Briefe an Abby - Zwischen Leben und Tod - Perry Payne - E-Book

Briefe an Abby - Zwischen Leben und Tod E-Book

Perry Payne

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Beschreibung

Während eines Versöhnungsurlaubes finden Mia und Nick einen Stapel verstaubter Liebesbriefe. Neugierig folgen sie den Spuren dieser unerfüllten Liebe und stoßen auf ihrer ungewöhnlichen Reise auf eine schreckliche Erkenntnis, die alles infrage stellt, woran sie jemals geglaubt haben. Eine gefühlvolle Reise in einer Welt zwischen dem Leben und dem Tod. Ein junges Paar wird zu sehr von äußeren Einflüssen geleitet und sieht sich am Ende ihrer Beziehung. Eine Versöhnungsreise soll die Beziehung retten, doch beide finden sich schnell in einem unglaublichen Abenteuer wieder, in denen sie feststellen müssen, dass sie bereits gestorben sind, ohne es gemerkt zu haben. Die beiden sind in einer Art Zwischenwelt - dem Between - gelandet. Um erlöst zu werden, müssen sie eine Aufgabe erfüllen, die da lautet: Fin und Abby zusammenzubringen. Diese hatten sich im Schulalter kennen- und lieben gelernt. Doch Abby hat irgendwann Jake geheiratet. Fin hat ihre Liebe nie vergessen, sich sein Leben lang nach Abby verzehrt und ihr viele Briefe geschrieben. Doch er hat sie nie wiedergesehen. Das genau sollen Mia und Nick ändern. Zitat: "Dies ist meine Geschichte. Eine Geschichte, wie ich sie mir in meinen kühnsten Träumen nie hätte vorstellen können. Doch habe ich sie selbst erlebt und kenne die Wahrheit. In unserer Welt gibt es mehr, als wir wissen. Vor allem mehr Sein, das wir nicht mit unseren begrenzten, menschengegebenen Sinnen zu erfassen vermögen. Das Unbekannte liegt außerhalb des Wahrnehmbaren und ist das Unvorstellbare, das die Angst in sich trägt. Zudem besteht es aus einem Fragment vom Regenbogen, das mit Hoffnung und Zuversicht durchdrungen ist. Falls Du an meiner Geschichte interessiert bist, werde ich Dir die ganze Wahrheit erzählen. Von Anfang an. Dann lass uns ein Lagerfeuer anzünden, wenn die Sonne untergeht, und folge mir auf eine unvergleichliche Reise über die Liebe, die Sehnsucht und die Angst. Denn eines kann ich Dir jetzt schon sagen: Das Leben ist unvorhersehbar wie ein Samenkorn, das mit dem Wind davongetragen wird und an einem Ort in der Ferne neue Wurzeln schlägt - sofern es ihm vergönnt ist." Melody

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Prolog
Der goldene Ring
Fahrt aufs Land
Abendsonne
1955er Buick
Verstand auf Abwegen
Château
Die Briefe
Alte Geschichten
Schlagzeilen
Schwarze Schuhe
Taschenlampe
Genetischer Liebescode
Stille der Hoffnung
Elin Barker
Martini
White Socks
Pokal
Waffelherzen
Büstenhalter
Wie die Liebe begonnen hatte
Er brummt
Piccadilly Platz
Rosengarten
Das schönste Geschenk
Die Zeit ist gekommen
Eiskristalle
Deal mit der Ewigkeit
Abby
Brautstrauß
Erinnerungen
Drei Monate später
Epilog
Der entfallene Ausschnitt aus dem Prolog
Abby und Finley als Teilgeschichte in einem weiteren Buch.
Ford Capri gegen ein Ticket
Danksagung
Romane und Bücher von Perry Payne
Abgestürzt im Trockenwald – Dornen des Chaco
Occasion – Die zweite Welt
28m²- Die Probandenstudie
Für eine Stunde
Das Moran Phänomen
Wie viele Männer braucht das Glück
KATE - Die letzte Göttin
KATE - Eine Göttin auf Erden
Lennart Beck - Experiment seines Lebens
Reisetagebuch Paraguay
Autorenvita

PERRY PAYNE

BRIEFE

AN

ABBY

ZWISCHEN

LEBEN UND TOD

IMPRESSUM

Ein Buch vom Autorendienstleister PerryPayneBooks (PPB)

Coverdesign: Perry Payne

Korrektorat/Lektorat: Ilona Német, Perry Payne, Christine Hochberger

Covergrafik: Pixabay

Satz und Layout: PerryPayneBooks (PPB)

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Verlagslabel: PerryPayneBooks, perry-payne.de

1. Auflage 2023

ISBN: 978-3-384-04987-2

Alle Rechte liegen bei PerryPayneBooks (PPB)

Stefan Maruhn, Camino Hugua‘i, 6920 Coronel Bogado / Barrio San Juan Jhugua‘i / PARAGUAY / Itapúa

Copyright © 2015 / 2023 Perry Payne & PPB Paraguay / Internet: perry-payne.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung von PPB unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis von PPB darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden, wie zum Beispiel manuell oder mithilfe elektronischer und mechanischer Systeme inklusive Fotokopieren, Bandaufzeichnung und Datenspeicherung. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz. Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

PERRY PAYNE

BRIEFE

AN

ABBY

ZWISCHEN LEBEN UND TOD

ROMAN

Durch dich habe ich erfahren, dass Wolken Paläste sind, Schmetterlinge pure Energie und das Funkeln des Wassers Diamanten.

Prolog

„Lauf, Kindchen, lauf!“, hörte Mia die Stimme im tosenden Orkan, und eine rasende Welle aus finsteren Wolken quoll bedrohlich von beiden Seiten in die Coventry Street und jagte zwischen den hohen Gebäuden voran, als würde sie hineingegossen. Schreiendes Pfeifen mischte sich mit dem Geräusch von reißendem Papier. Äste und Zweige, Zeitungen und Dosen, Bretter und Sand tobten in der Luft, tanzten und verschlangen diesen Teil der Stadt im Einklang mit der Finsternis.

Mit ganzer Kraft stemmte sich Mia gegen den Angriff, lief dem Sturm entgegen, wurde zurückgestoßen und malträtiert. Sie kniff die Augen zusammen, drehte den Kopf und kämpfte sich weiter voran. Purpurfarbene Regentropfen mischten sich mit Sand und peitschten ihr Gesicht. Ihre Haare zerzausten und ihr dünnes Shirt flatterte heftig. Es zerrte an ihr, trieb sie zurück, als wollte es vor der Gefahr warnen, sie zurücktreiben und schützen. Doch Mia blieb standhaft, stemmte ihren Oberkörper gegen die wilde Kraft, wurde zurückgetrieben, nur zwei, drei Meter, dann lehnte sie sich vor und ging auf die Knie. Furchtlos ballte sie ihre Hände zu Fäusten, reckte die Arme ausgestreckt zurück und hob das Kinn. Ein Ast klatschte gegen ihre Wange und trieb weiter. Mia zuckte, aber blieb eisern in ihrer Haltung. Sie zitterte vor Anspannung, dann schrie sie ihren seelischen Schmerz hinaus.

Und genau in diesem Augenblick blieb die Zeit stehen und die Welt um sie herum begann zu schweigen. In dem düsteren Gemälde der Lautlosigkeit blieb der Takt ihres Herzens bestehen.

-

Dies ist meine Geschichte. Eine Geschichte, wie ich sie mir in meinen kühnsten Träumen nie hätte vorstellen können. Doch habe ich sie selbst erlebt und kenne die Wahrheit.

In unserer Welt gibt es mehr, als wir wissen. Vor allem mehr Sein, das wir nicht mit unseren begrenzten, menschengegebenen Sinnen zu erfassen vermögen. Das Unbekannte liegt außerhalb des Wahrnehmbaren und ist das Unvorstellbare, das die Angst in sich trägt. Zudem besteht es aus einem Fragment vom Regenbogen, das mit Hoffnung und Zuversicht durchdrungen ist.

Falls Du an meiner Geschichte interessiert bist, werde ich Dir die ganze Wahrheit erzählen. Von Anfang an. Dann lass uns ein Lagerfeuer anzünden, wenn die Sonne untergeht, und folge mir auf eine unvergleichliche Reise über die Liebe, die Sehnsucht und die Angst.

Denn eines kann ich Dir jetzt schon sagen: Das Leben ist unvorhersehbar wie ein Samenkorn, das mit dem Wind davongetragen wird und an einem Ort in der Ferne neue Wurzeln schlägt - sofern es ihm vergönnt ist.

Melody

BRIEFE

AN

ABBY

ZWISCHEN LEBEN UND TOD

Der goldene Ring

„Schätzchen!“, Poppys Stimme war schmucklos wie immer, wenn sie mit Mia redete, „ich will dir nichts Böses. Aber es wäre für alle Seiten das Beste, wenn du Abstand von unserer Familie bekommst. Geh einfach dahin, wo du hergekommen bist, und mische dich nicht in unsere Angelegenheiten. Ich biete dir fünfzigtausend Pfund, wenn du dich nie mehr in London blicken lässt.“

Mia verkrampfte am Telefon. „Ich werde deinen Sohn heiraten. Ob es dir gefällt oder nicht“, sagte sie erbost.

„Überleg es dir gut und nimm das Angebot an. Andernfalls werden wir Mittel und Wege finden, dich aus unserem Haus zu verbannen. Natürlich verschwindest du ohne Nick und ohne mein Geld.“ Mias zukünftige Schwiegermutter war während ihrer Drohung beherrscht. Und tatsächlich ging Mia das erste Mal der Gedanke durch den Kopf, dass dieses Miststück nie ihre Schwiegermutter werden sollte. Doch würde sie Nick ihretwegen aufgeben? Ihre große Liebe?

