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Gift in Lebensmitteln ist legal, Konsumenten werden systematisch betrogen. Gesunde Lebensmittel, die nicht die Umwelt zerstören, gibt es nur für Leute mit Geld. Dagegen können sich Verbraucher nicht wehren – schon gar nicht mit einer »Politik des Einkaufswagens« - denn sie sind recht- und machtlos. Die Ursache dafür ist nicht die viel gescholtene "Geiz- ist Geil"- Mentalität der Verbraucher, sondern verantwortlich sind die Regeln des Lebensmittelmarktes, die vor allem den Interessen der Nahrungsmittelindustrie dienen. Der Umwelt- und Verbraucherschutzaktivist Thilo Bode rollt erstmals die politischen Hintergründe dieser Zustände auf. Er fordert Verbraucherrechte als fundamentale Bürgerrechte und zeigt was sich politisch ändern muss. Sein Appell: Verbraucher müssen sich gemeinsam zur Wehr zu setzen und für ihre Rechte kämpfen.
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Seitenzahl: 309
Thilo Bode
Abgespeist
Wie wir beim Essen betrogen werden und was wir dagegen tun können
Sachbuch
Fischer e-books
Wenn ein Autohersteller Fahrzeuge mit defekten Bremsschläuchen ausliefert, dann ist eine sofortige Rückrufaktion selbstverständlich. Genauso verdonnert sind Hersteller, Schadensersatz zu zahlen, wenn es zu Unfällen wegen der defekten Bremsschläuche kommt. Wenn Urlauber ein Hotelzimmer mit Blick aufs Meer gebucht haben, aber vor ihrem Balkon eine Müllkippe entdecken, werden sie den Reiseveranstalter verklagen und angemessen entschädigt. Und wenn der Stromverbrauch der Waschmaschine nach zwei Jahren plötzlich doppelt so hoch ist wie angegeben, gilt die Garantie: Geld zurück oder ein neues Gerät. Das ist ganz selbstverständlich. Doch was in anderen Bereichen gilt, trifft ganz und gar nicht für den Nahrungsmittelmarkt zu. Hier ist seit langem der Skandal nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall. Eine »Original Münchner Weißwurst« hat mit München nur wenig zu tun. Der Darm stammt aus China, das Kalbfleisch aus Ungarn, das Schweinefleisch aus Polen und die Petersilie aus Südafrika. Auch in Speiselokalen gehobener Klasse serviert man den Gästen Gulasch aus Gammelfleisch, und die Speisegelatine in Gummibärchen wird aus ungenießbaren Schlachtabfällen hergestellt. Das »natürliche« Aroma im Erdbeerjoghurt ist aus Holzrinde destilliert, und hat jemand ein mit krebsauslösendem und erbgutveränderndem Dioxin verseuchtes Putenschnitzel gekauft, steht ihm als Schadensersatz lediglich ein Putenschnitzel zu, das nicht mit Dioxin belastet ist.
Beim Einkaufen von Lebensmitteln und beim Essen werden wir systematisch getäuscht und betrogen. Wir werden nicht informiert, mehr noch, wir werden gezielt desinformiert. Wir haben keine Wahl zwischen guten und schlechten Lebensmitteln, weil der Preis nicht zwingend etwas über die Qualität aussagt, billig muss nicht schlecht und teuer nicht gut sein. Unsere Gesundheit wird geschädigt, aber wir haben keine Chance, diese Schädigung zu vermeiden. Dieser Zustand ist kein Zufall, sondern hat System. Auch sind nicht einige »schwarze Schafe« die Ursache.
Dieses Buch will die Hintergründe dieses Systems erläutern und dessen Spielregeln erklären. Ein Hersteller, der so ehrlich ist, offen anzugeben, wie viel Zucker sein Kindermilchdrink enthält und diesen nicht hinter harmlos klingenden Aufschriften wie »Kohlehydrate« versteckt, muss mit Umsatzrückgang für sein Produkt rechnen. Denn die Kunden werden dann die Angebote der Konkurrenten kaufen, die den wahren Zuckergehalt einfach nicht ausweisen, weil man das verschleiern darf. Die Folge: Die Kunden wiegen sich in der Annahme, sie kauften ein besseres Produkt. Das Fazit: Auf dem Lebensmittelmarkt lohnt es sich weder für Hersteller, ehrlich zu sein, noch Qualitätsware anzubieten. Im Gegenteil, es lohnt sich, Etikettenschwindel zu betreiben. Ungestraft kann sich eine minderwertige Tütensuppe mit dem Attribut »Naturpur« schmücken, ein mit die Zähne schädigender Zitronensäure versetztes Fruchtsaftkonzentrat »zur gesunden Entwicklung des Kindes beitragen« und jede beliebige Milch gefahrlos damit werben, sie stamme von »artgerecht« gehaltenen Tieren. Wer Gammelfleisch zu Döner oder Gulasch verarbeitet, den erwarten Gewinnspannen von 1000 Prozent. Das Risiko erwischt zu werden ist minimal, und selbst wenn man erwischt wird, die Strafen sind es auch. Der Lebensmittelmarkt ist ein Markt, auf dem es lukrativ ist, zu betrügen, zu täuschen und die Gesundheit der Verbraucher zu gefährden. Die Spielregeln eines funktionierenden Marktes sind auf dem Lebensmittelmarkt außer Kraft gesetzt. Der Markt steuert sich nicht selber, zum Wohle der Verbraucher und der Anbieter von Qualität. Der Grund dafür ist, dass Verbraucher auf diesem Markt recht- und machtlos sind.
