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André Bartsch hört seinen inneren Entdecker rufen. Er möchte sich Zeit nehmen. Endlich vom Träumen ins Tun kommen, neue Erfahrungen sammeln und die Welt entdecken. So trifft er eine Entscheidung, lässt sein bisheriges Leben hinter sich und wagt den Absprung. Für unbestimmte Zeit fliegt er los in Richtung Osten und möchte sich vom Fluss des Lebens treiben lassen. Daraus wird eine faszinierende 21-monatige Reise. André verbringt fast ein halbes Jahr mit seinen kleinen »brothers« und »sisters« (11 Waisenkindern) in Nepal. Im farbenfrohen Indien wird er als Reisender gehörig auf die Probe gestellt. André lässt sich vom geheimnisvollen Myanmar verzaubern und wird in Kambodscha kalt erwischt. Dank einer zufälligen Begegnung verschlägt es ihn nach Afrika. Dort steigt er in einen großen gelben Truck und reist von Kenia aus nach Süden. In den Weiten Australiens wird er zum Motorradnomaden und am anderen Ende der Welt zum Bergsteiger und Kirschenpflücker. Dieses Buch soll inspirieren und Impulse geben. André nimmt Sie mit auf eine spannende Achterbahnfahrt durch die Höhen und Tiefen einer Reise. Auf authentische und ehrliche Art, gemeinsam durch unsere wundervolle Welt.
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Seitenzahl: 443
Veröffentlichungsjahr: 2020
Wir reisen nicht, um dem Leben zu entfliehen,
sondern um uns selbst und dem Leben zu begegnen.
Über den Autor
André Bartsch, geboren 1986 in Löbau, arbeitete als Ingenieur, bevor er dem Ruf seines inneren Entdeckers folgte. Bereits 2012 hatte er bei einem Aufenthalt in einem Waisenhaus in Nepal sein Herz an das Land und dessen Menschen verloren. Von seinen Träumen angetrieben, ließ er 2014 schließlich alles hinter sich und reiste für 21 Monate durch Asien, Afrika und Australien. Seit 2020 ist er als Meditations- und Achtsamkeitstrainer sowie als Autor tätig. »Absprung ins Jetzt« ist seine erste Veröffentlichung.
Begrüßung
Reiseroute
Warum denn eigentlich nicht?
Namasté Nepali Family
Unterwegs im Kathmandu-Tal
Schulferien und ein Fest für Göttin Durga
Don’t worry, be Hampi!
Einer von 18 Millionen in Mumbai
Edelsteine und Halunken in Jaipur
Eine ganz (un)normale Zugfahrt
Krass – krasser - Varanasi
Eingeschneit im Himalaja
Im Winter auf den Gipfel des Tsergo Ri
Leuchtende Kinderaugen im Waisenhaus
Reif für die Insel des Lächelns
Geheimnisvolles Myanmar
Krank und ausgelaugt in Thailand
Auf den Spuren des Secret War in Laos
Gespräch mit einem Überlebenden in Kambodscha
Theater und »Eistee« in Phnom Penh
In einem großen gelben Truck durch Afrika
Freiheit auf zwei Rädern in Australien
Quer durch den roten Kontinent
Jobben am anderen Ende der Welt
Von Gletschern, Weinbergen und Vulkanen
Zum Hilfseinsatz in die Berge Nepals
Zurück nach Hause
Liebe Reisende, lieber Reisender,
ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich »du« sage?
Mein Name ist André, und ich freue mich riesig, dass du hier bist und mich auf den folgenden Seiten dieses Buches begleiten wirst.
Ich lade dich jetzt ein, gemeinsam mit mir auf eine authentische und ehrliche Reise zu gehen. Hinaus in diese wundervolle Welt, hinein in faszinierende Kulturen. Lass uns zusammen auf Entdeckungstour gehen! Auf eine Achterbahnfahrt durch Höhen und Tiefen.
Lass uns mit einem Lächeln im Gesicht den Menschen auf unserem Weg begegnen. Wir wollen mit ihnen in Kontakt treten, ihren Geschichten lauschen, von ihnen lernen. Mit offenen Augen und Ohren unterwegs sein und auch etwas von unserem eigenen Reiseglück mit diesen Menschen teilen.
Unsere Rucksäcke werden sich dabei mit Momenten und unsere Herzen mit Begegnungen füllen.
Lass uns zusammen reisen. Gemeinsam und genau jetzt!
Bist du dabei?
Ich wünsche dir viel Freude, eine gute Reise und alles Liebe.
PS: Auf den folgenden Seiten findest du unsere Reiseroute. Zusätzlich habe ich eine Fotogalerie der Reise für dich erstellt. Diese findest du auf www.absprunginsjetzt.de
Ich sitze im ICE auf dem Weg zurück nach Dresden. Draußen vor dem Fenster fliegt die Landschaft vorbei, während der Zug mit etwa 200 Stundenkilometern über die Gleise schießt. Das kühle Bildschirmlicht des aufgeklappt vor mir stehenden Laptops scheint mir ins Gesicht. Ich nutze die Zeit, beantworte E-Mails und stelle die Folien einer Präsentation fertig.
Es war ein interessanter Tag und eine willkommene Abwechslung, mal aus dem Büro rauszukommen, um neue Inspiration auf der Fachmesse für Produktionsautomatisierung zu sammeln. Die technischen Entwicklungen sind beeindruckend und ich bin fasziniert, welche Möglichkeiten diese bieten. Ja, ich mag meinen Job als Ingenieur und finde gerne Lösungen für technische Herausforderungen. Das Austüfteln und Umsetzen von Ideen im jungen Team, in dem ich arbeite, macht Spaß. Neben meinem Laptop liegen unzählige Broschüren, die mir bei Gesprächen an den Messeständen überreicht wurden. Auf dem obersten Flyer ist ein weiß lackierter Roboter abgebildet. Das professionelle Foto lässt den Eindruck entstehen, dass sich dieser wirklich auf dem Papier bewegt. Darunter steht in großen Druckbuchstaben:
»Der Schnellste seiner Klasse. Ein Multitalent mit höchster Verfügbarkeit. Wartungsarm, flexibel, höchst effizient und zuverlässig.«
Ich frage mich, ob das jetzt eine Produktbeschreibung für einen Roboter oder eine Stellenausschreibung für einen Mitarbeiter sein soll. Denn es geht doch in unserer modernen Welt stetig um Optimierung, und zwar nicht nur in der industriellen Produktion, sondern auch im Berufs- und Privatleben. Wir befinden uns permanent auf der Suche nach etwas, das uns immer wieder zu entrinnen scheint. So laufen wir weiter, schneller, ohne Pause, denn irgendwo muss sie doch sein. Nur noch die letzten drei Punkte auf der To-do-Liste abarbeiten, dann werde ich sie vielleicht finden. Diese Zeit für mich, diesen Moment zum Träumen. Zeit scheint etwas zu sein, das wir Menschen uns nicht mehr leisten können. Ein Luxus, der nur ein paar wenigen vorbehalten ist.
Eineinhalb Jahre ist es zu diesem Zeitpunkt schon wieder her, als ich unmittelbar nach dem Ende meines Studiums ins Arbeitsleben startete. Und diesmal nicht mehr nur wie bisher nebenbei, sondern in Vollzeit. Ein merkwürdiger Begriff für eine Tätigkeit, die wortwörtlich unsere volle Zeit in Anspruch nimmt.
Bereits zum Ende meines Studiums verspürte ich einen immer größer werdenden Drang danach, meinen Träumen endlich einen Platz im Leben zu geben. Diese Wünsche nicht weiter als unrealistisch abzutun, sondern mir die Zeit zu nehmen, diese zu verwirklichen.
