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Wien 1928. Im Lainzer Tiergarten fallen Schüsse, unter einer Eiche steigt Rauch auf. Kurz darauf wird eine Frauenleiche entdeckt. Doch wer ist die Tote? Lange tappt die Polizei im Dunkeln. Erst als eine Moulage, ein Wachsmodell, des Gesichts angefertigt und veröffentlicht wird, kann die Frau identifiziert werden. Aber wer hat sie getötet? In der mondänen Wiener Welt der späten 1920er-Jahre begeben sich die Ermittler auf Mörderjagd. Ist er unter den Schleichhändlern zu finden, die ihre Netze zwischen Karlsbad, Wien und Triest spannen?
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Seitenzahl: 267
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Beppo Beyerl
Mord im Lainzer Tiergarten
Kriminalroman aus dem Wien der 1920er-Jahre
Eine Leiche und kein Mörder! Im Jahr 1928 fallen im Lainzer Tiergarten zu Wien mehrere Schüsse, unter einer Eiche steigt Rauch auf. Kurz darauf wird eine Frauenleiche entdeckt. Wer ist die Tote? Lange tappt die Polizei im Dunkeln. Erst als eine Moulage, ein Wachsmodell, des Gesichts angefertigt und veröffentlicht wird, kann die Tote identifiziert werden. Es handelt sich um Luzzy Pelzer, eine aus ärmlichen Verhältnissen stammende Frau, die es durch Liaisonen mit adeligen Männern zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht hat. Bald darauf nimmt die Polizei ihren in dubiose Geschäfte verwickelten Noch-Ehemann Emmerich Pelzer in Triest fest. Dieser kontert jedoch mit einem lupenreinen Alibi und verweist auf den Geliebten seiner Frau: Franzl Berger, einen als Schmuggler und Schieber bekannten Kaufmann, der kurz vor dem Mord verschiedene Pelze und Juwelen von Luzzy versetzt hat. Doch er bestreitet vehement, den Mord an seiner Geliebten begangen zu haben …
Beppo Beyerl wurde 1955 in Wien geboren. Er schreibt Reportagen und Bücher über die Insassen Wiens und die Bewohner der restlichen Welt. Er hat drei Heimaten: Wien, Südböhmen und den istrischen Karst. Er ist Mitglied des Österreichischen Schriftstellerverbandes und der Grazer Autorenversammlung. »Mord im Lainzer Tiergarten« ist sein erster Kriminalroman im Gmeiner-Verlag.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Art - Goût - Beauté, Feuillets de l‹ élégance féminine, Février 1926, No. 66, 6e Année, p. 20 Création Jean Patou Création Doeuillet, RP-P-2009-4182-20A.jpg
ISBN 978-3-8392-7140-7
Die Fahrt im Leihwagen * Im Weinhaus Doll * Hinter der Tiergartenmauer
»Auje!«, murmelte Franzl Berger vor sich hin, als er in den Mietwagen des Herrn Singer stieg. »Bei der Hitze werden wir nicht viel weiterkommen!«
Der Schofför Sebastian Singer öffnete die hintere Tür für Alice Becker, die sich trotz der hohen Temperaturen schnell hineinsetzte, ohne Berger eines Blickes zu würdigen. Dann hievte sich der Besitzer der Mietwagenfirma hinter sein Lenkrad und musterte fragend den Mann auf dem rechten Rücksitz. »Denselben Weg wie immer?«
Franzl Berger nickte.
Am 17. Juli 1928 war es außerordentlich heiß in Wien, die Hitze fiel unbarmherzig in die engen Gassen der Innenstadt und drohte das spärliche Leben mit schwülen Fingern abzuwürgen. Kein Wunder, dass der fesche Franzl in den Lainzer Tiergarten am Stadtrand flüchten wollte. Auf den Hügeln des Wienerwaldes, umgeben von einer kilometerlangen Mauer, linderte der dichte Baumbestand die flirrende Hitze. Bei 25 Grad im Schatten kann man durchaus Geschäfte machen. Franzl Berger wusste außerdem, dass vor allem feine Damen extrem unter den Temperaturen litten und ihr Verhalten unberechenbar wurde. Oder sollen wir von »amourösen Tätigkeiten« sprechen?
Der fesche Franzl hatte beim Weinhaus vom Doll einen Tisch bestellt. Sebastian Singer kannte die Route, denn der »Kaufmann« – so nannte ihn der Schofför – forderte ihn in der schönen Jahreszeit einmal in der Woche für diese Fahrt an, und er wollte partout nicht mit einem seiner Angestellten, sondern unbedingt vom Chef selber gefahren werden. Mit einer satten Portion Trinkgeld wurde er zu äußerster Diskretion verpflichtet, denn niemand in der Wienerstadt sollte erfahren, was der fesche Kaufmann mit Alice Decker, einer verheirateten Dame der feinen Gesellschaft, am Rande des Tiergartens … Wie gesagt, die Worte mögen schweigen.
Das Trinkgeld war gut angelegt, denn Alice Decker war nicht die einzige Dame, mit der Herr Franzl Berger eine Zuflucht, ja Zuflucht, am Wiener Stadtrand suchte.