Nervös zwirbelte sie einen Knopf an ihrer Bluse hin und her und fixierte den fein karierten Stoff. Sie hatte längst Übung im Umgang mit Poppy Cromwell, und normalerweise meisterte sie derlei Situationen mit Bravour, aber an diesem Morgen war alles anders. Sie hatte keine Kraft mehr für die Auseinandersetzung und stellte sich Nick vor, der wie ein glänzender Apfel zwischen faulen im Garten lag.

„Nick stößt sich die Hörner ab. Diese Geschichte zwischen euch hat nichts mit Liebe zu tun. Du bist nichts weiter als sein Flittchen“, provozierte die zweiundfünfzigjährige Poppy.

„Es reicht, Mrs Cromwell! Ich werde mir das nicht länger anhören“, schrie Mia in den nostalgischen Hörer.

„Gewiss entscheidest du das nicht, Kindchen. Und jetzt höre mir genau zu ...“

Aufgebracht unterbrach sie Mia: „Glaubst du, Geld macht deinen Sohn glücklich?“ Sie atmete hörbar. „Weißt du was? Wenn du während unserer Hochzeit in deiner Villa hockst, kannst du dich schwarz darüber ärgern und mir wird es nicht das Geringste ausmachen.“ Mia schlug gegen die Taste zum Auflegen und ließ den Hörer an der Schnur baumeln. „Du kannst mich mal“, fauchte sie zum tanzenden Hörer und verließ die Diele.

„Was ist passiert?“, fragte Nick aus dem Badezimmer, ohne das Mia ihn sah.

Angespannt und mit verkrampften Händen lief sie zu ihm und stellte sich in den Türrahmen. „Ich hasse sie.“

Er trug den Cerruti-Anzug mit dem weißen Hemd und seiner rapsgelben Krawatte. Die Haare hatte er ordentlich zurückgekämmt.

„Wen hasst du?“, fragte er seelenruhig, schloss den Wasserhahn und drehte sich gütig zu ihr.

Im großen Spiegel betrachtete sie ihr Spiegelbild. Sein grauer Pullover, den sie trug, hatte viel zu lange Ärmel. Nur ihre Fingerspitzen schauten heraus. Dann blickte sie an sich herunter bis zu den nackten Füßen, die in ihren puschligen Hausschuhen steckten. Mia sah auf und blickte ihm in die Augen.

„Am liebsten möchte ich die Nummer deiner Mum sperren und sie nie wieder sehen“, sagte sie und Poppys Worte kamen ihr in den Sinn.

„Aber wieso?“, hakte er nach. „Was hat sie schon wieder angestellt?“

Mia schob ihre Lippen schräg. „Ich kann das nicht.“

„Jetzt reiß dich zusammen. Wir werden uns jetzt alle schön vertragen,“ sagte Nick strikt.

„Vertragen? Jetzt bin ich wohl die Böse.“

„Beruhige dich. Außerdem könntest du ja auch mal ein wenig nachgeben.“ Er berührte ihren Oberarm.

Sie drehte sich weg. „Auf welcher Seite stehst du eigentlich?“ Mia trat zurück und verschränkte die Arme.

„Sie meint es nicht so. Und außerdem stehe ich auf überhaupt keiner Seite.“

„Und wieso nicht, Mister Cromwell? Gehören wir etwa nicht zusammen?“ Sie fauchte. „Wenn dir so viel an der Meinung deiner Eltern liegt, dann gehe doch zu ihnen und lass dir den Hintern pudern.“ Wütend drehte sie sich weg.

„Was? Kann ich vielleicht etwas dafür?“ Er griff sie an der Taille und wollte sie zu sich drehen, doch sie weigerte sich. Da schnappte er sich die kleine weiße Figur, die ein tanzendes Hochzeitspaar abbildete und schleuderte sie schwungvoll gegen die Wand. Unzählige Scherben sprangen über den Boden und bildeten den Beweis für die Vergänglichkeit. Dieses Familienerbstück von ihrer Grandma stand bereits auf der Hochzeitstorte ihrer Eltern und sollte ihre ebenso schmücken. Hatte er mit diesem Wutausbruch das Symbol ihrer Zusammengehörigkeit vernichtet? Niemand sagte etwas.

Mia betrachtete die Scherben, sah ihn an und ihre Blicke verfingen sich auf dem Landschaftsgemälde hinter ihm, das sie einst gemeinsam auf einem Jahrmarkt irgendwo zwischen Shanghai und Nantong gekauft hatten. Das war weit mehr als ein Bild. Es war die gemeinsame Erinnerung an eine wundervolle Reise. Und nun? Nun waren sie dabei alles zu zerstören.

„Was erwartest du von mir?“, sagte sie leise. „Ich kann bei diesem Spiel nicht länger mitmachen.“

Sie bemerkte seine Blicke, wie er sie musterte und plötzlich zu grinsen begann.

„Was?“, fragte sie barsch.

Er zeigte mit der offenen Hand auf sie. „Weißt du, so wie du dastehst, mit dem viel zu großen Pullover, den nackten Beinen und den großen Schuhen, erinnerst du mich an ein Kastanienmännchen“, murmelte er.

Die sanften Worte waren wie Magie und brachen die dunklen Wolken der Situation auf. Durchdringend versöhnlich huschte ein sympathisches Lächeln über ihr Gesicht und sie erkannte seine großen klaren Augen. Mit seinem sanften Lächeln und dem Grübchen sah er aus wie damals, als sie sich kennengelernt hatten.

Aber seither waren einige Jahre vergangen. Ihr Lächeln ließ nach und sie spürte erst jetzt, wie sie sich von seinem hatte anstecken lassen.

„Schatz! Es tut mir leid. Mir tut es leid, dass ich wütend auf dich war, und mir tut es um unsere Figur leid. Komm her!“ Er blinzelte und hielt ihr beide Hände entgegen. „Vergiss den Ärger.“

„Ich will sie nicht mehr sehen“, konterte Mia.

„Aber ich kann nicht ohne meine Eltern heiraten.“

„Und wenn sie kommen, kann ich nicht heiraten.“

„Sie sind doch nur einen einzigen Tag hier. Das überstehen wir. Tu es mir zuliebe. Bitte!“

Sie strich sich eine rote Strähne aus dem Gesicht. „Es ist unser Tag. Den lasse ich mir nicht zerstören.“

„Bitte“, sagte er, während aus seinem Gesicht das Leuchten verschwand, „wenn du unbedingt willst, Schatz. Dann heiraten wir eben nicht und sagen allen Gästen ab.“

„Genau. Sagen wir den Gästen ab“, stimmte Mia seinem Vorschlag zu.

Zumindest grübelte er kurz, bevor er entgegnete: „Übrigens hatte ich die Wild Guitar Group engagiert! Eigentlich sollte das eine Überraschung werden.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber jetzt?“

„Echt? Meine Wild Guitar?“ Ein flüchtiges Schmunzeln erstarb in ihrer Trübnis. „Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr.“ Sie lief ins Wohnzimmer, öffnete die Schranktüren, drehte sich und wühlte in den Schubfächern der Kommode.

Nick sah ihr zu. „Was machst du da?“

Mia griff nach etwas, fuhr herum, hielt ihm die Faust entgegen, drehte die Hand und öffnete sie. „Nimm das und geh!“ Mit diesen Worten drückte sie ihm einen goldenen Ring in die Hand.

Er nahm ihn und hielt ihn zwischen zwei Fingern auf Augenhöhe. Beide betrachteten dieses Zeichen ihrer Verbundenheit, deren magische Bedeutsamkeit geduldig eine immerwährende Liebe ausstrahlte. Im Inneren war sein Name eingraviert und daneben ein funkelndes Datum.

„Aber Schatz!“, flüsterte er.

„Das bringt doch nichts“, sagte sie und sprach dabei mehr zu sich selbst.

Nick schob den Ring in seine Hosentasche. „Das kannst du nicht machen.“ Vorsichtig berührte er ihre Taille und suchte sich den Weg unter ihren Pullover.

Energisch trat sie zurück. „Was machst du da?“

„Unsere Energie?“ Fragend zuckte er mit den Schultern.

Natürlich wusste Mia genau, was er damit meinte. Es ging um ihre zärtliche Berührung, Haut an Haut, die vor einigen Jahren so romantisch in einem Hospital in Richmond begonnen hatte. Nach einem Sportunfall musste er am Knie operiert werden. Eigentlich war es Routine, also die schnelle Operation zwischendurch, aber irgendetwas lief schief. Nach der anschließenden Notoperation saß Mia die ganze Nacht an seiner Seite und als er gegen Morgen völlig erschöpft die Augen öffnete, reichte er ihr die Hand und sagte: Gib mir Kraft, ich will dich spüren. Er berührte ihre Haut und wie durch ein Wunder strömte das Leben in seinen Körper zurück.

Seither forderte er täglich seine Energie ein. Und sie fand schon bald Gefallen daran. War es doch ihre gemeinsame Zeit. Beinahe die einzige Zeit, in der sie für einen Augenblick den hektischen Alltag anhalten und das Leben hautnah spüren konnten.

„Nicht jetzt!“ Energisch schob sie seine Hände beiseite.

„Aber wir haben es uns geschworen.“

„Mir ist jetzt nicht danach“, sagte sie und zeigte zur Tür.

„Lass uns reden.“

„Was gibt es da zu reden? Deine Eltern hassen mich und du ... du respektierst meine Entscheidung nicht.“

„Ich respektiere dich. Das weißt du.“

Skeptisch sah sie ihn an.

„Mit diesem Blick würdest du beim Grand Comparison gewinnen, Mia.“ Sein schelmisches Grinsen zauberte Fältchen neben seine Augen.

„Vielleicht war es ein Fehler zu glauben, dass es funktionieren könnte“, sagte sie plausibel. „Bitte geh!“

„Ist das dein Ernst?“

Sie nickte.