Ich beginne verstärkt »Warum denn eigentlich nicht?« zu fragen. Eine einfache Frage, welche allerdings die enorme Kraft hat, alles zu verändern. Oft sitze ich vor dem beleuchteten Globus, dem wohl essenziellsten Gegenstand in meiner einfach eingerichteten Einzimmerwohnung, und reise dabei in Gedanken durch die Welt. Das Bücherregal neben mir ist gefüllt mit den Abenteuern anderer Menschen, die sich sicher ebenfalls die »Warum-nicht«-Frage stellten. Ich verliere mich in diesen Büchern, kann eintauchen in fremde Welten und faszinierende Kulturen. Aber trotz allem bleiben das die erfüllten Träume anderer Menschen – und nicht meine. Anstatt mit dem Finger über Landkarten zu streifen, möchte ich die Welt mit meinen eigenen Augen sehen. Möchte mir mein eigenes Bild machen. Neue Erfahrungen sammeln, alles hinter mir lassen und den Absprung wagen. Denn mein Leben fühlt sich momentan so an wie die Fahrt in diesem ICE, in dem ich auf dieser Dienstreise sitze - geradlinig und vorhersehbar. Auf einer definierten Spur mit möglichst wenigen Stopps, um schneller voranzukommen. Aber ich möchte aussteigen aus dieser Expressfahrt durch das Leben, möchte das Land sehen, welches sich links und rechts der Bahnschienen erstreckt. Ich möchte Schlängellinien fahren, abspringen und aufspringen, mich auch mal verfahren. Möchte mich treiben lassen, da wo der Wind gerade hinweht.
Und so treffe ich eine Entscheidung, die mich vom Träumen ins Tun und zur Realisierung meiner Wünsche führt. Ich vereinfache mein Leben, soweit es nur geht, spare alles, was ich kann. Alle unwichtigen Ausgaben werden gestrichen, und ich setze mir ein festes Budget, mit dem ich im Monat auskommen muss. Die Differenz zwischen meinem Gehalt und diesem Betrag wird immer direkt auf ein separates Sparkonto überwiesen. Als Verwendungszweck auf dem Überweisungsschein steht: »Für den Entdecker in mir«.
Zwei Jahre nach dieser Entscheidung ist es dann soweit: Ich sitze am Laptop und tippe die Kündigung. Der Drucker spuckt das Papier aus, und ich nehme einen Stift in die Hand, um dieses zu unterschreiben. Dabei meldet sich, wie schon so oft wieder diese kleine Stimme in meinem Kopf: dieser innere Kritiker, der ständig die eigenen Entscheidungen und Handlungen infrage stellt. Immer wieder flüstert er mir Sätze wie »Sei kein Dummkopf. Gib doch nicht den unbefristeten Arbeitsvertrag auf« ins Ohr. Oft reicht schon einer dieser Sätze aus, um ins Grübeln zu verfallen und mir weitere »Was-Wenn«-Gedanken zusammen zu spinnen. Es ist definitiv eine große Entscheidung, die aber langsam und stetig gewachsen ist. Zweifel sind dabei ganz normal. Und die Auseinandersetzung mit ebendieser Skepsis zeigt, ob es wirklich das ist, was man will oder eben nicht.
Eine große Stütze dabei ist auch mein Freundeskreis, der nahezu ausschließlich aus reisebegeisterten Menschen besteht. Einige haben bereits Langzeitreisen hinter sich, und ein paar andere sind gerade in der Planung. So auch Stefan und Johannes, die zusammen mit dem Fahrrad durch die Welt reisen werden. Hannes war ebenfalls schon viel unterwegs und steht jetzt kurz vor seinem Abflug nach Kanada, wo er jobbend und reisend das Land erkunden möchte. Wir sind eine eingeschworene Truppe und inspirieren und bestärken uns immer wieder gegenseitig in unseren Entscheidungen, auch wenn diese bedeuten, es anders zu machen und gegen den Strom zu schwimmen. So sitzen wir oft zusammen und fiebern mit, als Charlie Bormann und Ewan McGregor in der Dokumentationsserie »Long Way Round« mit ihren Motorrädern um die Welt fahren. Wir malen uns aus, wie wir uns nach Reisestart alle irgendwo auf dieser Erde wiedertreffen und diese Abenteuer auf dem Bildschirm dann gemeinsam Realität werden lassen. Wir sind Träumer, und genau das ist wunderbar.
So setze ich die Unterschrift unter das Kündigungsschreiben und vereinbare ein Gespräch mit meinem Chef. Er hört mir sehr geduldig zu, stellt Fragen zu meiner Reiseplanung und ist sichtlich interessiert. Schließlich sagt er:
»Wenn ich sehe, wie begeistert du jetzt schon davon erzählst, brauche ich wahrscheinlich gar nicht versuchen, dich mit einem Angebot von deiner Entscheidung abzubringen, oder?«
Ich schüttle den Kopf, und er beginnt zu lächeln.
»Dann will ich dich nicht aufhalten. Und wenn du wieder kommst, dann weißt du, dass hier immer die Tür für dich offen steht«, sagt er und schüttelt mir die Hand.
Die Aufregung, die ich noch vor dem Gespräch verspürte, ist wie verflogen, und ich bin euphorisiert, diesen Schritt jetzt wirklich getan zu haben. Der kleine innere Kritiker im Kopf verstummt langsam, und der Entdecker, der seinen Sitz im Herzen hat, beginnt zu jubeln. Ich weiß, dass es richtig ist und ich jetzt mit großen Schritten dem Reisestart entgegengehe. Vorher müssen aber weitere Dokumente geschrieben und viele andere Dinge erledigt werden. Ich kündige meinen Mietvertrag und verkaufe meine Möbel. Die bisherige Krankenversicherung wird durch eine Auslandskrankenversicherung abgelöst. Ich lasse mir einen neuen Reisepass und einen internationalen Führerschein austellen. Auch ein Reisekonto, Kreditkarten und diverse Ausrüstung müssen organisiert werden. Auf der langen Liste stehen zudem noch die wichtigsten Impfungen, die Ausstellung eines internationalen Impfpasses sowie die Zusammenstellung einer kleinen Reiseapotheke.
Schließlich ist es soweit: Der letzte Arbeitstag liegt vor mir. Meine Teamkollegen haben gesammelt und überreichen mir einen Umschlag, der aussieht wie ein mit Einreisestempeln gefüllter Reisepass.
»Hier, das ist für die Visakosten oder das Schmiergeld an den Grenzübergängen«, zwinkert Christian mir zu.
So verabschiede ich mich von meiner Wahlheimat Dresden. Mit ein paar gefüllten Umzugskartons im Gepäck mache ich mich auf den Weg zu meinen Eltern. Hier in der Oberlausitz verbringe ich die letzte Woche vor dem Abflug. Der Punkt, dass ich diese Weltreise allein antrete, bereitet besonders meiner Mutter deutliche Bauchschmerzen. Natürlich kann ich das vollkommen nachvollziehen, denn welcher Mama wäre ein solches Vorhaben schon egal? Aber es ist eine bewusste Entscheidung, und ich weiß, dass es zu diesem Zeitpunkt der richtige Entschluss für mich ist. So gibt es noch eine wunderbare kleine Feier mit der Familie, den Großeltern und weiteren Bekannten. Statt »Abschiedsfeier«, was mir doch zu sehr nach Endzeitstimmung klingt, nenne ich diesen Abend lieber »Reisestartfeier«.
Jetzt ist es an der Zeit, loszulassen. Es ist Zeit, aufzubrechen, hin zu unbekannten Ufern und völlig neuen Erfahrungen. Mit all den Reisevorbereitungen bin ich Stufe für Stufe an dieser imaginären Wand vor mir nach oben geklettert. Hatte dabei öfters zitternde Knie, wenn ich zurück zum sicheren Boden unter mir schaute. Denn dort unten wartet der innere Kritiker und ruft mir immer wieder zu, dass ich doch besser umkehren solle. Aber der kleine Entdecker in meinem Herzen treibt mich an. Und so erreiche ich schließlich diese Plattform ganz oben auf der Wand. Ich schaue mich um und kann mein Glück nicht fassen, als ich in diese unendlichen Weiten vor mir blicke. Vier Pfeile zeigen in alle Himmelsrichtungen, und ich darf mich jetzt für einen entscheiden. Der kleine Entdecker lacht. Und ich lache mit ihm, erfüllt von Freude über all das, was vor mir liegt. Ich drehe mich nach Osten, atme noch einmal tief ein und beginne zu laufen. Die Kante der Plattform kommt immer näher, und ich renne schneller, breite meine Arme wie Flügel aus.
Mit einem »Warum denn eigentlich nicht!« auf den Lippen drücke ich mich ab und springe. Ich wage den Sprung ins Unbekannte, den Absprung ins Jetzt. Der Kritiker unten am Boden schüttelt völlig verständnislos mit dem Kopf. Aber ich bemerke ihn nicht mehr, schaue nur noch nach vorn. Plötzlich fährt der Wind unter meine Flügel und gibt mir Auftrieb, trägt mich federleicht über das Land unter mir. So fliege ich los in Richtung Osten zum Sonnenaufgang, dort vorn am Horizont.