Also fuhr Herr Singer, ohne weitere Worte zu wechseln, mit dem trauten Paar von der Wohnung des Kaufmanns in der Spiegelgasse im 1. Wiener Gemeindebezirk über die Mariahilfer Straße und die Hietzinger Hauptstraße in die Ghelengasse. Nach der Überquerung des Lackenbaches, der jetzt im Juli vollkommen ausgetrocknet war, führte ein nicht asphaltierter Weg steil bergauf bis fast zur Mauer des Tiergartens. Dann bog er scharf nach rechts ab. Auf einer kleinen Wiese hielt Herr Singer, er sprang auf und öffnete die Tür für Alice Decker.
Franzl Berger war selbst hinausgeklettert, rempelte den Schofför kurz mit dem Ellenbogen an und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
Während Franzl Berger und Alice Decker die 20 oder 30 Meter zum Garten des Weinhauses Doll vor der Mauer des Tiergartens gingen, holte Herr Singer die Zeitungen aus dem Wagen, die er in der Früh gekauft hatte, setzte sich auf einen Baumstumpf im Schatten einer hohen Fichte und begann die erste Zeitung durchzublättern. Zwischendurch blickte er auf seine Uhr. Sie zeigte 14.30 Uhr.
Der fesche Franzl hatte seine Alice zu dem von ihm bestellten Tisch geführt. Im Garten des Weinhauses standen im Schatten der zahlreichen Fichten etwa 15 Holztische, zwischen den Tischen blieb ausreichend Platz für mehrere Laternen sowie Tröge und Vasen mit Geranien. Eine kühle Brise strich über die Wangen der süßen Alice, auf der ein paar Schweißtropfen klebten.
»Wir Frauen leiden mehr unter der Hitze als ihr Männer«, unterbrach sie ihr minutenlanges Schweigen und legte ihren Strohhut auf die Tischplatte.
»Na geh, hier oben ist es doch kühl, kühl genug für uns beide.« Franzl strich sich seine braune Mähne nach hinten, die ihm während des Fußwegs zum Weinhaus ins Gesicht gerutscht war.
»Du kennst nicht die Seele einer Frau!« Alice wischte sich mit der auf dem gedeckten Tisch liegenden Serviette den Schweiß vom Gesicht. »Aber dafür ihr Bedürfnis nach Geld!«
Der fesche Franzl grinste sie an.
Alice legte die lederne Handtasche auf den Tisch, in der sie einen Chinchillakragen und eine Hermelinstola versteckt hatte. Eigentlich brauchte sie das Geld gar nicht, aber der fesche Franzl hatte sie inständig gebeten, sogar darum gebettelt, dass sie Stola und Kragen an ihn verkaufe. Oder wollte er doch etwas anderes von ihr?
Franzl kehrte öfters im Weinhaus des Herrn Doll ein. Er hatte bereits zweimal hier am Rande des Wienerwaldes Silvester gefeiert und dabei mit Wonne die Blicke auf die Wienerstadt hinuntergerichtet. Im Sommer musterte er ein wenig abschätzig die schnaufenden Wanderer, die im Weinhaus ein Schmalzbrot und eine Flasche Bier orderten. Mehr war für sie im Jahr 1928 nicht drin. Manchmal weilten hier auch Ehepaare mit ihren Kindern, die in der schrägen Wiese herumtollten und auf den drei Rutschen brüllend und quietschend ihr Können testeten. Aber bei dieser Hitze blieben zu Franzls Zufriedenheit selbst die laut herumtollenden Kinder zu Hause.
Franzl hängte seinen Rock mit fallendem Revers über die Sessellehne und lockerte den Knoten der Krawatte. An seinem weißen Hemd sammelte sich der Schweiß unter den Achseln. Dann orderte er bei dem wartenden Herrn des Hauses zwei Sodawasser und etwas »Einfaches« zum Speisen. »Ja, Rinderzunge in Madeirasoße, das wird schon passen.«
Ohne die Karte zu verlangen, bestellte Alice dasselbe. Sie wusste, in solchen Angelegenheiten konnte sie dem feschen Franzl durchaus vertrauen.
Der kam überhaupt nicht zur Sache. Beim zweiten Soda erzählte er von einem Friedhof auf einem Hügel namens Gemeindeberg, den man in zehn Minuten zu Fuß von hier aus erreichen könnte. »Den Friedhof musst du dir einmal anschaun, das sag ich dir.«
»Seit wann interessiert sich ein Wiener Jude für einen christlichen Friedhof?«
»Was heißt ›Jude‹? Meine Konfession ist Kaufmann! Auf dem Friedhof liegt Egon Schiele begraben.«
Alice schaute vollkommen ahnungslos. »Aha. Wer soll des sein?«
»Ach du meine Güte! Der Schiele war ein Maler, der an der Spanischen Grippe im 18er-Jahr gestorben ist. Genauso wie der Herr Klimt. Was glaubst, was ein Bild von ihm jetzt kostet?«
Alice hob gelangweilt die Schultern.