Fragend sah er sie an. Ihre Gesichtszüge blieben kalt und er drehte sich um, nahm seine Jacke vom Haken und ging langsam zur Tür. Erst an der Haustür wandte er sich an sie und sagte: „Wir hatten große Pläne. Kannst du dich an das Grundstück in Hunstanton erinnern und welchen Namen unser Sohn bekommen würde? Glaubst du, ich hätte mit dir Pläne geschmiedet, wenn ich nicht an uns und eine gemeinsame Zukunft geglaubt hätte?“

Sie wollte das nicht hören. Egal wie sehr Nick zu ihr stehen würde, mit seinen Eltern käme sie niemals klar.

„Vielleicht brauchen wir beide etwas Zeit“, sagte er.

Mia senkte den Kopf: „Verschwinde.“

Nick wandte sich ab. Hatte sie glasige Augen? Was war nur mit ihnen geschehen? Er öffnete die Tür, trat hinaus und sagte: „Ich liebe dich.“

Mit dem Klicken der Tür brach für beide die Welt zusammen und brachte mit heftigem Getöse lodernde Flammen und schwarzen Qualm, die alles vernichteten, was sie bekommen konnten.

Fahrt aufs Land

Mia lehnte mit der Schulter und dem Kopf an der Seitenscheibe des Wagens. Seit sie und Nick in Zürich in das Taxi gestiegen waren, hatte sie kaum ein Wort gesagt.

Kaum sichtbar spiegelte sich die vorüberziehende Landschaft im Glas gegenüber. Der Fahrtwind mischte sich zum einheitlichen Motorengeräusch und machte sie schläfrig. Es roch nach abgestandenem Rauch und altem Leder.

Genau wie die Lichtmasten, Häuser, Kühe und Bäume vorüberzogen, erging es ihren flüchtigen Gedanken. Vielleicht war es eine blöde Idee gewesen, diesem sogenannten Versöhnungsurlaub zuzustimmen. Aber die alte Frau war erstaunlich überzeugend gewesen.

Mia grübelte, stellte sich das faltenüberzogene Gesicht der alten Barker vor, und wie sie auf die beiden zukam. Sie musste ihren Streit im Café mitbekommen haben und war eingeschritten, kurz bevor Mia den Tisch verlassen wollte. Doch warum hatte sie ihnen das Angebot gemacht? Sie kannten sich nicht einmal. War die Alte wirklich nur nett oder was steckte hinter dieser Sache? Ihre Wohnung wirkte jedenfalls wie die Behausung einer Wahrsagerin oder so etwas Ähnliches. Jedenfalls war es fast ein Wunder, dass sie die Unterlagen für die Ferienwohnung nicht gleich im Café dabei gehabt hatte. Egal. Mia hatte zugestimmt und Nick hatte sich dem angeschlossen. Und erst jetzt hinterfragte sie ernsthaft diese Tatsache.

Auf der schmalen Straße begegnete ihnen nur selten ein Auto, und als die Bäume lichter wurden, offenbarte die freie Sicht einen weitläufigen See in einem wunderschönen saftiggrünen Tal. Das tiefblaue Wasser spiegelte in den sanften Wellen die Wolken. Dahinter schlossen sich langgezogene, teils felsige Hügel an und der weitläufige Horizont wurde von hohen vereisten Gipfeln beschnitten. Entspannung, Wohltat und Ruhe lagen hier draußen, weit ab der großen Städte, in der Luft. Mia rutschte auf der Lederbank zurück, atmete tief durch und genoss den Augenblick.

Ein gesprenkelter Blumenteppich in makelloser Schönheit überzog die Ebene hinter dem See, und am Ufer konnte sie hinter dem hohen Gras und der kleinen Anhöhe ein paar rote Dächer erkennen.

Mia wollte kurz aussteigen, sich die Beine vertreten und die Landschaft genießen, tippte dem Fahrer auf die Schulter, erschrak und ihr Herz pochte wild in ihrer Brust. Sie zog ihre Hand zurück, die durch den Fahrer hindurchgegriffen hatte, als bestünde er aus Luft. Adrenalin schoss durch ihre Adern und versetzte sie in einen hellwachen Zustand. Was war gerade geschehen? War ihr Finger eingeschlafen? Hatten ihre Augen sie getäuscht oder lag es an der langen Fahrt? Sie sah zu Nick herüber. Er sah gegenüber aus dem Fenster und hatte offenbar nichts bemerkt.

Mia strich sich durch die Haare und sah erneut zum Fahrer. Sein hellblaues Hemd war zerknittert und die Haare leicht gewellt.

Wieder rutschte sie auf dem Leder herum, suchte eine bequeme Sitzposition und gab sich einen Ruck. Sie brauchte eine Bestätigung, beugte sich vor und tippte erneut auf die Schulter des Fahrers. Jetzt spürte sie ihn. Ganz so, wie es sein sollte.

Er drehte leicht seinen Kopf nach hinten, ohne Mia anzusehen, und grummelte: „Miss?“

„Können wir kurz anhalten?“

„Augenblick. Dort vorne ist eine Haltebucht“, knurrte er.

Über den Rückspiegel betrachtete sie seine gegerbte Nasenpartie, und versuchte ihn einzuschätzen, dachte an die vergebliche Berührung und verlor sich in Gedanken, bis er sie durch den Spiegel durchdringend ansah. Erschrocken drehte sie sich weg, sah durch das Seitenfenster, tat, als wäre nichts geschehen und blickte erneut zum Spiegel. Noch immer hatte er Mia im Blick und sie drehte sich weg. Was wollte er von ihr? Sie musste ihn zur Rede stellen, holte Luft und drehte sich erneut zu ihm. Der Fahrer war auf die Straße fokussiert und wirkte konzentriert, als ob er Mia nie angesehen hätte. Er reduzierte die Geschwindigkeit des Wagens und steuerte auf die Haltebucht zu.

Die Kiesel unter den Rädern sprangen hörbar zur Seite, die Reifen knirschten und der Wagen kam zum Stehen. Fast gleichzeitig öffneten Mia und Nick die Türen. Sie stiegen aus.

„Wo sind wir?“, fragte sie mit Blick über das grüne Tal und dem See mit dem spiegelglatten Wasser. Die Sonne blendete und die Luft duftete angenehm nach frischen Blüten, Tannennadeln und Harz. Bienen, Hummeln und Fliegen summten beim Vorüberfliegen.

„Keine Ahnung“, erwiderte Nick und reckte sich ausgiebig. „Das dort unten sollte der Ägerisee sein.“ Er zeigte darauf und weiter hoch zum Berg. „Demnach müsste dort drüben unser Ferienhaus sein.“

„Ich weiß nicht, ob ich das kann.“ Sie sah ihn an.

„Was meinst du?“ Nick zuckte mit den Schultern.

„Ich meine diesen Ausflug. Es fällt mir verdammt schwer, hier zu sein. Vielleicht hätten wir doch die geplante Auszeit machen sollen.“

„Nein, es ist okay so“, sagte Nick.

„Hör schon auf. Warum haben wir uns überreden lassen?“

Er nickte nachdenklich. „Ihre Argumente waren schlüssig. Und irgendwie hatte sie doch recht. Wir gehören nun mal zusammen, und so ein gemeinsamer Urlaub in den Bergen ....“ Den Satz beendete er nicht. Vermutlich konnte er ihren strengen Blick nicht richtig deuten. So etwas wollte sie nicht hören.

Unmerklich murrte Mia und sah wieder über die herrliche Landschaft in die Weite.

„Mach dir darüber keine Gedanken und betrachte es als Urlaub oder Abenteuer“, fuhr Nick fort und stellte sich mit verschränkten Armen neben sie auf die Wiese.

„Abenteuer? Selbst wenn ich es so sehe, stimmt doch irgendetwas mit dem Angebot nicht. Kein Mensch würde Fremden so ein Ferienhaus kostenlos anbieten.“

„Nun, sie hat nicht gesagt, dass es umsonst ist.“ Beiläufig riss er einen Grashalm ab und zupfte an den schmalen Blättern.

„Na ja, außer einem Gefallen. Ich weiß ja nicht. Das ist schon eigenartig.“

„Egal. Lass uns Urlaub machen. Danach können wir uns immer noch mit dieser Aufgabe beschäftigen. Es wird schon nicht so schwierig sein zwei Leute ausfindig zu machen. Und falls wir die Typen nicht finden sollten, hat die Barker halt Pech. Was soll sie schon machen? Uns verklagen oder einsperren? Wir haben nicht mal einen Vertrag.“ Er lachte.

Mia schob beide Hände in die Hosentaschen und drückte die Arme durch. „Nein.“ Sie drehte sich zu ihm. „Aber wir haben zugesagt und werden uns darum kümmern“, sagte sie fordernd.

„Schon gut, ich meine ja nur ...“ Nick zwirbelte den Grashalm zwischen seinen Fingern. „Ich denke, die Alte hat einen an der Waffel oder ist irgendwann in ihrer Vergangenheit hängengeblieben und will jetzt ein Trauma aufarbeiten oder so.“

Mia zuckte mit den Schultern und sah ihm in die Augen. „Sind dir die Zeitungsausschnitte aufgefallen? Kein gesunder Mensch würde sich so etwas in die Wohnung hängen.“

„Stimmt“, sagte er. „Sie sammelt Unfallberichte, andere sammeln Streichholzschachteln oder Bierdeckel. Was solls. Ein tolles Ferienhaus bekommt man nicht alle Tage für lau.“

„Ja, irgendwie war die Alte ja sympathisch. Aber ganz geheuer ist mir dabei nicht“, sagte sie, zog einen Schmollmund und zuckte mit den Schultern.

„Du hättest das nicht annehmen müssen.“

Mia lächelte. „Ich glaube, der Festsaal und ein eigenes Auto haben mich überzeugt.“ Sie atmete kräftig durch und schöpfte neue Kraft aus der bloßen Existenz der bezaubernden Landschaft.