Das Flugzeug stößt durch die graue, tief hängende Wolkendecke und setzt ruckelnd auf der Landebahn auf. Die Bremsen quietschen, und durch das Fenster sehe ich das kleine, aus roten Ziegeln gebaute Terminal des Flughafens in Kathmandu. Sofort stellt sich ein breites Grinsen in meinem Gesicht ein. Es ist geschafft: Ich bin endlich wieder in dem Land, welches mich bereits vor zwei Jahren in seinen Bann gezogen hat. Diesmal habe ich noch Unterstützung mitgebracht, denn mit Mandy begleitet mich eine gute Freundin aus Dresden die ersten Wochen hier in Nepal.
An einem der aus dunkelbraunen Holzplatten bestehenden Schalter begrüßt uns der Beamte freundlich mit den Worten:
»Namasté und willkommen in Nepal!«
Wir bekommen das Visum in den Pass geklebt und stehen wenig später in freudiger Erwartung am Gepäckband.
Dort warten und warten wir, während sich die Gepäckausgabe langsam leert. Irgendwann wird bereits die nächste Flugnummer auf dem Bildschirm angezeigt. Mandy schaut mich etwas schockiert an:
»Mist, das wird wohl nichts mehr.«
Ihr Rucksack hat beim Zwischenstopp in Katar anscheinend nicht den Weg in den Bauch des Flugzeugs gefunden. Sie füllt ein Formular über den Verlust aus, mehr lässt sich in diesem Moment nicht tun. Es sollte sieben Tage dauern, bis Mandys Rucksack dann auch den Weg nach Nepal gefunden hat. Ich hatte da etwas mehr Glück. Die 30 Kilo Freigepäck habe ich voll ausgenutzt und neben meinem Rucksack zusätzlich eine Reisetasche gefüllt mit Spiel- und Bastelsachen dabei. Diese wird später noch für große Freude sorgen.
Wir verlassen den Flughafen und fahren mit einem der weißen Taxis nach Dapakhel, einem Gebiet südlich von Kathmandu, nahe der ehemaligen Königsstadt Patan gelegen. Auf dem Armaturenbrett neben dem Lenkrad sitzt eine kleine, aus Messing hergestellte Figur. Bis zum Hals hat sie einen menschlichen Körper mit dicklichem Bauch. Darauf sitzt der Kopf eines Elefanten.
»Wer ist das dort vor dir?«, frage ich den Fahrer.
»Das hier, mein Freund, ist Gott Ganesha. Er beseitigt alle Hindernisse im Leben. Gut, oder?«
Bei diesem Verkehrschaos in der schier nie endenden Rushhour in dieser Stadt ist Ganesha mit Sicherheit eine gute Wahl. Es ist eine hupende, lange Schlange aus blechernen Kästen, die sich vor uns über die Ring Road schiebt. Meine Theorie ist, dass bei allen hiesigen Fahrzeugen das Gaspedal direkt mit der Hupe gekoppelt wird. Eine technische Meisterleistung der Nepalesen, die wir Europäer wohl nie verstehen werden. So bahnen wir uns langsam den Weg durch die abgasgeschwängerte Luft, die als feiner Schleier über der Stadt liegt. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wir dann unser Ziel.
»Hello brother, hello sister« schallt es aus elf strahlenden Kindergesichtern bei der Ankunft im Waisenhaus. Die Freude ist groß, und ich schließe sofort alle in die Arme.
»Namasté Nepali Family. Es ist so schön, euch alle wiederzusehen!«, platzt es aus mir heraus.
»Brother, wir sind so happy, dass du wieder da bist. Und toll, dass Mandy jetzt auch hier ist«, sagt Bal zu mir, als wir uns herzlich umarmen.
Bal leitet das Waisenhaus mit seiner Frau Sharmila. Er ist in den letzten Jahren zu einem Bruder für mich geworden. Ich werde hier von allen einfach brother, also »Bruder« genannt.
Da gerade wieder Stromausfall herrscht, tauschen wir zunächst im Kerzenschein die ersten Neuigkeiten aus, bevor es dann leckeres Dal Bhat zum Abendessen gibt. Dieses nepalesische Nationalgericht essen wir hier jeden Morgen und Abend. Hauptbestandteile sind Reis, eine Linsensoße und scharfes Masala-Gemüse, welches meist aus Kartoffeln, Bohnen oder Blumenkohl besteht.
Die für ihre 10 Jahre sehr klein gewachsene Amisha steht auf einem Stuhl und blickt auf die an der Wand hängenden Fotos.
»Was machst du, sister?«, frage ich sie.
»Ich schaue mir die Bilder an, brother. Letztes Mal, als du da warst, waren wir in Godavari und im Zoo. Ich mag die Tiere dort so sehr. Besonders den hier«, sagt sie und zeigt auf eines der Fotos, auf dem ein Elefant zu sehen ist.
»Was hältst du davon, wenn wir die Tiere nächsten Samstag mal besuchen gehen?«
Amishas braunen Augen werden größer, und das breite Lächeln enthüllt die kleinen markanten Lücken zwischen ihren weißen Zähnen.
»Wirklich?«
»Na klar«, antworte ich.
»So nice. Very nice, brother«, ruft sie mir von der Treppe zu, die sie jetzt schnellen Fußes nach oben geht.
Als Nächstes höre ich ein paar Freudenschreie und Gekicher aus dem oberen Zimmer, während sie den anderen die Neuigkeiten erzählt.
An den Wänden hängen noch die Bilder, die ich bei unseren gemeinsamen Ausflügen während meines ersten Aufenthaltes im Jahr 2012 gemacht habe. Erinnerungen werden wach an diese wunderbare Zeit. Vor meiner ersten Reise nach Nepal war mir noch nicht klar, dass man tatsächlich sein Herz an ein Land und dessen Menschen verlieren kann.
Alles begann damals mit dem Lesen eines Eintrages in einem Online-Reiseforum. Wieder einmal befragte ich die Suchmaschine zu den Möglichkeiten freiwilliger Hilfsarbeit und Volunteer-Projekten im Ausland. Ich hatte schon seit einiger Zeit den Wunsch, ein Land mal aus einer ganz anderen Perspektive kennenzulernen. So surfe ich an diesem Winterabend im Januar durch die endlosen Weiten des Internets. Neben dem Laptop dampft der heiße Pfefferminztee, während ich die Seiten diverser Hilfsorganisationen besuche. Irgendwann stoße ich auf ein Reiseforum, eine Seite, auf der Tausende Reisende ihre Fragen stellen und Erfahrungen miteinander teilen. An einem der Einträge hier bleiben meine Augen hängen. Jemand namens Erik schreibt, dass er erst vor ein paar Monaten in Nepal gewesen wäre und dort mehrere Wochen in einem kleinen Waisenhaus verbracht hätte. Da es keinerlei Unterstützung seitens des nepalesischen Staates für die Kinder gebe, werde Hilfe dringend benötigt. Erik fragt in seinen Zeilen, ob jemand Interesse hätte, das Waisenhaus BCWH zu besuchen und vor Ort zu unterstützen. Ich zögere nicht lange und schreibe ihm direkt eine E-Mail, damit wir in Kontakt treten können. Gern möchte ich mehr erfahren.
Erik meldet sich telefonisch bei mir, und so vereinbaren wir ein Treffen. Mit dabei ist auch Elli, die im Dezember 2011 bei den Kindern in Nepal war. Wir sind uns alle sofort sympathisch, und ich lausche interessiert den Erfahrungsberichten der beiden, in denen sie mir vom Alltag im Waisenhaus erzählen. Erik hat sich bei seinem Besuch um viele organisatorische Dinge gekümmert, um die prekäre finanzielle Situation des BCWH zu verbessern. Er gestaltete erste Flyer, eine Webseite sowie eine Organisationsbroschüre, um Sponsoren zu akquirieren. Zudem hat er mit dem Streuen der Informationen auch dafür gesorgt, dass weitere ehrenamtliche Helfer folgten. So besuchte Elli nur zwei Monate nach Erik die Kinder des BCWH. Mit ihrer wundervollen Art brachte sie neben engagierter Unterstützung auch ganz viel Liebe mit ins Waisenhaus. Beide berichten mir, dass sie der Aufenthalt bei den Kindern sehr geprägt hat. Mit leuchtenden Augen sind sie sich einig, dass sie auch in Zukunft alles in ihrer Macht Stehende tun wollen, damit es den Waisenkindern gut geht. Nach diesem Treffen ist die Entscheidung für mich gefallen: Ich reise nach Nepal und möchte die Kinder des BCWH selbst besuchen. Madeleine aus München wird dies bereits fünf Monate vor mir tun. So haben sich plötzlich vier junge Menschen gefunden, die ein gemeinsames Ziel haben. Mit unserer Unterstützung möchten wir dazu beitragen, dass zehn Waisenkinder an einem sicheren Ort aufwachsen, zur Schule gehen und eine Kindheit ohne Angst und Hunger erleben können.