Lebensmittelskandale gab es in den letzten Jahren in einer nicht abreißenden Serie. Doch kein Skandal hat die Machtlosigkeit der Verbraucher besser illustriert als die Rinderseuche BSE, die in Deutschland 2001 offiziell wurde, obwohl sie schon lange vorher präsent war. Über 150 Menschen starben in Großbritannien an BSE, niemand wurde dafür belangt. BSE war es, das mich damals zum ersten Mal fragen ließ: Welche Rechte haben Verbraucher eigentlich beim Essen? Wer hat auf dem Lebensmittelmarkt die Macht – die Verbraucher oder die Agrar- und Lebensmittelindustrie – auf Kosten der Verbraucher? Wer ist hier der Souverän? Haben Verbraucher eigentlich die Möglichkeit, sich zu wehren? Und wenn nicht, was kann man dagegen tun? Als Chemiefabriken noch die Flüsse vergifteten, Stahlwerke noch die Luft verpesteten, wollten Politik und Wirtschaft diese Umweltzerstörung nicht sehen. Es brauchte Aktivisten, die die Abwasserrohre von Bayer verstopften und das »gläserne Abflussrohr« forderten. Es brauchte eine Bewegung, die das Phänomen der Umweltzerstörung und die Notwendigkeit des Umweltschutzes in die Parlamente trug. Wie einst die Umweltbewegung die Zerstörung der Umwelt öffentlich machte und effektive Umweltgesetze erzwang, so brauchen wir jetzt eine Verbraucherbewegung außerhalb der Parlamente. Eine Bewegung, die Verbraucherechte zum politischen Thema macht und Verbraucherinteressen gegen die mächtige Agrar- und Nahrungsmittelindustrie durchsetzt. Denn von sich aus werden die Politiker nicht aktiv für die Rechte der Verbraucher eintreten. Ohne Druck von außen geht gar nichts. Die Umweltbewegung musste dies erfahren, bei der Durchsetzung von Verbraucherrechten wird es nicht anders sein. Klar ist für mich, dass die Verbraucher mit ihrer vermeintlichen Marktmacht als Käufer die unzureichenden Gesetze des Lebensmittelmarktes nicht ändern können. Sie können sich vielleicht ein Produkt kaufen, das sie besonders schätzen, aber die Spielregeln des Marktes können sie nicht ändern. Lug und Trug der Hersteller und des Handels werden weiter bestehen, auch wenn Verbraucher so kundig wie möglich einkaufen. Wer nicht weiß, wie viel Uran im Mineralwasser ist, kann nicht das Mineralwasser ohne Uran kaufen. Wer die Anbieter von Gammelfleisch nicht kennt, kann nicht den Anbieter von gutem Fleisch auswählen. Wer die Behörden nicht verklagen kann, weil diese die Lebensmittelgesetze nicht strikt anwenden, ist der Willkür der Lebensmittelindustrie ausgeliefert. Und wer nach dem unbeabsichtigten Verzehr eines Dioxinschnitzels keinen Schaden geltend machen kann, kann auch nicht auf Entschädigung klagen.
Im Jahre 2002 habe ich deshalb die Organisation »foodwatch« gegründet. foodwatch will den Verbrauchern vermitteln, dass sie machtlos sind, machtlos gegenüber Täuschung und Betrug, machtlos gegenüber der Gefährdung ihrer Gesundheit durch Nahrungsmittel. foodwatch stellt die Frage, wie man den Lebensmittelmarkt ändern kann. Wenn Verbraucher sich zusammenschließen und organisiert handeln, können sie die Spielregeln verändern – zugunsten der Verbraucher. Dieses Buch will Verbraucher motivieren und ermutigen, sich zu organisieren und zu wehren – sich nicht länger abspeisen zu lassen! Um den Markt für Lebensmittel zu analysieren, gibt es wenig Materialien und Hilfsmittel, kaum Literatur. Das Lebensmittelrecht ist ein undurchsichtiger Paragraphendschungel. Es wird von einer kleinen Anzahl Experten beherrscht, die für die Industrie oder die Behörden arbeiten. Lebensmittelrechtler, die als Anwälte auch für Verbraucher tätig sind, gibt es kaum, weil es keine Verbraucherorganisationen gibt. An Informationen und Hintergründe von Skandalen kommt man nicht heran, weil es, anders als im Umweltrecht, eben keine Informationsrechte gibt. Und die Verzahnung der europäischen Subventionslandwirtschaft mit einer undurchsichtigen Bürokratie und der Nahrungsmittelindustrie macht die ganze Thematik komplex und kaum zu durchdringen. »Abgespeist« schöpft deshalb vorwiegend aus den Erfahrungen und dem angesammelten Wissen des kleinen Teams von foodwatch in den letzten Jahren. Es gründet sich auf zahlreiche Recherchen, Expertisen und Analysen, die zum großen Teil bisher nicht veröffentlicht sind. Dass dieses Buch geschrieben werden konnte, geht auf die gemeinsame Leistung und Anstrengung des foodwatch Teams zurück.
Der Lebensmittelmarkt dient den Interessen der Nahrungsmittelindustrie und nicht uns Kunden. Wir haben keinerlei Einfluss darauf, die Zustände zu ändern, denn schuld sind die falschen Spielregeln.
Immer sind es Zufallsfunde. Wie 2006, als ein ehrbewusster, dem traditionellen Handwerk verpflichteter Metzgergeselle in Bayern die Behörden erst auf die Spur setzt. Oder Zollbeamten bei Ein- und Ausfuhren von Fleisch auffällt, was die Lebensmittelkontrollen nicht erkannt haben: Dass nämlich mit Gammelfleisch gehandelt wird. Es wird überall verzehrt und wir, die Verbraucher, sollen nichts davon merken. Gammelfleisch – in Form von Gulasch, Döner, Bratwurst, China- oder Jägerpfanne. Verarbeitet auch zu Brühwürfeln, Tortellinifüllung oder Gelatine in Gummibärchen. In München, Hamburg, Berlin – überall in Deutschland haben gammelige Schnitzel, Putensteaks, Hähnchenfrikassee oder Rindfleischstücke gelagert. Und sie lagern noch.
Gammelfleisch ist das Unwort der letzten Jahre. Der Begriff meint Fleisch, das man fürchten muss, jede Art von Fleisch, die verdächtig sein kann. Gammelfleisch ist ein Codewort geworden für all die Lebensmittel, von denen man nicht weiß, wo sie herkommen, wie sie hergestellt wurden und was man ihnen zugesetzt hat. Auffällig ist bei den Gammelfleischskandalen der jüngsten Zeit: Niemals wurde ein Fleischgroßhändler von einem seiner Abnehmer, einem Restaurant, einem Wurstfabrikanten wegen des Verkaufs von Fleisch angezeigt, dessen Haltbarkeitsdatum längst abgelaufen war. In keinem einzigen Fall ist bekannt geworden, dass ein derart angeblich Betrogener seinen Betrüger vor den Kadi bringen wollte. Kein Wunder: Weil anrüchiges Fleisch sehr viel billiger angeboten wird als solches, das allen gesetzlichen Ansprüchen auf Hygiene und Gesundheit genügt. Weil alle, die es abnehmen, wissen, dass sie einen krummen Deal eingehen.
Zu einem Betrug gehören freilich immer zwei – der Täter und der Betrogene. Im Falle des Gammelfleisches kann davon erst einmal keine Rede sein: Beide Seiten, Großhändler wie Verarbeiter, wissen, was sie tun – und bilden insofern eine kriminelle Vereinigung. Eine, die weiß, dass ihr kaum auf die Spur zu kommen ist. Warum auch? Der Hehler eines Bilderdiebs wird auch nicht mit dem Finger auf den Dieb zeigend ausrufen: Nehmt ihn fest, er hat ein Gemälde gestohlen! Der wirklich Betrogene ist der Konsument. Aber der kann den Betrug nicht feststellen, dem Döner sieht man das Gammelfleisch nicht an. Die Magenkrämpfe danach? Wer kann beweisen, woher sie kommen?