Ein Fahrgastschiff, unten auf dem See, hinterließ feinen glitzernden Schaum und gleichmäßige Wellen. Mia lief ein paar Schritte über die Wiese, streifte ihre Strickjacke ab und reckte das Gesicht zur wärmenden Sonne. Die unverbrauchte Luft roch nach frischem Heu, und der Wind garnierte den Duft mit den Ölen von Tannenzweigen und Baumharz.

„Ich bin gespannt, worauf wir uns eingelassen haben.“ Auch Nick schaute in die Ferne zum Wald und zu den Bergen am anderen Ufer.

„Lass uns weiter fahren“, sagte sie und stapfte an Nick vorbei zum Taxi.

Ein Windstoß strich rauschend durch die Baumkronen, über die Halme und das Meer aus Blüten. Für einen Augenblick traten das Vogelgezwitscher, das laute Zirpen der Grashüpfer und das unablässige Summen der Insekten in den akustischen Hintergrund und überließen dem Wind sein Spiel. Er war kalt, fast eisig und untypisch für den Spätsommer, und er wollte nicht so recht zur Harmonie in den Bergen passen.

Während der Weiterfahrt rauschten schweigend die Bäume und die Landschaft vorüber. Mia schoss mit ihrem Handy ein paar Fotos davon. Jedoch waren die meisten Bilder verwackelt, die Scheibe spiegelte zu stark oder der Hinterkopf des Fahrers ragte halb ins Bild. Für adrette Fotos hatte sie noch nie den richtigen Blick gehabt.

„Wenn Sie wollen, lasse ich Sie im Dorf raus“, unterbrach der Fahrer das Schweigen.

„Aber wir müssen zum Gipfel“, protestierte Mia.

„Tut mir leid, der Weg ist zu schlecht und die Leute erzählen viel“, sagte der Taxifahrer trocken. „Da fahre ich nicht hoch.“

„Was erzählen denn die Leute?“, wollte Nick wissen.

„Wie ich gehört habe, geht seit Jahren niemand mehr zum alten Anwesen. Da soll irgendetwas Schreckliches passiert sein.“ Er fuchtelte mit einer Hand Richtung Berg.

„Aber ...“, begann Mia und wurde gleich unterbrochen.

„Keine Chance. Diese alten Geschichten gehen mich nichts an und ich werde mich nicht einmischen. Es gibt eine Dorfkreuzung. Da kann ich Sie absetzen.“

„Fahren Sie uns einfach bis zum Marktplatz. Da werden wir schon jemanden finden, der uns fährt.“ Nick wirkte genervt.

„Gibt keinen Marktplatz in Wilbrünnen, Sir. Sind nur ein paar Häuser. Am besten, Sie fragen jemanden im Dorf, falls Sie nicht weiterwissen. Die Leute helfen gern“, sagte der Taxifahrer und hielt an einem abgehenden Feldweg, der offenbar die einzige Kreuzung im Dorf war. „Das macht einhundertvierzig.“ Er drehte sich nach hinten und hielt seine Hand auf.

Nick kramte Geld aus seiner Hosentasche und drückte ihm zwei Scheine in die Hand. „Stimmt so“, sagte er zynisch und stieg aus.

Der Fahrer half noch beim Ausladen der Koffer und Rucksäcke und brauste eilig davon.

Mia und Nick standen wie ausgesetzt am Straßenrand. Die Sonne brannte heiß, kein Wölkchen war am Himmel zu sehen und kein Mensch war auf der langgezogenen Straße unterwegs. Der Asphalt war sauber, die Straße wirkte wie neu. Auf der gegenüberliegenden Seite verlief eine Häuserzeile. Dahinter lag eine saftige Naturwiese, die bis zum See hinunterführte und darin ertrank. So weit sie sehen konnten, war die Gegend menschenleer. Der Ort umfasste geschätzt dreißig Häuser, wovon die meisten schlicht, alt und klein waren. Und so, wie es aussah, existierten nicht mal ein Supermarkt oder ein Club. Hier war nichts.

Mia kramte den Zettel mit der Adresse aus dem Koffer und entfaltete das Papier.

„Riccardo Jäggi, Maisbühlstraße zwei“, las sie vor und sah sich um. Schützend hielt sie die flache Hand über die Augen, musste aber dennoch gegen die Sonne blinzeln. „Er soll helfen, wenn es Probleme gibt. Vielleicht kann er uns fahren.“

Am Abzweig wies ein Schild auf den zwei Kilometer entfernten Nachbarort. Mia hievte den Rucksack auf eine Schulter.

„So ein Idiot“, schimpfte Nick, sah dem Taxi nach und nahm das restliche Gepäck. „Hier entlang“, er deutete mit der Nasenspitze zum Straßenschild.

Der sanfte Hügel zog sich bis zu einem alten schiefergedeckten Haus. Neben der Tür am Holzzaun steckte das Namensschild mit der Aufschrift Jäggi. Da es offenbar keine Türklingel gab, rief Nick über den Zaun Richtung Haus. Und es dauerte nicht lange, bis eine alte Frau mit blau geblümter Schürze um die Hausecke kam. Leicht gebückt stützte sie sich auf ihren Stock und schlurfte gemach zu ihnen. Im weißgrauen Haar hatte sie ein rotes Band eingeflochten.

„Wollen sie zu mir?“, sagte sie mit rauer warmer Stimme, hielt inne und sah mit trüben Augen zu den beiden auf.

„Guten Tag! Wir suchen Riccardo Jäggi“, antwortete Nick in seiner charmanten Art.

„Ricci wohnt schon lange nicht mehr hier. Hat sein Land draußen auf der Höh´.“ Sie deutete mit ihrem knorrigen Finger auf die Weide und den Hügel dahinter.

„Ist es weit?“, fragte Mia.

„Es ist ein gutes Stück Weg. Sie sollten sich vorher ausruhen“, entgegnete Jäggi und Mia bemerkte ihre faltige und gegerbte Haut.

„Wir wollen wirklich keine Umstände machen“, sagte sie und stellte den schweren Rucksack auf den Boden.

„Sie sind nicht von hier, was?“, wollte die alte Frau wissen.

„Nein, wir sind aus Richmond ... London“, erklärte Nick.

„Ah, England! Ihr habt immer Nebel und Regen. Da wird es euch in den Bergen bestimmt gefallen. Ist eine gute Luft auf dem Land.“

„Wir haben nicht immer Nebel, Miss Jäggi“, versuchte Nick ein Gespräch aufzubauen.

„Kommen Sie.“ Energielos winkte sie und drehte sich zum Haus. „Hier entlang.“ Ihre Schritte waren langsam, so dass die paar Meter bis zum Haus die Geduld der beiden verlangte.

„Kann ich ihnen behilflich sein?“, fragte Nick bei den ausgetretenen Steinstufen vor der Tür, die Miss Jäggi offenbar überforderten.

Neben dem Eingang verlief eine Dachrinne in Zickzacklinie vom Dach bis zum Boden. Daran schloss sich ein Anbau an, der offensichtlich Jahre später errichtet worden war. Er besaß grün gestrichene Fensterläden, deren Farbe sichtbar bröckelte. Auch das Dach sah nicht besser aus. Moosüberzogene Ziegel ließen die rote Farbe von einst nur noch erahnen.

Die alte Frau dachte nicht daran, sich helfen zu lassen, stieg ohne Murren hinauf und ging ins Haus. „Hier entlang. Ich mache uns einen heißen Tee“, murmelte sie, ohne sich umzudrehen.

Mia und Nick folgten ihr in die gemütliche Wohnstube. Auf einer alten, durchaus gemütlichen Couch mit dickem Rückenpolster, wuchtigen Seitenlehnen und unzähligen abgegriffenen Kissen nahmen sie Platz.

„Bin gleich bei Ihnen“, sagte sie, zupfte an ihrer Schürze und wackelte in die angrenzende Küche, wo sie verschwand. Nick reckte seine Beine nach vorn aus und schob sie unter den flachen Tisch mit der handgehäkelten Tischdecke. Lässig lehnte er sich zurück und breitete beide Arme zur Seite aus. Verkrampft hielt Mia beide Hände zwischen den Oberschenkeln und musterte das dunkle Zimmer mit den unzähligen Erinnerungsstücken. Der Raum war vom Fußboden bis unter die Decke mit Nippes vollgestellt. Die Vorhänge aus schwerem Stoff wirkten staubig und der Kronleuchter vergilbt. Die Luft war schwer und der Geruch von Zimt mischte sich mit dem Staub und den alten Möbeln.

Nach wenigen Minuten, in denen Mia und Nick geschwiegen hatten, balancierte Frau Jäggi ein Tablett mit einer Kanne und drei Tassen in die Stube. Ihre übergroßen Schuhe zog sie über die dunklen Bretter. Unter dem Tablett erkannte Mia einen gehäkelten Topflappen, der offenbar die Wärme abschirmte.

„Wenn Sie so freundlich wären, Kindchen?“ Jäggie blieb kurz stehen und sah Mia an. „In der Küche steht eine Dose mit Keksen. Könnten Sie die bitte bringen? Ich bin nicht mehr ganz so flott auf den Beinen. Und der Rücken will auch nicht mehr, wie er soll.“

Das war für Mia keine Frage. Sie nahm der alten Dame bereitwillig den Weg ab, auch wenn ihr nicht im Geringsten nach Keksen zumute war. Sie wollte nach der langen Reise endlich ihr Ferienhaus sehen und nach einer warmen Dusche ins Bett fallen.

„Ich erledige das.“ Kraftvoll erhob sie sich und sauste zur Küche. Dort angekommen sah sie gleich die abgenutzte Blechdose auf dem Tisch stehen, blickte sich aber zunächst etwas um. Die Küche war mit einem großen Holzofen und etlichen Regalbrettern ausgestattet. Über dem Ofen hingen Handtücher zum Trocknen auf der Leine.

