Abgestürzt im Trockenwald - Dornen des Chaco - Perry Payne - E-Book

Abgestürzt im Trockenwald - Dornen des Chaco E-Book

Perry Payne

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Beschreibung

Bei einem Routineflug stürzt die Beachcraft Bonanza in der grünen Hölle von Paraguay ab. Ohne Vorräte und Ausrüstung machen sich Joe, Dr. Engelmann und der Pilot Ruenco auf den gefährlichen Weg durch das unzugängliche Gebiet. Doch wie lange kann ein Mensch im Urwald überleben? Schnell stoßen die Männer an ihre Grenzen, und kämpfen gegen Durst, Hitze, Dornen und bösartige Insekten. Ohne Wasser bleibt ihnen jedoch nicht viel Zeit. Denn noch niemand zuvor hat den Chaco, die grüne Hölle Paraguays, unvorbereitet überlebt. Frei nach einer wahren Begebenheit

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„Drei Dinge helfen, die Mühseligkeiten des Lebens zu tragen: Die Hoffnung, der Schlaf und das Lachen.“ (Immanuel Kant)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Piranha

Anruf

Fahrt zum Flughafen

Sonne und Landschaft

Tropischer Trockenwald

Tag 1

Tomaten

Die Nacht kommt

Schneekugel

Happening

Der Umweg

Bitte, lieber Gott

Kälte und Dunkelheit

Bis der Tag zu Ende war

Letzte Begegnung

Epilog

Prolog

„Und geht es durch dunkle Täler, fürchte ich mich nicht, denn ich habe gesehen die Welt und das Leben und was auch immer geschieht.“

Damals, mit sechs Jahren, wusste ich nicht, dass ein Blick und die Worte zum Abschied die letzten sein könnten. Heute weiß ich, dass es jeden Tag so kommen kann und der Augenblick zählt. Ich verlasse mich nicht mehr auf die Zukunft oder irgendwelche Pläne, wie ich sie mir einst ausgeschmückt habe, sondern nehme den Tag und den Augenblick, wie er ist.

Dabei ist mir nicht einmal etwas Schlimmes zugestoßen. Doch musste ich mich fragen, ob es nicht viel erschreckender ist, wenn einem geliebten Menschen etwas widerfährt.

Ich möchte euch die Geschichte meines Daddys erzählen, die an einem normalen Tag, am 11. Februar 2004 begann und in einer eiskalten Ungewissheit seinen Höhepunkt fand.

Mein junges Leben war bis zu diesem Tag in bester Ordnung, wenn ich die vielen kleinen Dinge einmal ausnehme wie einen lauten Streit in der Familie hier, eine Schramme auf der Weide dort oder den abgefallenen Arm meiner geliebten Puppe. Viele Jahre später erkannte ich in dieser Unordnung eine gewisse Struktur innerhalb des Lebens und damit eine Routine und Ungezwungenheit. Vielmehr noch: Sie stellte den Eckpfeiler für mein unbekümmertes Leben dar und öffnete später den Geist für die Malerei und Romantik, für den bewussten Augenblick beim Spiel oder einen bedeutsamen Überblick, wenn andere Menschen längst in Hektik verfallen.

Heute weiß ich, dass eigene Erfahrungen und schreckliche Ereignisse einen abstrusen Blick auf die Welt offenbaren, der uns sonst in der täglichen Monotonie entgangen wäre. Beeinflusst von der Angst, von Geschichten anderer oder deren unglaublichen Erkenntnissen verhält sich unser Herz wie ein betörender Magier, der die Welt mit seinen Illusionen zu kaschieren vermag.

Ich war doch noch so klein, habe an die vergnüglichen Schmetterlinge, den bunten Regenbogen und den Weihnachtsmann geglaubt. Und an all das Gute in dieser Welt, das Spiel, die Freundschaft und sogar ein wenig an die Liebe und an einen linearen Lauf der Dinge. Nie habe ich daran gezweifelt, eines Tages selbst Kinder zu haben und ein eigenes Haus. Ich war mir sicher, Grandpa würde immer auf dieser Welt sein und ich selbst würde irgendwann Grandma werden. Meine Vorstellungen vom Leben standen fest. Bis zu diesem Tag, der alles auf den Kopf stellte.