Mit unserer Initiative sorgen wir dafür, die monatlichen Kosten des BCWH zu decken. Zwei Familien aus Österreich und Australien übernehmen dafür das monatliche Schulgeld für einen Teil der Kinder. Wir veranstalten Benefizabende, bei denen wir das Projekt vorstellen und gewinnen Familienmitglieder und Freunde als Sponsoren. Auch das Entsenden weiterer freiwilliger Helfer trägt dazu bei, das BCWH am Laufen zu halten. Dank vielfältiger Unterstützung gelingt es uns so, für die monatlichen fixen Kosten des Waisenhauses aufzukommen.
Ende August 2012 war es dann endlich soweit. Mit etwas Überzeugungsarbeit konnte ich nahezu meinen ganzen Jahresurlaub am Stück nehmen und reiste das erste Mal nach Nepal. Durch all die gemeinsamen Aktionen unserer vierköpfigen Initiative war ich nun umso gespannter, mir selbst ein Bild von der Situation vor Ort zu machen. Die Zeit mit Bal, Sharmila und den Kindern war einfach überwältigend und hat tiefe Spuren bei mir hinterlassen. Jedes Kind hier im BCWH musste bereits in jungen Jahren harte Schicksalsschläge verkraften. Das Gefühl mitzuerleben, wie sehr sich die Kleinen darüber freuen, wenn man ihnen bei den Hausaufgaben hilft, mit ihnen spielt oder einfach nur Zeit mit ihnen verbringt, ist nur schwer in Worte zu fassen. Ein wesentlicher Punkt während meines ersten Aufenthaltes war die Suche nach einem neuen Haus, da der derzeitige Vermieter den Mietvertrag zum Ende des Jahres beenden wollte. Gemeinsam haben wir auch dies geschafft und sind umgezogen, was sehr spannend für uns alle war. Durch den Umzug konnten die Lebensumstände erheblich verbessert werden. Im neuen Haus hat jetzt jedes Kind zum ersten Mal ein eigenes Bett. Waschmöglichkeiten und Toiletten befinden sich nun innerhalb des Gebäudes, und einen kleinen Innenhof zum Spielen gibt es auch. Die Kinder sind mir in dieser Zeit alle sehr ans Herz gewachsen. Der Abschied kurz vor der Abreise fällt mir daher extrem schwer. Aber diese tiefe Herzensverbindung zu dieser besonderen Familie nehme ich mit zurück nach Deutschland. Unser Support-Team wächst dank Sarah auf fünf Mitglieder an. Mit unserer Dresden-München-Connection unterstützen wir unsere kleinen Brüder und Schwestern im entfernten Nepal weiterhin so gut wir können.
Die wahren Helden vor Ort sind aber Bal und Sharmila, die das Waisenhaus bereits im Jahr 2009 in Eigeninitiative gegründet haben. Bal ist in einem kleinen Bergdorf im Myagdi-Distrikt als ältester Sohn seiner Familie aufgewachsen. Gemeinsam lebte er hier mit seinen acht Geschwistern – vier Brüdern und vier Schwestern. Sein Vater war als Messerschleifer und Farmarbeiter tätig. Seine Mutter kümmerte sich neben den Kindern ebenfalls um die Feldarbeit. Bal konnte die Schule nur drei Monate im Jahr besuchen, da er meist in seinem Dorf bei der für die Familie lebenswichtigen Arbeit auf den Feldern helfen musste. Das Schulgebäude war für ihn nur durch einen zweistündigen Fußmarsch zu erreichen. Im Alter von 17 Jahren hat er die Schule verlassen und sich nach zwei Jahren Arbeit im Heimatdorf auf den Weg nach Kathmandu gemacht. Dort wollte er eine bezahlte Tätigkeit finden, um die Familie finanziell besser unterstützen zu können. Im Bus auf den Weg in die Hauptstadt hat er einen Mann getroffen, der zum Arbeiten nach Saudi-Arabien gehen wollte. Viele Nepalis arbeiten oft jahrelang im Ausland, da sie dort mehr Geld verdienen und damit ihre Familien in der Heimat versorgen können.
Bal wagte den Schritt ins Ungewisse. Ein Vermittler organisierte das Visum und den Flug nach Saudi Arabien. Bal wusste zu diesem Zeitpunkt nichts über das Land, in das er gehen würde. Auch die Arbeit, die ihn dort erwartete, war völlig unklar. Für sechs lange Jahre hat er unter härtesten Bedingungen in Saudi-Arabien im Straßenbau gearbeitet, bis er durch einen Arbeitsunfall einen Finger verlor.
Im Alter von 25 Jahren ist er in sein Heimatland zurückgekehrt. Die Familie drängte nun darauf, schnell eine Frau zu finden und endlich zu heiraten. Die Suche war nicht leicht, aber nach ein paar Monaten traf er Sharmila, deren Eltern einer Hochzeit zustimmten. Die beiden haben sich nach der Heirat zusammen nach Kathmandu aufgemacht, um mit Bals wenigen Ersparnissen aus Saudi-Arabien ein Waisenhaus zu gründen. Ein Plan, der insbesondere bei seinen Eltern auf Unverständnis stieß. Er absolvierte ein Training beim Social Welfare Councel, welches ihm daraufhin die Unterbringung von Waisenkindern offiziell erlaubte. Mit viel Mühe konnte ein kleines Haus für das Projekt gefunden werden. Kurz darauf kamen mit Amisha, Dolma und Prakash die ersten Kinder. Innerhalb des nächsten Jahres wurden weitere sieben Waisenkinder aufgenommen. Seit 2010 leben sie alle gemeinsam als eine große Familie hier in Dapakhel zusammen.
In allen Gesprächen mit Bal wird mir jedes Mal wieder klar, wie selbstlos er in seinem Denken und Handeln ist. Bal ist selbst unter ärmlichsten Bedingungen aufgewachsen. Es ist umso bewundernswerter, wie er sein ganzes Leben darauf ausrichtet, anderen Menschen zu helfen. Er möchte den Kindern die Möglichkeiten geben, die er in seiner Kindheit nicht hatte. Und das alles, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an den eigenen Wohlstand oder materielle Dinge zu verschwenden.
»Ich komme aus einem Bergdorf und habe keine gute Ausbildung, aber ich kann auch etwas Gutes in meinem Leben tun. Ich kann Kindern ein glückliches Leben schenken. Das ist meine Aufgabe«, sagt er mir bei einem der vielen Gespräche, die wir führen.
Ich habe allergrößten Respekt vor dem, was Bal hier mit seiner Frau Sharmila aus eigener Kraft auf die Beine gestellt hat. So gab es beim Start dieser Reise kein Überlegen, welches Land ich wohl als Erstes besuchen werde. Ich bin überglücklich, jetzt wieder hier zu sein, bei meiner zweiten Familie, bei meinen kleinen nepalesischen Brüdern und Schwestern. Bei den Menschen, die einen großen Platz in meinem Herzen eingenommen haben.
»Namasté Nepali Family.«
Während die Kinder in der Schule sind, bleibt Mandy und mir auch immer etwas Zeit, um die Gegend hier im Kathmandu-Tal zu erkunden. Wir besuchen das nicht weit entfernte Patan, die ehemalige Hauptstadt des Königreichs Nepal. Gemütlich schlendern wir über den Durbar Square, einem zentralen Platz mit vielen jahrhundertealten Tempeln. Detaillierte Holzschnitzereien verzierten die aus roten Ziegeln bestehenden Bauten. Dieser Ort ist Treffpunkt für die Einwohner Patans. Hier im Schatten eines der Tempeldächer lässt sich das Treiben auf dem Platz entspannt beobachten. Die Straße, die vom Bus-Stopp zu diesem zentralen Ort führt, ist eine echte Herausforderung. Die Gerüche von Müllbergen, welche sich direkt neben den Bussen türmen, vermischen sich mit denen von in der Sonne liegendem rohem Fleisch und Fisch. Zwischendurch steigt uns auch der angenehme Duft von Räucherstäbchen und leckerem Essen aus einer der kleinen Garküchen in die Nase. Was für ein Durcheinander hier!