Franzl Berger ahnte, dass er das Gespräch in falsche Bahnen gelenkt hatte. »Gut, kommen wir zum Geschäftlichen. Was hast du mitgebracht?«
Alice Decker war Prokuristin eines Wiener Modehauses. Der Name tut nichts zur Sache – unter uns: Er lautete Decker & Kudelnich. Seit 13 Jahren war sie selbstverständlich glücklich mit Herrn Decker verheiratet. Doch vor zwei Jahren war sie in einem Wiener Nachtclub auf einen ausgesprochenen Feschak getroffen, mit einem dichten und kantigen Oberlippenbart, braunen Haaren, die von einem Mittelscheitel geteilt wurden, und treu blickenden Augen in einem nach vorne gekrümmtem Gesicht, das unter Umständen wie ein gefährliches Raubtier zustoßen konnte. Es war besagter Kaufmann Franzl Berger, der ihr angeboten hatte, gewisse Pelze über dem Ladenpreis zu verkaufen, nach Italien, in die Tschechoslowakei oder sonst wohin. Seither war sie mit dem feschen Franzl in Garmisch-Partenkirchen beim Schifahren, in Karlsbad im böhmischen Bäderdreieck beim Kuren und im italienischen Pirano beim Fischessen gewesen. Nur in Wien, da war es schicklich, sich nicht mit ihm in aller Öffentlichkeit zu zeigen.
Bevor Alice auf Franzls Frage, was sie mitgebracht habe, antworten konnte, brachte Herr Doll die beiden Teller mit Rinderzunge in Madeirasoße.
»Die Zunge muss mindestens drei Stunden köcheln, bevor sie gar wird, nicht wahr, Herr Doll?«, schlaumeierte Franzl.
Herrn Doll blieb nichts anderes übrig, als zu nicken.
Franzl Berger stach mit der Gabel zur Kontrolle in eine der drei Zungenstücke. Dann nickte er zurück zum Wirten und fragte manierlich: »Und was trinkt man zu dem Zeug?«
»Weißwein, wie immer, Herr Berger. Bin schon auf dem Weg.«
Nach dem Mahle, das wir der Leichtigkeit halber überspringen wollen, räumte Herr Doll auf einen Wink von Franzl Berger den Tisch. Jetzt erst fischte die Frau Alice den Chinchillakragen aus ihrer Ledertasche, danach die Hermelinstola. Franzl griff nach dem Kragen, musterte ihn genau, dann wiederholte sich das Spiel mit der Hermelinstola. Schlussendlich fächerte er mit seiner Rechten dreimal durch die Luft, als müsste er nicht vorhandene Fliegen vertreiben.
»Was ist los? Beide sind echt«, entrüstete sich Alice.
»Kein Zweifel. Das Problem liegt woanders.« Franzl fächerte mit der Linken.
Alice blickte auf den Schweißrand, der sich auf seinem weißen Hemd gebildet hatte. »Bist du am Ende wieder pleite?«
»Ich habe gestern auf eine Lieferung gewartet, die aber nicht eingetroffen ist.«
Stille. Sachte vernahm man den Flügelschlag einer Krähe, die im Wipfel einer Fichte Schutz suchte. Irgendwo auf einem Nebentisch surrten zwei Insekten.
Auf der glatten und trefflich eingecremten Stirn der Alice Decker zeigten sich mehrere Falten. »Und wieso sind wir dann da heraufgefahren?«
»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du die Frau meines Lebens bist«, flüsterte der fesche Franzl, der die Schweißränder auf seinem Hemd für drei Sekunden vergaß und der wunderhübschen Alice tief in die Augen blickte.
Es kam, wie es kommen musste, zum Geschäft, zumindest wenn man das Begehren des feschen Franzl in Rechnung stellt. Es war gerade drei Uhr am Nachmittag, da zahlte er beim Herrn Doll, nahm die hübsche Alice an die Hand und schleppte sie über ein kurzes Wiesenstück an die Mauer des Tiergartens. Etwa 50 Meter nördlich des Weinhauses war der obere Mauerteil abgebrochen, vielleicht durch einen geborstenen Stamm. Franzl sprang mit einem Satz hinüber. Alice zog ihre Schuhe aus, reichte dem Franzl die Tasche und kletterte über die abgebröckelte Mauer. Dann streiften die beiden zu einer ihnen vertrauten kleinen Wiese im Schatten von mächtigen Eichen, in der Nähe der »Saulackenmais« genannten Waldlichtung. Franzl hängte Rock und Hemd über einen sich in die Breite ziehenden Stamm. Alice blickte ein wenig bekümmert auf das satte Gräsermeer, in das sie bald eintauchen sollte.
Ehe er die Knöpfe seiner Hose durch die Löcher fingerte, flüsterte der fesche Franzl: »Komm schon, wir wollen den Schofför nicht zu lange warten lassen.«
Der Mord im Saulackenmais * Die Gendarmen in der Hermesvilla * Gewitter im Lainzer Tiergarten
Am selben Tag ereignete sich eine fürchterliche Tat oder Tätlichkeit.
Der Lainzer Tiergarten wurde bis zum Ende der Monarchie als privates Jagdgebiet des Kaisers genutzt und war in der Ersten Republik nichts anderes als eine Waldlandschaft, gelichtet von mehreren Wiesen, auf denen Hirsche und Rehe in entsprechender Scheue herumzogen. Immer wieder kam es zu Wilderei und Holzdiebstahl, vor allem aufgrund fehlender Kohle nach dem Krieg. Schließlich wurde die über 2.000 Hektar große Anlage aber doch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Am Wochenende durfte die sich nach ein paar Mußestunden sehnende Bevölkerung – gegen Eintrittsgeld beim Pförtner – auf ein paar Forstwegen durch den geräumigen Tiergarten schlendern. Ansonsten war die exklusive Waldung eher den betuchten Kreisen vorbehalten, die mehr erleben wollten als die Betrachtung von Bäumen und Tieren.