Anscheinend hat das Leben seine eigenen Pläne mit jedem von uns. Da können wir uns noch so viel vornehmen und alles an unsere Ziele setzen, das Schicksal geht seinen eigenen Weg.

Aber der Reihe nach.

Der Tag begann völlig normal, das Wetter war herrlich und es war Sommer in Paraguay. Wenn ich mich ein wenig anstrenge, kann ich mich genau an die geräuschvollen Zikaden und den Geruch von trockenem Gras erinnern. Auch spüre ich fast noch die Blasen am Handballen und fühle das warme Flusswasser und wie meine Hände darüber glitten, als wäre ich wieder sechs Jahre alt und mit Dad auf dem alten Kahn.

Dieser Tag begann wundervoll und ich werde ihn nie vergessen. Aber anschließend wendete sich das Blatt und damit meine Einstellung und mein Leben.

Selbst wenn ich nicht an Gott glaube, obwohl einiges dafür spräche, glaube ich doch an das gerechte Gefüge, die Natur und an ein Schicksal. Alles, was auf dieser Erde geschieht, wird von einem unsichtbaren Band zusammengehalten, ist strukturiert und hat einen tieferen Sinn. Selbst wenn wir ihn nicht erkennen.

„Deshalb sorgt euch nicht um morgen und tut, was ihr tun müsst, von Herzen.“ Ivey Wilson

Piranha

Weit über eintausend Sternchen glitzerten wie Feenstaub über den seichten Wellen des Rio Timane. Vom alten Kahn aus bis hin zum Ufer tanzten sie für Ivey, als hätte sie Geburtstag oder wäre bei einem Fest der Freude. Im Takt eines gemütlichen Walzers schaukelte mittendrin die Spitze des Schwimmers.

Albert hatte die Angel am Abend zuvor und bis spät in die Nacht hinein aus einem Stock und einem Korken gemacht, obwohl Joe die Idee dafür gehabt hatte. Aber wie üblich hatte sein Dad darauf bestanden, sie zu bauen. Zum einen kannte er sich besser mit solchen Dingen aus und zum anderen brachte es nicht viel, mit dem alten Sturkopf zu diskutieren. Die Alternative mit einem kühlen Bier auf der Terrasse kam Joe durchaus gelegen.

Zu Hause hatte er ständig zu tun und hier, bei seinem Dad auf der Ranch, konnte er etwas entspannen und sich mit seiner Tochter Ivey befassen. Sie hatte sich schon so lange auf das Angeln gefreut

In diesen Stunden genoss Joe die angenehmen Seiten des Lebens beim Nichtstun und seine Tochter hatte ihren Spaß.

Sanft trieb der Kahn in der seichten Strömung flussabwärts und trug Joe in flüchtige Träume und leichte Gedanken.

In diesem Sommer brannte die Sonne bereits kurz nach dem Aufgehen über der weiten Ebene des Chaco. Die Hitze war fast wie vor vier Jahren, als das Feuer auf die Weide gekommen war.

Im Gegenlicht musste Joe blinzeln. Er hielt sich die flache Hand als Schirm an die Stirn und sah über die trockenen Büsche am Ufer hinweg. Der Giebel des Herrenhauses war zu sehen sowie der gewaltige Wasserturm hinter der Farm.

In dieses lauschige Bild fügte sich die strenge Melodie der Zikaden, die wie ein Regenschauer die Luft erfüllte, nur stand ihr Lied nicht für eine Abkühlung, sondern als Bekenntnis der Dürre, den heißen Staub und das gleichförmige Leben auf dem Land.

Manchmal, wenn die Zikaden im Einklang des Rhythmus lagen und sich zwischen den lauten Passagen die Stille für wenige Augenblicke einstellte, konnte Joe den monotonen Gesang eines Vogels von der Viehweide hören.

Nach den letzten Stunden der Ruhe wurde das alte Holz unter seinem Hintern unbequem und er rutschte herum, stemmte sich schwerfällig hoch und schob sich bis an die Kante vor. Er dachte an seinen nächsten Auftrag. Immerhin musste er in ein paar Tagen in Asunción einen wichtigen Kunden bedienen. Doch bis dahin wollte er die Zeit und die Ruhe genießen.

