Abgründe am Semmering - Beppo Beyerl - E-Book

Abgründe am Semmering E-Book

Beppo Beyerl

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Beschreibung

Semmering 1929: Auf das Südbahnhotel in der exklusivsten Urlaubsregion Mitteleuropas wurde ein Attentat verübt - zum Glück ohne dramatische Folgen. Der Wiener Ermittler Max Mitschek findet jedoch einen Hinweis, dass der Attentäter ein Viadukt der Südbahn zu sprengen beabsichtigt. Will sich jemand an der Eisenbahngesellschaft rächen? Oder sollen die berühmten Besucher der mondänen Hotelanlagen getroffen werden? Die Zeit drängt, und Max Mitschek kommt nicht einmal dazu, im Südbahnhotel in Ruhe ein Fiakergulasch zu verzehren.

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Beppo Beyerl

Abgründe am Semmering

Südbahnkrimi

Zum Buch

Aus der Spur geraten Auf dem Semmering treffen sich anno 1929 die reichsten Sommer- und Winterfrischler Mitteleuropas. Als im Südbahnhotel ein Sprengstoffanschlag verübt wird, bietet sich dem Wiener Oberinspektor Max Mitschek, der sich seit seiner letzten Pleite in Triest nur noch mit faden Fällen herumschlägt, eine willkommene Abwechslung. Er fährt mit der Semmeringbahn zum luxuriösen Ort des Geschehens und trifft dort auf die Hautevolee, einen Konstrukteur, der die Südbahn elektrifizieren will, und einen Wiener Füllfederverkäufer, der bei seinen Werbemethoden keine Grenzen kennt. Als ein weiterer Anschlag auf ein Viadukt der Südbahn angekündigt wird, drängt die Zeit. Steckt der Konstrukteur dahinter, der eine Absage von der Eisenbahngesellschaft erhalten hat und sich nun rächen will? Ist der Verkäufer schuldig, der stets behauptet, besser als die Kriminalpolizei zu sein und Einzelheiten über die vermeintliche Sprengung des Viaduktes weiß? Oder hat es jemand auf die Reichen und Mondänen abgesehen? Max Mitschek hat die Qual der Wahl …

Beppo Beyerl wurde 1955 in Wien geboren. Er schreibt Reportagen und Bücher über die Insassen Wiens und die Bewohner der restlichen Welt. Er hat drei Heimaten: Wien, Südböhmen und den istrischen Karst. Er ist Mitglied des Österreichischen Schriftstellerverbandes und der Grazer Autorenversammlung. Nach »Mord im Lainzer Tiergarten« lässt er Max Mitschek nun am mondänen Semmering der späten 1920er-Jahre ermitteln.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes von: © »FOTO: FORTEPAN / Schoch Frigyes,https://commons.wikimedia.org/wiki/File:S%C3%BCdbahnhotel._Balra_a_Silberer_kast%C3%A9ly_l%C3%A1tszik._Fortepan_17836.jpg«

ISBN 978-3-8392-7820-8

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Kapitel Freitag, 13. September 1929

Max Mitschek im Büro * Das Attentat auf das Südbahnhotel * Der Zeuge

Max Mitschek saß früh am Morgen an seinem Stammtisch des Terrassencafés im ersten Stock des Margaretenhofes – mit Blick auf die Statue der heiligen Margarete auf dem davorliegenden Platz – und nippte an seiner Melange. Sollte er sich freuen oder ärgern?

»Der Kaffee ist zu heiß!«, brüllte er zur Kellnerin mit den Perlenohrringen, deren Namen er sich partout nicht merken konnte, vielleicht auch nicht merken wollte.

»Aber Herr Kriminaloberrat! Gestern war er Ihnen viel zu kalt«, rief die Kellnerin von der Schank zum Fenstertisch zurück.

»Und lassen Sie mich mit Ihren blöden Titeln in Ruh, die stimmen sowieso nicht«, grantelte der Oberinspektor.

Frau Amalia, so ihr Name, brachte ihm ein Glas mit kaltem Leitungswasser. »Die Titel sind nicht blöd!«, sagte sie und grinste ihn spitzbübisch an.

»Nur die Träger der Titel, ich weiß. Bitte, den Schmäh kennt sogar die Polizei. Und jetzt lassen Sie mich gefälligst in Ruh, ich muss nachdenken.«

»Bitte sehr, wenn der Herr Oberkriminalrat einmal nachdenkt, dann muss man ihn lassen!«

Mitschek schlürfte wieder an seiner Melange und betrachtete das Hinterteil der heiligen Margarete mitten auf dem Margaretenplatz. Nein, nicht was man jetzt denken könnte. Er ergötzte sich nicht an den weiblichen Formen, von wegen strammes Hinterteil. Stramm war nur sein Junggesellendasein, und zusätzlich war er fest im Glauben der Katholischen Kirche erstarrt, weshalb ihn das von einem steinernen Mantel überdeckte Hinterteil der Märtyrerin normalerweise beruhigte und besänftigte.

Heute aber nicht. Noch immer wurmte ihn das Streitgespräch von gestern Abend.

»Gott ist eine chemophysische Substanz«, hatte im »Café Museum« der Schriftsteller Leo Perutz behauptet.