In der Hermesvilla beispielsweise, die Kaiser Franz Joseph I. vom bekannten Ringstraßenarchitekten Carl von Hasenauer für seine die Haupt- und Residenzstadt meidende Kaiserin Sisi errichten ließ – selbstverständlich wurden alle die kaiserlichen Wege störenden Maulwurfshügel entfernt –, war ein Casino untergebracht. Gleich neben der Hermesvilla und den Ställen befand sich seit 1927 ein Golfplatz. Und ein Polizeiposten durfte in der Hermesvilla nicht fehlen – der Pöbel hatte schließlich 1927 den Justizpalast angezündet. Die Damen und Herren Casinöre und Golfler sollten doch ungestört und unbelästigt ihren wichtigen Tätigkeiten nachgehen können.
Neben Polizisten, Casinören, Golflern, Lustwandlern und Jägern gab es die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter, die den großen Lainzer Tiergarten in Schuss hielten.
Am 17. Juli 1928 waren zwei dieser Arbeiter damit beschäftigt, mit Heugabeln das auf der Wachstöckelwiese liegende Heu zu wenden. Da hörten sie einen Schuss, dann noch einen, und schon wieder einen – insgesamt zählten sie fünf Schüsse. Sie stützten sich auf die Stiele ihrer Gabeln und wischten sich den Schweiß von der Stirn.
»Wird wohl eine Jagdgesellschaft sein«, meinte der eine. Schüsse waren schließlich nichts Ungewöhnliches in diesem großen Wald- und Jagdgebiet.
Da die Schüsse sie zum Einstellen ihrer Tätigkeit, dem Wenden des Heus, verleitet hatten, beschlossen sie spontan, diese kleine Pause in Anbetracht der Hitze ein wenig zu verlängern. Gerade wollte sich einer der beiden eine Zigarette anzünden, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Im Norden stieg über den Bäumen Rauch auf. Erst ein dürrer Strich, dessen Schlieren sich jedoch bald in die Breite zogen. Kurz darauf schien es, als würden hinter den Bäumen mehrere kleine Wölkchen schweben, und immer neue Wölkchen tauchten auf, die einen seltsamen Geruch mit sich führten. Dieser Geruch stieg den zwei Hilfsarbeitern in die Nase.
Sie schulterten die Gabeln und marschierten mit schnellen Schritten zum vermeintlichen Brandherd: dem Saulackenmais, kurz: dem Saumais. Der Name der kleinen unzugänglichen Lichtung erinnerte an die frühere Fütterung der Wildschweine an dieser Stelle.
Tatsache, am Waldesrand waren die dürren Grasbüschel entflammt, das Feuer knisterte und der Rauch wuselte in die Wipfel der angrenzenden Eichen. Die zwei Arbeiter brachen größere Äste der Eichen ab, um damit in die Brandherde zu stoßen. Ohne Erfolg. Sie versuchten es mit den umgedrehten Heugabeln. Dumpf klang der knisternde Wiesengrund.
Am Fuße einer knorrigen Eiche sahen sie aus einiger Entfernung ein weiteres glosenden Brandnest. Sie gingen hin und wiederholten ihre Prozedur, hielten dann aber erschrocken inne. An ihren Gabeln hingen verbrannte Stoffreste. Stoffreste? – Kein Zweifel, da lag eine Leiche. Eine Frauenleiche, wie die beiden sofort feststellten. An den nackten ausgestreckten Beinen erblickten sie moderne Damenschuhe. Aus dem Schädel starrten zwei glasige Augen teilnahmslos in den Rauch.
»Das gibt’s doch nicht«, murmelte der eine.
»Doch, du siehst es ja!«, erwiderte der andere lakonisch.
Der Erste blickte jedoch nicht zur Leiche, sondern zum anderen Rand der Lichtung. Dort nahm er einen nackten braungebrannter Mann wahr, nur mit einer Badehose, vielleicht war es eine Unterhose, bekleidet, der mit einer Hand seine Brust, mit der anderen sein Genital bedeckte, auch wenn es in der Unterhose steckte. Trotz der Entfernung erkannte er einen dunklen Schnauzer und braunes, nach hinten gekämmtes Haupthaar.
»Was ist schon wieder?«, fragte der andere ein wenig ungehalten.
»Nicht die Frau hier. Schau, dort drüben!« Er zeigte auf den Rand der Lichtung.
Als der andere aufsah und die gegenüberliegende Seite des Saulackenmaises musterte, war niemand mehr da. Die knorrigen Eichen streckten ihre strammen Äste in den Himmel. An dem dunkle Wolkenbänke sich dem Tiergarten näherten. Sonst nichts Auffallendes.
Punkt 16.30 Uhr meldeten die beiden Hilfsarbeiter beim Kommissariat in der Hermesvilla ihren Leichenfund. Dräuende und ihre Konturen schnell verändernde Wolkenkugeln deckten im Westen den Himmel ab, das würde über kurz oder lang zu einem massiven Gewitter führen. Langsam und mit Bedacht nahmen die Polizisten ein Protokoll auf. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt in ihrem ruhigen Dienst in der Hermesvilla. Außer den Besuchern des Casinos und der Golfanlage kam niemand in die Gegend um die Villa. Und jetzt, um kurz vor fünf, eine Leiche.