Wir alle sind dem Gammelfleisch ausgeliefert – und nicht nur ihm. Chips mit Acrylamid, Uran im Mineralwasser, Cumarin in Zimtsternen, dioxinvergiftete Schnitzel, mit Pestiziden belastetes Gemüse: Wir, 80 Millionen Menschen in Deutschland, die eigentlich die Macht haben müssten, Hersteller und Händler von Lebensmitteln anzuhalten, Qualität zu fairen Preisen zu liefern, beobachten fassungslos und ungläubig, wie man uns Gammelfleisch oder mit Giftstoffen belastete Nahrungsmittel serviert; lassen frustriert die wohlfeilen Beschwichtigungen der Politiker über uns ergehen, es seien nur einzelne schwarze Schafe am Werk, die mit krimineller Energie vorgingen. Wir, die Kunden, die eigentlich König sein müssten, ahnen aber auch, dass etwas grundsätzlich nicht stimmt mit dem Lebensmittelmarkt. Und spüren vor allen Dingen, dass wir eben keine Macht haben, uns zu wehren und die Verhältnisse zu ändern.
Im Gegenteil: Wir sind kein Teil des politischen Spiels, in dem Interessen austariert werden, kein Machtfaktor auf der politischen Bühne, wo es auf Transparenz und Informationsrechte ankäme. Stattdessen wird in schamloser Umkehrung der Tatsachen der Verbraucher denunziert. Er soll an den Gammelfleischskandalen selber schuld sein, heißt es abfällig, er will bloß Billiges. Schnäppchenjäger werden Menschen genannt, die auf den Preis achten und es auch tun müssen: Schnäppchen – eine verächtlich gemeinte Vokabel. So wie der Ton vieler Kritiker am Gammelfleischsystem voller Dünkel ist, wenn sie »Geiz ist geil« sagen: Als ob Verbraucher, die nicht so viel Geld haben, das Recht verwirkt hätten, einwandfreie Lebensmittel zu kaufen, die sie sich leisten können.
Sicher fehlt es auch an Kontrolleuren, vor allem an denen, die von den zu kontrollierenden Betrieben unabhängig sind. Aber selbst wenn man alle Straßenverkehrspolizisten über Nacht zu Lebensmittelkontrolleuren umschulen würde, wäre die Misere nicht beseitigt. Denn mehr Personal hieße noch lange nicht, dass noch mehr Skandale publik würden, dass es bald nur noch gesetzestreu arbeitende Fleischbetriebe gäbe. In Bayern beanstanden die Lebensmittelkontrolleure Jahr für Jahr 30 Prozent des untersuchten Frischfleisches, knapp die Hälfte davon wegen gesundheitlicher Risiken. Auch in der deutschen Hochburg der Fleischproduktion, in Niedersachsen, liegt die Beanstandungsquote bei 30 Prozent. Jahr für Jahr. Ohne dass sich etwas ändert. Ohne dass die Verbraucher erfahren, wer wo wann gepfuscht hat. Keine Rede kann deshalb davon sein, dass zu wenig entdeckt würde. Wandert das beanstandete Fleisch dann in die Abfalltonne, wird es als »Wirtschaftsgut« weitgehend unkontrolliert weiter gehandelt, national, europäisch, global. Es zu exportieren und dann, zu Würsten verarbeitet, wieder nach Europa zu importieren, ist ein leichtes. Transparenz über Transportwege, Herkunft und »Rückverfolgbarkeit«? Fehlanzeige! Uns Verbraucher so zu verdummen, uns so abzuspeisen verstößt aber nicht gegen die Gesetze. Im Gegenteil. Wir werden ganz legal betrogen.
Etwas Grundsätzliches ist faul mit unserem Lebensmittelmarkt. Dieser ist nicht für die Konsumenten da – er funktioniert nach der umgekehrten Logik: Wir Verbraucher finanzieren einen Markt, der Landwirten, Industrie und Bürokraten dient. In den Supermärkten verwirren die Aufschriften auf den Nahrungsmitteln mehr, als dass sie uns aufklären. Ein »Formschinken« ist kein Schinken, sondern ist ein aus Fleischresten zusammengepresster, essbarer Gegenstand. Ein »natürliches Aroma« in einem Erdbeerjoghurt hat nichts mit Erdbeeren zu tun, sondern ist ein Geschmacksstoff, der aus einem natürlichen Holzpilz gewonnen wird. Mit Marinaden wird häufig minderwertiges, womöglich ungenießbares Fleisch geschmacklich übertüncht; in den Kühltheken findet sich Milch in Verpackungen, deren Aufdrucke uns romantisierend signalisieren, wir kauften mit ihr ein Produkt von glücklichen Kühen. Ein Irrtum!
Das Grunddilemma ist der Mangel an Teilhabe, an echter Macht der Käufer. Der Markt für Lebensmittel ist keiner für uns Käufer, weil es uns an Informationen fehlt, an Durchsichtigkeit der Interessen und Strukturen und an Möglichkeiten, Täter zu bestrafen und in die Haftung zu nehmen. Nicht einzelne schwarze Schafe sind es, die uns verunsichern, die uns dazu bringen, ängstlich zu sein vor Essen und Trinken. Nicht nur einzelne Fleisch- oder Lebensmittelhändler sind es, die dem Rest der Branche den guten Ruf verhageln.
Machenschaften, Mafia, schwarze Schafe: Das sind die Stichworte, mit denen wir abgespeist werden, vor allem, wenn es um Fleisch geht. Dabei ist es die Struktur des Fleischmarktes selbst, die die Probleme schafft und uns Verbraucher schädigt. Was uns als Ausnahme verkauft wird, hat System: Wir können nicht erfahren, welcher Fleischhändler, welcher Schlachtbetrieb im Fadenkreuz der Kontrolleure steht. Wir sollen nicht wissen, wer gerade wieder mit der Verletzung von Hygienebestimmungen aufgefallen ist, wer einmal mehr Gammelfleisch verkauft hat oder Kängurufleisch als Wild ausgibt. Und sollten wir einmal zufällig erfahren, dass wir ein Dioxinschnitzel verzehrt haben: Das Beweisstück ist verspeist und damit nicht mehr existent, und damit auch die rechtliche Grundlage für eine Entschädigung. Soll doch der Verbraucher beweisen, dass er von diesem bestimmten Schnitzel krank wurde, vielleicht sogar Krebs bekommen hat. Kann er nicht? Pech gehabt!
