends«59 »unter Mitwirkung von Herrn Kapellmeister G. Klette (Geige)«60 die drei ersten Szenen des Mephisto aus FAUST, zudem den Orest-Monolog aus Goethes IPHIGENIE AUF TAURIS, die Szene des Riccaut de la Marlinière aus Lessings MINNA VON BARNHELM sowie einige Gedichte. Als das Theater aufgelöst wird, signiert er zum Abschied am 14. März 1919 ein Photo, das ihn »mit dem Profil ihm griech’schen Stil« zeigt, und versieht es mit der Bemerkung: »zum Aufbewahren bis ich berühmt bin«61.
Widmungsphoto mit eigenhändiger Unterschrift vom 14. März 1919
© Theatermuseum Düsseldorf