Seine Tochter Ivey saß mit ihrem Strohhut mit der breiten Krempe wie ein Monument auf dem einzigen Sitzbrett vorn im Kahn und verfolgte die langsamen Bewegungen des Schwimmers.

Ihm gefiel ihre Beharrlichkeit, die sie von seinem Dad geerbt haben musste, auch wenn er speziell diese Eigenschaft an ihm kritisiert hatte. So, wie sie sich konzentrierte und auf den Erfolg wartete, einen dicken Fisch fürs Abendessen zu angeln, wirkte sie nicht wie die anderen Sechsjährigen, die nach kurzer Zeit die Lust am Spiel verloren, nur weil sich im Wasser nicht das Geringste tat. Gewiss hatte sie ihren Spaß und in der Morgendämmerung mit eigenen Augen gesehen, dass es hier durchaus Fische gab. Nun, ein kleines Erfolgserlebnis hätte ihr nicht schaden können und ihr möglicherweise das Angeln zu einer lieben Gewohnheit gedeihen lassen, sie geprägt und auf neue Gedanken gebracht, die Einfluss auf ihr späteres Leben haben könnten, selbst wenn es nicht beim Angeln bliebe. Zumindest würde ihr ein Fang die kommenden Stunden oder gar den restlichen Tag versüßen, in denen sie aufgeregt jedem, der ihr über den Weg lief, alles haarklein beschreiben würde. Joe konnte sich diese Szene gut vorstellen. Er kannte ihre Überschwänglichkeit und ihr frohes Gemüt.

In den vergangenen Stunden hatten beide nicht viel gesprochen. Stattdessen ließen sie ihre Gedanken mit dem trüben Wasser davontreiben.

Die monotone Zeit im Kahn ließ ihn über viele Dinge und die Zukunft nachdenken. Ansonsten kam er nicht oft dazu. Aber im Großen und Ganzen lief sein Leben geordnet und erbaulich – irgendwie jedenfalls.

Apathisch schmunzelte er vor sich hin.

Seit er Ivey gesagt hatte, dass sie für ein paar Tage hierher in den Chaco zu Grandpa reisen würden, lag sie ihm mit dem alten Kahn in den Ohren. Und er hatte ihr versprechen müssen, ihn zu reparieren und sie endlich zum Angeln mitzunehmen.

Die taffe Ivey hatte das Profil von Brenda, seiner Frau. Mit ihren wilden Haaren, der kleinen runden Nase und gleichermaßen ihrem Stolz und der Unbeugsamkeit.

Bei diesen Gedanken verblasste sein Lächeln, als würden dunkle Wolken aufziehen. Das war definitiv nicht der geeignete Augenblick, an Brenda zu denken und diesen schönen Moment zu verderben. Zu Hause, in Encarnación, gab es ausreichend Probleme dadurch. Aber jetzt war er hier und saß mit seiner Tochter in diesem Kahn. Nur sie beide, die Natur und ihr zukünftiges Abendmahl.

Ein gelber Schmetterling zog seine Kreise über dem Wasser.

Unbeirrt hielt Ivey die Angelrute mit beiden Händen fest umschlossen und wartete auf den richtigen Moment und ihren ersten Fisch. Neben ihr lag die Puppe mit dem rot-weiß karierten Röckchen, das Grandpa im vergangenen Jahr kurz vor Weihnachten genäht und angeklebt hatte. Die Puppe hatte sie mit drei bekommen und war seither ständig an ihrer Seite.

Joe zog sich seinen abgewetzten Cowboyhut tiefer ins Gesicht, genoss den Augenblick, lehnte sich zurück, schlug die Hände hinter dem Kopf zusammen - der Kahn quittierte seine Bewegung mit seichtem Schaukeln - und streckte die Füße unter dem Sitzbrett hindurch nach vorn aus. Aus dem verbeulten Blecheimer glotzte ihm das tote Auge ihres einzigen Fangs entgegen. Zum Glück hatte er gleich zu Beginn diesen Fisch erwischt, auch wenn es nicht zu den Glanzleistungen seiner Karriere beim Würmerbaden zählte.

Es wurde Zeit aufzubrechen.