Leidtragende sind auch all jene Produzenten, die auf Qualität Wert legen. Die Dummen, die auf die Einhaltung von Gesetzen achten; und diejenigen, deren Ehrgeiz es ist, besonders gutes Fleisch herzustellen und anzubieten. Denn es lohnt sich nicht, gegen einen Markt zu arbeiten, in dem sich Gammelfleisch als Qualitätsware anpreisen lässt – und uns Verbrauchern nur bleibt, den Preis einer Ware als Kriterium für deren Güte zu nehmen. Wer aber als Information am Markt nur den Preis hat, neigt dazu, das günstigste Produkt zu wählen – zumal Produkte, die teurer sind als ähnliche und vergleichbare, nicht besser sein müssen. Mehr Geld auszugeben lohnt sich in der Tat nicht: Die Qualität der Lebensmittel spiegelt sich nicht im Preis.
Der Lebensmittelmarkt verdient unser Vertrauen nicht. Vertrauen speist sich aus Wissen und Erfahrung und aus der Gewissheit, mit seinem Kauf ein Urteil über die Qualität des Produktes zu fällen. Jeder Autofahrer weiß, dass kein Automobilkonzern es sich leisten kann, Kraftwagen auf dem Markt anzubieten, deren Bremsschläuche schon vor dem ersten Fahrkilometer porös sind. Die Folgen wären straf- wie zivilrechtliche Prozesse gegen den Hersteller. Im Lebensmittelbereich gilt dieser Mechanismus nicht. Wer vergiftende oder gammelige Produkte auf den Markt bringt, muss noch lange nicht die Ungnade der Kunden, schon gar nicht die geballte Kraft des Rechtsstaates fürchten. Vertrauen darf ein Hersteller darauf, dass das Bußgeld, das er höchstenfalls kassieren muss, nicht mehr als seine Portokasse belastet. Und so lange es billiger ist zu betrügen als Qualität anzubieten, wird sich das auch nicht ändern.
Uns fehlt ein fundamentales Mitspracherecht – das zeigt sich bei den einfachen Delikatessen des Alltags – wir bekommen sie nämlich gar nicht mehr! In Bayern ist die Brez’n, unverzichtbar zu Weißwürsten und Bier, einst mit perfektem Backhandwerk hergestellt worden. Inzwischen darf eine Brez’n auch dann Original Bayerische Brez’n heißen, wenn sie so hergestellt wird, dass ihr Geschmack aufgeblasenen Schaumgebilden gleich kommt und die tiefgefrorenen Rohteiglinge aus China stammen. Zuerst mussten durch den Wettbewerb die Kosten gesenkt werden – also benötigte man Maschinen, um den Teig zu kneten, die Brez’n wurden nicht mehr mit der Hand geflochten. Dann stellte sich heraus, dass der Teig für dieses maschinelle Verfahren zu brüchig ist – also musste dem Teig mit chemischen Zusätzen, Emulgatoren, nachgeholfen werden. Schließlich war auch die Rezeptur, einen solchen Teig einen Tag lang liegen zu lassen, zu teuer – und wiederum kamen chemische Mittel zum Einsatz, Triebmittel, Zusatzstoffe und andere Helferlein. Mit der ursprünglichen Brez‘n hat dieses chemisch stabilisierte Gebilde nichts mehr zu tun!
Nein, wir Verbraucher haben nicht nach so einer Brez’n gefragt. Erst seit 2005 gibt es überhaupt die Möglichkeit, in Bäckereien oder an Backwarenständen in Supermärkten zu erfahren, was alles an Zusatzstoffen und Zutaten in der Brez’n und anderen Backwaren drin ist. Die Pseudobrez’n ist dem Verbraucher untergejubelt worden, heimlich und leise – ein subtiler Betrug, der nur deshalb funktioniert, weil kaum jemand mehr weiß, wie eine richtige Brez’n überhaupt einmal geschmeckt hat. Heimlich untergejubelt, weil Bäcker genau wissen, dass das nicht in Ordnung ist, denn sie sind ja auch Konsumenten.
Wir haben keine echte Chance, jene Hersteller von traditionell gebackenen Brez’n, die es noch gibt, auch über den Preis zu belohnen. Vielleicht gibt es echte Brez’n bald nur noch bei Versandfirmen und in Geschäften, die sich auf luxuriös wie nostalgisch anmutende Produkte spezialisiert haben – Lebensmittel als Ausdruck eines Lifestyles. Dagegen ist nichts einzuwenden – aber wenn gute und gesunde Nahrung nicht mehr für alle zu kaufen möglich ist, werden Lebensmittel zu Gefahrengütern. Und der Staat schaut zu!
Die Parolen gerade aus der alternativen Ecke, der Verbraucher müsse nur bewusst einkaufen, am besten mit einem Biosiegel versehene Produkte, sind wohlfeil. Wir reden jedoch nicht über einen Nischenmarkt, sondern über Lebensmittel für alle. (Der Biosektor macht nur viereinhalb Milliarden Euro des Umsatzes von 150 Milliarden Euro im Lebensmittelmarkt insgesamt aus.) Auf das Ökologische zu setzen, ist richtig und hat eine gute Presse. Doch ist das keine Lösung für das politische Strukturproblem. Denn das Plädoyer für Bioprodukte ignoriert, dass alle Nahrungsmittel gesund und sicher sein müssen.
Dieses Buch ist kein Ratgeber für gute Ernährung, auch kein Rezeptbuch für den klügeren Einkauf. Nur soviel: Billig ist nach allem, was wir wissen, nicht notwendigerweise schlechter als teuer. »Abgespeist« handelt von einem Markt, an dem wir Verbraucher zwangsweise teilnehmen müssen und doch nicht mitbestimmen dürfen. In den meisten gesellschaftlichen Bereichen ist unser Land nicht mehr obrigkeitsstaatlich organisiert – vor allem im Umweltbereich nicht. Seit Anfang der siebziger Jahre haben der Protest und die Empörung von Millionen Menschen über verdreckte Meere, Flüsse und Bäche, über dioxinvergiftete Mülldeponien, schadstoffschleudernde Automobile und giftausstoßende Industrieschlote zu einer besseren Umwelt geführt. Und dieser Protest hat darüber hinaus ein Umweltrecht etabliert, das es ohne die politische Arbeit und den Druck von Menschen und ihren Organisationen nicht gegeben hätte.