Mia hörte Nicks Stimme und lauschte.

„Ist Riccardo telefonisch erreichbar?“

„Auf der Höh´ gibt es kein Telefon“, sagte die Alte.

„Hat er ein Handy?“

„Vielleicht hat er so ein neumodisches Ding. Ich halte ja nicht viel davon, sollten Sie wissen. Da sollen jede Menge Strahlen verbaut worden sein, die hinauskommen und den Leuten in den Kopf gehen. Ich habe schon damals zu Hannelore gesagt, so ein Taschentelefon verquirlt den Leuten das Gehirn. Und sehen Sie doch, was passiert ist, der Kleine von ...“

„Frau Jäggi ...“, unterbrach sie Nick. „Wie können wir ihn erreichen?“

Mia spitzte die Ohren, schnappte sich die Dose und verließ damit die Küche. Die alte Frau hatte sich in den Sessel gesetzt und goss Tee ein.

„Mit seiner Mutter spricht der Junge nicht mehr oft. Der Bub hat ja nie Zeit. Gott sei Dank hat er wenigstens genügend Arbeit.“ Sie stellte die Kanne ab und nahm sich ihre Tasse. „Wo haben Sie meinen Jungen kennengelernt? Sind Sie alte Schulfreunde aus Menzingen? Wissen Sie, er hat vor ein paar Jahren so ein Mädchen dort kennengelernt. Angeblich ist sie Lehrerin. Na ja, wenn Sie mich fragen ...“ Sie schüttelte den Kopf und fuhr fort. „Ja, ja. Die Annefriedl. Ich kann Ihnen sagen ...“

„Frau Jäggi“, unterbrach Nick ihren Redeschwall. „Wir kennen uns nicht. Elin hat gesagt, wir sollen ihn hier treffen.“ Vorsichtig nahm er einen Schluck vom viel zu heißen Tee und stellte die Tasse zügig wieder ab.

„Elin aus Richmond?“, fragte Jäggi und wirkte nachdenklich mit dem Blick aus dem Fenster. Dann begann sie langsam zu reden: „Elin Barker.“ Sie blickte Nick an und nickte – mehr für sich selbst. „Seit Jahren vermietet sie das Haus vom Doc. In dieser Zeit waren nur verrückte Leute dort oben.“

„Wie meinen Sie das?“, wollte Mia wissen und die Alte schaute zu ihr, als ob sie herausfinden wollte, ob sie die nächsten Verrückten waren.

„Ich weiß nicht“, Jäggi winkte ab. „Einer merkwürdiger als der Andere. Wer weiß, wo sie die Leute immer aufgetrieben hat. Und Ricci hat sich darum gekümmert und alles in Ordnung gehalten. Ich weiß gar nicht, ob er das immer noch macht. Hat mir lange nichts erzählt. Sehr lange, müssen Sie wissen. Und dann gab es diese Geschichte, wonach sich die Doktorin über Nacht aus dem Staub gemacht hat. Bis heute weiß keiner, was wirklich dort draußen geschehen ist. Man erzählt sich ja so einiges. Aber das wirklich Schlimme an dieser Sache ist, dass wir seitdem nach Unterägeri zum Arzt müssen, zu dem alten Kauz Lambert.“ Sie legte ihren Handrücken an den Mund. „Ich könnte Ihnen da Sachen erzählen ...“

„Das glaube ich, Frau Jäggi. Aber wir müssen jetzt weiter. Sagen Sie uns einfach, wo wir Ihren Sohn finden“, griff Mia ein.

„Für den Tee ist doch noch Zeit?“ Ihr Blick wirkte beinahe entsetzt. „Der Weg ist weit. Sie müssen bei Kräften bleiben“, sagte Frau Jäggi und nippte geräuschvoll an ihrer Tasse, blickte zu Nick, atmete tief durch und sah aus dem Fenster. Sie lehnte sich zurück und erzählte Anekdoten aus ihrer Kindheit, von ihrer ersten Liebe und vom Dorfladen, als der noch von den alten Besitzern betrieben wurde. Mia und Nick erfuhren in den kommenden Minuten, dass dieser Laden in den Neunzigern schließen musste und sie bekamen die Kurzfassung der Geschichte von einem alten Fettsack aus dem Dorf zu hören, der täglich im Brunners Eck ein Gläschen Scotch zu viel getrunken hatte.

Nach einigen Unterbrechungen und etlichen Erinnerungen an das Wesentliche beschrieb sie letztlich doch den Weg zu Riccardos Haus. Wie selbstverständlich war auch diese Beschreibung mit alten Erinnerungen aus ihrer Kindheit gespickt.

Der Tee war geleert und die Alte bot an, eine weitere Kanne zu kochen. Energisch und mit wedelnden Händen lehnten Mia und Nick im gleichen Augenblick ab. Mia nahm den Rucksack und reichte Jäggi die Hand, bevor ihr eine weitere Geschichte einfallen würde.

„Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft und den leckeren Tee. Wir haben noch ein Stück Weg vor uns. Auf Wiedersehen, Frau Jäggi.“

„Ach, nehmen Sie doch ein paar Kekse auf den Weg mit. Warten Sie, ich hole einen Beutel.“

„Nein, wirklich nicht“, betonte Mia und drehte sich um.

Nick war zur Stelle und verabschiedete sich ebenso. Nach zwei weiteren Verabschiedungen verließen sie zügig das Haus und eilten auf die Straße.

„Sie können mich jederzeit besuchen kommen“, rief Frau Jäggi ihnen hinterher. „Am Samstag backe ich einen Kuchen. So etwas gibt es in England nicht. Er ist nach dem Rezept ...“

Die beiden hörten nicht mehr hin und eilten die Anhöhe hinauf, bis zu dem beschriebenen Abzweig, einem wenig benutzten Feldweg.

Abendsonne

Zum einen ist es die Liebe, die zwei Menschen miteinander verbindet und die Welt zu einem schöneren Ort macht, zum anderen ist es das Schicksal.

Ich wusste nicht, worauf ich mich bei dieser Reise eingelassen hatte, aber ich tat es und war dabei mich zu finden, zu sortieren, zu verstehen oder gar mich zu verlieren. Wer kann das schon im Vorfeld wissen? Und was bedeutet überhaupt Schicksal oder wer wagt es darüber zu urteilen, über mich oder die Wahrheit schlechthin?

Aus heutiger Sicht ist mir vieles davon klar geworden. Doch mit dem Wissen von damals konnte ich nicht anders handeln. Genau diese Erfahrungen machen den Unterschied im Leben aus. Und so konnte ich nicht anders, als mich auf das Abenteuer einzulassen.

-

Die Luft war heiß und trocken und der Tag würde bald zur Neige gehen. Nach der Beschreibung der Alten sollte Riccardos Hütte auf einer Lichtung hinter dem Wäldchen liegen. Und der holprige Weg war mühsam, mit dem vielen Gepäck und dem stetigen Anstieg.

Mia und Nick hatten den Hügel fast erreicht und brauchten eine Pause im Schatten einer wunderschönen Tanne. Die Koffer und Rucksäcke hatten sie an den Stamm gelehnt und Mia trank das letzte Wasser aus ihrer Thermoskanne.

„Ich kann den Taxifahrer verstehen, wenn er diesen Weg nicht fahren will“, sagte Nick und zeigte über die Weide in das Tal. Der Weg schlängelte sich bis zu einer Kuppe und verschwand hinter den Bäumen.

„Wir wissen nicht, wo das Ferienhaus ist. Das ist lediglich Riccardos Adresse“, entgegnete Mia und sah zur Sonne, die knapp über den Bäumen stand und ihre Farbe in ein kräftiges Dunkelrot geändert hatte.

„Wie auch immer, lass uns weitergehen“, sagte Nick, erhob sich und strich sich kleine Zweige und Blätter von der Hose.

Mia packte zusammen und wuchtete den Rucksack auf ihren Rücken. Gemeinsam folgten sie dem Weg. Erst auf der Höhe und unweit der kleinen Hütte blieben sie an den vermoderten Zaunpfählen stehen und stellten das Gepäck ab. Niemand war zu sehen und die halb verfallene Holzhütte schien unbewohnt zu sein. Über die komplette Front waren bis unters Dach Holzscheite aufgestapelt. Kletterpflanzen umgaben die Hütte wie der Rahmen eines nostalgischen Gemäldes.

Auf dem Grundstück lagen wahllos Teile von entsorgten Erntegeräten und zugewachsenem Schrott. Eine Autokarosse, an der die Räder und Glasscheiben fehlten, war mit Ranken überzogen und versank im hohen Gras. Daneben rosteten ein paar Fässer vor sich hin und hinter der Hütte ragte das Skelett eines kleinen, vermutlich defekten Portaldrehkranes hervor. Neben der Haustür parkte ein rostbrauner Transporter, dem eine provisorische Ladefläche aus unterschiedlichen Holzlatten angebaut wurde.

„Schauen wir uns das mal näher an“, sagte Nick und ging voran. Mia folgte ihm bis zur Haustür.

Er klopfte kräftig gegen die Tür. Sie warteten, aber nichts geschah.

„Hörst du das?“, fragte Mia und beide horchten auf das rhythmische Schlagen.

Er nickte aufmerksam. „Das ist ganz in der Nähe. Lass uns hinter dem Haus nachsehen.“

Sie folgten dem Geräusch.

Zwischen zwei gigantischen Holzhaufen hackte ein kräftiger Mann Holz. Die Holzmenge würde vermutlich für ein ganzes Leben kalter Winter ausreichen.

„Hey, Mister“, rief Nick ihm zu.

Der Mann arbeitete weiter, hatte ihn vermutlich nicht gehört.

„Hallo?“, rief Nick nochmals und ging auf ihn zu.