Und er, Max Mitschek, hatte geantwortet: »Im Gegenteil! Nicht Gott, sondern der Planet Erde ist eine chemophysische Substanz, und die wurde von Gott geschaffen!«

Der Prager Schriftsteller hatte erläutert, dass eine straffe Auslegung seiner chemophysischen These grad­aus zu monotheistischen Religionen führen würde, eine liberale Auslegung hingegen zu polytheistischen. »Das ist wie bei Nationalstaaten«, hatte der obergescheite Leo Perutz doziert. »Da gibt es streng geführte Gebilde mit allmächtigen Einzelpersonen an der Spitze, Monarchien beispielsweise. Oder Staaten mit flachen Hierarchien und diversen Entscheidungspersonen, das sind dann Republiken.«

Max Mitschek – er war ein alter Monarchist – wischte sich mit der Papierserviette den Schweiß von der Stirn. Das hat man davon, wenn man sich im Kaffeehaus mit einem dieser Autoren einlässt. Noch dazu mit dem aus Prag stammenden Perutz, der in Wien einen Erfolgsroman nach dem anderen schreibt. Dabei hatte Mitschek überhaupt keine Ahnung, was eine chemophysische Substanz war und welche Wunder sie verrichten konnte. Dieses Problem gehörte zur Kategorie »nicht lösbar«, und er musste jetzt unbedingt auf andere Gedanken kommen.

»Die Kronenzeitung!«, rief er lautstark in Richtung der Schank, und nach gezählten 60 Sekunden brachte ihm die Kellnerin mit den Perlenohrringen – Amalie, wie wir wissen, aber nicht Max Mitschek – die Freitagszeitung. Oberinspektor Mitschek begann zu blättern. Seine Laune verbesserte sich jedoch nicht. Na wunderbar, die Kohlenpreise stiegen schon wieder, der Meterzentner kostete ab Rutsche 8,66 Schilling. Gehörte auch zu »nicht lösbar«, denn die Kohlenpreise stiegen immer, ob jetzt im September oder im Jänner. Schuld daran waren für Mitschek die Tschechen, die »Behm«, die die Kohle nach Wien lieferten und andauernd die Preise erhöhten. Früher, als alles noch ein gemeinsames Land war, nämlich die Monarchie, da wurden die Kohlentransporte billigst und zur Zufriedenheit aller …

Mitschek musste sich beruhigen, sonst würde er den Arbeitstag nur mit seinem dreifachen G, mit Grant und Grimm und Grappa schaffen.

Also blätterte er weiter. Zum Glück fand er im Kulturteil etwas Erfreuliches. Im »Wiedner Grandkino«, Adresse »Am Mittersteig«, also nicht weit weg von seiner Wohnung im Margaretenhof, gaben sie »Vater Radetzky«.

No alstern, das hält Leib und Seele zusammen, dachte Mitschek. Wer wohl den famosen Feldherrn spielt? Er las ein paar Zeilen in den Artikel hinein. Ah so, das ist kein Spielfilm, sondern ein Orchesterkonzert, stellte Mitschek fest. Mit dem Radetzkymarsch vom Strauss-Vater, und das im »Grandkino«. Gut, für eine Abendbeschäftigung wäre also gesorgt.

Den Sportteil ließ Mitschek heute aus. Erstens war gestern, einem Donnerstag, sowieso nichts los gewesen, und zweitens beschloss er nach einem Blick auf die »Schauer«-Uhr1 am Margaretenplatz: sofortiger Aufbruch ins Sicherheitsbüro!

»Zahlen!«, brüllte der Oberinspektor. Danach packte er seine Aktentasche – sein dreister böhmischer Assistent Schimany bezeichnete selbige als »Lederrawuzer« – und ging flotten Schrittes zur Station der Stadtbahn. Mit der WD – der Wiental- und Donaukanallinie – fuhr er zur Rossauer Lände und stieg sodann in sein Büro im dritten Stock.

Der Akt vom Vortag lag noch auf seinem Schreibtisch. Ein völlig unbedeutender Fall mit trostlosen und faden Ermittlungen. Ein Wiener Arbeitsloser hatte von seinem Tabakverschleißer eine sogenannte »Zaubernote« erworben. Solche Zaubernoten waren hin und wieder der »Kronenzeitung« beigelegt. Die Zeitungsredaktion zog dann eines der Gegenstücke, und der Besitzer der Zaubernote gewann immerhin 60 Schilling. Als der Arbeitslose in der Zeitungsredaktion eine solche Zaubernote hatte einlösen wollen, hatte man ihn ausgelacht. Diese Note sei schon längst verfallen, hatte es geheißen. Woraufhin unser betrogener Hackenstader2 in den Laden des Tabakverschleißers eingedrungen war, ihm einen ordentlichen Nasenstüber versetzt und siedendes Wachs samt der zerrissenen Zaubernote auf seinen Schädel geträufelt hatte. No also. Welch ein spektakulärer Fall! Heute müsste Mitschek den Trafikanten verhören, da dieser mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gewusst hatte, dass die Gültigkeit der Zaubernote abgelaufen gewesen war. Und jede Wette, er würde behaupten, er habe vom Ablaufdatum nichts gewusst.