Eine Achterbahn der Gefühle bietet für Mandy und mich der Besuch eines besonders heiligen Ortes im Nordosten Kathmandus. Hier am stinkend grauen Fluss Bagmati befindet sich Pashupatinath. An den betonierten Ufern stehen unzählige runde und eckige Plattformen. Ein jugendlich aussehender Nepalese spricht uns an und fragt, ob er uns im Rahmen einer kleinen Tour ein bisschen was über diesen Ort erzählen dürfe. Sein Name ist Pawan. Er ist 21 Jahre jung und studiert Tourismus. Ab und zu verdient er sich hier mit den Touren etwas Geld dazu. Er wirkt sympathisch, so verhandeln wir den Preis und stimmen zu. Auf der anderen Seite des Flusses sehen wir eine größere Gruppe von Menschen. Vier von ihnen schultern eine mit Stricken zusammengebunden Trage aus Bambusrohren, auf der sich ein in rotorangefarbenen Tüchern eingehüllter Leichnam befindet. Auf dem steinernen Boden der Plattformen liegt bereits ein Holzstapel, auf den die Männer gezielt zugehen. Nach dreimaliger Umrundung des Stapels legen sie die Trage ab.
»Seht ihr den komplett in weiß gekleideten, kahlköpfigen Mann?«, fragt Pawan.
»Das ist der Sohn der verstorbenen Person. Beim Tod des Vaters hat der älteste Sohn der Familie die Aufgabe, die Zeremonie mit dem Priester durchzuführen. Beim Tod der Mutter ist es der jüngste Sohn.«
Ein Mann betritt die Plattform, enthüllt das Gesicht des Leichnams und träufelt etwas Wasser aus dem heiligen Fluss auf dessen Körper. Ein hinduistischer Priester spricht einige Worte und Gebete.
»Jetzt wird der Sohn ein Stück Watte in den Mund des Verstorbenen stecken und dieses entzünden«, sagt Pawan emotionslos. Er hat das schon unzählige Male gesehen. Ich hingegen schließe die Augen, möchte mir das lieber nicht anschauen.
»Warum schaust du weg? Das ist doch kein Problem. Dieser Ort ist dafür da. Das passiert hier ständig.«
Der Körper wird jetzt mit etwas Stroh bedeckt. Die Flammen werden größer, und weiße Rauchschwaden steigen in den Himmel Kathmandus. Nach fünf bis sieben Stunden erlischt das Feuer, und alles, was übrig bleibt, ist schwarze Asche. Diese wird dann von der Plattform aus in das heilige Wasser des Bagmati gestreut. Direkt davor toben zwei kleine Jungs ausgelassen im dreckigen Fluss. Sie spielen mit dem aufgeblasenen Schlauch eines Reifens und kichern vor sich hin. Es ist ziemlich surreal. Ich fühle mich irgendwie fehl am Platz hier, aber vielleicht ist es auch wichtig, dem Tod mal aus einer so anderen Perspektive zu begegnen. Pawan sagt dazu treffend:
»Natürlich sind wir auch traurig, wenn jemand aus der Familie stirbt. Aber das ist nun mal der Lauf des Lebens. Warum sollten wir wegschauen und so tun, als wenn es den Tod nicht gäbe! Diese Verbrennungen gehören für uns zum Alltag, so wie der Tod zum Leben gehört.«
Wir gehen weiter am Flussufer entlang und sehen zahlreiche Menschen in kleinen Gruppen zusammensitzen. Denn genau ein Jahr nach der Kremation trifft sich der Sohn der verstorbenen Person am gleichen Ort zu einer mehrstündigen Zeremonie mit einem Priester.
»Ein Jahr lang trägt der Sohn weiße Kleidung, isst kein Fleisch und nimmt an keinerlei Festen oder Feiern teil«, kommentiert Pawan das Geschehen vor uns. Mandy und ich versuchen die vielen Eindrücke, die uns diese heilige Stätte mitgibt, ein klein wenig zu ordnen.
Einen deutlich weniger beklemmenden Ort finden wir in Boudhanath, wo sich der größte Stupa Nepals in den Himmel schiebt. Bereits beim Landeanflug auf Kathmandu ist dieses gigantische halbkugelförmige Gebilde aus der Luft sichtbar und wirkt wie eine einsame Insel im endlosen Meer der unzähligen Wohnhäuser. Trotz vieler Besucher ist dies ein friedlicher Ort und so etwas wie eine kleine Oase der Ruhe im Lärm der chaotischen Stadt. Unter den wachsamen Augen Buddhas, welche vom oberen Teil des Stupa in alle Himmelsrichtungen blicken, umrunden wir diesen Schritt für Schritt mit Mönchen, Einheimischen und anderen Touristen. Am Fuße des Monuments befinden sich unzählige mit Mantras verzierte Gebetsmühlen. Ich streife mit der Handfläche an diesen entlang und versetze die blechernen Zylinder in Bewegung. Im Inneren befinden sich Papierrollen mit aufgedruckten Gebeten. Das Drehen dieser Gebetsmühlen soll eine einfach erscheinende körperliche Aktivität in den Pfad zur geistig-spirituellen Erleuchtung integrieren.
Nach buddhistischer Überzeugung sollte bei der Drehung auch der Wunsch gehegt werden, dass die in der Walze befindlichen Mantras zum Wohle aller fühlenden Wesen auf dieser Erde wirken, deren Leid beseitigen und ihnen Glück bringen. Und es fühlt sich wirklich toll an, die einzelnen Gebetsmühlen mit dieser Intention im Herzen in Bewegung zu versetzen. Dieser Ort strahlt einen unglaublichen Frieden und eine Geborgenheit auf jeden aus, der ihn besucht.
Tiefenentspannt geht es weiter nach Swayambhunath, einer Stätte, welche die Nepalesen auch liebevoll »Monkey-Tempel« nennen. Warum das so ist, wird sofort nach Betreten des weitläufigen Areals auf dem kleinen bewaldeten Hügel mitten in der Stadt klar. Denn wohin man schaut, sieht man kleine und große Rhesusaffen. Für die gibt es hier sogar einen betonierten Pool. Von den grünen Baumkronen stürzen sich die Affen hinunter ins kühle Nass. Das hätte ich bei den schwülen Temperaturen in dem Moment auch gern getan. Über Treppenstufen geht es nach oben zum höchsten Punkt der Anlage, dem Swayambhunath-Stupa. Überall flattern die bunten Gebetsfahnen im Wind, und der etwas ranzige Geruch der vielen brennenden Butterlampen steigt mir in die Nase.
Mit Bhaktapur besuchen wir die dritte ehemalige Königsstadt Nepals. Die Atmosphäre hier ist eine ganz besondere: überhaupt nicht mit der meist sehr nervenaufreibenden Hauptstadt Kathmandu zu vergleichen. Die Altstadt ist weitestgehend autofrei und besteht komplett aus Ziegelsteingebäuden, welche sich in einem Labyrinth kleiner Gassen aneinanderreihen. Die Menschen hier leben teils noch sehr traditionell, und es fühlt sich ein bisschen wie in einem Freilichtmuseum an. Allerdings mit dem Unterschied, dass dies das wahre Leben der Nepalesen ist. Zum krönenden Abschluss haben wir zudem noch das Glück, die Navadurga-Tänzer auf dem Durbar Square der Stadt in Aktion zu erleben. In Vorbereitung des kommenden Dashain-Festivals führen diese maskierten Tänzer zu eingehenden Trommelrhythmen ihr Können auf verschiedenen Plätzen im Stadtgebiet vor. Die roten Masken, die sie dafür tragen, werden immer nach den Festaufführungen verbrannt. Aus deren Asche sowie dem Lehm der umliegenden Felder werden dann ein Jahr später wieder neue Masken hergestellt.
Aber allein schon das Erreichen einer Stadt wie Bhaktapur kann wahrlich ein Erlebnis für sich sein. Deshalb hier mal eine grobe Anleitung zum Thema Busfahren in Nepal am Beispiel unserer Fahrt in die Königsstadt:
Zunächst gilt es, Ausschau nach Bussen zu halten. Im Bereich großer Kreuzungen hat man dabei am meisten Glück.
Fragen, ob der Bus nach Bhaktapur fährt. Ein Hin- und Herwackeln der gefragten Person mit dem Kopf bedeutet »Ja«, also einsteigen.