„Hol die Leine ein, Mädchen“, sagte er träge, gähnte hörbar und dehnte seinen Rücken durch.

„Nur noch ein bisschen“, entgegnete Ivey hoffnungsvoll. Unter ihrer breiten Krempe sah sie stur ins Wasser.

„Es wird zu heiß“, sagte Joe.

„Aber ich will auch einen Fisch.“ Schmollend zeigte sie ihr Profil und sah zum Schwimmer.

„Beim nächsten Mal fängst du einen“, sagte Joe. „Versprochen.“

„Och nö“, gab sie lang gezogen zurück und sah ihn flehend mit ihren großen dunklen Augen an.

In der Geschwindigkeit eines alten Mannes, dessen Bewegung vielmehr der Hitze und Entspannung geschuldet war und nicht seiner körperlichen Verfassung, setzte er sich aufrecht, schob den Hut mit ausgestrecktem Zeigefinger aus dem Sichtfeld und rief: „Hey, kleine Dame! Auf geht´s.“

Sie reagierte nicht.

„Nicht alles im Leben gelingt beim ersten Mal. Das ist okay. Heute hast du gelernt, wie man den Wurm ansteckt und die Leine auswirft, und wenn du dran bleibst und nicht den Mut verlierst, wirst du beim nächsten Mal Erfolg haben.“

Unter ihrem Strohhut standen lustig die Zöpfe zu beiden Seiten weg und sie hielt beharrlich die selbst gemachte Angel und verschob die Lippen, wie sie es immer tat, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte.

„Wie es aussieht, beißen die heute nicht mehr. Denen ist es auch zu warm. Der Kleine wird für das Essen genügen müssen.“ Joe zeigte zum Eimer.

„Ich esse keine Piranne!“, protestierte sie und folgte mit angewidertem Gesicht seinem Finger. „Niemals im Leben!“ Sie bekundete ihre Abscheu mit furchterregender Grimasse. „Der ist voll eklig.“ Sie steckte ihre Zunge zum Fisch raus, der, tot im Eimer liegend, mit seinen vielen winzigen, spitzen Zähnen und de facto gefährlich und für Zartbesaitete durchaus abstoßend aussah.

„Grandpa zaubert daraus einen leckeren Braten. Du wirst schon sehen.“ Er griff nach ihrer Angelrute und Ivey riss sie herum, damit er sie nicht zu fassen bekam. Hektisch schaukelte der Kahn. Joe hielt inne, balancierte den Kahn aus und reckte seine geöffnete Hand vor.

„Gib mir die Angel.“ Sein Ton wurde fester.

Sie trotzte.

Als der Kahn wieder still im Wasser lag und die Wellen zu beiden Flussufern davontrieben, sagte Joe entspannt: „Na los, bevor wir einen Hitzschlag bekommen. Im Haus gibt es frische Zitronenlimonade.“ Er nahm seinen Hut vom Kopf und wischte sich mit dem Unterarm über die schweißnasse Stirn.

Ohne ihn anzusehen, stöhnte Ivey und reichte die Angel nach hinten. Er nahm sie entgegen, holte die Angelschnur ein, legte den Stock längs zum Kahn neben seine und ruderte an Land.

Derweil legte sich Ivey über den Kiel und ließ ihre Handflächen auf der Wasseroberfläche surfen.

Seine Ruderbewegung war kräftig.

„Übrigens heißt es Piranha.“ Er schnaufte.

„Ich weiß das doch“, sang sie, tauchte eine Hand unter Wasser und nahm sie schnell wieder heraus.

Noch bevor sie ordentlich am Steg angelegt hatten, sprang das Mädchen hoch, hopste aus dem Kahn und tanzte Richtung Haus. Joe hörte sie aus der Ferne, hinter dem großen Busch rufen: „Wir haben eine Piranne, Grandpa! Wir haben eine echte Piranne geschnappt.“

Das Seil am Bug band Joe dreimal um den Pfosten, legte sich beide Angelruten über eine Schulter, nahm den Eimer und die Puppe in die andere Hand und folgte seiner Tochter.

Vor dem Haus stieg er die Holzstufen zur Terrasse hoch und stellte die Angeln neben der Tür ab.