Seit Max Mitschek zu Beginn des Sommers aus Triest zurückgekehrt war, ließ der Polizeichef Doktor Johannes Schober ihn für seine Fehler – man könnte sie auch als unzulässige Dienstüberschreitungen bezeichnen – ganz schön büßen. Ja, freilich, er hatte den falschen Mann des Mordes verdächtigt. Er war verbotenerweise mit seiner Dienstwaffe ins Ausland, nach Italien, gereist. Und er hatte den Mann in seiner noblen Villa aufgesucht – allerdings ohne ihn zu erschießen, nicht einmal beschimpft oder bedroht hatte er den Schlawiner. Der wütende Polizeichef Schober hatte ihn sofort suspendieren wollen, da er mögliche Probleme mit dem von ihm so geschätzten Nachbarland Italien befürchtete. Und diese kämen ihm gar nicht gelegen, denn besagter Polizeichef Doktor Johannes Schober wollte in der nächsten Zukunft Bundeskanzler der Republik Österreich werden. Aber der Chef des Sicherheitsbüros, Hofrat Paul Petzig, hatte mehrmals für Mitschek interveniert. So hatte der Polizeichef allmählich das Interesse an der Suspendierung verloren, die ohnehin innenpolitischen Staub aufgewirbelt hätte, und man hatte Mitschek im Amt belassen. Als Gegenleistung für seine Vergehen durfte er sich jetzt mit Fällen wie mit dem der Zaubernote herumschlagen.

Also gut, der Schimany sollte ihm noch einen Kaffee bringen, dann würde er sich mit diesem mit Wachs begossenen Trafikanten beschäftigen.

Punkt halb neun läutete das Telefon. Die Sekretärin von Max Mitschek warf ihm einen fragenden Blick zu. Mitschek nickte, und sie leitete das Gespräch an ihn weiter.

Kaum hatte unser Oberinspektor den Hörer abgenommen, bellte der Leiter des Sicherheitsbüros, Hofrat Paul Petzig, ihm ins Ohr: »Mitschek, jetzt heißt’s ran an die Arbeit, wir haben etwas für Sie!«

»Für mich?«, fragte Mitschek einigermaßen konsterniert.

»Ja, Sie nehmen den nächsten Zug am Südbahnhof und fahren auf den Semmering.«

»Wenn ich fragen darf: Warum?«

»Sie dürfen. Auf das Südbahnhotel ist heute früh ein Attentat verübt worden.«

»Auf das Südbahnhotel?« Max Mitschek war verblüfft. »Aber das müssen doch die Kollegen von dort …«

Der Chef unterbrach ihn. »Ach was, die Kollegen. Die glauben, das Südbahnhotel sei eine Operettenbühne und der Five o’Clock Tea das Treffen der organisierten Schwerverbrecher. Der Fall wird von uns übernommen. Und Sie sind meines Wissens der Südbahnspezialist.«

Max Mitschek wollte keinen dienstlichen Fehler machen. »Und was passiert mit der Zaubernote, an der ich gerade arbeite?«

»Mitschek! Man muss Prioritäten setzen! Die Zaubernote übergeben Sie an den Schimany, der hockt eh nur im Büro. Sie setzen sich in den nächsten Zug. Zweieinhalb Stunden später sind Sie am Bahnhof Semmering, und dort wird ein Wagen auf Sie warten. Zu Fuß werden Sie nicht vom Bahnhof bis zum Südbahnhotel hatschen wollen.«

»Herr Hofrat, ich bin fassungslos! Was ist passiert mit dem Hotel?«

Der Hofrat war kein Freund langer Wortwechsel mit Untergebenen. »Meines Wissens nicht viel, aber genau das sollen Sie herausfinden. Jetzt schlüpfen Sie sofort in Ihren Rock und fahren zum Wiener Südbahnhof. Und dass ich’s nicht vergesse: Heute Abend berichten Sie mir telefonisch, was Sie eruiert haben. Die Causa Südbahn hat jetzt für Sie Priorität!«

Das »Jawohl, Herr Hofrat, ergebenst« hörte dieser nicht mehr, da er den Hörer bereits auf die Gabel gelegt hatte.

Tja, so ändert sich die Geschichte, zumindest die Geschichte des Oberinspektors Max Mitschek. Mit neuem Schwung griff er nach seinem Rock, nahm den Hut von der Ablage, öffnete die Tür zum Nebenzimmer und erteilte dem Schimany mit markanter Lautstärke vier oder fünf Befehle. Sodann eilte er zur Station der WD, der Wiental- und Donaukanallinie der Wiener Stadtbahn, fuhr bis zum Karlsplatz, trottete zur Linie D und bimmelte bis zum Ghegaplatz vor dem Südbahnhof. In seiner durch die Hektik entstandenen Konfusität hatte er vergessen, im Kursbuch der Bundesbahnen die Abfahrtszeiten der Züge zu prüfen. So erfuhr er im Empfangsraum am Schalter, dass um 10.50 Uhr der Schnellzug 283 abdampfen würde. Max Mitschek kaufte ein Exemplar der Wiener Zeitung, weil er stets mit einer Zeitung hinter dem angelegten Ellbogen am Tatort aufzukreuzen und seine Dominanz zu unterstreichen pflegte. Anschließend trank er im Warteraum vor den Bahnsteigen schnell einen Espresso, richtete sich im Klosett vor dem Spiegel die Krawatte und bestieg Punkt drei viertel zehn einen der Waggons des Zuges, der über den Semmering nach Graz fuhr.