Mia kam langsam nach und versuchte den Fremden einzuschätzen. Der blonde Mann mit dem freien Oberkörper war muskulös und verschwitzt. Er schlug seine Axt in den Hackklotz und zog ein Tuch aus der hinteren Hosentasche, mit dem er sich über die Stirn rieb und umdrehte. Er musterte die beiden.

Seine jeansblaue Latzhose war schmutzig, die Tasche an einer Seite eingerissen und das Brustteil hing einseitig herunter. Der junge Mann mit der sonnengegerbten Haut war glatt rasiert. Auf seiner hohen Stirn standen Schweißperlen und eine Haarsträhne hing ihm zwischen den Augen.

Er verzog keine Miene, riss die Axt aus dem Klotz und schritt im Gegenlicht wie ein Filmstar mit erhobenem Haupt auf sie zu. „Was wollt ihr?“, sagte er schroff und legt die Axt auf seiner Schulter ab.

„Wir wollen zu Riccardo Jäggi“, sagte Nick.

Mia beobachtete das Geschehen aus sicherer Entfernung.

Knapp vor Nick blieb der Holzfäller stehen und sah schweigend an ihm vorbei zu Mia.

„Hey, Mister, sind Sie Riccardo?“, hakte Nick nach.

Herablassend blickte der Mann Nick an und sagte: „Wartet.“ Er lief an Nick vorbei zum anderen Ende des Hauses. Auf seinem Hinterkopf erkannte Mia in seinem kurzgeschnittenen Haar ein Muster in Form eines Steuerrades. Seine Axt lehnte er an ein Holzfass, er nahm den Deckel ab und tauchte seinen Kopf in das darin enthaltene Wasser. Es schwappte heraus und ein Schwall benetzte seine Latzhose und die nackten schmutzigen Füße. Triefend nass richtete er sich auf und schleuderte seine Haare zurück. Das Wasser spritzte gegen die Wand, wie bei einem nassen Hund.

„Wieso redet der nicht?“, fragte Mia leise, kam zu Nick und zog ihn am Arm zurück. „Das gefällt mir nicht.“

„Werft eure Sachen hinten auf den Chevy. Ich habe euch erwartet“, sagte der Holzfäller, ging um das Haus und verschwand aus der Sichtweite.

Nick stellte sich zu Mia. „Es wird wohl Riccardo sein.“

„Ich fühle mich nicht wohl dabei“, sagte Mia und rannte zu den Pfählen zu ihrem Gepäck.

„Wir sollten besser abhauen“, rief sie Nick zu.

„Aber was ist, wenn der Kerl Riccardo ist?“ Nick zeigte zum Haus.

„Mit dem Typ stimmt etwas nicht.“

„Mach dir keine Sorgen. Hören wir uns erstmal an, was er zu sagen hat.“

„Und wenn er eine Schrotflinte holt, um uns abzuknallen? Hast du seine starren Augen gesehen? Der ist irre. Ich verschwinde“, rief sie, nahm den Rucksack und lief damit zum Feldweg.

Die Haustür knarrte, Mia sah zurück, verhedderte sich an irgendwelchen heruntergefallenen Zweigen, verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin. Sie sah gerade noch den blonden Mann aus dem Haus kommen und schlug mit dem Kopf gegen die Erde.

„Au, verdammt“, fluchte sie wütend, sah den Mann auf sie zueilen und richtete sich mit brennenden Handflächen auf. Sie machte ein Schritt, wurde von einer Wurzel am Schuh festgehalten, verlor das Gleichgewicht und landete erneut auf den Knien und Händen im Gras.

Der Blondschopf erreichte sie und beugte sich zu ihr hinunter.

Entgeistert sah ihn Mia an. Jedenfalls hatte er keine Schrotflinte bei sich. Seine fremdartigen Augen verliehen seinem Gesicht einen exotischen und durchaus geheimnisvollen Touch.

Er reichte ihr die Hand, aber sie war zu perplex, um darauf zu reagieren. Kurzentschlossen schnappte er sie unter den Armen und stellte sie auf die Beine, als wäre sie eine umgefallene Schaufensterpuppe. Mia konnte weder etwas sagen noch sich bewegen.

Er stellte seinen Kopf schräg und stupste sie leicht gegen die Schulter. Wollte er sichergehen, dass sie von alleine stehen blieb? Sie wankte ein wenig, stand aber stabil. Also kniete er sich vor sie, befreite ihren Schuh von den Fesseln, richtete sich wieder auf und strich ihr ein Stöckchen vom Pullover. „Wir müssen fahren. Es wird bald dunkel.“ Mit ausgestrecktem Arm zeigte er zum Wagen.

„Ah“, sagte sie nur und wusste nicht so recht, wie sie reagieren sollte.

„Ihre Hose ist ruiniert.“ Er deutete auf ihre gerissene Hose und die helle Haut darunter. „Wenn Sie wollen, kann ich mir das ansehen, nicht dass sich etwas entzündet.“

„Nicht nötig.“ Jetzt erst bemerkte sie ihr schmerzendes Knie.

„Ich erledige das“, mischte sich Nick ein und kam näher.

Geistesabwesend beobachtete Mia einen Tropfen, der dem Unbekannten von den Haaren über den Hals und die Schultern lief, und hinter seiner Latzhose verloren ging.

Nick brach das Schweigen: „Sind Sie Riccardo?“

„Ja. Elin hat euch angekündigt.“

„Dann bringen Sie uns zur Ferienwohnung?“

„Beeilen wir uns“, sagte Riccardo, hob den Koffer auf und ging zum alten Chevy. „Heute wird es einen herrlichen Sonnenuntergang geben. Der ist in diesen Tagen wahrhaft sehenswert“, sagte er, ohne sich umzudrehen, und zeigte mit gespreizten Fingern zu den entfernten Bergkuppen und zum Horizont.

Als er den Wagen fast erreicht hatte, sagte Nick leise: „Komischer Kauz.“

Mia beobachtete Riccardo, wie er den Koffer auf die Ladefläche warf und die quietschende Fahrertür öffnete. „Kommen Sie schon“, rief Riccardo und setzte sich hinter das Lenkrad.

„Dann wollen wir mal.“ Nick schnappte sich den Rucksack und nahm Mias Hand.

Riccardo ließ den Chevy an. Der Motor knatterte laut und blechern und dicker schwarzer Rauch vernebelte die Rückseite. Riccardo schloss die Tür, gab Gas und wendete im großen Bogen. Neben den beiden hielt er an.

Die Auspuffgase stiegen Mia in die Nase, die Beifahrertür sprang auf und die beiden stiegen ein.

Zu dritt war es recht eng im Fahrerhaus. Zwei verblichene Plüschwürfel baumelten wild am Rückspiegel hin und her. Die Frontscheibe war gesprungen und matt. Staub und Sand hatten eine graue Schicht über die verrosteten Armaturen gelegt. Immerhin schienen die Anzeigen zu funktionieren. Auf der Ablage rutschte in den Kurven eine alte Pappschachtel von einer Seite zur anderen und das Auto stöhnte bei jedem Schlagloch, als gäbe es seine letzte Kraft für seine Fahrgäste. Ein Fuchsschwanz am Zündschlüssel tanzte wild umher und streichelte ab und an Mias Oberschenkel oder ruhte sich darauf aus, um sich beim nächsten Schlagloch erneut wild zu drehen. Das aufgezogene Seitenfenster brachte eine angenehme Brise in die Kabine, was zum einen eine angenehme Kühle verschaffte, und zum anderen den unangenehmen Geruch aus modrigem Leder und Schweiß mit klarer Luft verwirbelte.

Die Fahrt über den Feldweg führte durch einen Wald und vorbei an Gerstenfeldern. Nach einer Felswand mit einem wunderschönen Wasserfall auf der einen Seite folgten eine blühende Naturwiese und ein Maisanbaugebiet auf der anderen.

„So“, sagte Riccardo nach geraumer Zeit inmitten eines Tannenwaldes auf einer steinigen Strecke, die steil nach oben führte. „Wir sind gleich da. Sehen Sie dort.“ Er deutete auf den Berg vor ihnen. „Es liegt hinter den Tannen auf der großen Lichtung.“

Nick reckte sich zur anderen Seite, um etwas zu sehen, und Mia folgte dem Fingerzeig. Beide konnten zwischen den Bäumen kein Ferienhaus entdecken.

„Einst war das Anwesen das schönste Haus in der Region“, sagte Riccardo. „Ist immer noch ein schönes Fleckchen Erde.“ Nachdenklich nickend stimmte er seinen eigenen Worten zu.

Der Transporter ächzte auf dem beschwerlichen Weg am Rande einer Schlucht und hinauf über Serpentinen durch den Wald.

„Wir sind da“, brach Riccardo das Schweigen und hielt den Wagen auf einer makellos gepflegten Wiese an. Die Bremsen quietschten.

Mia öffnete die Tür und stieg aus. Vogelgezwitscher, der intensive Duft von Baumharz, Moos und einer Morgenfrische und die Ruhe des Waldes empfingen sie. Riccardo und Nick stiegen ebenfalls aus dem Wagen.

Hinter der Wiese begann ein Weg aus schneeweißen Kieseln. Er führte zu einem gewaltigen Landhaus, das nicht den Eindruck vermittelte, dass es unbewohnt war. Alles war gepflegt, die Fassade hellgelb gestrichen und das Holz, die Türen und die hohen schmalen Fenster waren strahlend sauber. Weiße Fensterläden bildeten einen edlen Kontrast. Eine breite Treppe aus blütenweißem Marmor führte von den Kieseln zur doppelflügeligen, schweren Holztür. Die Tür rahmten pompöse Marmorsäulen.

Mia sah die Fassade hinauf bis zum gewaltigen Dachüberstand. Zwei mächtige Schornsteine ragten empor.