Der Nahrungsmittelmarkt wie auch das Verbraucherrecht hinken dieser demokratischen Entwicklung um Jahrzehnte hinterher. Geschützt werden die Interessen von Industrien, Handel und ihren Lobbys. Verbraucher und ihre Bürgerrechte auf Information und Auswahl zwischen verschiedenen Anbietern spielen buchstäblich keine Rolle – sie dürfen nur bezahlen. Und das tun sie, aller Diffamierung zum Trotz, häufig ökonomisch klug, nämlich möglichst preisgünstig. Wenn man ihnen schon nicht zugesteht, zwischen Qualitäten zu unterscheiden, dann ist Sparsamkeit die erste Tugend, dann ist Geiz im besten Sinne geil!
Woran es vor allem fehlt, ist eine Macht der Verbraucher selbst. Die Vorstellung, dass wir Verbraucher mächtig sind, weil sich über unseren Konsum entscheidet, welches Produkt am Markt bestehen kann, führt in die Irre. Warum? Weil wir Lebensmittel kaufen müssen, wenn wir nicht verhungern wollen. Uns bleibt keine echte Wahl – nur Misstrauen dem Markt gegenüber.
Die These, der Verbraucher habe Macht, er könne ja mit dem Einkaufswagen entscheiden, ist Illusion und bequeme Ausrede für die Politik, nicht zu handeln. Nicht die Verbraucher müssen sich ändern, sondern die Regeln des Marktes. Nicht der Einzelne hat es in der Hand zu steuern, dass sich die Verhältnisse bessern. Ein Einzelner hätte auch an verdreckten Gewässern nichts ändern können oder an den Emissionen der Kraftwerke. Ändern können Verbraucher nur etwas, wenn sie sich zusammenschließen und ihre Interessen gemeinsam vertreten. In Organisationen, die ihnen eine Marktmacht verleihen und einen politischen Stellenwert, der nicht ohnmächtig ist und vor den Industrien und Handelsketten kuscht oder mit ihnen kungelt. Organisationen, die den Regierenden mehr als nur Alibigesten abverlangen. Woran es fehlt, ist eine Macht, die den Einzelnen nicht mehr allein lässt in seiner Hilflosigkeit, wenn er sich beim Lebensmitteleinkauf in dem Labyrinth voller Rätsel bewegt, das ein Supermarkt heutzutage ist. Der Verbraucher, im Supermarkt allein zuhaus’!
Der Lebensmittelmarkt könnte dann ein echter Markt werden, wenn wir Verbraucher wirklich wesentliche Informationen und nicht nur Werbeslogans beim Einkaufen bekämen, wenn wir erführen, was einen echten Leberkäs’ von einem so genannten Leberkäse unterscheidet oder eine echte rote Grütze von einer so genannten roten Grütze. Wenn wir diesen Unterschied auch beim Einkaufen erkennen könnten. Wenn die Hersteller, die auf Qualität setzen, diese auch belohnt bekämen – dann wäre der Kunde König, wie es sein soll in einem gut funktionierenden Markt.
Solange die Nahrungsmittelindustrie jedoch alle Macht hat, uns Verbrauchern Massenware als Qualität zu verkaufen, solange die Nahrungsmittelindustrie folgenlos Gesetze missachten darf, solange wir Verbraucher keine Möglichkeit haben, uns zu wehren, solange ist dieser Markt kein echter Markt: Wir sind nur ohnmächtige Randfiguren, die den Mund zu halten haben. Wir werden einfach abgespeist!
Wir Verbraucher werden über Produkte nicht wirklich informiert und haben kein Recht auf Information. Wir werden beim Einkauf belogen, betrogen und bewusst getäuscht.
Der Supermarkt ist ein Ort, der uns angeblich kostbare Zeit schenkt. Wir kommen nicht umhin, Lebensmittel dort zu erwerben, weil es eben dort »alles« in kürzester Zeit zu kaufen gibt. Um Zeit geht es bei uns immer, um das knappste Gut von Erwachsenen. Wir, das sind die Verbraucher. Bei Lebensmitteln haben wir keine Wahl, wir können nicht anders, als Zeit aufzuwenden, denn wir müssen essen und trinken. Das wissen auch die Betreiber jener Konsummärkte, in denen es um das Nötige, ja, um das Grundsätzliche geht: um Nahrung, um Getränke, um das, was der Mensch zwingend braucht, um überhaupt existieren zu können. Der Supermarkt, wir kennen das alle aus eigener Erfahrung nur zu gut, lockt mit Zeitersparnis. Manchmal sogar mit der Versicherung, man bekomme eine gewisse Summe Geld als Gutschein spendiert, müsse man länger als fünf Minuten in einer Kassenschlange warten. Das ist nur selten der Fall – aber die Verlockung steht symbolisch für das Prinzip Supermarkt schlechthin: Alles muss schnell gehen. Im Lebensmittelmarkt mögen wir nicht lange sein – im Unterschied zu Einkaufsstätten von Artikeln, die nicht zum täglichen Bedarf zählen, etwa Kosmetika, Elektrowaren, Haushaltsgeräte, Möbel, Autos. Der Supermarkt ist der große Bequemmacher in der Nahrungskette – an der Schnittstelle zwischen Lebensmittelproduzenten und Verbrauchern. Wer in einem Supermarkt nicht das Gewünschte findet, hat keine unmittelbare Alternative. Geht deshalb nicht – weil zeitraubend – noch woanders hin. Doch die »geschenkte« Zeit hat ihren Preis. Die Minuten und Stunden, die wir in einem Supermarkt verbringen, empfinden wir nicht als Lust oder Vergnügen, sondern als unentrinnbares Übel.
Und das, obwohl ein Supermarkt angerichtet ist wie eine leibhaftige Verkörperung vom Land, in dem Milch und Honig fließen, ein Schlaraffenland, von dem unsere Vorfahren nur träumen konnten. Ein Warenfluss, der beinahe überquillt und mit Warenflüssen anderer Supermärkte konkurriert. Alle Supermärkte leben von Verführung – und von Täuschung. Und wir, die Verbraucher, sind die Objekte der Verführung: Wir sind es, deren Wichtigstes man will: Geld. Informationen und Aufklärung über das, was gut ist, was sich hinter den Produkten verbirgt, erhalten wir keine. Wir stellen nur Irrsinn fest: Katzenfutter ist teurer als Schnitzel, Hundekost teurer als Babynahrung. Wir müssen uns in Supermärkten ausschließlich auf unsere Gefühle verlassen. Ein Paradies für Konsumenten bleiben Supermärkte trotzdem. Es ist einfach zu verlockend, dort fast alles zu bekommen – und nicht stundenlang verschiedene Fachgeschäfte besuchen zu müssen.