Das Wort »voll« kann bereits vor dem Einsteigen vergessen werden, da dieses in Bezug auf öffentliche Verkehrsmittel in Nepal nicht existiert. Falls dann noch weitere 10 Leute beim nächsten Stopp rein müssen, einfach die Gesten des Busboys zum Durchrücken befolgen, fünf Zentimeter gehen da schon noch.
Wenn noch Plätze frei sind, hinsetzen. Personen über 1,80 Meter Körpergröße ziehen dabei die Knie zur Brust und machen es sich so für die nächsten 13 Kilometer und anderthalb Stunden bequem.
Auch beim Stehplatz der Ratschlag, bei größerem Wuchs den Kopf auf die rechte oder linke Schulter zu legen, da das Busdach lediglich 1,70 Meter hoch ist.
Während der Fahrt nicht vom Schreien und Pfeifen des halb aus der Tür hängenden Busboys irritieren lassen; der macht auch nur seinen Job.
Der Busfahrer bahnt sich hupend mit eleganten Manövern seinen Weg durch die überfüllten Straßen. Falls er sich spontan entscheidet, eine vierte Spur zu eröffnen, und der Gegenverkehr Lichthupe gebend entgegenkommt, einfach die Augen schließen und kurz zu einem der Tausenden hinduistischen Götter, vorzugsweise dem für ein langes Leben beten. Das hilft immer.
Wenn es die Position zulässt, immer mal wieder aus dem Fenster schauen und die anderen Fahrgäste ab und zu fragen, wann man raus muss. Wenn es dann so weit ist, zur Tür schlängeln, dem Busboy höflich für die wundervolle Fahrt danken und dabei den Wahnsinnspreis von 30 Rupien (etwa 23 Cent) bezahlen.
Und das Wichtigste überhaupt: Niemals den Humor verlieren und immer freundlich Lächeln.
Pünktlich vor dem Start des Dashain-Festivals kommt Sharmila am Abend mit einem braunen Strohsack in der Hand zurück ins Waisenhaus. Aus der oberen Öffnung schauen zwei starre Hühnerfüße heraus. Sie war heute bei Freunden in der Nachbarschaft eingeladen, und die haben ihr für das Festival ein Huhn geschenkt. Dieses ist vor einer Stunde noch über den Hof geflitzt, erzählt sie mir. Es gibt hier im Haus sonst nur alle zwei Wochen Fleisch. Aber zum Festival wird auch der Speiseplan entsprechend angepasst.
»Brother, schau mal, heute gibt es Hühnchen zum Abendessen«, bemerkt Sujan freudestrahlend.
Bal übergießt das Huhn mit heißem Wasser und beginnt, die Federn zu rupfen. Anschließend nimmt er es aus, was mit großem Interesse von den Jungs verfolgt wird. Aus Mangel an Küchenbrettern holt Manoj ein Holzbrett. Dieses haben wir vor ein paar Tagen noch als Tischtennisnetz verwendet. Mit dem stumpfen Küchenmesser in der einen und einem Maulschlüssel als Hammerersatz in der anderen Hand hackt Bal alles in kleine Stücke. Und mit alles meine ich auch wirklich alles vom Huhn. Dann werden die Stücken scharf angebraten und mit duften Gewürzen verfeinert - fertig ist das Chicken-Curry nach nepalesischer Art. Auch wenn bei einem Huhn für 16 Personen nicht so viel pro Nase übrig bleibt, freuen sich die Kids doch sichtlich darüber. Sujan sortiert zunächst die wenigen Fleischstückchen auf seinem Teller aus. Dann spachtelt er den Reis mit Linsensoße in kürzester Zeit in sich hinein und zelebriert abschließend mit großem Genuss das Hühnchen.
»Hm lecker, das ist so gut«, bemerkt er und legt die Hand auf seinen Bauch.
Dieses von diversen Schmatzgeräuschen und zwischen den Zähnen knackenden Knochen begleitete Abendessen ist unser Auftakt in das mit zehn Tagen längste und bedeutendste Nationalfest der Nepalesen. Die ganze Familie kommt in dieser Zeit zusammen, um gemeinsam den Sieg der Göttin Durga über den Dämon Mahishasura zu feiern. Deren Kampf dauerte der Überlieferung nach neun Tage und neun Nächte, bevor Durga den Dämon und seine Armee besiegen konnte. Sie rettete so das ganze Land und brachte Gerechtigkeit über das Böse.
»Hier schau, das ist Durga, die Unbesiegbare. Sie ist liebevoll und beschützend wie eine Mutter, kann aber auch zur Kämpferin werden«, sagt Bal und zeigt auf ein postkartengroßes Bild, welches in seinem Zimmer an der Wand hängt.
Darauf ist die Göttin auf einem Tiger reitend abgebildet. Sie hat acht Arme und hält verschiedene Gegenstände in der Hand, unter anderem ein Schwert, einen Dreizack sowie Pfeil und Bogen. Sie wirkt angsteinflößend, aber durch die weichen Gesichtszüge und das gutmütige Lächeln trotz allem liebevoll.
»Was ist denn das hier?«, frage ich und zeige auf einen Tontopf, in dem sich etwas Erde befindet. Der steht direkt unter dem Bild von Durga.
»Hier pflanzen wir morgen, am ersten Tag des Festivals die Jamara-Samen. Daraus wächst in den nächsten Tagen grüngelbes Gras. Das brauchen wir dann noch später während des Festivals. Du wirst sehen, brother«, antwortet Bal mit einem verschmitzten Grinsen, um mir bloß nicht zu viel zu verraten.
Wir putzen vor dem Fest auch noch das ganze Haus. Alle helfen mit beim Aufräumen, Kehren, Wischen, Staubsaugen und Wäschewaschen. Sorgfältig reinigen die Kids ihre Schuluniformen. Diese haben jetzt genügend Zeit zum Trocknen, denn aufgrund des Festivals liegen zwei schulfreie Wochen vor uns. Bal bringt schließlich noch eine bunte Girlande über der Haustür an, und so sind wir vorbereitet. Dashain kann kommen. Es ist ein Fest der Familie, und so verbringen wir dieses alle gemeinsam als eine bunte Großfamilie.
Ich habe vor ein paar Tagen zudem noch ein 20-Zoll-Kinderfahrrad in der Stadt erstanden. Laut Verkäufer natürlich mit »Best Price« und »Best Quality«-Garantie. Wir üben seitdem täglich stundenlang, und alle machen große Fortschritte darin, sich alleine auf dem Zweirad zu halten. Der kleine Kumar lernt besonders rasch und fährt bereits nach kurzer Zeit ohne Rücksicht auf Verluste und immer so schnell wie möglich. Allerdings vergisst er dabei, öfter mal nach vorn zu schauen und rechtzeitig zu bremsen, weshalb er auch in der Pflaster- und Verbandsverbrauchsliste alleiniger Spitzenreiter der Gruppe ist.
An einem Tag wandeln wir den betonierten Innenhof vor dem Haus in ein Stadion um. Wir spannen eine lange Schnur quer durch den Hof und veranstalten ein Volleyballturnier. Wir spielen erst ein paar Minuten, da passiert es auch schon. Der Ball fliegt in hohem Bogen und landet perfekt auf einer der vielen Metallspitzen, die unpraktischerweise den oberen Teil der Mauer um das Haus verzieren.
»Oh no, brother, das ist nicht gut!«, sagt Sagar und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.
Mal wieder haben wir einen Ball auf diese Art und Weise eingebüßt und beschließen, etwas dagegen zu unternehmen. Auf dem Dach finden wir einen alten Gummischlauch und Bambusrohre, die von Bauarbeitern hier zurückgelassen wurden. Wir halbieren diese, legen sie auf die scharfen Spitzen und binden sie mit Draht fest. Den Schlauch schneiden wir in kleine Stücke und stecken diese auf die restlichen Zaunspitzen. Die Jungs helfen emsig mit, das Stadion turniertauglich zu machen.
Ich drücke Manoj ein paar Rupien in die Hand, und er rennt los, um einen neuen Ball zu kaufen. Eine halbe Stunde später wird er wieder fröhlich von den anderen empfangen – jetzt kann das Turnier weitergehen.