Gott sei Dank hatte er nicht den in der Regel überfüllten Schnellzug nach Villach erwischt und nicht einen der Züge mit den modischen Aussichtswagen, in denen die Passagiere am oberen Deck ohne Dach verweilen konnten. Die Bundesbahnen setzten diese Sonderkonstruktionen für die Semmeringstrecke ein, damit ihre Passagiere die steilen, zerklüfteten Felsen und die hohen, oft schneebedeckten Berge mit freiem Blick bewundern konnten. Mitschek hasste diese Wagen. Erstens war das rhythmische Gebrause und Gezische der Dampflokomotiven nicht zu überhören, und zweitens sank in den zahlreichen Tunnels mitunter ein wahrer Ascheregen auf die sauber geputzten und gestriegelten Häupter der Mitreisenden.

Kurz vor der Station Semmering stellte er sich auf die Plattform bei der Tür, blickte zum Denkmal, das für den Konstrukteur der Gebirgsstrecke, für den Venezianer Carl von Ghega, errichtet worden war. Selbstverständlich kannte Mitschek das Ghega-Zitat, das auf dem Sockel des Denkmals eingraviert war: »Durch die Eisenbahnen verschwinden Distanzen – Ghega 1851«.

Als der Zug um 13.12 Uhr hielt, sprang er behände die Stufen hinunter, schob mit der ausgestreckten Wiener Zeitung die Buben in den Lederhosen beiseite, die ihre Edelweiß-Sträußchen an die aus der Stadt eintreffenden Sommerfrischler verkaufen wollten, und streunte links am Bahnhof vorbei in Richtung Parkplatz. Vor den zahlreichen Automobilen, die von den Hotels geschickt worden waren, um die jeweiligen Gäste abzuholen, erblickte er den Wagen der örtlichen Gendarmerie.

»Mitschek, Sicherheitsbüro«, stellte er sich vor und zeigte seine Kokarde. Die Namen der Gendarmen merkte er sich nicht.

Der Fahrer musste drei- oder viermal hupen, um den von rund 20 Fahrzeugen zugeparkten Vorplatz zu durchqueren. Er nahm die Südbahnstraße, fuhr an der secessionistischen Villa Landau vorbei und musste an der Kreuzung zur Hochstraße anhalten. Dort hatten Gendarmen wegen des Anschlags eine Absperrung eingerichtet, an der sich inzwischen eine Menschenmenge angesammelt hatte. Die Gendarmen ließen den Wagen ihrer Kollegen passieren, und zehn Meter weiter hielt der Fahrer am engen, steil abschüssigen Gasserl vor dem Südbahnhotel.

Dank der Absperrung konnte Mitschek nahezu ungestört arbeiten. Nur ab und zu tauchten genervte Hotelgäste auf, die sofort abreisen oder ihr Geld zurückverlangen wollten. Vielleicht auch nur ein paar der Schilling-Scheine erhaschen, die durch die Explosion in alle Winde verweht worden waren.

Die Einsatzleute der Feuerwehr – freilich verfügte der Semmering über eine eigene Löschpartie, die aus der Privatfeuerwehr des weltweit bekannten Hotels Panhans entstanden war – hatten ihre Schläuche eingerollt und besprachen mit den Gendarmen Einzelheiten über Wind, Wetter und günstige Fortbildungsreisen nach Italien. Der Löschmeister ließ sich gerade mit dem Südbahnhotel im Hintergrund fotografieren.

Der Hoteldirektor rannte aufgebracht hin und her, da er sich um den exklusiven Ruf seines Hauses sorgte, und musste von den Herren der Gendarmerie beruhigt werden. Doch nur der Postenkommandant war halbwegs zu klaren Aussagen und genauen Beobachtungen befähigt. Von ihm ließ sich nun auch Oberinspektor Max Mitschek Auskunft erteilen.

Etwa um 7.15 Uhr war die Detonation im hoteleigenen Post- und Telegrafenamt erfolgt. Man hatte Reste eines Koffers gefunden und darin Spuren des Sprengstoffes Ekrasit, der von einer bisher unbekannten Person gezündet worden war. Woraus unser Oberinspektor schloss, dass der Attentäter entweder Hotelgast war oder sich anderweitig Zutritt zu den Räumlichkeiten des Hotels verschaffen konnte, beispielsweise als Mitarbeiter. Gemeldet worden war die Explosion um Viertel nach sieben vom Hoteldirektor selber, um 7.25 Uhr war die Gendarmerie am Tatort gewesen, kurz danach waren die Löschfahrzeuge eingetroffen. Der Koffer hatte aller Wahrscheinlichkeit nach nur wenig Ekrasit enthalten, sodass sich das Ausmaß der Detonation in Grenzen hielt. Das zur Tatzeit unbesetzte Postamt war dennoch zerstört, das Mobiliar zerfetzt. Die Wucht der Explosion hatte die Fenster bersten lassen und Scherben, Holzteile, Mauerstücke und Putzbrocken im Amt und auf der Straße davor verteilt. Die dichte Staubwolke, die entstanden war, hing noch immer in der Luft.