„Das ist ja ein gigantisches Anwesen“, sagte sie und konnte den Blick nur schwer abwenden. Dann wandte sie sich an Riccardo: „Zeigen Sie uns das Appartement?“

Riccardo schüttelte kurz den Kopf. „Sie haben kein Appartement.“

„Was soll das heißen?“, warf Nick ein.

„Ihnen steht das gesamte Anwesen zur freien Verfügung. Willkommen in den Bergen. Der Wagen steht in der Garage und ist vollgetankt.“ Er zeigte zum Ende des Hauses. „Sie können unten im Dorf nachtanken. Richtung See gibt es eine Tankstelle. Dort bekommen Sie außerdem Getränke, Angelhaken und Sonnencreme. Frische Brötchen gibt es ab sieben.“

„Das alles? Das ganze Haus?“ Mia war verblüfft.

„Ja. Sie können die Räumlichkeiten nutzen, wie es Ihnen beliebt. Haus, Garten, Park und das Auto. Leider wurde der Pool nicht mehr instandgesetzt. In den fünfzigern wurde er undicht und verfiel seither. Die Doktorin legte keinen Wert auf kalte Bäder.“ Riccardo grinste schelmisch. „Die Anzahl der warmen Tage sind in den Bergen überschaubar.“

„Es ist spät“, sagte er dann und räusperte sich. „Geschirr ist vorhanden und der Kühlschrank mit dem Nötigsten gefüllt. Soviel ich weiß, müssen Sie eine Aufgabe erfüllen. Vergessen Sie das nicht. Ich werde Sie nun alleine lassen. Sie hatten sicher einen anstrengenden Tag.“ Er wendete sich ab.

„Was ist mit den Schlüsseln?“, fragte Nick.

Riccardo drehte sich nochmals um und grinste. „Gibt keine Schlüssel. Ist immer offen. Hier oben brauchen Sie keine Schlüssel. Ach, ...“, er machte eine kurze Pause. „Ich komme jeden Dienstag und Freitag vorbei, um nach dem Rechten zu sehen und erledige einige Dinge im Garten. Haben Sie noch Fragen?“

Da gab es wirklich jede Menge Fragen, aber Mia wollte ihn nicht länger als nötig aufhalten und sagte: „Vielen Dank, Mister, es ist sehr schön hier.“

„Nichts zu danken. Danken Sie dem Between, Mrs Barker oder wem auch immer, aber nicht mir. Ich bin nur der Laufbursche.“ Er lief zur Wiese zurück, lud die Koffer und Rucksäcke aus, stellte sie neben den Chevy und stieg ein. Dann startete er den Motor, wendete und verschwand knatternd im Wald. Die Geräusche verstummten zügig, nur der Geruch von Dieselabgasen blieb eine Weile zurück.

„Hat er Between gesagt? Was ist das?“, wollte Mia von Nick wissen.

„Keine Ahnung. Hab es auch nicht richtig verstanden.“ Er zuckte mit den Schultern.

„Ist es nicht traumhaft?“, stellte er fragend fest.

„Himmlisch. So etwas hätte ich im Leben nicht erwartet, als die Alte uns das angeboten hat. Alles Mögliche, aber nicht das hier. Und die Menschen sind so offenherzig. Findest du nicht auch?“ Sie lächelte.

„Mit traumhaft meinte ich nicht diesen Riccardo“, sagte Nick.

Sie trat einen Schritt zur Seite und sah ins Tal herunter. Die Sicht war klar und sie konnte einzelne Häuser im Dorf erkennen.

„Ich habe durchaus bemerkt, wie du ihn angesehen hast.“

Sie schaute ihn an. „Wie soll ich ihn angesehen haben?“, tadelte sie. „Ich war froh, dass er uns am Leben gelassen hat.“ Rasch wechselte sie das Thema: „Ich sehe mir den Garten an.“ Mia lief den Hügel hinunter.

Die Sonne ging bereits unter und überzog den Himmel mit einem Farbenspektakel, das geradewegs dem Pinsel eines begnadeten Malers entsprungen sein könnte. Wie fallengelassen stand die Abendsonne glutrot auf einem eisbedeckten Gipfel und flirrte verschwommen im Gegenlicht. Wolkenschleier zogen vorüber und gaben dem Gemälde eine verträumte Note vom Glück. Die Gesänge der Vögel und Grillen rahmten den Abend akustisch ein.

Riccardo hatte recht gehabt. Es war ein Anblick, den man nicht verpassen sollte.

1955er Buick

Neben der Haustür befand sich ein großes Schild aus Messing. Darauf stand: Dr. Abby McGowan, Allgemeinmedizin. Darunter war eine Telefonnummer zu lesen. Über dem Schild hing eine polierte, goldene Glocke mit Kordel daran, an deren Ende wiederum eine kleine goldene Kugel befestigt war.

Nick hatte die Koffer vor der Tür abgestellt. Er drehte den goldenen Knauf der Eingangstür und drückte einen der beiden Türflügel auf. Kälte schlug ihm entgegen, gemischt mit dem Geruch alter Möbel und abgestandener Luft.

Er trat ein.

Die Abendsonne zeichnete schmale Streifen auf das Parkett im Eingangsbereich, abgesehen davon war es recht dunkel.

Respektvoll betrat Nick das Haus. Ein abgenutzter Teppich mit orientalischem Muster lag auf dem Boden und reichte bis zu einer mächtigen weißen Treppe im hinteren Bereich. Zahlreiche Ölgemälde zierten die Wände. An der linken Wand standen in Reih und Glied Polsterstühle und ein flacher Glastisch, wie in einem Wartebereich für Patienten. Frische Rosen waren in einer gläsernen Vase aufgestellt und daneben lag ein Stapel abgegriffener Zeitschriften.

Die Standuhr gegenüber könnte ein altes Erbstück aus Uromas Zeiten sein. Ihr Pendel ruhte und die Zeiger waren irgendwann einmal um Viertel nach zehn stehen geblieben. Das dunkle Holz des Gehäuses passte nicht zum übrigen Mobiliar aus heller Eibe.

Von dem geräumigen Eingangsbereich gingen vier Türen ab, und neben der Treppe standen raumhohe Regale, die bis zum Überquellen mit Büchern gefüllt waren. Bereits der hohe Eingangsbereich wirkte mit seinem gewaltigen Kronleuchter wie ein Festsaal. Es schien gemütlich zu sein, war aufgeräumt und blitzblank.

Nick öffnete die Fenster neben der Tür und stieß die Fensterläden nach außen auf. Die Abendsonne erhellte den Raum.

„Wie wundervoll“, murmelte er zufrieden und schaute in den Park hinunter. Mia sollte seine faszinierende Entdeckung mit ihm teilen. Also lief er zur Haustür und rief in den Park hinein: „Wo bist du, Schatz? Das musst du dir ansehen.“ Er sah auf den Hof und in den Garten, konnte sie aber nirgends entdecken.

„Schatz?“, rief er nochmals. „Das Haus ist ein Traum.“ Er sah hinter zwei Steinskulpturen einen Weg aus weißen Kieseln durch einen Torbogen in den Garten führen, der aus symmetrischen Wegen bestand, die wiederum von niedrigen, akkurat geschnittenen Hecken begrenzt wurden. An auffälligen Orten waren steinerne Bänke platziert, wovon eine Sitzgruppe auf das Tal gerichtet war und eine weitere um einen ausgetrockneten Springbrunnen stand. Dahinter erkannte Nick einen kleinen Pavillon, dessen Dach von sechs verzierten Säulen getragen wurde.

Mia war nicht zu sehen. Er lief die Treppe hinunter, wo er das erste Mal die außergewöhnliche Färbung der Gehwegplatten vor dem Haus bemerkte, die je nach Blickwinkel ihre weiße Farbe in ein schimmerndes Grün wechselten. Kein einziger Grashalm und kein noch so winziges Unkraut zerstörten die Perfektion dieses gepflegten Grundstückes.

Die offenstehende Garage am hinteren Ende des Hauses zog sein Interesse auf sich. Das musste er sich genauer ansehen. Noch bevor er hineinging, konnte er zwei kleine runde Scheinwerfer erkennen, die wie Augen aus der Dunkelheit starrten. Dazwischen glänzte ein gewaltiger chromüberzogener Kühlergrill, der mit einer fetten Stoßstange verschmolzen war. Nick lächelte, als er die Weißmantelreifen entdeckte, und strich nahezu zärtlich über die Seiten des Cabrios.

„Das ist ja mal ein genialer Wagen“, sagte Mia aus dem Dunkel der Garage und Nick zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück. „Man, was hast du mich erschreckt. Was machst du hier?“

Sie kam nach vorne ins Licht. „Selbst die Ledersitze sehen wie neu aus.“ Sie strich über den Beifahrersitz.

„Echt der Wahnsinn“, sagte Nick und kam zu ihr. „Hast du schon das Haus gesehen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Du, Nick? Warum vermietet die Ärztin so ein Anwesen nicht permanent. Hierfür finden sich doch immer Leute.“

Nick zuckte mit den Schultern. „Tja, schade drum.“

„Oder sie könnte es verkaufen, wenn sie selbst nicht hier wohnen will. Ist bestimmt ein paar Milliönchen wert.“

„Anscheinend ist sie untergetaucht. Schließlich sollen wir sie nicht aus Spaß suchen“, sagte Nick.