Die ersten Regentropfen patzten auf den ausgedörrten Waldboden neben dem Posten, und als nach umständlicher Konversation das Protokoll aufgesetzt war, öffnete, wie man so sagt, der Himmel seine Schleusen und die Tropfen prasselten kräftig zur Erd.
»Jetzt haben wir den Scherben auf!«, seufzte der Revierinspektor.
»Von wo. Nicht einmal einen Regenschirm haben wir«, antwortete der Postenkommandant.
Sie warteten noch bis 17 Uhr, dann war es klar, dass das Unwetter sich keineswegs beruhigen würde. Zu viert spannten sie ihre Röcke über den Kopf und stapften los, hin zum Saulackenmais.
Dort hatte der prasselnde Regen in der Zwischenzeit das Feuer gelöscht. Die auf den ersten Blick junge Frau lag halb nackt mit dem Rücken am Boden. Die Polizisten zählten vier oder fünf Einschüsse, zwei davon im angesengten Gesicht. Gleich daneben fanden sie ein leeres Flascherl, das der Postenkommandant zu seiner Nase führte und das nach seiner ersten Einschätzung nach Benzin roch. Offenbar hatte der Mörder versucht, die Leiche durch einen gelegten Brand unkenntlich zu machen, doch der starke Regenguss hatte sein Vorhaben vereitelt.
»Nichts anrühren!«, rief der Postenkommandant und wandte sich zu seinem Kollegen. »Pass auf. Du bleibst da, ich laufe zurück und telefoniere nach der Kommission!«
Der Kollege ergab sich willig seinem Schicksal, sein Haupthaar war schon vollkommen durchnässt. Bei dem strömenden Regen konnte er sich nicht einmal eine Zigarette anzünden.
Stunden später, es war bereits Nacht, traf die Kommission ein, also der Kriminalbeamte und der Amtsarzt. Mit ihnen ein Reporter der Kronenzeitung, dessen ausführlicher Bericht am Folgetag unter dem Titel »Mit der Mordkommission am Tatort« erschien.
Der Tatort, wo die Leiche aufgefunden wurde, liegt auf einem kleinen Hügel. Von der Hermes-Villa kommt man in südlicher Richtung ungefähr in zehn Minuten zum Lainzer Versorgungshaus und von dort aus führt ein wenig ausgetretener »Holzweg« über die sogenannte Badewiese auf den Schanzenhügel. So heißt die Bodenerhebung am Rande des Lainzer Tiergartens. Oben am Hügel befindet sich zwischen Jungmais und Dickicht eine Lichtung, wo alle drei bis vier Schritte uralte Eichen und Buchen stehen. Unter einer sicherlich mehrere Hundert Jahre alten Eiche liegt die Leiche. Auf dem Rücken, den Kopf nach Süden gerichtet, der rechte Fuß ist nach rechts ausgestreckt, der Unterschenkel nach der Mittellinie stark eingebogen.
Sie verrät auf den ersten Blick die blutigen Spuren der an ihr verübten schrecklichen Tat, denn das Gesicht ist von Schüssen durchbohrt. Sie ist fast elegant gekleidet, trug ein bräunlich-rotes, dünnes Ripskleid, das an den Ärmeln und an der Brust ein braun-kariertes, in der Mitte mit Blumenmuster versehenes Design aufweist. Das Kleid ist bis zur Mitte der Oberschenkel aufgeschürzt und weist unterhalb des Halses und der oberen Brustseite verkohlte Brandränder auf.
Knapp unterhalb des Kehlkopfes sieht man die Reste von in Paketform in Zeitungspapiereingewickeltem Trockenspiritus mit der eingeprägten Aufschrift »Meta«.Der Täter hat offenbar, nachdem er die Frau durch Revolverschüsse getötet hatte, dasBündel Trockenspiritus, das er wahrscheinlich schon bei sich vorbereitet gehalten hatte, dorthin gelegt und angezündet. Die Wäsche der ermordeten Frau besteht aus einem Trikotleibchen, darüber eine gelbfarbene Batistkombination mit Spitze, einen Busenhalter aus gelber Seide und beigefarbene Seidenstrümpfe.Sie hatte auch spitze gelbe Halbschuhe mit Spangen, die ihr von den Organen der Polizei abgenommen wurden. Wir schauen die Schuhe an und entdecken im Innern des Schuhs die deutlich lesbare goldene Firmenaufschrift: »L. Montana Milano–Trieste–Roma.«
Nicht berichtet wurde vom Herrn Reporter, dass die unbekannte Frau – oder sollten wir sie als Dame bezeichnen – von insgesamt fünf Schüssen getroffen worden war. Zwei Schüsse hatten ihre Hände durchlöchert. Vermutlich hatte sie versucht, mit den Händen ihr Gesicht zu schützen. Die Tat war also nicht hinterrücks passiert, möglicherweise hatten sich Täter und Opfer gekannt.
Außerdem war die Leiche zugedeckt mit einem angesengten Exemplar der »Neuen Freien Presse« vom 9. März 1928. Die noch leserlichen Stellen verwiesen auf einen Text von Stefan Zweig über »Das Lebensbildnis Stendhals« sowie einen Bericht über die Umbenennung des Wiener Favoritenplatzes in Südtiroler Platz. Worauf der faschistische Parteisekretär von Bozen der Stadt Wien das neben dem Bozener Bahnhof stehende Denkmal von Walther von der Vogelweide als Geschenk angeboten hatte. Das Angebot wurde von der Stadt Wien jedoch nicht angenommen.