Max Mitschek wischte mit dem Hut mehrere Male über seinen Rock, dann blies er den Staub von seiner Kopfbedeckung, setzte den Hut wieder auf und betrat das Postamt. Dort stieg er über zerfetzte Stromleitungen, Tapeten- und Kachelstücke, Kleiderhaken und Wandlampen, Aktenordner und Stempelkissen. Und dazu die Möbelteile und Glassplitter. Überall Glassplitter, die in kleine Körnchen zerbrachen, wenn er drauftrat.

Der Oberinspektor untersuchte alles ganz genau, nach dem Postamt auch die angrenzende Straße, doch er fand keine Zündschnur. Er war kein Spezialist für Sprengungen, nahm aber an, dass die Zündschnur durch die Explosion verbrannt war. Außerdem stolperte er über ein Hirschgeweih, an dem Reste des Schädelknochens hingen. Vermutlich war es an der Wand angebracht gewesen und durch den Druck der Explosion nach draußen geschleudert worden, dachte Mitschek.

»Ist es möglich, dass der oder die Attentäter Zugang zur Post hatten?«, wollte er von der Gendarmerie wissen.

Der Postenkommandant schüttelte verneinend den Kopf. »Um 7.15 Uhr war die Post noch geschlossen.«

»Liegt hier noch alles so wie direkt nach der Explosion? Oder hat bereits jemand mit dem Aufräumen begonnen?«, fragte Mitschek weiter.

Die Herren von der Gendarmerie zuckten die Achseln und putzten ihre vom Staub verdreckten Nasen und Ohren. Mitschek sah ihnen an, was sie dachten: Dem aufgeblasenen Wiener Bazi werden wir gar nichts berichten!

Also wandte Mitschek sich wieder an den Postenkommandanten. »Ist jemand verletzt worden?«

»Nein«, so dieser, »Verletzte gab es keine. Der Telefondienst vom Hotel ist unterbrochen, und die drei Zimmer über der Post mussten geräumt werden, weil auch dort die Fensterscheiben zerstört sind. Außerdem muss der Fußboden auf seine Tragfähigkeit untersucht werden. Der Gäste wegen, aber auch wegen der Schwemme.«

»Welcher Schwemme? Ist über der Post etwa ein Schwimmbad?«

»Nein, Herr Oberinspektor.« Der Postenkommandant lachte. »Der Fußboden muss alle paar Stunden mit sauberem Wasser abgeschwemmt werden, weil die Gäste nach dem fünften Bier zu spucken oder gar zu speiben belieben.«

»Hier in diesem vornehmen Hotel? Das ist ja allerhand!« Unser Oberinspektor war empört. »Und Fingerabdrücke? Wurden die untersucht?«

»Was sollen wir denn da untersuchen?«

»Haben Sie noch nie etwas von der Fingerabdruckkartei gehört, von Daktyloskopie? Das ist doch …« Mitschek fehlten die Worte.

»Hier hat doch eh jeder irgendetwas angegriffen«, verteidigte sich der Postenkommandant.

»Deshalb ja!« Max Mitschek fuhr sich verzweifelt mit dem Handrücken über die Stirn, nahm seinen Hut ab und fächelte sich damit Luft zu. Jetzt erst verspürte er die Hitze des trägen Spätsommertages, die durch das milde Klima am Semmering erträglicher war als in der Stadt. Grant, Grimm und Grappa, fluchte er im Stillen. Was waren das hier für Amateure? Und wo hatte er überhaupt seine Wiener Zeitung deponiert? So ein Durcheinander! Zudem hatte seine empfindliche Nase mit dem Staub und dem beißenden Geruch nach Feuer zu kämpfen, der noch immer in der Luft lag.

Max Mitschek atmete tief durch und bat den Postenkommandanten, noch einmal mit ihm zusammen die Räumlichkeiten des Postamtes in Augenschein zu nehmen. Er kontrollierte mit Bedacht die angesengten Schillingscheine und die im Bauschutt herumliegenden Postbelege.

»Bevor ich’s vergesse: Etwas Wichtiges gibt es noch«, raunte ihm der Kommandant zu.

»Was denn?«, knurrte Mitschek.

»Bitte gehorsamst, es gibt noch einen zweiten Koffer.«

»Was? Das sagen Sie erst jetzt? Alpenländische Bagage!«, herrschte der Oberinspektor ihn an.

»Bitte gehorsamst, wir haben diese Information noch geheim gehalten wegen der Indiskretion. Bitte mir zu folgen!«

Die beiden betraten ein verstecktes Kammerl hinter dem Schalterraum, das als Lager diente. In einem Eck stand ein Koffer aus Vulkanfiber, der nicht zerstört war.

»Bitte zu öffnen!«, bat der Postenkommandant den aus Wien kommenden Oberinspektor.