Hopsend kam Ivey herausgeschnellt, schnappte ihm den Eimer aus der Hand und verschwand wieder drinnen. Ihr freudiges „Sieh nur, wie ein silberner Goldfisch“ erstickte in einem grellen Schrei.

Joe stürmte herein.

Grandpa machte einen Satz zu Ivey, kniete sich vor sie und beide sahen ihre verwundete Hand und das viele Blut daran.

Die Kleine schrie, zappelte und weinte.

„Wir waschen die Wunde aus“, sagte der kräftig gebaute grauhaarige Grandpa und ging mit ihr in die Küche zum Spülbecken. Er war ein großer Mann mit gegerbtem Gesicht, tiefen Falten und einer zerschlissenen Latzhose.

„Bring mir das Handtuch“, rief er trocken zu Joe.

„Wie ist das passiert?“ Joe sauste zum Küchenschrank und zerrte ein Geschirrtuch heraus.

„Sie hat sich an den Zähnen verletzt. Sieht schlimmer aus, als es ist“, sagte Grandpa in seiner ruhigen Art, sah Joe an und riss ihm das Küchentuch aus der Hand. Dann tupfte er einen Teil vom Blut damit ab und wickelte es fest um die kleine Hand. Als der Knoten festsaß, wandte er sich an Joe und zeigte zum Eimer mit dem Fisch. „Wie kannst du das einem kleinen Mädchen überlassen?“

„Wir waren doch beide dabei, Dad“, verteidigte sich Joe.

Ivey legte ihre gesunde Hand auf den Wickel und schluchzte leise. Sie war ein tapferes Mädchen.

Immer noch zeigte Grandpa zum Eimer und wurde lauter: „Und was sollen wir damit anfangen? Was hast du dir dabei gedacht?“

„Du bereitest ihn zu.“ Joe zuckte mit den Schultern und ergänzte rasch: „Ich weiß, dass er viele Gräten hat, aber es war unser erster Angelausflug und ich dachte …“

„… dass an dem Kerl etwas dran ist, was drei Mäuler stopft? Du hättest ihn auf der Stelle zurückwerfen müssen“, unterbrach ihn Albert unsanft, winkte ab und sagte wie ausgewechselt, in völlig normalem Ton: „Der Traktor braucht einen neuen Riemen.“

Joe brauchte einen Moment für den Themenwechsel. Dann sagte er: „Ich kümmer mich darum.“

„Morgen muss ich zum Markt. Kannst du für mich jemanden vom Flughafen abholen?“

Morgen?, dachte Joe. Die nächsten vier Tage wollte er kürzertreten. Soweit er sich zurückerinnern konnte, wurde nie etwas bei Albert daraus. Hier gab es immer ausreichend zu tun.

„Ich habe einen Interessenten für die alte Farm neben Dravis. Er will sie sich ansehen.“ Nebenbei wischte sich Albert die Hände trocken und strich Ivey tröstend über die Haare. „Heute Abend merkst du nichts mehr davon. Ist nur ein kleiner Kratzer.“

Sie nickte mutig.

„Wer interessiert sich für die Wälder dort draußen?“ Joe hielt am Themenwechsel fest.

„Er ist ein Doc aus Deutschland. Andre Engelmann. Er hat wohl eine Papierfabrik und will sich das Holz und die Gegend ansehen.“

Joe nickte. Das ergab Sinn. „Fliegt Lowes?“, fragte er.

„Nein, er hat heute Morgen abgesagt. Sitzt für zwei Wochen in Mexiko fest. Aber ich rufe gleich Ruenco an. Also, machst du es?“

„Geht klar. Wie lange will Engelmann bleiben?“

Albert goss Ivey den Rest Limonade ein und nahm die leere Kanne mit in die Küche. „Er bleibt zwei Tage auf dem Hof. Dann fliegt er zurück.“

„Ist ja ein kurzer Besuch.“ Wahrscheinlich hatte sein Dad auch keine weiteren Informationen dazu und außerdem ging es ihn nichts an. Er beließ es dabei. „Also bringe ich ihn anschließend her. Brauchst du etwas aus der Hauptstadt?“

„Ja, ein paar Gewürze“, sagte Grandpa kurz, während er saubere Teller und Tassen vom Abwasch in den Schrank stellte. „Ich mache dir eine Liste fertig.“

Joe nickte, brummte kurz und ging zu Ivey. „Ich feuere gleich den Grill an. Willst du zusehen?“

Sie zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck.