Wie es sich für die Ferien gehört, haben wir auch ein paar Ausflüge mit den Kids gemacht. Es tut gut, zur Abwechslung mit allen aus dem Haus rauszukommen und mal etwas anderes zu sehen. Vor dem Start bereiten wir noch fleißig Essen für das spätere Picknick vor. Unsere Samossa-Produktionslinie läuft dabei auf Hochtouren. Aus Mehl und Wasser stellt Sharmila einen Teig her. Prakash und Manoj kneten diesen solange, bis er ganz geschmeidig ist, und formen viele kleine Kugeln daraus. Bal rollt diese dann geschickt zu kreisrunden, dünnen Fladen aus. Die Mädels haben vorher bereits die gekochte Füllung aus Erbsen und Kartoffeln vorbereitet. Die halbierten Teigfladen formen wir zu kleinen trichterförmigen Gebilden, stopfen diese mit der nach Masala duftenden Gemüsemischung und verschließen sie. Die so entstanden gefüllten Teigtaschen werden jetzt noch in heißem Öl knusprig braun frittiert.
Nach drei Stunden Essensproduktion haben wir es geschafft und steigen in den Minibus, der uns nach Godavari bringt, einem schönen botanischen Garten und Park südlich von Patan. Wir verbringen den ganzen Tag hier draußen in der Natur, genießen die frische Luft auf den grünen Wiesen, umgeben von vielen Bäumen. Anblicke, die man in der Stadt vergeblich sucht! Wir spielen Fußball, Volleyball und mehrere Fangspiele. Zwischendurch verspeisen wir bei einem Picknick unsere mitgebrachten Samossas. Die Jungs klettern in den Bäumen herum, und die Mädels sammeln bunte Blüten und flechten sich diese ins Haar. Die Stimmung ist ausgelassen, und alle freuen sich, einfach nur hier zu sein.
Die Sonne geht bereits unter, als wir uns mit dem Minibus auf den Weg zurück nach Hause machen. Es ist ganz still im Bus.
Ich blicke in die vielen kleinen, zufriedenen Gesichter um mich herum. Alle sind nach diesem aufregenden Tag bereits wenige Minuten nach der Abfahrt eingeschlafen. Die kleine Shila sitzt auf meinem Schoß. Ihr Kopf liegt an meiner Brust. Über ihrem linken Ohr steckt eine lilaweiße Blüte im pechschwarzen Haar. Auch sie ist vom Schaukeln des durch die Schlaglöcher ruckelnden Busses eingeschlafen. Ich streichle ihr sanft über den Hinterkopf und flüstere ihr zu:
»Subha ratri, bahini - schlaf gut, kleine Schwester«.
Ich bin so froh, hier bei den Kindern zu sein und Zeit mit ihnen verbringen zu können. Denn diese Zeit habe ich doch gesucht, Zeit für die wichtigen Dinge. Und das Wichtigste für mich ist es jetzt, hier bei diesen besonderen Menschen zu sein, die mir so sehr ans Herz gewachsen sind. Meine Rolle als großer Bruder nehme ich dabei gerne an. Ich schaue zu Bal, der direkt neben mir sitzt, und sage:
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, hier bei euch zu sein.«
»Oh doch, das kann ich. Ich sehe diese Freude jeden Tag in deinen Augen«, antwortet er lächelnd.
»Sharmila hat gestern auch zu mir gesagt, dass André-brother immer lacht. Jeden Tag.«
»Es fühlt sich einfach richtig an, hier zu sein. Ich lerne so viel, und jedes Lachen der Kinder geht direkt da rein«, sage ich und zeige auf mein Herz.
»Weil das Lachen eines Kindes das Herz zum Tanzen bringt«, ergänzt Bal meinen Satz.
»Dann hört Shila gerade, wie mein Herz vor Freude tanzt«, sage ich und deute auf die Kleine, deren Ohr direkt in der Mitte meiner Brust liegt.
Es lässt sich nur schwer in Worte fassen, was für ein Geschenk diese Zeit hier für mich ist, und wie dankbar ich dafür bin.
So vergeht die Zeit des Dashain-Festes doch ziemlich schnell. Am Abend des achten Tages werden vielerorts in Nepal auch Ziegen, Hühner und Büffel in Tempeln für die Gottheit geopfert. Diese Nacht gilt als »schwarze Nacht« und ist Kali gewidmet, welche den Zorn der Göttin Durga verkörpert. Gegen Mitternacht werden acht Büffel und 108 Ziegen auf den Plätzen um den zentralen Durbar Square enthauptet. Das Fleisch wird der Göttin mit Gebeten und Gesängen gewidmet und anschließend von den Anwesenden als Prasad mit nach Hause genommen. Das so gesegnete Prasad wird verzehrt, wodurch ein Teil der göttlichen Kraft aufgenommen werden soll. Wir schauen uns das zum Glück nicht live an, aber Bals bildliche Beschreibung dieser blutigen Angelegenheit reicht aus, um eine detaillierte Vorstellung davon zu bekommen.
Der zehnte und letzte Tag des Festivals trägt den Namen Vijaya Dashami und ist ein ganz besonderer. Die ältesten Mitglieder der Familie geben dabei der jüngeren Generation eine Segnung in Form einer Tika auf die Stirn. Diese besteht aus einer Mischung aus Reiskörnern, Joghurt und roter Farbe. Sie soll der Person, die sie erhält, ein glückliches und langes Leben wünschen. Nacheinander bekommen die Kids ihre Tika von Bal und Sharmila in die Mitte der Stirn geklebt.
Auch ich erhalte die Segnung. Danach reicht mir Bal die Schale mit der rotfarbenen Masse und sagt zu mir:
»Du bist Teil unserer Familie und kannst Sharmila und mir jetzt die Tika geben.«
Eine große Ehre, die ich dankend annehme. Nun wird auch das am ersten Tag des Festivals ausgesäte Gras geerntet.
»Siehst du, brother, das Gras ist während des Festes gewachsen, und jetzt bringt es uns Glück«, sagt Bal und schneidet die einzelnen Halme sorgsam mit einem Messer kurz über der Erde ab. Sharmila bindet sie zu kleinen Büscheln zusammen, die wir uns wie einen Stift übers Ohr klemmen.
Es folgt das Festessen, bestehend aus Hühnchen, Kichererbsen, Kartoffeln, scharf eingelegtem Gemüse und ringförmigen Roti-Broten. Ein Glas Limonade wird zur Feier des Tages ebenfalls aufgetischt.
Mit vollen Bäuchen schwingen wir dann zu typisch nepalesischen Rhythmen das Tanzbein, wobei es viel zu lachen gibt. Es ist eine sehr intensive Zeit, und ich liebe es, diese vielen kleinen Traditionen zu solch einem Fest mitzuerleben – hier an diesem wunderbaren Ort, gemeinsam mit meiner nepalesischen Familie.
Mit dem Ablauf des Festivals und der Schulferien endet auch mein Visum. Vor meinem Abschied gibt es jedoch noch eine tolle Überraschung. Da ich zu meinem Geburtstag in knapp drei Wochen nicht mehr hier im Waisenhaus bin, haben Bal und Sharmila beschlossen, diesen einfach vorzufeiern. So weiß ich gar nicht, wie mir geschieht, als plötzlich nach dem Abendessen bunte Luftballons an die Decke gehangen werden. Unter dem klatschenden Beifall der Kinder soll ich diese mit einem Messer zerstechen. Danach kam allerdings der Hammer. Sharmila hält eine Geburtstagstorte mit »Happy Birthday« Aufschrift in der Hand, echt unglaublich. Während ich diese feierlich in kleine Stücke teile, stimmen die Kinder noch ein Geburtstagsständchen an. Wir verputzen die Torte, und plötzlich sind die Kinder in der obersten Etage verschwunden. Kurze Zeit später stehen sie alle wieder vor mir, und jeder überreicht mir stolz eine selbstgemalte Geburtstagskarte mit geschriebenen Glückwünschen. Ich bin gerührt, freue mich riesig und finde es wirklich süß, wie viel Mühe sie sich dabei gegeben haben. Ein ganz besonderer Augenblick, an den ich mich zu meinem tatsächlichen Geburtstag gern zurückerinnern werde. Damit ist der erste Monat meiner Reise verflogen, es ist Zeit, Abschied zu nehmen.
Eine Blumenkette aus strahlend orangefarbenen Blüten hängt mir um den Hals. In der Mitte meiner Stirn befindet sich ein roter Strich, der sich vom Punkt zwischen meinen Augenbrauen etwa zwei Zentimeter nach oben erstreckt. Vor mir ein großer Rucksack, den ich in den kleinen Kofferraum eines Autos quetsche. Schwungvoll knallt der Taxifahrer die Heckklappe zu, während ich einsteige und die Beifahrertür schließe. Ich atme tief ein, kurble das Fenster nach unten und schaue zurück. Die Kinder winken mir zu und rufen »Bye, bye brother«.