Mitschek drückte auf die beiden Schlösser des zweiten Koffers, klappte den Deckel auf und fand ein mit Schreibmaschine getipptes Papier. Da das elektrische Licht nicht funktionierte, fasste er das etwa zehn mal zehn Zentimeter große Schriftstück trotz seiner Handschuhe mit zwei Fingerspitzen an, trat zum Fenster und las.

Wenn die Direktion der Südbahn mir nicht eine Million Schilling in kleinen Scheinen übergibt, erfolgt die nächste Sprengung. Diese wird die Südbahn vernichten. Ich erwarte das Geld am 26. September Punkt 12 Uhr. Und zwar im Mistkübel im Schupfen des Wärterhauses beim Viadukt über die Kalte Rinne. Sollte ich das Geld nicht erhalten oder sollte ich Sicherheitskräfte bei der Kalten Rinne sichten, wird gesprengt. Vielleicht ein Viadukt. Peng!

Im Namen der Weltrevolution!

Gegen die Schieber und Unterdrücker!

Alle Kräfte für das Proletariat!

Mitschek seufzte. Darum ging es also. Ein Erpresserbrief! Möglicherweise von den Roten, den Sozis! Und nicht an das Hotel gerichtet, sondern an die Bahngesellschaft! Das änderte natürlich die Interpretation der Sachlage. Die Südbahn, die Paradestrecke der Österreichischen Bundesbahnen, wurde erpresst! Und mit einer Sprengung bedroht! Vielleicht eines Viadukts. Vielleicht. Was sollte das heißen? Mussten jetzt alle Schienen, Brücken, Stationen, Züge, Hotels überwacht werden? Der Oberinspektor benötigte sofort einen Telefonapparat, um seinen Vorgesetzten, Hofrat Paul Petzig, zu informieren. Im Südbahnhotel war die Verbindung noch immer gestört, aber irgendwo am Semmering sollte es doch eine funktionierende Leitung nach Wien geben.

Mitschek seufzte ein zweites Mal. »Der Erkennungsdienst hat den Brief schon untersucht?«, fragte er den Kommandanten.

»Freilich. Aber wie gesagt, wegen der, wie sagt man, also wegen der Brisanz der Botschaft …«

»Ich brauche sofort ein Telefon!«, unterbrach Mitschek den Kommandanten brüsk. Der Oberinspektor hatte offenbar von seinem Vorgesetzten gelernt, dass längere Gespräche mit untergebenem Personal zu keinem brauchbaren Ergebnis führten, auch wenn der Gendarm offiziell gar nicht zu seinen Untergebenen zählte.

»Jawohl, Herr Oberinspektor. Allerdings ist da noch etwas …«

»Noch etwas? So reden Sie geschwind! Oder wollen Sie auf die nächste Bombe warten?«

»Bitte gehorsamst, vor der Absperrung steht einer, der behauptet, dass er alles beobachtet hat.«

Mitschek zog mit der Linken die im rechten Ellbogen eingerollte Wiener Zeitung hervor – aha, hier war sie also versteckt gewesen – und hielt sie dem Kommandanten wie eine Stichwaffe an die Brust. »Wir haben einen Zeugen? Und das sagen Sie mir erst jetzt?«

Der Gendarm sprang einen Schritt zurück. »Ich habe geglaubt, dass …«

»Was Sie glauben, machen Sie mit Ihrem Herrgott aus. Ich möchte sofort den Zeugen sprechen!«

»Und das Telefonat?«

»Zuerst der Zeuge, ehe der abhaut. Also, Tempo!«

»Keine Angst, der haut nicht ab.« Nun war es der Postenkommandant, der seufzte und nur mit allergrößter Willensanstrengung nicht die Beherrschung verlor.

Mitschek wusste, dass sich der Landgendarm nur ungern von einem Wiener Inspektor herumkommandieren ließ und ihn als aufgeblasenen Besserwisser sah, der sich am Semmering nicht auskannte, diesen am Ende sogar mit dem Wiener Proletenbezirk Simmering verwechselte. Dem würde er es zeigen, denn Mitschek war die Gegend hier durch viele und ausgiebige Aufenthalte recht geläufig. Er steckte den Erpresserbrief kurzerhand in ein halbwegs unbeschädigtes Kuvert, das er vom Fußboden aufhob, und versenkte es vor den Augen des Kommandanten in der Innentasche seines Rockes, bevor er Richtung Absperrung davoneilte. Der Kommandant hinter ihm her.

Unter den harrenden Zaungästen außerhalb der Absperrung hüpfte ein nervöser, gut gekleideter, aber schmutziger Vierzigjähriger von einem Fuß auf den anderen. Auf ihn ging der Kommandant nun zu und stellte ihn mit »Das ist unser Zeuge« dem Oberinspektor vor.

»Und wer sind Sie?«, wollte der vermeintliche Zeuge von Max Mitschek wissen.