Nicht aufgefallen war dem Reporter der Kronenzeitung zudem, dass das Gebiss der Toten eigenartige Verformungen aufwies, die nicht auf einen gezielten Schlag, sondern eher auf eine Spezialbehandlung durch einen Zahnarzt schließen ließen. Dieses Gebiss sollte für die weiteren Ermittlungen im Gegensatz zum Exemplar der »Neuen Freien Presse« eine aufschließende Rolle spielen. Denn: Dokumente, Ausweise, selbst Geldscheine oder Belege von Geldsendungen, die Hinweise auf die Identität der Leiche hätten geben können, wurden trotz bemühter und andauernder Suche nicht gefunden.
Aufmarsch der Sänger auf dem Ring * Keine Erkenntnis im Café Museum * Der italienische Wein aus der Spezerei
Der Gruppenleiter Max Mitschek, Polizeioberinspektor im Wiener Sicherheitsbüro, stand an der Kreuzung der Ringstraße/Operngasse und schüttelte den Kopf. Seit fünf Minuten verharrte er im Schatten eines Götterbaumes, den man zur Zeit der Errichtung der Wiener Prachtstraße – des Rings – an den Straßenrändern gepflanzt hatte. Fälschlicherweise, wie es der übergescheite Naturwissenschaftler Doktor Madrowetz vom Erkennungsdienst mehrfach erklärt hatte. Da den Götterbäumen an diesen Standorten kein langes Leben beschieden sei. Das Kopfschütteln des Oberinspektors galt jedoch nicht dem Götterbaum, sondern dem Treiben auf der Ringstraße. Heute, am 20. Juli, war sie bis in die Abendstunden für Automobile und Fuhrwerke gesperrt. Auch die Straßenbahnen waren heute vom Ring verbannt, also kein A und kein AK, kein B und kein BK.
Gruppenleiter Max Mitschek stellte seine Aktentasche auf der Rückseite der Haltestelle der verschiedenen 60er-Linien ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Mitglieder von vorwiegend deutschen Gesangsgruppen defilierten über die Wiener Prachtstraße. Wie bei den Maiaufmärschen der Sozis waren auch die Piefkes in Gruppen oder Sektionen aufgeteilt. Vor ihm marschierten gerade die Zehnerreihen der Gruppe aus Erfurt vorbei, wie er an mehreren Schildern, die die Sangesbrüder eifrig mitschleppten, lesen konnte. Den Text des von ihnen gebrüllten Liedes kannte er schon auswendig: »Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands! … Heilige Flamme, glüh, glüh, und erlösche nie fürs Vaterland!«
Der Krimineser hatte genug gehört, griff nach seiner Aktentasche und richtete seine Schritte zum nahen Karlsplatz. Heute Abend sollte im Wiener Prater das Deutsche Sängerbundfest stattfinden. Schon in den letzten zwei Tagen hatten die Gäste aus dem Nachbarland alle Plätze lautstark okkupiert, sie überschwemmten die Heurigenlokale in den kühleren Vororten, sie grölten ihre Lieder auf den Wegen bei den Getreidespeichern an der Donau. Oberinspektor Max Mitschek hoffte, dass die Wiener Sozis sich nicht zu Raufhändel und Massenprügel verleiten ließen. Die rote Stadtverwaltung hatte bereits Gelassenheit und Beschwichtigung signalisiert, sie wollte den Besuchern aus dem Norden demonstrieren, wie gut die aus Sozis gebildete Stadtverwaltung einen Ansturm mit 40.000 Sängern und 100.000 vorwiegend deutschnationalen Gästen organisieren konnte. Gut, etwaige Folgen von Raufereien gehörten nicht in sein Ressort, er hatte Wichtigeres zu tun.
Nach dem tosenden Gebrülle der marschierenden Horden benötigte er eine sogenannte »stille Reflexionsspanne«. In den Wegen am Karlsplatz war jedes Bankerl besetzt. Er schlenderte zum »Ersten Wiener Stadtheurigen«, der direkt neben der Karlskirche seit dem Vorjahr die durstenden Gäste mit dem »Heurigen« und mit dem »Alten« versorgte. Bis letztes Jahr stand hier ein stadtbekanntes einstöckiges Luxusgeschäft, das Leder und Pelze an die betuchte Kundschaft verkaufte. Gruppenleiter Mitschek ahnte noch nicht, dass er bei der Bearbeitung seines derzeitigen Falles, des Mordes im Lainzer Tiergarten, in Bälde mit dem Wert und der Verzollung von Pelzen und Schmuckgegenständen zu tun haben würde.
Auch im Stadtheurigen war nichts mehr frei, auch hier hockten schon Gäste aus dem nördlichen Nachbarland und brüllten ihre Lieder. Also musste Oberinspektor Max Mitschek sein letztes Atout aus dem Ärmel seines Konfektionsüberrockes ziehen: ab ins Café Museum.
Er stapfte über die groben Pflastersteine am Karlsplatz, überquerte die Gleise der Zweierlinie mit den Straßenbahnen E2 nach Gersthof, G2 auf die Hohe Warte und H2 nach Hernals, die heute Abend die plärrenden Massen in den Prater zum Sängerfest fahren würden, eilte über die Friedrichstraße und betrat ein wenig außer Atem das Café Museum. Längst war ihm der Trubel zu viel geworden.