»Bye, bye my brothers and sisters«, antworte ich, als das Taxi langsam losfährt. Tränen füllen meine Augen.
»Mein Freund, bist du okay?«, fragt der Taxifahrer.
»Nicht wirklich. Ich glaube, ich kann nicht gehen.«
»Du bist traurig, weil ich dich zum Flughafen bringe, und du musst verlassen das schöne Nepal und die Menschen oder?«, sagt er, während er kräftig auf die Hupe drückt, um das Auto vor ihm zum Weiterfahren zu ermutigen.
»Ja, irgendwie schon«, antworte ich und wische mir die Tränen aus dem Gesicht.
»Und wegen Nepali-Musik« fügt er hinzu, schaltet das Radio ein und beginnt zu singen.
Ich muss lachen. Er wackelt mit dem Kopf und sagt:
»Wusste ich doch, dass diese Nepali-Musik macht dich happy. Und das Beste ist, du kannst immer zurückkommen und unser schönes Nepal wieder besuchen, mein Freund.«
»Das werde ich auf jeden Fall. Schon bald«, antworte ich und schaue nach vorn in Richtung Indien.
Nachdem ich an der Ostküste in Goa zunächst ein paar Tage Entschleunigung in einer kleinen Bambushütte am Strand genießen konnte, fühle ich mich bereit, das wahre Indien zu erkunden. Mit einem Bus, der einer Sardinenbüchse auf Rädern gleicht, geht es in Richtung Osten und ins Landesinnere. Noch etwas verschlafen schaue ich nach der langen Fahrt aus dem Busfenster. Meine Augen werden jedoch schnell immer größer bei dem, was ich da draußen sehe. Ich staune über diese gigantische, fast ein wenig unwirkliche Landschaft, die ich so noch nirgendwo gesehen habe. Überall befinden sich rotbraune Felsbrocken und Hügel, dazwischen saftig grüne Bananenfelder, Kokosnuss-Palmen und alte Tempel. Der Bus biegt auf einen kleinen Platz ein, davor und dahinter jeweils fünf knatternde Rikschas. Wie Mücken schwirren sie herum und warten nur auf den Moment, auf ihrer Beute zu landen, durch die blecherne Haut zu stechen und die Fahrgäste aus dem Inneren herauszusaugen. Als der Bus schließlich anhält, wird er sofort von etwa zwanzig Leuten belagert, die sich vor dem Ausgang postieren und mit Flyern und Karten herumwedeln.
»Mein Freund, du Rikscha brauchst, oder Hotel? Ich kenne beste Hotelplatz in unsere schöne Stadt und billig auch. Komm, fahre ich dich dorthin zu diese sehr gute Hotel.«
Ich schiebe mich durch die Meute und hole meinen Rucksack aus dem Kofferraum des Busses. Als sich dann der Kleinste aus der Gruppe der Rikschafahrer ganz höflich vorstellt und mir sagt, dass er Moskito heißt, muss ich schmunzeln.
»Meine Freunde, sie nennen mich Moskito, weil ich bin so klein und leicht. Das ist gut weißt du, weil wenn Fahrer ist nicht so fett, Rikscha kann auch mit sechs Personen noch Berg hochfahren und bleibt nicht stehen. Deshalb meine Freunde nennen diese Rikscha auch BMW. Es ist sehr gut diese Rikscha. Willst du fahren mit mir?«, sprudelt es aus ihm heraus, während er den Kopf von links nach rechts wiegt.
»Klar doch. Ein Moskito, der einen BMW fährt, wie könnte ich da ›Nein‹ sagen«, antworte ich lächelnd und schwinge meinen Rucksack auf die Sitzbank dieses dreirädrigen schwarz-gelben Gefährtes. In Südostasien werden diese wegen ihres typischen Motorengeräusches auch »Tuk-Tuk« genannt. Und so tuckern wir unter dem angestrengten Stöhnen und Husten des Einzylindermotors durch die holprigen Straßen hinein in das kleine Dorf. Bei der ersten Erkundungstour zu Fuß kurze Zeit später kommt ein kleiner indischer Junge mit seiner Familie auf mich zu, gibt mir die Hand und begrüßt mich mit den Worten:
»Willkommen in Hampi und unserem Staat Kanataka!«
Hampi war bis Mitte des 16. Jahrhunderts Hauptstadt des Königreiches Vijayanagar, eines der größten Hindu-Reiche in der Geschichte Indiens. In der Blütezeit lebten hier rund 500.000 Menschen, jetzt sind es nur noch etwa 4000. Von den einst prunkvollen Palästen, reich gefüllten Bazaren und religiösen Tempeln aus dieser Zeit sind heute noch viele gut erhaltene Bauten zu bestaunen. Aufgrund der heiligen Bedeutung des Ortes ist der Konsum von Fleisch und Alkohol hier offiziell verboten.
Im kleinen Guesthouse, in dem ich unterkomme, lerne ich Debby aus England kennen. Ihr strahlendes Lächeln und ihre natürliche, lebensfrohe Art machen sie sofort sympathisch. Wir verbringen die nächsten Tage zusammen und begeben uns zu Fuß und mit dem Fahrrad auf eine Zeitreise ins 15. Jahrhundert. Per Moped erkunden wir die Umgebung Hampis und begegnen vielen freundlichen Menschen, die ihr Englisch ausprobieren und natürlich Fotos mit uns machen wollen. So auch auf dem Weg hinauf zum Hanuman-Tempel, als wir von einer Mutter mit ihren drei Töchtern begleitet werden. Sie alle tragen bunte Saris, die in den Farben Gelb, Lila und Türkis in der Sonne leuchten. Ihre schwarzen Haare sind zu Zöpfen gebunden und mit orangefarbenen Blüten verziert. Die Handgelenke sind mit Armreifen und der linke Nasenflügel mit einem goldenen Ring geschmückt. Zwischen den Augenbrauen befindet sich eine Tika in Form eines roten Farbpunktes. Das herzliche Lächeln und die strahlenden braunen Augen komplettieren schließlich das leuchtende Erscheinungsbild der Mädchen. Sie bringen Gaben in Form von Kokosnüssen an den Geburtsort des Gottes Hanuman, welcher der Legende nach diese bizarre Landschaft hier in Hampi erschaffen hat. 740 Stufen später auf dem Plateau des Felsens angekommen, werden die Kokosnüsse an einem Opferstein geknackt und zurückgelassen. Das freut besonders die Kinder Hanumans, die hier oben lebenden Rhesusaffen. Als ich mich mit Debby kurz hinsetze, um den tollen Ausblick und das Panorama zu genießen, kommt eine Familie auf uns zu. Die Eltern platzieren ganz selbstverständlich ihren etwa zwei Jahre alten Sohn direkt zwischen uns, um ein Foto zu machen. Das ist die Initialzündung für die anderen anwesenden Familien, die daraufhin ebenfalls alle Fotos mit uns schießen möchten.
»So muss es sich also anfühlen, wenn man prominent ist«, sagt Debby lachend.
Einige der Anwesenden geben mir ihre E-Mail-Adresse, sodass ich ihnen die Bilder später zuschicken kann. Nachdem das spontane Fotoshooting vorbei ist, lädt uns der Brahmane, der hier auf dem Berg wohnt, noch in den Tempel ein. Er zeigt uns voller Stolz die mit Statuen verzierten Schreine und gibt uns mit rotem Pulver eine Segnung auf die Stirn. Als Gegenleistung wollte auch er ein Foto von ihm in seinem Tempel. Die Menschen sind alle so freundlich und vermitteln uns immer den Eindruck, dass wir absolut willkommen sind.
Das ist auch einer der Gründe, warum ich zunächst in Hampi hängen bleibe, diese Atmosphäre Tag für Tag genieße und mich hier richtig wohlfühle.
Debby hat bereits vor ein paar Tagen mit einem Yogakurs begonnen und schwärmt davon, wie gut ihr das tue.
»Hast du Lust, morgen einfach mal mitzukommen?«, fragt sie mich, während wir uns ein schmackhaftes Malai Kofta mit Naanbrot zum Abendessen gönnen. Sofort sage ich zu, denn es gibt wohl kaum einen besseren Ort, um Yoga zu erlernen, als hier im Mutterland dieser Lehre.
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