»Das erfahren Sie gleich. Kommen Sie, wir suchen einen ruhigen Ort. Hier ist es mir zu voll und zu hektisch«, murrte unser Oberinspektor. Er bahnte sich mit der zusammengerollten Wiener Zeitung wie ein Jäger, der sich mit der Machete durchs Gebüsch kämpft, einen Weg durch die schaulustige Menge und die noch immer herumstehenden Männer der Feuerwehr, schritt vorbei an der Trafik und betrat mit seinem Zeugen die beschauliche Konditorei Katzelberger.3

1 Die »Schauer«-Uhren waren auf den wichtigen Plätzen der Donaumetropole aufgestellt und galten längst als Wiener Identifikationsobjekte. Die Würfeluhren mit ihren vier Ziffernblättern (vorne, hinten, links, rechts), die von innen beleuchtet wurden, hatten ihren Namen von der sie produzierenden Firma »Schauer« erhalten. Die erste regelte die Zeit seit 1907 auf der Ringstraße vor der Staatsoper.

2 Im Wiener Dialekt für »arbeitslos«, zusammengesetzt aus »Hackn« (Arbeit) und »stad« (stumm).

3 Ab 1948 wurde sie von der Familie Wagner übernommen, die sie später zum »Panoramahotel Wagner« ausbaute.

2. Kapitel Freitag, 13. September 1929

Die Vernehmung des Zeugen * Die Schlüsse des Kriminesers * Das Autorennen auf dem Semmering

Kaum standen sie vor der Budel, stellte sich unser Oberinspektor vor, doch der Zeuge hörte ihm kaum zu, sondern schimpfte unentwegt, weil er von den Gendarmen nicht längst angehört und damit seiner Ansicht nach nicht entsprechend gewürdigt worden war. Max Mitschek schickte ihn mit Worten, die keine Widerrede duldeten, auf die Toilette. Dort solle er seine verwuzelte Hose und sein verschmutztes Gesicht reinigen. Was waren das für gelbe Flecken auf der Hose des Mannes, überlegte Mitschek. Das musste er ihn nachher unbedingt fragen.

Er setzte sich an einen freien Tisch. Hier war der einzige Ort in ganz Österreich, das wusste Mitschek, von dem aus man sowohl den Schneeberg als auch die Rax als auch die Schneealpe sehen konnte, drei der viel geliebten Hausberge der Wiener. Der Oberinspektor bestellte zwei Espressi und betrachtete das wunderbare Spätsommerpanorama. Doch viel Zeit blieb ihm nicht.

Der vermeintliche Zeuge kehrte zurück und zeterte: »Das ist eine Frechheit! Ich verhindere einen Anschlag auf das Hotel, und niemand will mir zuhören. Das ist eine Unverschämtheit, wegen der ich mich an den Polizeipräsidenten wenden werde!«

Ruhig bleiben, beschwor Mitschek sich selbst. Freundlich, aber bestimmt wies er auf einen freien Stuhl neben sich und sagte: »Da setzen Sie sich nieder und halten den Mund. Wenn Sie ihn wieder öffnen, trinken Sie den Kaffee. Geht auf meine Rechnung.«

Der Mann setzte sich und nippte am Häferl.

»Damit wir uns verstehen: Die Fragen stelle ich!« Der Oberinspektor blickte seinem Gegenüber streng in die Augen.

»Ich habe doch gar nichts gefragt!«, beschwerte sich der Zeuge.

Der Oberinspektor räusperte sich. »Ihr Name?«

»Ernst Winkler, der Goldfüllfederkönig. Mein Füllfedergeschäft liegt am Wiener Kohlmarkt 5. Wissen Sie …«

»Haben wir nicht gesagt, die Fragen stelle ich?«

»War das eine Frage?«

»Die kommt jetzt. Herr Winkler. Was haben Sie beobachtet?« Max Mitschek legte die Wiener Zeitung auf den Tisch und holte seinen Schreibblock und einen Bleistift aus seiner Rocktasche. Der Name Ernst Winkler kam ihm bekannt vor. Er wusste allerdings nicht, in welchem Teil seines sonst penibel aufgeräumten Hirnes er diesen gespeichert hatte.

Dieser ominöse Ernst Winkler atmete erleichtert aus. Endlich konnte er erzählen. »Ich habe die letzte Nacht im Südbahnhotel verbracht, in einem Zimmer oberhalb des Post- und Telegrafenbüros. Heute in der Früh um kurz vor halb sieben habe ich das Fenster geöffnet. Wegen der frischen Luft auf dem Höhenkurort Semmering. Draußen auf der steilen Gasse sind drei Gesellen gestanden, drei arbeitslose Sozis, das habe ich sofort erkannt. Und die haben mit zwei Koffern hantiert. Einer der drei Sozis hat mit einem Fußtritt die Tür zur Post zertrümmert. Ich habe daraufhin – noch ohne Wissen um die wahren Hintergründe, versteht sich – hinuntergebrüllt und um sofortige Ruhe ersucht. Ansonsten werde ich nach der Gendarmerie rufen, habe ich ihnen angedroht. Daraufhin haben die drei Gesellen ihre zwei Koffer in das Büro hineingeworfen. Einer der drei hat Schnüre oder Kabel auf der Gasse abgewickelt und wahrscheinlich mit einem Schwefelholz angezündet. Kurz darauf gab es einen lauten Knall, die Wand ist geborsten und alle möglichen Trümmer sind ins Freie geflogen, auch Geldscheine und Aktenordner und Stempelkissen. Ich habe mich geduckt, aber als nichts weiter geschah, wieder vorsichtig aus meinem Fenster gespäht. Ich habe gesehen, wie die drei arbeitslosen Sozis davongelaufen sind, rechts zur Kreuzung mit der Hochstraße und dann weiter die Südbahnstraße entlang in Richtung Bahnhof. Auch ich habe meine Beine in die Hand genommen und bin – noch im Schlafrock – sofort nach unten gerannt, um die Situation am Postamt als Erster zu überschauen. Ich könnte eine Zeichnung vom demolierten Postamt anfertigen, wenn der Herr Polizist das will.« Winkler schaute Mitschek an, doch weil der nicht reagierte, fügte er hinzu: »Außerdem möchte ich in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, dass durch mein beherztes Auftreten und meine Rufe aus dem Fenster Schlimmeres verhindert worden ist. Es gab ja einen zweiten Koffer, vielleicht wäre mit dem das gesamte Hotel in die Luft gesprengt worden. Oder der ganze Semmering. Wumm!«