Gedankenverloren kratzte sich Mia im Nacken. „Wahrscheinlich.“

„Also, mir gefällt es. Lass uns die Zeit genießen“, sagte Nick mit Blick zum Oldtimer. „Bevor wir das abarbeiten müssen.“

Mia wirkte verträumt. Am Tor blinzelte sie gegen die Sonne. „Kannst du dich noch an Elins Worte erinnern?“

„Was meinst du?“

„Sie hat ja nicht besonders viel über das Haus erzählt. Aber sie sagte, dass es ein Urlaub nahe der Wolken sein würde, der so schön wie der Himmel selbst ist. Und, wir würden an diesem Fleckchen Erde unsere Sorgen vergessen und unsere Aufgabe finden. Langsam kann ich mir vorstellen, was sie damit gemeint hat.“

„Ich bin froh, dass wir es uns nicht entgehen ließen. Um ein Haar wären wir nicht gefahren.“ Nick strich über den dunkelgrünen Lack des Wagens. Die blitzblanke Chromleiste lief geschwungen über die Seitentüren bis zu den Hinterrädern. Der Lack war glatt, gepflegt und kalt. Ein plötzlicher Schmerz durchschoss ihn von der Fingerkuppe bis ins Herz. Reflexartig zog er die Hand weg. „Ahh“, rief er, verzog das Gesicht und hielt sich schützend den Finger.

„Was ist?“ Mia kam zu ihm.

„Ich habe mir einen Splitter eingezogen. Verdammt!“ Nick drückte einen Tropfen Blut aus der Fingerspitze und tupfte es mit seinem Taschentuch ab. Dann zog er eine rostige Spitze heraus.

„Rost? Wo kommt das her?“ Er ging in die Hocke und musterte die makellose Chromleiste. Keine Stelle schien abgenutzt zu sein oder war beschädigt. Verwundert stellte er sich aufrecht und schob beide Hände in die Hosentasche. Dort spürte er den Ehering.

„Weißt du was, Nick? Langsam wird mir klar, warum wir das Anwesen bekommen haben. Die Alte ist sicherlich nicht uneigennützig. Die Suche nach Abby und ihrem Freund könnte viel Zeit und Geld Inanspruch nehmen und Elin Barker hat uns sicher nicht die ganze Wahrheit gesagt.“

„Na wenn schon. Wir tun unsere Pflicht und sehen, ob wir irgendwelche Hinweise finden. Wenn nicht, ...?“, Nick atmete schwer. „Was soll sie schon machen? Wenn sie die Leute unbedingt finden will, soll sie jemanden engagieren, der sich mit so etwas auskennt. Wir sind schließlich keine Detektive.“

Ihre Augenwinkel bildeten Fältchen vom sanften Grinsen. „Vielleicht ist es der Pakt mit dem Teufel.“

Nick ließ sich von ihrer fröhlichen Art anstecken.

„Wenigstens sind die Leute nett“, sagte sie.

„Redest du wieder von dem Waldmenschen?“ Nick lehnte sich gegen den Kotflügel und verschränkte die Arme.

„Ric ist kein Waldmensch. Er ist ein freundlicher, einfacher Mann. Was stört dich daran?“

„Gerade hast du noch gedacht, er will dich umbringen und jetzt ist er schon dein Ric.“ Nick zog die Augen zusammen. „Dieser Dorftrottel spielt sich auf, als wäre er der Eigentümer des Anwesens, dabei ist er nur der blöde Gärtner, und ..., und er trägt nicht einmal Schuhe.“

„Na und?“, schrie sie und verschränkte ebenso die Arme.

„Der kann bestimmt nicht mal schreiben und lesen“, stocherte er weiter.

„Was soll das werden?“ Mia blieb laut, zog provokant ihre Schuhe und Strümpfe aus und stellte sie behutsam auf die Motorhaube. „So!“, sagte sie streng. „Das ist nämlich ziemlich angenehm.“

„Liebes! Es ist schön, dich so gelassen zu sehen. Genau das wollte die Barker. Und nebenbei gesagt, ich auch.“ Nick kam zu ihr und hielt sie mit beiden Händen an den Schultern fest. „Empfindest du etwas für diesen Waldmenschen?“

Sie riss sich los, ging einige Schritte aus der Garage in die letzten Sonnenstrahlen heraus und lachte gepresst. „Was soll diese blöde Frage?“ Sie verschränkte wieder die Arme. „Er ist einfach nur nett. Immerhin hat er uns gefahren. Schließlich liegt das Haus nicht gerade in der Stadt.“

„Nett?“ Nick verzog die Lippen. „Na, hoffen wir mal.“ Er stellte sich neben sie und sah genervt ins Tal hinunter. Ein kühles Lüftchen huschte durch seine Haare. „Lass uns reingehen und die Koffer auspacken. Morgen gehe ich ins Dorf und höre mich ein wenig wegen des Anwesens und dieser Doktorin um.“

„Schon morgen?“ Sie sah ihm in die Augen.

„Ja, ich glaube, wir brauchen wirklich ein wenig Auszeit voneinander. Ich kann das so nicht.“ Jetzt sah er sie kurz an. „Ich liebe dich wirklich, mein Kastanienmännchen. Aber du musst wissen, was du wirklich willst.“ Er wandte sich ab und lief zur großen Treppe am Haupteingang.

Verstand auf Abwegen

Zwei Bedienstete im schwarzen Smoking öffneten Mia die mächtige Haustür, noch bevor sie mit ihren nackten Füßen die Treppe emporgestiegen war. Drinnen standen die Hausangestellten in einer Reihe. Die Damen trugen schwarze Kleider und darüber weiße Schürzen mit Rüschen daran und einer ebenso weißen Haube in den Haaren.

Die Hausdame knickste zur Begrüßung, reichte Mia einen prickelnden Sekt, und eine andere war behilflich, ihr die Jacke abzunehmen.

Mia stolperte. Damit flog ihr schöner Traum dahin. Sie stand in der Eingangstür und blickte in den dunklen Vorraum. Kühle Luft und abgestandener Geruch von Staub und alten Möbeln kamen ihr entgegen. Das seichte Knarren der Tür hallte im Hausinneren wider. Fast hätte sie den üppigen Kronleuchter und eine volle Bücherwand aus ihrem Trugbild mit in die Wirklichkeit nehmen können, doch nach einem flüchtigen Blinzeln breitete sich hinter der Tür modriger Boden aus. Moos und Schlingpflanzen überzogen die Balken und Wände. Durch die einsturzgefährdete Rückwand fiel Sonnenlicht ein. Dahinter schimmerte ein dunkler Wald mit mächtigen Bäumen hindurch.

Erschrocken trat Mia zurück.

„Schatz. Komm doch.“ Die entfernten Worte klangen nach Nick. Ihr Herz raste und sie blinzelte erneut.

„Geht es dir gut?“ Seine Berührung holte Mia in die Wirklichkeit zurück. Sie sah an sich hinab und spürte einen weichen, orientalisch anmutenden Teppich unter ihren nackten Fußsohlen. Das war durchaus angenehm. Langsam blickte sie auf, sah den ordentlichen, fast ehrwürdigen Eingangsbereich und drehte sich langsam im Kreis um sich selbst. Nick stand vor ihr.

„Du bist ganz blass. Möchtest du einen Schluck Wasser?“, fragte er.

Der modrige Geruch war verschwunden. „Entschuldige, mir geht es gut“, sagte Mia in ruhigem Ton, war aber durchaus verwirrt von ihrem real wirkenden Trugbild.

„Okay. Dann sehe ich mich oben um. Ich werde unser Schlafzimmer suchen“, sagte Nick fröhlich und zeigte die barocke Treppe hinauf.

Mia nickte. Vorerst wollte sie die untere Etage erkunden. Sie sah Nick hinterher, bis er oben verschwand, strich über eine Reihe Buchrücken, die im Regal standen, und schaltete die goldene Stehlampe ein. Es gab vier Türen, die jeweils von Säulen gerahmt wurden. Mia entschied sich für die erstbeste Tür und trat in das Behandlungszimmer ein.

Der Raum war hell. Gelbe bis braune Farbtöne bestimmten das Bild in perfekter Harmonie. In der Mitte stand eine Behandlungsliege, die fein säuberlich mit einem Tuch abgedeckt worden war. Am Kopfende zeichnete sich darunter eine Nackenrolle ab und am Fußende lag ein glatt gezogenes gummiertes Laken. Neben dem Bett stand ein Hocker mit orangefarbenem Polster. An der Wand, gegenüber den Fenstern, hingen neben einem Porträt im edlen Holzrahmen zwei kleinere Bilder und ein Zertifikat der Ärztekammer. Auf einer Zeichnung war der Querschnitt eines menschlichen Herzens zu sehen, auf dem anderen ein transparenter Oberkörper mit Schwerpunkt auf die Atemwege. Auf dem Tischchen an der Wand lagen fein säuberlich aufgereiht ein Blutdruckmessgerät, ein EKG und einige Klemmen. Die rustikale Schrankwand war vollgestellt mit Laborgeräten und Schalen in verschiedenen Formen und Größen. Hinter den Glastüren war der Schrank mit Verbandsmaterialien, Medikamenten und jeder Menge Ordnern gefüllt. Auf dem Schreibtisch warteten ein betagter Computer mit altem Röhrenmonitor und eine kleine Arzttasche aus abgewetztem Rindsleder auf ihren nächsten Einsatz. Zumindest sah es bei all der peniblen Ordnung und Sauberkeit danach aus. Von der Decke hing eine weiße Designerlampe mit schlichten Lamellen und silbernen Streben.

Mia trat vor das raumhohe Fenster und sah hinaus. Dieser Raum lag direkt neben dem Eingang. Von hier hatte sie den Zugang und den Hof gut im Blick. Die Sonne sank hinter dem Berg ab und das Tageslicht verabschiedetet sich mit jeder weiteren Minute.

Mia lehnte sich mit dem Po an die Fensterbank, schloss zufrieden die Augen und atmete tief durch. Ein intensiver Waldgeruch strömte tief in ihre Lunge. Es duftete nach feuchtem Waldboden, Pilzen und saftiggrünen Mooshügeln.

Mia fühlte sich wie im Märchenwald und spürte das Glück in ihrer Brust. Mit wohligem Seufzen öffnete sie ihre Augen. Da raste ihre Hochstimmung in den Keller, wie ein Fahrstuhl im freien Fall. Die Freude wich der Angst und Verunsicherung.