»Herr Franz«, rief er schon bei der Tür nach dem Oberkellner, bevor er ihn sichtete.
Der eilte schnell herbei.
»Herr Franz, ein Tischerl, aber in aller Ruhe bitte schön!«
»Wird gemacht, Herr Hofrat*.«
Ein paar Minuten später trank der Mitarbeiter des Sicherheitsbüros mit kleinen Schlucken von seiner Melange, dazwischen kramte er bedächtig in seinen Notizen und legte sorgfältig ein paar Fotos sowie mehrere Unterlagen zu seinem aktuellen Fall auf den Tisch: dem Mord im Lainzer Tiergarten. Er selbst war noch in der Nacht am Tatort gewesen. Zu seiner Überraschung war sogar der Vorstand des Sicherheitsbüros aufgetaucht, Herr Hofrat Paul Petzig, und hatte sich äußerst wichtig gemacht. Demnach musste die Angelegenheit einigermaßen brisant sein.
Bei der Toten waren weder Ausweise noch Schmuck oder Bargeld gefunden worden. Ein Raubmord? Der Täter wollte offenbar eine Agnoszierung, eine Identifizierung, verhindern und durch Feuer das Gesicht der Leiche unkenntlich machen. War ihm nur teilweise gelungen, da das Gewitter die Flammen bald gelöscht hatte. Einzig ein abseits liegender Strohhut war vom Brand unversehrt geblieben. Auch der Abgleich mit Abgängigkeitsanzeigen hatte bis jetzt keine Übereinstimmung ergeben, und von den Teilnehmern des Sängerfestes war niemand als vermisst gemeldet worden.
Die Kleidung und vor allem die Spangenschuhe der Toten wiesen darauf hin, dass sie der begüterten Schicht entstammte. Die Schuhe der Marke Montana waren in Wien nicht bekannt, also würde Mitschek seine Kollegen von der Polizei in Mailand kontaktieren müssen. Sein Assistent, der Schimany, hatte telefonisch eruiert, dass ein Schuster in der norditalienischen Stadt Schuhe mit dieser Markenbezeichnung herstellte. Mit den Kollegen aus Italien würde es keine Probleme geben. Die Zusammenarbeit verlief reibungslos, seit die österreichische Regierung und die faschistische Verwaltung im Stiefelstaat recht gute Kontakte pflegten.
Fünf Schüsse waren gefallen, aus einer Pistole des Kalibers 6,35. Zwei hatten ihre Hände getroffen. Auch Mitschek folgerte daraus, dass sie die Hände vermutlich schützend vor ihr Gesicht gehalten hatte, der Täter also aus nicht allzu großer Entfernung von vorne auf sein Opfer gezielt hatte. Woraus er den Schluss zog, dass die Frau ihren Mörder gekannt, vielleicht mit ihm eine Partie in den Tiergarten unternommen hatte.
Nach einem kurzen Gespräch mit dem Leiter des Sicherheitsbüros, besagtem Hofrat Petzig, am Tag nach der Tat hatte Max Mitschek in behender Eile zwei Moulagen anfertigen lassen, zwei Abformungen des Kopfes der Leiche aus Wachs. Das eine Modell bildete das Gesicht der Toten, das durch das Feuer in Mitleidenschaft gezogen war, inklusive der Zähne ab, da der Mund geöffnet war. Das zweite die Rekonstruktion, die zeigte, wie die Frau lebend ausgesehen hatte.
Der Erkennungsdienst unter diesem Doktor Madrowetz war mit dieser Technik sehr vertraut und galt sogar als führend im deutschen Sprachraum. Seit dem Wiener Ringtheaterbrand im Jahr 1881 hatte die Wiener Polizei mit der Rekonstruktion des Zahnbildes von Verstorbenen wertvolle Erfahrungen gesammelt.
Fotos der beiden Moulagen waren am Vortag in den Wiener Zeitungen erschienen. Ebenso ein Foto des Strohhuts, den man ein paar Meter neben der Leiche gefunden hatte. Wie wohl die Reaktionen darauf waren?
Mitschek ließ sich vom Oberkellner die heutigen Tageszeitungen bringen und blätterte darin. In der Kronenzeitung las er, dass es sich bei der Toten höchstwahrscheinlich um eine Kellnerin oder ein Stubenmädchen aus dem böhmischen Aussig handeln müsse, die nach Wien gereist sei, um sich beim Sängerfest einen Job oder einen reichen Mann unter die Nägel zu reißen. Zudem meldete ein anderer Leser, dass nach einer Schubertfeier im nahe gelegenen Wirtshaus sein geliebtes Eheweib mit einem unbekannten Mann verschwunden sei und er sie auf dem abgebildeten Foto sofort erkannt habe. Undsoweiterundsofort.
Auch in seinem Büro waren kuriose Meldungen eingetroffen. Zum Beispiel folgende:
Geschätzte Sittenpolizei! Mache die Anzeige, dass mir, einem Deutschen, Frl. Paula Maly im Hotel Apollo bei einem Schäferstündchen, für welches sie 20 Mark gefordert hat, 100 Mark gestohlen hat. Bitte um die Verhaftung, da die Maly auch einen Freund von mir in einem anderen Hotel bestohlen hat. Bin verheiratet, kann meinen Namen deshalb nicht nennen. Bitte jedoch, dies zur strengen Kontrolle zu ziehen, da wir arme Teufel sind.
Mit Gruß, ein Deutscher.