Doch wer einen Supermarkt verlässt, dem bleibt oft ein ungutes Gefühl: Mein Einkaufskorb ist voll, aber was ist wirklich drin? Das Gefühl trügt nicht. Ein Gang durch den Supermarkt beweist: Wir Kunden werden mit unserem Bedürfnis, gut einzukaufen und uns gut zu ernähren, im Stich gelassen – Orientierung erhalten wir nicht.
Im Supermarkt wird nichts dem Zufall überlassen, damit die Verführung von uns Konsumenten gelingt. So ähnelt die Obstund Gemüseabteilung gelegentlich eher einem Bauernhof oder einer«Frischeplantage« als einer Supermarktabteilung. Die Auslagen sind nicht planlos mit grünem Dekorationspapier ausgelegt – grün ist die Farbe, die der Kunde mit Frischem, mit Natürlichem, mit Naturhaftem assoziiert.
Produkte, die gute Gewinnmargen bergen, sind mittig, in der Höhe der greifenden Hände angeordnet; Produkte, die preisgünstiger sind und doch die gleiche Qualität aufweisen, finden sich in unteren Regalfächern, »Bückware« genannt. Lebensmittelhersteller, die ihre Produkte in Griffhöhe platziert haben möchten, müssen dafür bezahlen – sonst wandern sie in höhere oder niedrigere Regalbereiche. Auch Licht wird verkaufsfördernd eingesetzt. Vor allem Wurst-, Fleisch- und Käsetheke sind in den Supermärkten gehobener Preisklasse verführerisch illuminiert. Die Lichtfrequenz ist so ausgewählt, dass die Fleisch- und Wurstware appetitlich rosa-frisch und nicht grau erscheinen. Psychologisch sind wir Kunden, in Marktforschungen ausgehorcht, perfekt durchgescannt. Da die meisten Menschen rechtshändig sind, weiß man, dass sie alle einen leichten Rechtsdrall in ihren Alltagsbewegungen haben, also auch im Supermarkt. Gegen den Uhrzeigersinn soll der Kunde gehen – das verschleppt sein Tempo ein wenig. Zuerst durch die Gemüse- und Obstabteilung, in der Mitte soll er auf die Molkereiwaren treffen, am Ende auf alkoholfreie Getränke, Alkohol jedoch steht nicht unmittelbar im Kassenbereich. Das, weiß die Kundenforschung, schätzt der Verbraucher nicht so sehr, muss er seinen Schnaps nah der Kasse in den Einkaufswagen stellen. Er könnte von anderen missliebig beobachtet werden. Filialleiter sind gehalten, regelmäßig ihre Regale umzusortieren: Der Kunde möge stetig leicht irritiert werden, denn solange er sich im Laden aufhält, ist er kaufbereit – muss ein Kunde suchen, so findet er nicht allein das Gewünschte, sondern auch noch anderes. Frauen allerdings sind unentschlossener, offener für Neues als Männer: Ungeklärt ist für Supermarktforscher nach wie vor, wie man Männer quasi dazu umerziehen kann, ohne präzisen Einkaufszettel in den Supermarkt zu gehen. Denn die meisten Männer kaufen zum Kummer der Supermarktstrategen absichtsvoll mit einem inneren oder echten Einkaufszettel ein – nehmen sich jedenfalls keine Zeit, um sich von anderen Produkten verführen zu lassen.
Der Laden, der alles bietet, was früher an einzelnen Marktständen oder im Fachhandel zu erwerben war, ist eine amerikanische Erfindung aus dem späten 19. Jahrhundert, obendrein eine, die in der Metropole aller Metropolen, in New York zuerst ausprobiert wurde. In Deutschland öffneten erstmals in den frühen fünfziger Jahren Lebensmittelgeschäfte als Selbstbedienungsmärkte. Inzwischen haben sich die Verhältnisse umgedreht: Läden, in denen hinter einem Tresen oder einer Theke jeder Artikel bedient wird, sind rar geworden. Im Supermarkt entscheidet sich, was gegessen wird und was nicht. Nur wenige dieser Lebensmittelkaufhäuser zählen nicht zu den Großen Fünf der Branche – Metro, Rewe, Edeka/AVA, Aldi und Schwarz (Lidl). Aber sie alle funktionieren nach dem gleichen Prinzip: Verführung als Spielregel, die in einem Labyrinth des Warenüberflusses zum Einsatz kommt.
Beginnen wir unseren Rundgang durch den Supermarkt mit der Obst- und Gemüseabteilung: Äpfel, Apfelsinen, Kartoffeln, Suppengrün, Tomaten, einige Exotika aus Übersee – und am Rand eine kleine Ökoecke. Äpfel, die biblische Urfrucht, wurden noch in den fünfziger Jahren in mehreren hundert Sorten gehandelt, inzwischen nur noch mit derer sechs: Gezüchtet nicht nach Vielfalt, Geschmack und Bekömmlichkeit, sondern nach den Maßgaben der Europäischen Union, geprüft auf Haltbarkeits- und Lagerfähigkeit, sollen sie schön aussehen – ohne faule Stellen. Gleichmäßig glatt, rund, glänzend auch die Einheitstomaten – die einstige Sortenvielfalt gehört der Vergangenheit an. Fast alle schmecken inzwischen nach jenen niederländischen Exemplaren, die in den siebziger Jahren die Tomate als geschmacklos diskreditiert haben. Bereits in diesem Teil des Supermarktes werden wir in die Irre geführt und getäuscht. Denn die schöne, bunte Obst- und Gemüsewelt verbirgt, dass wir praktisch mit jedem Pfirsich, jeder Orange auch Pflanzenschutzmittel zu uns nehmen. Dem Kunden soll nicht auffallen, was sich hinter dem schönen Schein der Oberfläche verbirgt. Die Desorientierung ist kein Zufall – sondern hat System.
Ziel des Supermarktes ist nicht, die Verbraucher ins Bild zu setzen, sondern Waren zu verkaufen. Das weiß gewiss auch das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, kurz: BVL, das Jahr für Jahr ein so genanntes Lebensmittelmonitoring durchführt. Diese Bundesbehörde, möchte man annehmen, muss uns doch schützen. Sie prüft nämlich – und zieht Bilanz. So sieht das etwa für die Gemüse- und Obstabteilung aus: In einer 2006 veröffentlichten Untersuchung des BVL zeigte jede dritte Paprika Belastungen, manche mit 18 verschiedenen Pestiziden. In Rucola waren in mehr als neunzig Prozent der Proben Pestizide nachweisbar. Für das Jahr 2005 stellte die Behörde fest, dass mehr als 85 Prozent der Birnen und Pfirsiche und fast alle ungeschälten Orangen Rückstände von Pestiziden aufwiesen. Bei 15 Prozent der Pfirsiche wurden die gesetzlich festgesetzten Höchstmengen deutlich überschritten – eine Verdoppelung gegenüber 2002. Wie bitte? Jeder sechste Pfirsich ist eigentlich nicht genießbar – und was macht das BVL? Schlägt die Behörde Alarm, geht mit den Befunden zur nächsten Staatsanwaltschaft? Nein, wir hätten es wissen können. Stattdessen resümiert die Behörde des Landwirtschafts- und Verbraucherministeriums: »Aus Sicht des BVL ist es zweckmäßig, dass Importeure und Handelsunternehmen mit festen Partnern in der Landwirtschaft kooperieren und mit diesen praktikable Eckpunkte zum Pflanzenschutz festlegen, in denen beispielsweise die verwendeten Wirkstoffe und Anwendungsbedingungen festgelegt werden.« Darüber hinaus hält die Behörde fest, dass sich in den geprüften Obst- und Gemüsechargen Pestizide fanden, die hierzulande verboten sind – oder nicht einmal bekannt. Eine Bankrotterklärung des Verbraucherschutzes – weil selbst die freimütige Analyse folgenlos bleibt. Anders formuliert: Der Supermarkt erhält so als potenzielle Giftmüllhalde quasi auch noch die staatlichen Weihen! Man fasst sich an den Kopf: Eine staatliche Stelle will nicht handeln, wie es einem Staat zusteht: Als Hüter von Gesetzen hätte sie dafür sorgen müssen, dass ein Gesetzesbruch bei der Staatsanwaltschaft angezeigt wird. Stattdessen fordert sie die Hersteller und Konzerne auf, mal miteinander zu reden und die Sache des Gifts unter sich auszumachen!
Weiter durch das Labyrinth im Supermarkt. Täuschung und Verwirrung auch in der Getränkeabteilung. Was ist ein Saft? Ist das, was wie ein Orangensaft aussieht, auch wirklich ohne Zusatzstoffe aus Apfelsinen gewonnen? Tatsächlich muss man das Kleingedruckte lesen. Steht »aus Apfelsinensaftkonzentrat« auf einer Packung, ist beim Hersteller das aus Orangensaft gewonnene Konzentrat mit Wasser aufgefüllt worden. Möglicherweise – nur ein Blick mit einer starken Lupe hilft dies genauer zu erfahren – ist dieser Saft mit einem der in der Europäischen Union zugelassenen Aromen aufgepeppt worden – »künstlichen«, »naturidentischen« oder »natürlichen«?
Wundern Sie sich nicht über diese Fakten, die uns ratlos machen. Diese Konfusion hat System. Ein Fruchtsaftgetränk ist ein mit Wasser verdünnter Fruchtsaft, dem garantiert noch Aromen und meist Säuerungsmittel zugesetzt wurden – 30 Prozent nur muss der Anteil des wirklichen Fruchtsaftes bei Kernobst oder Trauben betragen, bei Zitrusfrüchten sind es nur sechs Prozent. In der einschlägigen Herstellungsrichtlinie steht bezeichnenderweise, dass der Fruchtgehalt aus der angegebenen Frucht stammen und das Fruchtsaftgetränk den Geschmack derselben enthalten muss. Fruchtnektar – ein Name, der anheimelnd klingen soll, suggeriert, dass er das Beste vom Besten einer Frucht enthält – ist weniger stark verdünnter Fruchtsaft. Er birgt je nach Fruchtart lediglich 25 bis 50 Prozent Fruchtsaft. Zucker und Honig dürfen immerhin bis zu 20 Prozent hinzugesetzt werden. Nur Fruchtsaft mit der Angabe »Fruchtgehalt 100 Prozent« – auf der Packung steht dann befremdlicherweise »Direktsaft« – muss frei von Zusatzstoffen sein. Immerhin erlaubt es die EU-Richtlinie, auch diesem so genannten Direktsaft noch bis zu 15 Gramm Zucker auf einen Liter hinzuzufügen, ohne dass dies ausgewiesen werden müsste.
Informationen, Werbeaussagen über Lebensmittel hinterlassen ein ungutes Gefühl – weil sie Eigenschaften beschwören, die die Lebensmittel immer weniger besitzen und nach denen umso stärkere Sehnsüchte bestehen. Gesund, frisch, natürlich – so wollen wir Lebensmittel haben. Der »gesunde Durstlöscher«, ein Produkt des Unternehmens Eckes-Granini, wirbt: »Fruchttiger ist ein gesunder Durstlöscher, deren fruchtige Sorten genau auf den Geschmack von Kindern abgestimmt sind. Mit 7 Vitaminen kann Fruchttiger somit zur gesunden Entwicklung des Kindes beitragen.« »Fruchttiger« ist ein mit Wasser aufgefülltes Fruchtkonzentrat, enthält Zitronensäure, die die Zähne stark angreift, ferner die Süßstoffe Acesulfam und Aspartam sowie eine Phenylalalinquelle. Auch Milchgetränke versprechen mehr Gesundheit und suggerieren, je mehr man konsumiere, desto gesünder werde man. In Wahrheit finden sich gerade in solchen Milchmischgetränken bisweilen Rekordzuckergehalte: Im Kinderdrink »Biene Maja« von Bauer sind 16,4 Gramm auf ein 100-Milliliter-Fläschchen enthalten – was der Menge von 4,4 Stück Würfelzucker entspricht, pro Liter also 44 Stück Würfelzucker! Coca Cola nimmt sich dagegen wie ein Diätgetränk aus: Sie enthält umgerechnet auf einen Liter den Zuckergehalt von nur 28 Stück Würfelzucker.
Eine deutlichere Sprache spricht jene Werbung, mit der die Hersteller um die Gunst des Lebensmittelhandels buhlen – und die wir Kunden nicht zu lesen bekommen. »So lieben Kinder Milch!« annonciert die Firma Langnese in einer brancheninternen Zeitung über das neue Produkt »Langnese Milchzeit: Die gesunde Belohnung«. Denn dieses Produkt enthalte Kalzium, fettarme Milch und weniger Kalorien. Ein normales Speiseeis also – das aber irreführend mit dem Siegel der Gesundheit wirbt. Und damit auch möglichst viel davon verkauft werde, wird die »Schaffung neuer Verzehrsanlässe und Aufwertung der gesamten Speiseeis-Kategorie« – angestrebt. Denn darum geht’s: Das Speiseeis, als Dickmacher berüchtigt, soll zum Gesundheitsprodukt aufgefönt werden, wir Verbraucher dieser Verheißung Vertrauen schenken.
Diese Artikel finden wir auf unserem Gang durch den Supermarkt zumeist in den Kühlregalen, die um die Abteilung für Molkereiprodukte herumgruppiert sind. Dort finden sich auch viele andere Produkte für Kinder, die Zucker lieben. Zuckerhaltige, dickmachende Nahrungsmittel als gesunde Lebensmittel für Kinder zu verkaufen – das ist die Strategie der Lebensmittelindustrie. Um von den gesundheitlichen Schäden wie Diabetes, Übergewicht und Bluthochdruck, die zu hoher Zuckerkonsum verursacht, abzulenken, scheuen die Nahrungsmittelkonzerne das Wort Zucker wie der Teufel das Weihwasser. Die angebliche »Extraportion Milch« im beliebten »Kinder Riegel« von Ferrero soll offenbar den Kalzium-Bedarf der Kinder decken. Die Leckerei enthält Milchpulver, Butterreinfett, den Emulgator Sojalecithin und den Geschmacksträger Vanillin, der synthetisch aus dem bei der Zellstoffherstellung anfallenden Lignin gewonnen wird. Der Zuckergehalt wird auf dem Etikett geschickt hinter der Bezeichnung »Kohlehydrate« versteckt. Ein neunjähriges Kind müsste, um seinen Tagesbedarf an Kalzium zu decken, 13 Riegel essen – und würde damit gleichzeitig 38 Stück Würfelzucker und damit fast ein halbes Paket Butter zu sich nehmen. Zusammen mit dem Milchriegel gibt es auf der Packung Hinweise für Trainingstipps zum deutschen Sportabzeichen, »Sporttaler zum Sammeln für das passende Outfit« (z.B. Trainingshose). Seriosität verleiht der Kinder-Kalorienbombe schließlich der »Deutsche Olympische Sportbund« als Partner. Zucker ist für die Lebensmittelindustrie ein Anlass, lyrisch zu werden. Dann steht auf Verpackungen Saccharose, Glucose, Fructose, Lactose, Glucosesirup oder Maltodextrin: Haushaltszucker, Traubenzucker, Fruchtzucker, Milchzucker, hightechgewonnener Zucker aus Stärke sowie vorverdaute Stärke, die aus Traubenzucker besteht – so muss es entziffert werden. Aber Zucker, so oder so, bleibt Zucker, macht dick und ist nur in Maßen gut für die Ernährung. In der Werbung und auf Packungsaufschriften mag man dieses Wort nicht blank und bloß aussprechen, denn sonst würde der Käufer abgeschreckt. Dann lieber alles mit lebensmitteltechnologischer Lyrik glatt reden? Ja.
Eine lukrative Wachstumsnische der Lebensmittelindustrie besetzen die so genannten »Minidrinks« für die »tägliche Portion Wohlbefinden«. Erfolgreich im Wettbewerb ist ein Getränk namens »Fruit2day« der Firma Schwartau, die vor allem als Marmeladenproduzent bekannt ist. Fruit2day verspricht »Die tägliche Portion Obst in einer Flasche« – und dass dieses Produkt den Verzehr von echtem Obst ersetze. Das sei schon deshalb im Sinne des Herstellers einleuchtend, weil so genannte Fruchtstückchen in dem Getränk schwimmen, weshalb man es vor dem Verzehr schütteln soll. Auch der Hinweis »100 Prozent natürlich« ist Etikettenschwindel, denn das auf dem Etikett angeführte »natürliche Aroma« wird keineswegs aus Früchten des »Saftes«, sondern beispielsweise aus Holzpilzen gewonnen. »Ohne Zuckerzusatz« steht obendrein deutlich sichtbar auf der Verpackung – was irreführend ist, denn auch Fruchtzucker ist nichts anderes als Zucker. Um der besonders gesunden »täglichen Portion Obst« die nichts weiter als eine aus Fruchtsaftkonzentrat gewonnene Flüssigkeit ist, eine angemessene Glaubwürdigkeit zu verleihen, wird auf der Fruit2Day-Papppackung eine »deutsche Gesundheitskampagne« angeführt, als deren Teil sich dieses Produkt versteht. Diese Adresse spielt mit der Unterstellung, dass eine solche Aktion ein quasi behördlich-offizielles Siegel trägt. Na wenn der Staat schon seinen Segen gibt – dann kann es ja nicht schlecht sein! Falsch. In Wahrheit verbirgt sich dahinter die Deutsche Krebsgesellschaft e.V., die von der Pharmaindustrie getragen wird. Auf deren Website ist zudem nur von einer Gesundheitskampagne die Rede, keineswegs offiziell von einer »deutschen Gesundheitskampagne«.
Die Hälfte des Supermarktes haben wir bereits durchschritten – und sind erschöpft von all den Versprechungen, Verheißungen und Mutmaßungen. Ein strapaziöser Rundgang, ein Dschungel an Bildern, Eindrücken und Informationen, die nichts erhellen, sondern alles verdunkeln. Einkaufen wird zum Stress, zur Überforderung, die mindestens Unbehagen weckt. Die Information, die wir bekommen, ist nichts wert, weil sie nicht aufklärt über das, was tatsächlich Sache ist: Saft ist nicht Saft, sondern ein Wasser, das mit Konzentraten verrührt wurde; gesund ist nicht gesund – und der Zuckergehalt verschleiert, weil die nachvollziehbaren und korrekten Angaben uns sonst abschrecken würden. Wir als Verbraucher haben keine andere Wahl, als uns innerlich abzuschotten und uns mit dem Zustand der Unmündigkeit abzufinden. Wir hätten gern wirkliche Information – geliefert wird aber nur eine Reklamesprache, die darauf ausgelegt ist, unseren Verstand auszuschalten. Orwells »Neusprech« wird im Supermarktkosmos perfekt beherrscht: Echter Saft ist nur Direktsaft und was sonst noch Saft heißt, was gesund oder fitmachend genannt wird, sind beschönigende Formeln für Getränke, die eben nicht einlösen, was sie versprechen.
Nicht besser wird es in jenem Teil des Supermarktes, in dem dann die klassischen Molkereiprodukte angeboten werden. Joghurt, Quark, Milch, Milchmischgetränke, Sahne – pur und in allen möglichen Verarbeitungsformen. Niemand kann auf Anhieb erkennen, was gut ist, welche Produkte ohne Zusatzstoffe auskommen und mit Aromen angereichert worden sind. Schon die Milch gibt Rätsel auf. Weshalb ist die eine Sorte billig, die andere teuer? Weshalb kostet eine No-Name-Milch, oft aus der Region, 60