»Die Schlüsse überlassen Sie bitte der Polizei«, murrte Max Mitschek grantig.

»Die Schüsse der Polizei?«

»Die Schlüsse! Die Witze überlassen Sie bitte auch uns.« Dieser Ernst Winkler wurde ihm langsam unsympathisch. Wer sich nach der Tat mit besonderem Elan in die Ermittlung einmischte, der machte sich stets verdächtig. Zudem verfügte dieser ominöse Zeuge über viel zu viel Detailwissen. Winkler selbst könnte der Täter sein, der die Polizei mit seinen arbeitslosen Sozis nur auf eine falsche Spur bringen wollte. Also fragte der Oberinspektor: »Wieso waren das Ihrer Meinung nach arbeitslose Sozis?«

»Wer sonst treibt sich am frühen Freitagmorgen am Semmering herum? Die Kurgäste schlafen um diese Zeit. Und die Arbeiter müssen arbeiten.«

Das klang plausibel, dachte der Oberinspektor. Schließlich trieben sich unterhalb des Semmering, in der Gegend um Neunkirchen, tatsächlich hartnäckige Sozis herum, die sogar eine eigene Volksrepublik gründen wollten und stets über die Reichen und Gesättigten auf dem Semmering hetzten und schimpften. Auch von einem Protestmarsch auf den Semmering war die Rede gewesen. Aber warum sollte sich ihr Zorn gegen die Südbahn richten? Welchen Grund hätten sie, die Eisenbahn, deren Mitarbeiter in der Regel selbst Sozis waren, zu erpressen?

»Bitte, vielleicht war es auch Graf Arco«, murmelte Ernst Winkler boshaft.

»Wer ist Graf Arco?«

»Der Favorit des Autorennens, das am Sonntag stattfinden wird. Wissen Sie über den Semmering denn gar nicht Bescheid?«, ätzte Ernst Winkler.

»Haben wir nicht gesagt, die Fragen stellt die Polizei?«, ätzte Max Mitschek zurück.

»War das eine Frage?«, konterte Winkler.

Offenbar war der Goldfüllfederkönig mit Verhören vertraut, dachte Mitschek. Goldfüllfederkönig … Was war denn das für ein Beruf? Der Oberinspektor steckte seinen Schreibblock ein. Jetzt erinnerte er sich an die vielen Plakate, die er bei der Herfahrt auf der Südbahnstraße gesehen hatte. In zwei Tagen, am Sonntag, sollte ein Autorennen stattfinden. Der Zeitpunkt des Attentates war klug gewählt, da sich das Interesse von Medien und Publikum so auf den Semmering konzentrieren würde und dadurch auch das Autorennen mehr Beachtung fände. Die zeitliche Nähe zum Rennen konnte aber auch bloßer Zufall sein.

Mariaundjosef, das Telefongespräch! Siedend heiß fiel Max Mitschek der Anruf bei Petzig ein. Er musste unbedingt mit seinem Vorgesetzten reden! Mit Hofrat Paul Petzig! Und zwar sofort! Was tun mit diesem eigenartigen Zeugen?

»Herr Winkler, es hat mich gefreut. Ich schreibe mir Ihre Adresse auf. Und ich bitte Sie um eine Skizze des Tatorts, wie Sie ihn heute Morgen vorgefunden haben. Und um eine Personenbeschreibung. Der Espresso geht auf mich.«

»Eine Personenbeschreibung wird schwierig, weil ich die Sozis nur von hinten gesehen habe. Zudem war mir die Sicht nach der Explosion vom sich verbreitenden Staub vernebelt. Aber eine Skizze wird kein Problem sein«, antwortete Herr Winkler.

»Schön. Dann sind wir uns also einig!«

»Dafür könnten Sie mich mit dem Wagen nach Wien mitnehmen!«

»Nein, die Polizei ist beileibe nicht die Heilsarmee. Vielleicht haben Sie schon erfahren, dass eine nette Eisenbahn den Semmering mit dem Wiener Südbahnhof verbindet.«

»Das hat man davon, wenn man der Polizei hilft!«