Der Esstisch stand in der Zimmerecke neben den Bücherregalen. Über der Sitzbank hing das große Gemälde, von dem Albert behauptete, dass er es von einem Künstler beim Kartenspiel gewonnen hatte und es heute eine Viertelmillionen Dollar Wert wäre.

„Ich hasse Pirannen. Hab nicht mal richtig angefasst und ratsch, hat er mich angegriffen.“ Ivey schmollte und wischte mit dem Zeigefinger kleine Gesichter auf das beschlagene Trinkglas.

Joe entging Alberts Blick mit seinen zusammengekniffenen Augen nicht, was wohl bedeuten sollte, dass er dem Mädchen die Sprache ordentlich beibringen sollte, oder vielleicht auch, dass er diese Fische hasste, weil kaum Fleisch an ihnen war. Da brauchte Dad gar nicht so vorwurfsvoll zu gucken. Das wusste er selbst genau. Beides.

„Aber es tut nicht mehr weh.“ Stolz hielt Ivey den Verband hoch.

Vorsorglich schritt Joe ein, bevor Albert wieder mit seinen Vorwürfen beginnen konnte: „Sag mal, du wolltest doch das Gemälde inserieren.“ Er zeigte auf das Aquarell über der Bank und betrachtete den Steg und die beiden Segelboote darauf, die bei genauerem Hinsehen mit nur wenigen Strichen gemalt worden waren. Vielleicht würde er so etwas auch mit ein paar Farbresten hinbekommen?

„Der Wendland wird nicht verkauft. Ich brauche das Geld nicht“, sagte Albert trocken.

„Ich frag nur, weil du beim letzten Mal davon gesprochen hast“, warf Joe ein.

„Mag sein.“

Mit „Mag 1737768403 sein“ beendete Albert unliebsame Themen. In diesem Fall hatte es kaum mehr Sinn, weiter darauf einzugehen.

„Schon gut. Das ist deine Sache“, beendete Joe das Thema. „Ich kümmere mich jetzt um das Feuer.“ Er erhob sich.

„Ich hätte dir das Bild längst gegeben.“

Joe blieb stehen und sah seinem Dad in die Augen. „Was meinst du damit? Ich hab es nie verlangt.“

„Brenda ist nichts für dich und schon gar nicht für Ivey.“

„Nicht vor dem Kind, Dad!“, mahnte Joe.

Der winkte ab und wandte sich an die Kleine: „Magst du Gurkensalat zum Fisch?“

„Ihr könnt den Fisch selber haben“, sagte sie trotzig. „Ich will überhaupt nie wieder Pirannen sehen. Nicht im Fluss und auch nicht hier.“ Ivey verzog ihr Gesicht zu einer angeekelten Grimasse und zeigte den verbundenen Finger vor. „Warum muss mir immer so etwas passieren?“

„Das hätte jedem zustoßen können. Schau mal, bei manchen Fischen muss man einfach ein wenig aufpassen.“

Ivey gab sich mit Joes Antwort nicht zufrieden. „Aber warum?“

Grandpa übernahm: „Glaube mir, Kind, es ist genau richtig, was im Leben geschieht. Dein Weg und der jedes Einzelnen wird nicht immer einfach sein, aber wir lernen aus den guten und schlechten Erfahrungen und eben solchen Vorfällen.“

Ivey nickte.

„Sieh mal, jedes Hindernis lässt dein Herz und deinen Verstand gedeihen. Je nachdem, was du aus Erfolg und Misserfolg lernst, entwickelt sich die Weisheit und letztlich dein Charakter und daraus entsteht ein ganz besonderer Mensch.“ Albert setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber und verschränkte die Arme. „Und ich werde immer hier sein und mit Stolz deinen Weg verfolgen.“

Wieder nickte sie. Diesmal eifriger und mit großen klaren Augen. Sie lächelte.

„Danke Daddy“, flüsterte Joe ihm zu und verließ das Haus. Er wollte Paul, seinen Geschäftspartner, anrufen und sehen, welche Aufträge kommende Woche anstanden.

Für den morgigen Ausflug brauchte er nicht viel. Der Bus zum Flughafen ging in aller Herrgottsfrühe von El Puente, was eine kurze Nacht bedeutete, und am Nachmittag wäre er mit dem Deutschen wieder auf dem Hof.

Den Fisch am Mittag habe ich damals sausen lassen. Ich denke, das hat niemanden gestört, da Piranhas voller Gräten sind. Ungeachtet dessen hatten wir ja nur ein Exemplar. Ja, ich kann seinen Namen fehlerfrei aussprechen. Mein Dad hat es mich an diesem Abend gelehrt. Nur hin und wieder, wenn ich die Geschichte erzähle oder rumalbere, nenne ich ihn bei passender Gelegenheit immer noch eine Piranne.

Der restliche Tag verstrich mit belanglosen Vorkommnissen, an die ich mich heute nicht mehr so recht erinnern kann. Wahrscheinlich habe ich im Stall, mit Grandpas Dobermann und unten am Flussufer gespielt. Allerdings kann ich mich noch sehr genau an die Abendstunden erinnern, als ich vor dem Zubettgehen mit meinem Dad gesprochen habe. Eigentlich war es vielmehr ein kindliches Betteln. Ich wollte unbedingt so eine Glaskugel, in der es schneit, wenn man sie schüttelt. Denn ich kannte Schnee nur aus Erzählungen. Grandpa sagte dann immer, dass es nur alle Jubeljahre in Paraguay schneie und nicht mal liegen bliebe, aber ich könne jederzeit in den Ferien mit ihm in die Anden fahren. Dort sollte es die hohen Berge mit ewigem Schnee geben.

Jedenfalls hat mir Dad an diesem Abend versprochen, sich in Asunción nach einer Schneekugel umzusehen, und sich mit einem dicken Kuss auf meine Wange für den kommenden Tag mit den üblichen väterlichen Worten verabschiedet. Also: „Mach keinen Unsinn“, „Hilf deinem Grandpa im Haushalt“, „Halte dich vom Rio Timane fern“ und solchen Sachen.

Doch wie sollte ich am folgenden Tag Grandpa helfen bei dem vielen Unsinn, den ich am Fluss angestellt hatte? Damals kannte ich die Aussage von Boccaccio zwar nicht, die lautet: „Es ist besser, zu genießen und zu bereuen, als zu bereuen, dass man nicht genossen hat“, aber wie die meisten Kinder habe ich intuitiv danach gelebt.

Da ich nicht schlafen konnte, ging ich später in die Küche, um Milch zu trinken. Dad sammelte mich auf und brachte mich wieder ins Bett zurück. Doch bevor ich mich hinlegte, durfte ich ein paar Minuten tanzen. Und ich tanzte für ihn und mich, für meine Träume, meine Puppe Mary und die Freude, die für das Leben unverzichtbar ist. Dann sang ich müde ein Lied.

Yo, que ingenuo fui

Al creer que al final de esta historia

Estarías ahí

Tu, en tu mundo, tu

Vas cayendo sin freno al vacío

Y no te podré seguir

Ya, no puedo vivir por ti

Me olvidé de mi

Yo, que mas puedo hacer aquÍ

Si ya te perdí

Si ya te perdí

Si ya te perdí

Anruf

„Hier, für dich.“ Jeffrey hielt Ruenco das mobile Telefon entgegen.

Der schniefte gerade eine Bahn Coke, schüttelte sich, wischte mit dem Handrücken über seine Nase und lehnte sich weit nach hinten zurück. Die alte Ledercouch knarzte.

Durch das kleine Fenster kam nur wenig Licht in das chaotisch überladene Zimmer und der Schein zeichnete stehende Nebelschwaden hinein, als würde blaugrüne Watte unter der Decke hängen.

„Hört sich nach einem Auftrag an“, drängte der dunkelhäutige Jeffrey und fuchtelte mit dem Telefon vor seinem Gesicht herum. „Nimm.“

„Wer ist dran?“ Abwesend starrte Ruenco auf das Handy mit dem kleinen Display. Die Nummer konnte er nicht erkennen.