Natürlich würde der Oberinspektor seine Beamten anweisen, jedem dieser Fälle nachzugehen. Aber er wusste jetzt schon über die Aussichtslosigkeit Bescheid. Und den Schimany, den würde er noch einmal zum Tatort schicken, um jeden Quadratzentimeter des Bodens umzuackern, auch wenn ihn sein böhmischer Assistent dafür hinterrücks als gottverdammten Sklavenschinder bezeichnete.
Mitschek legte die Kronenzeitung auf den leeren Sessel vis-à-vis und schlürfte am Bodensatz seinen Kaffees. Zwei Trümpfe hatte er noch in der Hand. Zum einen war ihm beim Gebiss der Leiche eine eigenartige Anordnung der Zähne aufgefallen. Er nahm sich erneut das Protokoll der Gerichtsmedizin vor. Darin stand, dass oben beidseits und im linken Unterkiefer eine Goldbrücke mit je einem Ersatzzahn vorgefunden worden sei.
Heute oder morgen würde er von seinem Büro in der Rossauer Lände am Donaukanal diese Mitteilung an alle Zahnärzte in Wien und in der Wiener Umgebung schicken lassen. Und dazu das Foto beziehungsweise die Moulage der Ermordeten. Da sollte sich doch irgendein Pappenschlosser melden.
Der zweite Trumpf bezog sich auf die neuen und kaum getragenen Schuhe der Marke Montana, die darauf hinwiesen, dass die Tote entweder eine Reise nach Mailand gemacht hatte oder eine Italienerin war. Ihre helle Haarfarbe – der Erkennungsdienst war sich da trotz der Verbrennungen ziemlich sicher – sprach allerdings eher dagegen. Er musste den Schimany anweisen, den Schaffnern der aus Italien eintreffenden Züge die Fotos der Toten zu zeigen.
Ihr Alter schätzte Oberinspektor Max Mitschek auf etwa 25 Jahre. Ein Fehler. Die Tote hatte zum Zeitpunkt ihrer Ermordung bereits über 40 Jahre auf ihrem gar nicht mehr so jugendlichen Buckel.
»Zahlen, Herr Franz«, rief er dem vorbeihuschenden Kellner nach. Reflexartig beglich er die Rechnung.
Er werkelte konzentriert im Kontinuum des Grübelns. Hatte er etwas vergessen? Als ehemaliger k. k. Beamter war er stolz auf sein korrektes und nahezu fehlerfrei funktionierendes Gedächtnis. Alle Spuren rund um den Tatort waren gesichtet worden, durch das Gewitter waren das nicht viele.
Da fiel es ihm ein. Dieser Halbnackte mit dem Schnurrbart, den einer der beiden Hilfsarbeiter gesehen hatte. Ein Tatzeuge? Vielleicht sogar der Täter? Der zweite Hilfsarbeiter hatte die Aussagen seines Kollegen nicht bestätigt, er hatte niemanden gesehen. Auch der Pförtner des Tiergartens hatte zu dieser Gestalt keine Angaben machen können. War dieser obskure Mann eine durch die Hitze hervorgerufene Verfälschung der Erinnerung? Eine Art Fata Morgana im Lainzer Tiergarten? Oder gab es ihn wirklich?
In Gedanken versunken verließ der Mitarbeiter des Sicherheitsbüros das Café Museum. Er verzichtete darauf, ein Taxi rufen zu lassen, das ihn in sein Büro in die Rossauer Lände brachte. Die Straßen waren durch die Sängerhorden so verstopft, dass er zu Fuß schneller wäre. Doch als er die ersten Schritte gemacht hatte, kam ihm eine bessere Idee, die ihn auch von seinen Grübeleien abbringen könnte. Seit Langem träumte er von einem Besuch seines geliebten Bella Italia oder zumindest jener Teile Italiens, die bis vor Kurzem noch zur Monarchie gehört hatten. Vielleicht wäre beim vorliegenden Fall eine Dienstreise möglich? Darauf wollte er sich angemessen einstimmen, in der Spezerei in der unteren Weinbergstraße 63. Er stieg am Karlsplatz in eine Garnitur der H2 – wie soll man einem Deutschen beibringen, dass in Wien so elegante Tramways fahren wie der H2 oder der AK von der Reichsbrücke zum Elderschplatz – und stieg vor der Brücke über den Donaukanal aus. Dann besuchte er die Spezerei. Der Greißler hatte nicht nur einen luftgetrockneten Schinken aus dem italienischen Karst im Angebot, sondern auch einen istrischen Refosco.
»Alstern, eine Flasche Refosco, zum Hausgebrauch«, bestellte Max Mitschek.
Sorgsam und andächtig steckte er die in die heutige Kronenzeitung eingewickelte Flasche in seine Aktentasche.
»Vielleicht muss ich demnächst dienstlich nach Italien fahren«, sagte er und verabschiedete sich vom Inhaber der Spezerei.
Der Weg ins Büro lohnte sich nicht mehr, also ab nach Hause. Dort – er bewohnte mit seinen 50 Jahren eine respektable Junggesellenwohnung im stattlichen Margaretenhof – wickelte er den Refosco aus der Kronenzeitung. Als er die Zeitung glätten wollte, um sie später im Coloniakübel** zu versenken, fiel sein Blick auf einen satirischen Kommentar eines nicht mit Namen genannten Mitarbeiters: