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Der krönende Abschluss der mehrfach preisgekrönten Trilogie
Dariel Akkaran, der jüngere Bruder der mächtigen Königin von Acacia, hält sich noch immer in den Fernen Landen auf, um dort endlich ein uraltes Unrecht aus der Welt zu schaffen: die seit Generationen währende Verschleppung von Kindersklaven aus Acacia als Tribut an die Fernen Lande. Dariels Schwester Mena reist derweil in den fernen Norden, um sich einer Invasion durch die gefürchteten Auldek in den Weg zu stellen. Vom Erfolg ihrer beider Missionen hängt das Schicksal der ganzen Welt ab.
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Seitenzahl: 1273
Buch
Ligea kehrt heim. Doch Tyr, das Land, in dem sie aufwuchs und dem ihre Treue galt, ist nicht mehr ihre Heimat. Der Aufenthalt bei ihrem eigenen Volk in Kardiastan hat ihr die Augen geöffnet für die Sklaverei, Tyrannei und Unterdrückung, durch die die Bruderschaft und Bator Korbus herrschen. Ligea sinnt auf Rache, und es reicht ihr nicht, diejenigen zu bestrafen, die sie entführt, benutzt und belogen haben – sie will das ganze Reich Tyr zu Fall bringen.
Mit einem kleinen Sohn, der mehr als alles andere in einer gewöhnlichen Familie leben will, und den Schakalen der Bruderschaft auf den Fersen, ist es jedoch schwer, eine Rebellion auf die Beine zu stellen. Trotzdem kann Ligea nicht verhindern, auf der Suche nach Verbündeten und beim Einsatz ihrer Magie ihren Sohn Arrant in Gefahr zu bringen. Doch in ihm schlummern die Kräfte eines Illusionisten, die sich, gepaart mit der Enttäuschung über seine Mutter, auch gegen Ligea wenden könnten …
Autor
David Anthony Durham, dessen Eltern aus der Karibik stammen, wurde 1969 geboren und hat weite Teile der USA und Europas bereist und mit seiner Familie mehrere Jahre in Schottland gelebt. Nach seinem Hochschulabschluss hat er unter anderem an der Universität von Maryland und an der Universität von Massachusetts gelehrt. Seit 2007 ist Durham außerordentlicher Professor an der California State University Fresno und unterrichtet dort Literatur.
Die Acacia-Saga von David Anthony Durham bei Blanvalet
Macht und Verrat
Die Fernen Lande
Reiche Ernte
David Anthony Durham
Acacia
Reiche Ernte
Roman
Aus dem Englischen von Tim Straetmann
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Acacia 3. The Sacred Band« bei Doubleday, New York.
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe April 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © 2011 by David Anthony Durham
This translation published by arrangement with Doubleday, an imprint of The Knopf Doubleday Publishing Group, a division of Random House, Inc.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung und -illustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft, München
Redaktion: Sigrun Zühlke
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-08476-9www.blanvalet.de
Für Sorley, Beth, Gudrun und Jamie
Inhalt
Was bisher geschah
ERSTES BUCH Die Sängerin und das Lied
ZWEITES BUCH All die bösen Saaten
DRITTES BUCH Die stumme Königin
VIERTES BUCH Der Schneekönig
Epilog
Danksagung
Was bisher geschah
Die Fernen Lande, der zweite Band der Acacia-Trilogie, beginnt mit einem Prolog, der in die Zeit zurückführt, als Hanish Mein über Acacia herrschte. Die Zwillinge Mór und Ravi wurden zusammen mit vielen weiteren Kindern von Sklavenhändlern der Gilde gefangen genommen, um als »Quote« in die Anderen Lande verschickt zu werden. Auf einem einsam gelegenen Strand im ländlichen Candovia versucht Ravi, die anderen Kinder zur Rebellion aufzustacheln. Er wird erwischt – und zu seiner Überraschung nicht bestraft, sondern am Leben gelassen. Ein Gildenmann erklärt ihm, ihn – und seine Seele – würde in den Anderen Landen ein anderes Schicksal erwarten.
Die eigentliche Geschichte beginnt ungefähr neun Jahre nach den Geschehnissen in Acacia – Macht und Verrat. Corinn Akaran hält als unangefochtene Königin von Acacia die Zügel der Macht fest in der Hand. Abgesehen von ihrer Vertrauten Rhrenna, einer Mein, mit der sie sich bereits während Hanish Meins Herrschaft angefreundet hatte, traut sie nur wenigen Menschen. Corinn hat Experimente mit einem neuen Nebel-Destillat in Auftrag gegeben, das dem Wein beigemischt werden kann. Bei der Entwicklung dieses Destillats arbeitet sie mit der Gilde zusammen, der sie nach dem Krieg gegen Hanish – im Gegenzug für die ihr gewährte Unterstützung – Zugeständnisse machen musste. So hat Corinn der Gilde die Außeninseln überlassen, die nun wie ein privates Lehen genutzt werden mit dem Ziel, auf großen Plantagen Quotenkinder zu züchten.
Dass Corinn auch eine sanftere, fürsorglichere Seite hat, zeigt sich immer dann, wenn sie nicht als Königin und gemäß den Verpflichtungen dieses Amtes agiert, etwa beim Umgang mit ihrem achtjährigen Sohn Aaden, in den sie völlig vernarrt ist. Er ist der Einzige, der weiß, wie intensiv Corinn sich mit dem Buch auseinandersetzt, das als DasLied von Elenet bezeichnet wird.
Corinns jüngere Geschwister haben ebenfalls alle Hände voll zu tun. Mena Akaran befindet sich zu Beginn des Romans in Talay, wo sie mit dem Auftrag unterwegs ist, die Übeldinge auszulöschen – mutierte Kreaturen, die ihre Entstehung der verderbten Magie verdanken, die die Santoth entfesselt haben, als sie nach Alivers Tod die Armee der Mein vernichtet haben. Die Übeldinge unterscheiden sich im Hinblick auf ihr Aussehen, ihre Größe und ihre Gefährlichkeit jeweils vollkommen, jedes ist einzigartig, doch Mena besiegt sie zusammen mit ihrem Ehemann Melio und Alivers Freund Kelis Umae eines nach dem anderen. Ihr Bruder, Dariel Akaran, leidet immer noch unter Schuldgefühlen, weil er zugelassen hat, dass Aliver sich mit Maeander Mein duellierte, und versucht, sie dadurch zu beschwichtigen, dass er überall im Reich Wiederaufbauprojekte in Angriff nimmt und leitet.
Der Haupthandlungsstrang beginnt mit der Ankunft von Sire Dagon und Sire Neen bei Corinn. Sie bringen Neuigkeiten über ein Missgeschick in den Anderen Landen mit und erklären, dass die Lothan Aklun gar nicht die eigentlichen Partner ihrer Handelsbeziehungen waren. Die Lothan Aklun sind nur Mittler, die eine größere Bevölkerung – die Auldek – versorgen. Frustriert darüber, dass sie auch nach vielen Jahren noch immer so gut wie nichts über die Auldek wissen, haben die Mitglieder der Gilde versucht, sich Informationen zu beschaffen. Unglücklicherweise – so behaupten die Sires – wurden mehrere Spione der Gilde entdeckt. Da sie fürchten, dass der Patzer sich nachteilig auf die Handelsbeziehungen auswirken wird, fordern sie Corinn auf, an Bord eines Gildenschiffs in die Anderen Lande zu segeln, um dort Treu und Glauben der Handelsvereinbarungen zu erneuern. Corinn lehnt das Angebot ab, sorgt jedoch dafür, dass Dariel an ihrer Stelle fährt. Außerdem schickt sie Rialus Neptos mit, der ein Auge auf sämtliche Vorgänge haben soll. Calrach, der Anführer der Numrek, und mehrere Mitglieder seines Clans einschließlich seines Sohnes Allek werden dem Unternehmen ebenfalls zugeteilt; sie sollen helfen, die Auldek zu überreden, den Handel mit den Acaciern fortzusetzen.
Weitere wichtige Erzählstränge drehen sich um eine Reihe von Nebenfiguren. Beispielsweise um Barad den Geringeren, einen schwer gezeichneten ehemaligen Arbeiter aus den Minen von Kidnaban, der zu einer Art Revolutionär geworden ist. Er reist im Reich herum, hält Reden und versucht, einen organisierten Widerstand gegen die Akaran-Dynastie aufzubauen, denn er ist davon überzeugt, dass die Bekannte Welt gerechter regiert werden kann. Im aushenischen König Grae findet er einen Verbündeten mit ähnlichen Zielen – auch wenn es Grae vor allem darum geht, die Macht Acacias zu verringern –, und die beiden Männer lernen, einander zu vertrauen. Der schneidige Monarch willigt ein, die Königin auf Acacia zu besuchen, um ihr den Hof zu machen und dabei Informationen zu sammeln, die sich als nützlich erweisen können, um sie zu stürzen.
Kelis, der Talaye, der in seiner Jugend Alivers bester Freund war, verlässt Menas Dienst, um dem Ruf seines Häuptlings zu folgen. Er erfährt, dass Aliver mit Benabe, einer seiner Liebhaberinnen, eine Tochter namens Shen gezeugt hat. Das Mädchen spricht in ihren Träumen mit den Santoth, die sie nun zu sich gerufen haben. Da Kelis einst Aliver bei der Suche nach den Zauberern geholfen hat, soll er Shen und Benabe zu den Santoth begleiten. Mit ihnen geht außerdem ein junger Mann namens Naamen. Sie ziehen zu Fuß nach Südtalay, eine Reise, die umso magischer wird, je näher sie den Santoth kommen. Schließlich begegnen sie Leeka Alain, dem alten Soldaten, der als Erster einen Numrek getötet hat. Er hat die ganzen Jahre bei den Santoth gelebt. Er führt sie zu den Zauberern, die sich Shen schnappen und verschwinden.
Delivegu Lemardine, ein zwielichtiger Agent, den Corinn für eher unappetitliche Aufgaben einsetzt, bringt der Königin Informationen über Barad den Geringeren, erzählt ihr, dass eine Verschwörung im Gange sei. Außerdem entdeckt er, dass Wren, Dariels Geliebte, von diesem schwanger ist. Als Corinn davon erfährt, schickt sie Wren nach Calfa Ven, um sie zu verstecken, während sie sich überlegt, was sie mit ihr anstellen soll.
Mena ist weiterhin in ganz Talay unterwegs, um die Übeldinge zu jagen, und denkt sich dabei einfallsreiche Methoden aus, um die Monstren zu fangen und zu töten. Schließlich sehen sie und ihre Getreuen sich dem letzten Monster gegenüber. Angeblich soll es sich dabei um einen Drachen handeln, doch in Wirklichkeit ist es eine Mischung aus einem Reptil und einem Vogel, ein merkwürdig sanftes, gefiedertes, in Menas Augen unglaublich schönes Wesen. Ihr Jagdtrupp greift das Tier an, ehe Mena ihn aufhalten kann. Als die verletzte Kreatur davonfliegt, wird Mena mit in die Lüfte gerissen. Das Tier stürzt in einer abgelegenen Region ab. Die beiden erholen sich zusammen von ihren Verletzungen, und zwischen ihnen entsteht ein liebevolles Band. Mena nennt das Tier Elya.
Auf seiner Reise über die Grauen Hänge sieht Dariel viele Wunder, darunter gebirgshohe Wellen und Schwärme angriffslustiger Seewölfe. Er ahnt nicht, dass sein Gastgeber, Sire Neen, insgeheim alle Akarans hasst – am meisten aber Dariel selbst, den er für den Tod vieler Gildenmänner auf den Plattformen verantwortlich macht. Da Neen unglaublich ehrgeizig ist, hat er einen Plan ersonnen, um die Lothan Aklun auszulöschen, was der Gilde das Monopol auf den Handel mit Nebel und den Quotensklaven verschaffen würde. Als sie die den Anderen Landen vorgelagerten Barriere-Inseln erreichen – von den Einheimischen Ushen Brae genannt –, lässt er Dariel gefangen nehmen und erklärt ihm, dass die Gilde ein zeremonielles Ritual der Lothan Aklun genutzt hat, um sie alle zu vergiften. Die gesamte Zivilisation der Lothan Aklun ist ausgelöscht worden.
Neen arrangiert ein Zusammentreffen mit den Auldek, bei dem er Dariel als Friedensopfer überreichen will. Doch die Zusammenkunft mit den kriegerischen Auldek verläuft ganz anders als geplant. Als während des Treffens die Numrek auftauchen, bricht Chaos aus. Im Verlauf der folgenden Geschehnisse wird Sire Neen enthauptet. Sowohl Dariel als auch Rialus Neptos werden gefangen genommen, aber von unterschiedlichen Gruppen. Dariel wird zum Gefangenen der Widerstandsbewegung der Quotensklaven, des Freien Volkes. Er wird einige Zeit lang ziemlich rau behandelt, wird geschmäht, weil er ein Mitglied der Familie ist, die den Handel mit dem Nebel und den Quotensklaven eingeführt hat. Dessen ungeachtet entwickelt er eine immer größere Faszination für seine Häscher. Mór, die schöne, zornige Anführerin der Gruppe; Skylene, ihre Geliebte; und Tunnel, einen Koloss von einem Mann, der durch seine Tätowierungen und seine goldenen Hauer nur noch beeindruckender wirkt. Viele der Quotensklaven wurden körperlich extrem verändert – durch Tätowierungen, Piercings, Implantate –, um sie den Totem-Gottheiten ihrer Auldek-Herren ähnlicher zu machen. Tunnel und Skylene erzählen Dariel nach und nach mehr über das Leben in Ushen Brae.
Rialus hingegen wurde von den Auldek gefangen genommen. Zu seiner Überraschung besucht Calrach ihn in seiner Zelle und erklärt ihm, dass nicht nur die Gilde verräterische Pläne geschmiedet hat. Die Numrek hatten ihre eigenen Gründe, um nach Ushen Brae zu kommen. Sie sind einer von mehreren Clans, aus denen das Volk der Auldek besteht, aber sie wurden vor Jahren aus ihrer Heimat verbannt, weil sie Tabus der Auldek verletzt haben. Die Verbannung hat sie in den hohen Norden geführt, von wo aus sie schließlich ihren Weg über den Pol und in die Bekannte Welt hinunter gefunden haben. Die Jahre, die sie in Diensten von Hanish Mein und später Corinn verbracht haben, setzten ihre Bestrafung fort. Doch jetzt ist Calrach in seine Heimat zurückgekehrt – und er hat Neuigkeiten mitgebracht, von denen er glaubt, dass sie seinem Clan wieder den alten Status verschaffen werden.
Calrach liefert Rialus die gleiche wichtige Information, die Dariel vom Freien Volk erhält. Die Lothan Aklun hatten eine Vorrichtung namens Seelenfänger, mit der die Seelen von Quotenkindern aus deren Körpern entfernt und in den Körper eines Auldek eingepflanzt werden konnte. Die Auldek bewahren all diese Seelen in ihren Körpern, was sie praktisch unsterblich, aber auch unfruchtbar macht. Doch sie brauchen Quotensklaven nicht nur für die alltäglichen Arbeiten und um an weitere Seelen zu kommen, sondern auch um den natürlichen Lebenszyklus beobachten zu können, an dem sie nicht mehr teilhaben. Die Numrek hingegen haben mit ihrer Ankunft in der Bekannten Welt ihre Fruchtbarkeit zurückgewonnen, was allein schon Calrachs Sohn Allek durch seine Existenz beweist. Calrach ist nach Ushen Brae zurückgekehrt, um die Auldek dazu zu bringen, über die nördliche Route in die Bekannte Welt zu marschieren und dort Krieg zu führen. In der Bekannten Welt erwarten sie neue Länder, neue Kinder und überhaupt ein neues Leben. Die Auldek zwingen Rialus, ihnen alles über die Bekannte Welt zu erzählen, so dass er zum persönlichen Informanten des überaus selbstbewussten Devoth wird, dem obersten Anführer der Auldek.
Dariel – überzeugt davon, dass er dazu beitragen kann, das durch den Handel mit den Quotenkindern entstandene Unrecht wiedergutzumachen – bietet der Widerstandsbewegung seine Unterstützung an. Und schließlich erhält er tatsächlich einen Auftrag. Die Widerstandsbewegung hat ein Seelenschiff – ein Schiff, das durch gefangene Seelen angetrieben wird – entdeckt und will nun verhindern, dass es der Gilde in die Hände fällt. Dariel soll das Schiff an einen abgelegenen Ort steuern und zerstören. Natürlich willigt er, ohne lange nachzudenken, ein – ja, mehr als das, er lässt sich sogar von Mór das Gesicht tätowieren, damit er wie ein Quotensklave aussieht. Das Schiff erweist sich als schnell, leicht manövrierbar und ganz anders als alles, was Dariel bisher kennengelernt hat. Als er mit ihm davonrast, entdeckt er, dass die Gilde die Insel Lithram Len besetzt hat, auf der sich der Seelenfänger befindet. Sollten die Gildenmänner die Anlage finden und lernen, sie zu benutzen, könnten sie sich selbst unsterblich machen. Das kann Dariel nicht zulassen. Wie einst in seiner Zeit als Pirat stiehlt er Sprengstoff von den Docks und jagt den Seelenfänger in die Luft. Nachdem er das Seelenschiff zerstört und dadurch die Geister befreit hat, die in ihm gefangen waren, trifft er sich wieder mit Mór. Zum Dank für seine Taten bietet sie ihm an, dass er als freier Mann gehen oder sie ins Landesinnere von Ushen Brae begleiten kann, um die Ältesten des Freien Volkes zu treffen. Dariel entschließt sich, Mór in die wilden Weiten von Ushen Brae zu begleiten.
Auf Acacia schafft Corinn es mit Müh und Not, sich Graes Bann zu entziehen. Delivegu nimmt Barad den Geringeren gefangen und übergibt ihn ihr. Außerdem ist er zu dem Schluss gelangt, dass Grae und Barad unter einer Decke stecken. Die Königin sperrt Barad ins Verlies und verwandelt seine Augen in Steine, während sie Grae einfach in seine Heimat zurückschickt.
Corinn ist erleichtert, als Mena aus Talay zurückkehrt. Die Prinzessin kommt auf Elya angeflogen, die sie abgöttisch liebt, wohingegen Corinn der Kreatur gegenüber misstrauisch ist. Aber auch Aaden ist Elya schon bald völlig verfallen. Mena spricht mit Melio, ihrem Lebensgefährten, darüber, in absehbarer Zeit Kinder zu haben, etwas, das sie lange aufgeschoben haben. Das Wiedertreffen mit Melio verläuft sehr angenehm, doch die friedvolle Zeit währt nicht lange.
Sire Dagon erhält eine Nachricht über Sire Neens Schicksal in Ushen Brae und erfährt bei dieser Gelegenheit auch vom Verrat der Numrek und der bevorstehenden Invasion. Er eilt zur Königin, um ihr eine etwas abgewandelte Version der Geschichte zu erzählen – eine, in der die Gilde nicht ganz so schlecht dasteht. Die Numrek im Palast erkennen Dagons Unbehagen und wissen, dass ihren Clansbrüdern etwas geschehen sein muss. Sie rebellieren. Als das Gemetzel beginnt, ist die Königin zusammen mit Rhrenna und Dagon in Sicherheit, aber Aaden und Mena sind in Begleitung von Numrek-Wachen draußen in der Carmelia, dem großen Stadion.
Die Numrek greifen den jungen Prinzen an. Sie stechen ihn und seinen Freund nieder, ehe Mena sie aufhalten kann. Mena tötet die Numrek, schnappt sich Aaden und wirft ihn Elya zu, die mit dem verwundeten Jungen wegfliegt. Melio und weitere Marah eilen Mena zu Hilfe. Sie kämpfen gegen die Numrek und töten nicht nur die in der Arena, sondern auch alle anderen auf der Insel.
Corinn benutzt das Lied, um Aadens Verletzungen zu heilen, doch der Junge bleibt bewusstlos. Sie begibt sich auf eine Traumreise nach Ushen Brae, wo sie zwar ihren Bruder nicht finden, aber stattdessen Kontakt mit Rialus Neptos aufnehmen kann. Durch ihn erfährt sie, dass die Auldek tatsächlich in den Krieg ziehen. Sie haben einen gewaltigen Heerhaufen zusammengezogen: Auldek, zehntausende von Sklaven und alle möglichen Arten von Tieren, darunter Antoks, fledermausähnliche Kwedeirs und Fréketen – große, intelligente Bestien mit gewaltigen Schwingen.
Angesichts der bevorstehenden Invasion will Corinn sicherstellen, dass die Nation vollständig auf ihrer Seite ist, und gibt Anweisung, das neu entwickelte Nebel-Destillat – den sogenannten Prios-Wein – zu verteilen; damit macht sie das Volk wieder süchtig nach künstlichem Hochgefühl. Kurz danach überreicht sie Mena Des Königs Vertrauter – Edifus’ altes Schwert – und schickt sie mit dem Auftrag los, die erste Verteidigungslinie gegen die Auldek zu errichten und die Invasoren zu besiegen oder aufzuhalten, solange sie noch im hohen Norden sind. Gleichzeitig schickt sie Melio mit einer Armee nach Teh, um die dort lebenden Numrek anzugreifen. Die Pläne des Paares, endlich Kinder zu bekommen, werden noch warten müssen.
Shens Verschwinden hat Kelis, Benaba und Naamen in tiefe Verzweiflung gestürzt. Nachdem sie wochenlang erfolglos die Wüste nach ihr abgesucht haben, sind sie alle mehr oder weniger am Ende – doch dann tauchen Shen, Leeka und die Santoth einfach wieder auf. Das Mädchen erzählt Kelis, dass die Santoth jetzt bereit sind, in die Welt zurückzukehren. Als Nachkomme von Aliver hat sie sie befreit und will jetzt mit ihnen nach Acacia gehen. Shen zufolge glauben die Santoth, dass Corinn schwere Fehler begeht, wenn sie DasLied von Elenet benutzt. Sie behaupten, dass sie ihr helfen wollen. Nach einigem Hin und Her stimmt Kelis schließlich widerstrebend zu. Die Gruppe beginnt die lange Reise zurück nach Acacia.
Sire Dagon, der im Zusammenhang mit dem Ausbruch der Numrek-Rebellion eine ganz entscheidende, aufregende Rolle gespielt hat, findet in der Kommunikation mit dem Rat der Gilde Trost. Er und die anderen Gildenmänner kommen zu dem Schluss, dass, gleichgültig wie der Konflikt letztlich ausgeht, sie einen Weg finden werden, davon zu profitieren. Sire El nutzt die Gelegenheit, Zustimmung zu einem Projekt zu erhalten, an dem er schon seit einiger Zeit arbeitet – aus den Sklaven, die auf den Plantagen gezüchtet werden, eine Armee zu machen. Die Sires Faleen und Lethel brechen auf, um Ushen Brae zu übernehmen.
Im letzten Kapitel des Buches widmet Corinn sich der Zauberei, und das mehrfach. Zunächst geht sie zu Barad und verleiht seinen steinernen Augen Sehvermögen. Sie bindet ihn mit einem Zauberspruch, so dass er nach außen frei wirkt, aber nur Dinge sagen wird, die sie ihn sagen lassen will. Von Delivegu – der eher zufällig darüber gestolpert war – hat sie erfahren, dass Elya Eier gelegt hat, und sie singt den ungeborenen Kreaturen ein magisches Lied, lädt sie mit Magie auf, so dass sie sich zu großen, von ihr abhängigen Monstren entwickeln werden. Zu guter Letzt beschwört sie den Geist eines Toten und ruft so ihren älteren Bruder ins Leben zurück.
Und damit ist Aliver Akaran wieder mittendrin in der Geschichte.
ERSTES BUCHDie Sängerin und das Lied
1
Corinn Akaran trat ins strahlend helle Morgenlicht. Ohne auch nur ein einziges Mal zu zögern, überquerte sie das Deck ihres Transportschiffs, stieg die Planke zu den Docks von Teh hinunter und schritt zwischen den militärischen Würdenträgern hindurch, die sie erwarteten. Die Männer – zu denen neben Melio Sharratt und General Andeson auch Marah und Eliteoffiziere gehörten – teilten sich vor ihr. Obwohl sie sich seit der Morgendämmerung darauf vorbereitet hatten, sie zu begrüßen, waren sie so verblüfft, dass sie einen Augenblick lang mit nichts anderem beschäftigt waren, als sie anzustarren.
Die Königin trug eine Rüstung, in der Einflüsse aus den verschiedenen Provinzen des Reiches miteinander verschmolzen waren. Kettengewebe bedeckte ihre Arme; es war dünn und leicht, aber aus feinstem Stahl gefertigt und an den Handgelenken leicht gerafft, was dem Ganzen einen Hauch senivalischen Stil verlieh. Ihren Oberkörper umgab eine Mein-Thalba, die sich an die Konturen ihrer Hüften und ihrer Brüste schmiegte. Der Schurz war so kurz wie das Hemd eines talayischen Läufers. Ihre Beine waren mit Lederriemen umwickelt, die sie wie eine zweite Haut umgaben, eng an der Wade, weit am Knie und wieder eng an den Oberschenkeln. Über alledem trug sie einen leichten acacischen Umhang, der sich bei jeder Bewegung hinter ihr blähte.
Baddel, der Talaye, der darum gerangelt hatte, sie als Erster auf dem Boden seiner Heimat zu begrüßen, hieß sie mit einem wahren Trommelfeuer schwärmerischer Lobpreisungen willkommen. Anschließend erging er sich in Beileidsbekundungen für die Ungerechtigkeit, die Prinz Aaden zugefügt worden war. »Die Heimtücke der Numrek ist uferlos! Ich kann noch immer nicht …« Er verlor den Faden und vergaß weiterzusprechen, als Corinns Elitewachen hinter ihr die Planke herunterkamen und auch die Berater veranlassten, sich in Bewegung zu setzen. Sie beeilten sich, mit ihr Schritt zu halten – alle außer Melio Sharratt, der völlig entspannt zu sein schien und als sie vorbeiging zu ihr sagte: »Euer Majestät, ich habe Euch noch nie in … einer Rüstung gesehen.«
»Wir sind im Krieg«, antwortete Corinn. »Was das angeht, bin ich wie alle anderen in der Bekannten Welt. General Andeson, erstattet mir Bericht.«
Womit sie meinte, dass er sie über die neuesten Erkenntnisse ins Bild setzen sollte, was der General mit grimmiger Miene und nach unten gezogenen Mundwinkeln auch unverzüglich tat. Die erste Welle der Marah war über die an der Küste gelegenen Villen der Numrek hinweggefegt, hatte sie zumindest ein bisschen überraschend erwischt. Sie hatten zwischen den weitläufigen Anwesen, an den Stränden, auf den Piers und in den Gärten gekämpft, in denen die Numrek in sonnendurchflutetem Luxus gelebt hatten. Binnen kurzer Zeit hatten sie die Küste abgeriegelt. Elitetruppen waren ins Landesinnere vorgedrungen, während die Numrek sich zurückgezogen hatten.
»Wir haben sie in die alte Festung auf dem Hügel zurückgedrängt, die die Einheimischen den Daumen nennen«, sagte der General. »Anfangs haben wir uns nicht viel dabei gedacht und uns keine großen Sorgen gemacht – wie gesagt, das Bauwerk ist alt –, doch die Numrek müssen die Mauern verstärkt und die Festung mit Vorräten ausgestattet haben. Sie hatten Zeit, ihren Verrat zu planen. Wir haben ihnen jeden Tag die Schlacht angeboten, doch sie kämpfen nicht mehr.«
»Sie sind von einem Tag zum anderen zu Feiglingen geworden«, sagte ein jüngerer Offizier.
»Nein, sie spielen mit uns«, sagte Melio. »Sie schicken ihre Kinder auf den Wehrgang und lassen sie Papiervögel in die Luft werfen. Sie sind schlau, was solche Dinge angeht.«
Andeson warf ihm einen missbilligenden Seitenblick zu. Melio zuckte mit den Schultern und formte mit den Lippen die Worte: Wieso? Es stimmt doch.
»Es ist so etwas wie ein Geduldspiel geworden«, sagte Andeson. »Die Festung befindet sich auf einem Felsturm. Es gibt nur einen einzigen Weg, der sich nach oben windet, und der ist zu schmal und ungeschützt, um ihn mit einer Armee hochzumarschieren. Wir haben Steine und Sprengstoff auf sie geschleudert, aber sie haben sich gut eingegraben. Tief im Felsturm gibt es Tunnel, zu denen man nur von innen Zugang bekommt. Und es gibt irgendwo da drin auch eine Quelle. Es könnte sein, dass wir sie aushungern müssen.«
»Eine wenig heldenhafte Strategie«, sagte Corinn.
»Euer Majestät, ich würde eine ehrenvolle Schlacht jederzeit vorziehen, aber manchmal bei manchen Gegnern ist das nicht möglich. Diese Numrek sind niederträchtig. Sie haben doch tatsächlich ihre eigenen Diener abgeschlachtet. Haben am Fuß des Daumens aus den Leichen einen Wall gebaut. Wenn Ihr gesehen hättet …«
»Ich bin überzeugt, dass unsere Soldaten sich wacker geschlagen haben«, unterbrach ihn Corinn, »und ich habe volles Vertrauen in Eure Führung. Doch jetzt bin ich hier. Und ich werde diese Sache zu Ende bringen.«
Sie verließen die Docks, marschierten durch ein behelfsmäßiges Vorratslager hinaus in die staubige leere Weite dahinter. Die Teh-Küste war ein bisschen feuchter als der Rest von Talay, doch so spät im Sommer waren die Gräser, die die Hügel im Norden bedeckten, von der Sonne golden gebleicht. Corinn war froh, dass sie sich rechtzeitig darum gekümmert hatte, dass hier Pferde waren. Die Reittiere erwarteten sie, wurden von jungen Talayen gehalten, die angesichts der ungewohnten Aufgabe sehr nervös wirkten.
»Königin Corinn«, sagte Melio. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten von Mena?«
»Nicht, seit sie einen Vogel aus Luana geschickt hat. Ich rechne damit, schon bald wieder etwas von ihr zu hören. Reitet mit mir, Melio. Wenn wir mit den Numrek fertig sind, habe ich einen Auftrag für Euch. Wir werden unterwegs darüber sprechen.«
Melio verbeugte sich, und dann standen sie da und warteten, während der Knappe, der sich um Corinns Pferd kümmerte, es herumzudrehen und für sie in Position zu bringen versuchte.
»Unter den Soldaten geht ein Gerücht um«, sagte Melio. »Es ist mit den letzten paar Transportschiffen gekommen. Es geht um … Aliver.«
»Ein Gerücht? Haben Andeson und die anderen Generäle dieses Gerücht gehört?«
»Ich bin näher an den Truppen dran als sie. Dort ist mir das Gerücht zu Ohren gekommen, aber es verbreitet sich. Es … es kann aber doch wohl nicht wahr sein, oder?«
»Ganz unter uns – doch, es ist wahr.«
Melios Gesicht hellte sich auf. »Wirklich? Wo ist er?«
Corinn trat auf den Schemel, der für sie hingestellt worden war. Während sie sich darauf vorbereitete, sich auf den Pferderücken zu schwingen, sagte sie: »Im Palast, in Sicherheit. Er braucht jetzt Abgeschiedenheit. Er ist immer noch schwach. Es wäre gut, wenn die Gerüchte keine neue Nahrung bekämen.«
Jene Nacht vor zehn Tagen, in der sie ihren Zauberspruch gewirkt hatte, war lang und über alle Maßen erschöpfend gewesen. Die Zauberei, die sie bei Barad eingesetzt hatte, und das Lied, das sie Elyas Kindern gesungen hatte, hatten sie ausgelaugt. Sie hätte schon einschlafen können, bevor sie den dritten Zauber auch nur begonnen hatte, aber sie brauchte jemanden, der ihr half, die Bürde des Herrschens zu tragen. Sie brauchte ihren Bruder.
Sobald sein Körper sich vollständig materialisiert hatte, sackte er nach vorn. Er wäre gestürzt, wäre sie nicht aufgesprungen und hätte ihn zu ihrem Bett geführt. Einige Zeit lang starrte sie das Wunder – starrte sie ihn an. Er war wirklich da! Fühlte sich fest und warm an. Atmete. Er war nackt, aber sie dachte sich nichts dabei. Seine Augen bewegten sich unter den geschlossenen Lidern. Er träumte. Was träumt ein Mensch, der vom Tod zurückgekehrt ist? Was war der Tod überhaupt? War er nicht der Bezwinger von allem? Nein, das war er nicht, denn sie hatte ihm gerade zumindest ein Opfer abgetrotzt. Sie hatte so viele Fragen, doch noch während sie sich in ihrem Kopf bildeten, wurde ihr Geist träge. Sie wusste, dass sie lange schlafen würde, und so ließ sie Aliver, wo er war, und brach auf einem Diwan in einem angrenzenden Raum zusammen.
Rhrenna und zwei Zofen weckten sie zwei Tage später. Rhrenna erklärte, dass sie sie normalerweise noch nicht einmal jetzt gestört hätte, wenn es nicht einen guten Grund gegeben hätte. »Er ist wach und fragt nach Euch.«
Bei diesen Worten sprang Corinn auf und eilte zurück in den anderen Raum. Aliver Akaran stand auf dem Balkon und umklammerte die steinerne Balustrade so fest, dass seine Knöchel weiß waren; sein Mund war vor Erstaunen leicht geöffnet. Er trug einen Morgenmantel, der um die Taille von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Rhrenna musste dafür gesorgt haben, dass er ihm gebracht worden war.
Corinn drehte sich zur Seite, um zu sehen, was ihren Bruder so faszinierte. Der Himmel über ihnen hatte die Farbe und Struktur einer blauen Eierschale. Die Morgensonne, die gerade über den Horizont geklettert war, wurde von einer langen, streifigen pinkfarbenen Wolke zweigeteilt. In einem Schwarm Schwarzhalstaucher legte ein Vogel nach dem anderen die Schwingen an und stürzte sich in die Tiefe, tauchte wie ein Pfeil ins Wasser des Hafenbeckens, um sich an der allgemeinen Fressorgie zu beteiligen. Dünne Rauchsäulen stiegen wie Pflanzenstängel von der Unterstadt auf. Jedes von diesen Dingen hätte Aliver faszinieren können.
Er richtete den Blick auf sie. Seine braunen Augen waren dunkler, als sie sie in Erinnerung hatte. Seine Haut war nicht mehr so blass wie in jener ersten Nacht, sondern schon leicht gebräunt. Jetzt, wo sie ihn deutlich vor sich sah, wurde ihr bewusst, dass sie seine Gesichtszüge mit denen von Hanish Mein vermischt hatte, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Er war älter als damals, als sie ihn zuletzt gesehen hatte. Unermesslich älter, auch wenn dieser Eindruck weniger auf irgendwelche Äußerlichkeiten zurückzuführen war, sondern auf das irgendwie distanzierte Bewusstsein hinter seinen Gesichtszügen.
»Ich hatte so viel vergessen«, sagte er.
»Ich auch«, antwortete Corinn.
»Du warst noch ein Mädchen«, sagte er.
Corinn schüttelte den Kopf. »Das war ich nie.«
Aliver versuchte sich an einem Gesichtsausdruck. Enttäuschung. Oder Verwirrung. Missbilligung. Irgendeine Mischung aus all dem, was seine Gesichtszüge nicht umsetzen konnte. »Ich bin mir sicher, dass du eins warst.«
Corinn strich ihm über die lockigen Haare an der Schläfe und legte ihm dann die Hand an den Hinterkopf. Sie zog ihn so dicht zu sich heran, dass seine Stirn die ihre berührte – etwas, das ihr Vater immer mit ihr gemacht hatte. »Ich kann mich an eine kleinere Version von mir erinnern, aber nicht an ein Mädchen. Kein Mädchen sollte so viel Angst haben müssen, wie ich gehabt habe.«
»Du hast immer noch Angst.«
Sie wich zurück und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich muss dir vieles erklären.«
In den wenigen Tagen, ehe sie zur Teh-Küste aufbrach, versuchte Corinn ihm so viel wie möglich zu vermitteln. Die Welt außerhalb des Palasts war nicht stehengeblieben, um ihr Aufschub zu gewähren. Es schien ihr notwendig, ihn ganz für sich zu haben, ihn an die Wahrheit zu binden, wie sie sie kannte.
Sie befahl Rhrenna und den beiden Zofen, absolutes Stillschweigen über Alivers Rückkehr zu bewahren. Niemand sonst – kein Personal, keine weiteren Bediensteten – durfte ihre Gemächer noch betreten, und auch die Wachen standen nur draußen vor den Zimmern. Sie wollte mit ihrem Bruder allein sein. Sie versuchte nicht einmal, logisch an das heranzugehen, was sie ihm in diesen Tagen erzählte. Sie redete nur einfach, erzählte ihm, was auch immer ihr gerade in den Sinn kam, griff auf die Vergangenheit zurück, um das Gesagte in entsprechende Zusammenhänge einzubetten, sprang wieder vorwärts in die Gegenwart – und bemerkte schließlich an seinem glasigen, abwesenden Blick, dass sie ihn verloren hatte. Manchmal wurden seine Augen so leblos wie die steinernen Augen Barads, leer, ohne zu sehen, und doch starr geradeaus schauend. Jedes Mal hielt sie inne, atmete tief durch und fing von vorn an. Sie erinnerte ihn daran, wer er war. Sie versicherte ihm, dass es dringlich war, dass er ins Leben zurückkehrte und das Werk vollendete, das er nicht zu Ende gebracht hatte. Aber es war nicht nur das; es gab neue Verwicklungen und Bedrohungen, und sie brauchte jemanden an ihrer Seite, dem sie voll und ganz vertrauen konnte.
Aliver wanderte durch die Räume, ruhelos, betrachtete eingehend alle möglichen Dinge, hob Gegenstände hoch und drehte sie in den Händen. Sie ging hinter ihm her, folgte ihm, als er den Garten erforschte, Pflanzen berührte und Vögel beobachtete und immer wieder stehenblieb, um über dies und jenes zu staunen – über den Druck des Windes, wenn er wehte, über die Wärme der Sonne auf seiner Haut, über die Farben der Terassenfliesen. Corinn dachte manchmal, er hätte sie vergessen, aber wenn sie zu sprechen aufhörte, wandte er ihr seine Aufmerksamkeit sogleich wieder zu.
Sooft Corinn es einrichten konnte, aßen sie miteinander. Anfangs einfache Mahlzeiten, ohne die süßen und sauren Gewürze, die in der acacischen Küche üblich waren. Wenn sie ihm zusah, wie er Fladenbrot in Olivenöl tunkte, hatte Corinn beinahe das Gefühl, sie wäre erneut Mutter geworden. Er schob sich das Brot in den Mund und kaute und war so auf das Kauen konzentriert, dass er nicht auf das Öl achtete, das ihm am Kinn hinunterlief. Er aß, wie ein Kind aß: Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Essen.
Natürlich konnte sie sich nicht den ganzen Tag in ihren Gemächern vergraben. Die Arbeit, die das Reich von ihr verlangte, nahm kein Ende. Sie musste sich mit Beratern und Senatoren treffen. Noch immer trafen Botschafter aus allen Teilen der Bekannten Welt ein, einerseits, um ihr Mitgefühl angesichts des Verrats der Numrek und dessen Folgen zu bekunden, andererseits um zu fragen, ob an den Gerüchten über eine bevorstehende Invasion irgendetwas dran war. Sie sagte ihnen, dass die Gerüchte stimmten. Die Invasion war wirklich. Sie ließ keinen Zweifel daran, obwohl sie Sire Dagon bohrende Fragen stellte, wenn sie sich mit ihm traf, als würde sie ihm nicht glauben und so versuchen, ihm mehr Informationen zu entreißen.
Die Welt war in Aufruhr, und ihr allein oblag die Verantwortung, sie zu beruhigen. Gut, dass sie sich nicht so überwältigt fühlte wie zu der Zeit, bevor sie Aliver zurückgeholt hatte. In mancherlei Hinsicht hatten die Dinge sich beruhigt. Er hatte noch einen weiten Weg vor sich, bis er so auftreten und als Symbol ihrer Macht dienen konnte, wie sie es sich erhofft hatte, aber für den Augenblick war es gut, einfach nur mit ihm zusammen zu sein. Er erinnerte sie an ihren Vater. Er sorgte sogar dafür, dass sie sich Mena und Dariel näherfühlte. Sie wünschte, sie wären hier, um zu sehen, was sie getan hatte. Wie sehr Dariel sich freuen würde! Und Mena auch. Alivers Rückkehr würde all die Streitereien wiedergutmachen, die ihre Beziehungen belastet hatten. Sie würden von vorn anfangen.
Zwei Tage lang reagierten die Numrek im Daumen nicht auf die Botschaften, die Corinn ihnen schickte. Erst als sie sich gut sichtbar aufs freie Feld stellte und zur Felsturmfestung hinaufrief, glaubten die Numrek, dass sie tatsächlich selbst gekommen war, um mit ihnen zu sprechen. Nachdem Häuptling Calrach in die Anderen Lande aufgebrochen war und Greduc und Codeth an jenem blutigen Tag in der Carmelia getötet worden waren, hatte Corinn sich nicht so recht vorstellen können, mit wem sie verhandeln würde. Erst als sie im Schatten eines sich sanft blähenden Leinenzelts saß und dem einzelnen Numrek entgegenblickte, der herankam, erkannte sie, dass Crannag, ein Verwandter Calrachs, jetzt die Macht hatte. Er war älter als der Häuptling, eher ein Krieger als ein Staatsmann. Gut. Das kam ihr gelegen.
Crannag war allein. Er setzte sich hin, legte die Hände auf die Knie, warf die schwarzen Haare zurück und grinste. Dieser Mann hatte einst vor der Tür zu ihren – oder manchmal auch Aadens – Gemächern gestanden. Jetzt konnte sie in seinen selbstgefälligen Gesichtszügen kaum noch den Wächter erkennen, der er einst gewesen war.
»Na schön, Königin. Da bin ich.« Er hob die starken Arme und machte eine Schau daraus, seinen Oberkörper nach Waffen abzusuchen. Er trug kein Hemd, seine Brustmuskulatur war stark und klar definiert. Er war vielleicht dreißig Schritt entfernt, so dass er laut sprechen musste. »Was willst du von mir?«
»Ich will, dass du stirbst«, sagte Corinn.
Crannag lachte schallend auf. »Das könntest du bekommen. Deine Marah da drüben … ah … alle zusammen … ich ohne Waffen, sie voll gerüstet … Ich glaube, die könnten mich fertigmachen, wenn sie wollten. Natürlich könnte es sein, dass ich zuerst dir eine Hand um den Hals lege.« Er streckte einen Arm aus, tat so, als würde er Schläge spüren, während er nach ihr griff. Die Pantomime war zu viel für ihn. Er krümmte sich vor Lachen.
»Ich will nicht nur, dass du stirbst«, sagte Corinn. »Ich will, dass alle Numrek für ihren Verrat bezahlen.«
Crannags ledrig-braunes Gesicht wurde ernst. »Du willst, dass ich wieder da reingehe und meine Leute dazu bringe, hier rauszukommen, um sich abschlachten zu lassen. Wir haben jetzt andere Pläne. Schon länger, Königin. Wusstest du nicht, dass die Numrek geduldig sind? Für dich waren wir immer nur die mürrischen, mürrischen Numrek. Ach …« Er schnipste mit den Fingern und verdrehte die Augen, als er nach dem richtigen Wort suchte – das er schließlich fand. »Maulfaul. Gefällt dir das? Du dachtest, wir seien maul-faul. Du dachtest, wir hätten nichts Besseres zu tun, als vor deiner Tür zu stehen, während du geschlafen und gegessen und dich für die Königin der Welt gehalten hast. Acacia ist ein winziger Scheißhaufen von einer Insel, aber es ist der Mittelpunkt der Welt!«
Crannag lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, einem schlichten Feldstuhl mit schmaler Rückenlehne, doch er schaffte es trotzdem irgendwie, sich hinzufläzen. »Wir haben geschauspielert, Königin. Einfach nur geschauspielert. Und gewartet. Du hast uns versprochen, uns zu helfen, nach Ushen Brae zurückzukehren. Du hast nie vorgehabt, dieses Versprechen zu halten. Du hast gelogen. Und jetzt bezahlst du dafür.« Er räusperte sich und spuckte in Richtung Corinn. In Anbetracht der Entfernung zwischen ihnen landete die Spucke erstaunlich dicht vor ihren Füßen. Sie spürte, wie die Anspannung ihrer Marah stieg. Jemand zog sein Schwert ein paar Fingerbreit aus der Scheide. »Du bist umsonst gekommen. Wir werden nicht kämpfen. Wir können da oben« – er deutete nach oben auf den steinerne Pfropfen, der sich in der welligen Landschaft hinter ihm erhob – »so lange warten, wie wir müssen. Wenn die Auldek kommen, werden wir sie als Cousins und Brüder begrüßen und ihnen die Beute zeigen, die wir für sie gefunden haben.«
»Ihr wisst nicht, ob die Auldek überhaupt kommen. Nach allem, was ihr wisst, verachten sie euch noch immer.«
»Du hast keine Ahnung.« Crannag stand auf und drehte sich um – und er schaffte es, die Bewegung irgendwie aggressiv aussehen zu lassen.
»Eins weiß ich immerhin!«, rief Corinn. »Du bist ein Feigling!«
Crannag stapfte davon. Er wedelte mit einem Arm, wies ihre Anklage ab wie ein lästiges Insekt.
»Die Numrek, die sich in der Festung da verstecken, zittern«, fuhr Corinn fort. Sie stand ebenfalls auf und ging ihm nach. Ihre Leibwächter sprangen auf, um mit ihr Schritt zu halten. »Eure Männer sind Hunde, die nicht tapferer sind als eure Kinder. Eure Frauen sind ängstliche Schlampen. Ich werde der Welt erzählen, dass es so ist. Die entsprechenden Neuigkeiten werden mit allen verfügbaren Vögeln in alle Provinzen fliegen. Die Bekannte Welt wird euch verachten, und falls die Auldek jemals kommen sollten, werden sie hören, wie feige ihr wart. Und dann würde ich nicht mit dir tauschen wollen.« Sie spuckte ebenfalls aus. »Nicht, nachdem ich der Welt erzählt habe, dass ich hierhergekommen bin und euch eine Schlacht unter folgenden Bedingungen angeboten habe: auf beiden Seiten ziehen gleich viele Kämpfer in die Schlacht. Gleich viele, Crannag! Ein Acacier für jeden Numrek. Nicht mehr.«
Der Krieger blieb stehen, drehte sich aber nicht zu ihr um.
»Wie willst du das erklären?« Sie stand jetzt in der prallen Sonne. Hinter ihr flatterte das Schatten spendende Zelt in einer plötzlichen Böe. Sie wartete noch einen Moment, dann fügte sie leichthin – und in dem Wissen, dass Crannag sich umdrehen und sich vergewissern würde, ob er richtig gehört hatte – hinzu: »Ich werde eine von ihnen sein. Ich werde selbst aufs Schlachtfeld ziehen.«
Ein paar Tage zuvor, an dem Abend, bevor Corinn nach Teh aufbrechen musste, war sie den ganzen Tag mit Regierungsgeschäften beschäftigt gewesen und konnte erst nach ihren späten Besprechungen mit Aliver zusammen sein. Als sie ihre Gemächer betrat, stand er zu ihrer Überraschung vor der Tür, die ihn nach draußen, in den oberen Hof geführt hätte, ins Blickfeld der Wachen und das Palastpersonals.
»Was machst du da?«
Er blinzelte einen Moment lang hektisch. »Ich will meine Gemächer sehen. Meine eigenen Räume, mit meinen Dingen … ich sollte sie sehen. Ich sollte darin wohnen.«
»Das wirst du auch.« Corinn drehte ihn sanft um und führte ihn von der Tür weg, zurück ins Zimmer. »Aber du solltest nichts übereilen. Du hast hier alles, was du brauchst. Bleib hier, bis ich von meiner Reise zurückkehre.«
»Deine Reise. Wo gehst du hin? Was ist das für eine Reise?«
Nachdem sie Aliver in eins der kleineren Empfangszimmer geführt und dazu gebracht hatte, sich zu setzen, ließ sie sich ihm gegenüber in einen Polstersessel sinken. Sie entspannte sich, wirklich erschöpft. Eigentlich sollte sie sich zur Vorbereitung auf morgen ausruhen. Im Kamin brannte ein kleines Feuer, und sie sagte etwas über die Wärme im Raum und die frühe Kühle in der Luft in dieser Nacht. Aliver betrachtete das Feuer, aber nicht mit der gleichen Neugier, die er in den ersten paar Tagen gezeigt hatte. Er veränderte sich bereits. Die Welt erstaunte ihn nicht mehr so, wie sie es zuvor getan hatte. Er war mehr in seinem Körper zu Hause, fand schneller die richtigen Worte. In den neuen Kleidern, die Rhrenna für ihn gebracht hatte, sah er schon recht deutlich wie ein Prinz aus. Gelegentlich wurden seine Augen noch glasig, aber genauso oft riss er sich mit einem Kopfschütteln aus dem heraus, was ihn in diesen Augenblicken überkam.
»Es gibt Dinge, die verstehe ich nicht«, sagte Aliver.
Corinn senkte den Kopf, um den Spitzenschal abzunehmen, den sie sich um den Hals geschlungen hatte. »Du musst die Welt neu kennenlernen. Das kann nicht über Nacht geschehen.«
»Ich vergesse bereits den Tod.«
»Gut, Aliver, gut. Das Leben ist es, was wichtig ist. Selbst im Tode haben Geister dir von den Lebenden erzählt. Das hast du mir in der ersten Nacht gesagt, in der wir miteinander gesprochen haben.«
»Das habe ich gedacht, aber es scheint nicht mehr so zu sein, wie es war. Als ich tot war, war ich kein Selbst. Ich war kein einzelner Geist. Ich war dünn über die Welt ausgebreitet, war ein Teil von allem. Wie ganz feiner Staub, der überall eindringt.« Aliver hatte keine Schwierigkeiten mehr, seinen Gesichtsausdruck zu kontrollieren. Er runzelte die Stirn, und für Corinn stellte sich die Frage nicht mehr, ob er das wollte oder nicht. »Als ich so war, hatten Menschen … hatte ihr Leben keine besondere Bedeutung. Ich habe mir um den Baum der Akarans genau so viel Sorgen gemacht, wie es ein Stein auf einem der Wege da draußen im Garten tut.«
»Aber du hast gesagt, dass du Dinge weißt, die nach deinem Tod passiert sind.«
»Ich habe diese Dinge in den Augenblicken erfahren, in denen du mich zusammengezogen hast. Ich wusste Dinge. Ja, aber sie hatten keine Bedeutung, bis ich wieder Aliver wurde.«
Flötentöne verkündeten Mitternacht. Beide Geschwister neigten den Kopf, um zuzuhören, während die Melodie als zarte Kaskade von Tönen vom Palast in die Unterstadt hinunterwehte.
Das erinnerte Corinn daran, wie müde sie war. »Ich wünschte, wir könnten uns noch viele Tage einschließen. Ich würde dir alles erzählen. Absolut alles. Ich würde dafür sorgen, dass du mich vollkommen verstehst, so dass du die Welt mit meinen Augen sehen kannst.«
Die Schnelligkeit, mit der sein Blick sich wieder auf sie richtete, ließ sie eine Pause machen. »Ich ziehe meine eigenen Augen vor«, sagte Aliver.
»Ich meinte nur, dass ich dir helfen werde, bis du voll und ganz selbst sehen kannst. Die Welt hat sich verändert, Aliver, wie ich dir schon erklärt habe.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, das hast du nicht.«
»Was meinst du?«
»Du hast mir gesagt, dass du mich brauchst. Dass ich hier bin, um dir zu helfen.«
»Das bist du«, sagte Corinn.
»Aber du erzählst mir nichts von den Dingen, die wichtig sind! Morgen gehst du weg, aber du hast mir nicht gesagt, warum.«
Einen Moment lang war Corinn sprachlos. Sie stand auf und trat hinter ihren Stuhl, strich mit den Händen über die Rückenlehne und umfasste sie dann fest. »Natürlich habe ich das.«
Alivers Mund verzog sich zu jenem säuerlichen Ausdruck, an den Corinn sich noch von vor vielen Jahren erinnerte. »Nein, das hast du nicht«, sagte er. »Du hast mich von den Toten zurückgeholt, aber du hast mir nicht einmal gesagt, wie. Du hast nicht über Mena oder Dariel gesprochen. Kein Wort über sie ist über deine Lippen gekommen.«
»Das ist nicht wahr.« Sie musste es erzählt haben. Sie hatten sich stundenlang unterhalten. Was sonst sollte wichtiger sein?
»Du redest und redest, aber du erzählst mir nichts. Du hast mir nicht einmal von deinem Sohn erzählt.«
Darauf hatte sie keine Antwort. Was er da sagte, war vollkommen ausgeschlossen. Sie dachte immer an Aaden; sie besuchte ihn jeden Tag mehrmals; sie flüsterte ihm alles über Alivers Rückkehr ins Ohr; sie war zu Aliver zurückgekommen und …
Ich habe ihm nichts von meinem Sohn erzählt, dachte sie. Warum? Es kostete sie all ihre Konzentration zu nicken und zu sagen: »Aliver, ich habe einen Sohn. Er heißt Aaden. Er ist dein Neffe. Er wird der Erbe sein. Er wird der größte Akaran-Monarch sein, den es bislang gegeben hat.« So! Das wollte ich ihm sagen.
»Ich würde ihn gerne kennenlernen.«
»Das wirst du auch. Im Augenblick geht es ihm allerdings nicht sehr gut. Warte, bis ich aus Teh zurückkomme. Ruh dich bis dahin einfach hier aus. Wenn ich wiederkomme, wirst du Aaden treffen und den Rest des Palasts zu Gesicht bekommen. Du wirst andere Menschen sehen und mit ihnen sprechen. Wir werden Mena einen Vogel schicken, und wir werden auch über Dariel sprechen.«
Aliver beäugte sie. »Du willst den Numrek in Teh entgegentreten?«
»Ja.«
»Was hast du vor?«
»Zu tun, was ich tun muss«, sagte sie. »Was sie sich selbst zuzuschreiben haben.«
»Du kannst sie nicht alle töten.«
»Was weißt du schon davon?«, gab Corinn zurück. »Du weißt so wenig von dem, was passiert ist. Lass es mich dir erklären, aber gib mir Zeit.«
»Die du dann so sinnvoll nutzen wirst, wie die, die wir bis jetzt hatten?«
Corinn rieb über die gepolsterten Armlehnen ihres Stuhls. Sie beobachtete, wie sich das Aussehen des Samtes veränderte, wenn sie mit der Hand darüberstrich, von hell zu dunkel, von dunkel zu hell. »Diese Seite an dir mag ich nicht.«
»Welche Seite ist das? Diejenige, die denkt?«
»Diejenige, die mit edlen Idealen durch die Welt stolpert – Idealen, die auf nichts basieren. Bedenke nur mal die Tatsache, dass du gestorben bist und ich nicht. Dass du gescheitert bist und ich nicht.«
»Wenn du das glaubst, hättest du mich beim Staub lassen sollen. Du hast einen Fehler gemacht.«
Sollte das die Andeutung einer Drohung sein?, fragte sich Corinn. Das war es doch, oder? So kurze Zeit zurück unter den Lebenden, und schon streiten wir uns. Wenn sie hier und jetzt bereits kämpften, was lagen dann wohl noch für Kämpfe vor ihnen? Er würde ein Stachel in ihrem Fleisch statt eines Verbündeten sein. In diesem Augenblick wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte, einen kleinen Fehler. Einen, der korrigiert werden konnte.
Die Töne des Liedes wirbelten durch ihren Geist, noch bevor sie nach ihnen gerufen hatte. Er würde genau der Verbündete sein, den sie sich gewünscht hatte – ein Symbol und Wunder für eine Welt, die Symbole und Wunder brauchte. Und er würde ihr gehorchen. Das Lied würde dafür sorgen.
Sie sprach durch den Zauber, der sich in ihrem Geist manifestierte: »Wenn ich zurückkomme, werden wir beginnen, unsere Krönung zu planen, Aliver. Bruder und Schwester, König und Königin. Keine Heirat, aber eine Verbindung, die ganz anders ist als alles, was die Welt bis jetzt gesehen hat. Warum auch nicht? Sind wir nicht anders als alle, die vor uns da waren? Die alten Gesetze gelten nicht für uns. Gemeinsam werden wir stärker sein. Und weiser. Unsere Stärken werden das Reich enger zusammenbringen als je zuvor. Kannst du das sehen?«
Aliver wandte den Blick von ihr ab, wollte nicht antworten. Das Lied stahl sich flüsternd über Corinns Lippen, band ihn leise. Band ihn so, dass er ihr, als er antwortete, genau die Bestätigung gab, die sie sich gewünscht hatte.
Corinn marschierte an der Spitze eines Kontingents von eintausenddreihundertsiebzehn Soldaten. Sie selbst eingeschlossen, entsprach ihre Zahl der der noch übrigen erwachsenen Numrek, sowohl Männer als auch Frauen, all jene, die im kampffähigen Alter waren und noch ein paar, die schon darüber hinaus, aber immer noch stolz waren. Die Kinder der Numrek standen auf den Wällen des Daumens und schauten von hoch oben zu.
Die beiden Streitkräfte trafen sich auf einem Streifen Land westlich der Festung, der trocken, flach und ideal für eine Schlacht geeignet war. Der Himmel war hellblau und wolkenlos. Unter ihm versammelten sich die Numrek. Sie waren groß, die Männer maßen in der Regel um die sieben Fuß; die Frauen waren vielleicht ein bisschen kleiner, aber ebenso kräftig gebaut. Ihre Haare – schwarz und dicht und ölig – hingen ihnen wie immer lang herunter. Die meisten Numrek trugen leichte Rüstungen, aber viele hatten bloße Arme und manche gar einen nackten Oberkörper. Sie waren Krieger. Die gekrümmten Schwerter und Streitäxte und zackigen Messer an ihren Gürteln bestätigten das.
Corinn hörte, wie ihre Offiziere sich beratschlagten. Sie drehte sich um und suchte General Andesons Blick. »Es bleibt bei dem, was ich Euch letzte Nacht mitgeteilt habe«, sagte sie. »Es werden keine Waffen gezogen. Habt Ihr verstanden? Ich werde das hier selbst erledigen.«
Sie drehte sich wieder um und blickte dem Feind entgegen. Hinter ihr waren plötzlich Stimmen zu hören, viele miteinander diskutierende Stimmen. Sie wusste, was sie sagten. Sie glaubten, sie sei eine närrische Kopie von Aliver, die versuchte, seinen Fehler auf einem Schlachtfeld, das diesem hier ziemlich ähnlich war, gegen Maeander Mein gekämpft zu haben, aufs Neue zu begehen. Wenn sie sich durchsetzten, würde sie ans hintere Ende der Armee geschoben und in eine Mauer aus Marah eingeschlossen werden – langbeinige Soldaten, die bereitstanden, sie beim kleinsten Anzeichen von Gefahr hochzuheben und wegzutragen. Das war zumindest das, was sie letzte Nacht gesagt hatten: dass ihre Sicherheit – die Sicherheit der Königin – an erster Stelle stand.
In Wirklichkeit hatten sie Angst davor, gegen die Numrek kämpfen zu müssen, ohne deutlich in der Überzahl zu sein. Warum die Bedingungen anbieten, die sie angeboten hatte? Sie hielten es für Wahnsinn. Sie hätten sich vielleicht gegen ihre Anweisungen gesperrt, doch Schande fürchteten sie sogar noch mehr – genau wie die Numrek. Sie fürchteten auch sie selbst, Corinn, obwohl sie vermutlich auch halb wünschten, sie würde zugrunde gehen. Würde sterben und sie selbst würden irgendwie am Leben bleiben, so dass sie hinterher untereinander um die Macht kämpfen konnten. All dies traf zu. Und spielte keine Rolle. Sollten sie ruhig noch mehr von dem sehen und begreifen, was sie wirklich war. Was hatte sie Aliver gesagt, was sie tun würde? Sie hatte gesagt …
Einen Moment lang konnte sie sich nicht daran erinnern. Doch dann fiel es ihr wieder ein. Sie hatte gesagt: sie vernichten. Ich werde sie vernichten.
Nachdem ihr dieser Gedanke wieder in den Sinn gekommen war, öffnete sie ihren Geist dem Lied. Anfangs hielt sie es in ihrem Schädel, ließ es sich langsam aufbauen, suchte in der Dissonanz nach dem Rhythmus. Und was war das für eine Kakophonie! Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie gedacht, die Geräusche in ihrem Kopf wären die lärmenden Delirien einer explodierenden Welt. Pure, ungefilterte Gefühle und Zorn und Schönheit und Sehnsucht und Hunger schrien gleichzeitig auf tausend verschiedene Arten, mit dem Timbre von Myriaden von Stimmen und mit Tönen, die auf allen Arten von Instrumenten gespielt wurden, die miteinander auf Kriegsfuß standen.
Sie konnte auch in dem Durcheinander Ordnung hören. Sie konnte sich mit den Fingern ihres Geistes die Fragmente des Liedes, die sie wollte, nehmen, jedes einzelne von ihnen, eine lebendige, sich bewegende Reihe von Chiffren und Runen und Worten, alle von Bändern, die sich durch den Tumult schlängelten, in flüssiger Bewegung gehalten. Sie konnte jetzt sehr viel mehr von ihnen festhalten als zu der Zeit, da sie mit ihren Studien begonnen hatte. Es fiel ihr jetzt leichter, Bedeutung zu erkennen, als noch vor ein paar Wochen, bevor Aaden beinahe gestorben wäre und bevor sie ihre Zauber über Barads Augen und Elyas Eier gewirkt hatte, und bevor sie den Geist zurückgeholt hatte, der einst Aliver gewesen war. Ja, sie beherrschte jetzt alles viel besser.
Sie ging weiter, öffnete die Lippen und ließ die ersten Klänge des Liedes aus ihrem Mund entfliehen, kaum lauter als ein Ausatmen. Die Numrek nahmen das Angebot, die Schlacht jetzt beginnen zu lassen, an und eilten ihr entgegen. In dem Maß, wie die Entfernung zwischen ihnen schrumpfte, wurde das Lied stärker und begann, die Beschaffenheit der Luft zu verändern, schuf brodelnde, sich windende Strömungen um sie herum. Sie spürte, wie das Herzstück des Spruchs sich in ihrer Brust zusammenzog, ein Stein von immer größer werdender Dichte. Und ihr war bewusst, dass sie förmlich vor Hass schäumte. Das war es, was sie ihnen geben würde. Sie würde ihnen aufgewühlte Feindseligkeit entgegenschleudern, die keine einzelne Gestalt annehmen konnte, sondern sich stattdessen in immer neuer, sich stets wandelnder Form entlud. Was sie vor sich auf dem Schlachtfeld geschehen sah, spiegelte genau das wider. Wäre es nicht ganz und gar aus ihr selbst gekommen, hätte das folgende Grauen sie ebenso entsetzt wie die Soldaten hinter ihr.
Plötzlich schwoll der Stein in ihrer Brust an, wogte herauf, loderte durch ihre Kehle und raste wie eine Sturzflut aus ihrem Mund. Die Numrek blieben stehen. Manche machten ein paar Schritte zurück. Viele fielen hin, als wären sie heftig gestoßen worden. Corinn richtete den Blick auf Crannag. Als es dann geschah, wusste sie, dass sein Gesicht durch die Hitze von innen blasig werden würde, dass seine Haare sich entflammen würden und dass sein Schädel einen Augenblick später bersten würde.
Der Mann neben ihm versuchte zu fliehen, aber seine Arme und Beine waren steif. Sie knickten ein und brachen. Binnen einem Herzschlag lag er auf der Erde, sich windend, aber unfähig, etwas zu tun, da seine Knochen bei jeder Anstrengung brachen. Ein anderer Numrek trat über ihn hinweg, kam nach vorn, und Corinn wusste genau, wann Maden aus seinem Gesicht bersten würden, die ihn bei lebendigem Leib verzehrten. Seine Rüstung und seine Waffen und sogar die Perücke, die einmal sein Haarschopf gewesen war, fielen neben der wimmelnden Masse zu Boden, zu der sein Körper geworden war.
Und so erging es der gesamten Streitmacht der Numrek. Nicht zwei von ihnen starben auf die gleiche Weise, aber alle starben sie. Eine Frau wurde zu einem Sack aus Fleisch, in dessen Innern nichts Festes mehr war. Ein Mann stieß sich die Hand in die Brust und riss sich das eigene Herz heraus. Ein paar keuchten und krümmten sich unter unerkennbaren Qualen. Ein paar bekamen pockenartige Eiterbeulen oder wurden gelb oder verfaulten bei lebendigem Leib. In einigen wenigen wuchsen Dinge, Ausbuchtungen und Geweihe, und sie schrien auf, als sie durch ihre Haut brachen. Einige tanzten, als würden unsichtbare Waffen auf sie einhacken. Ein Jugendlicher rannte wie rasend herum, sein Mund blutrot. Ein alter Soldat ließ sich zu Boden sinken und – ein einzelner ruhiger Punkt inmitten des Chaos – fiel in sich sich zusammen und verwandelte sich in Asche.
Die ganze Zeit ließ Corinn ihren Körper das Instrument des Liedes sein. Es gab ihr, was sie wünschte, und ging weiter, machte es schrecklicher, als sie es sich hätte vorstellen können. Irgendwann wurde die Flut von Geräuschen träger, erlahmte. Und hörte dann vollkommen auf.
Die Stille war herrlich, auch wenn sie nicht ungestört war. Sie konnte ihre Soldaten würgen hören. Mindestens einer der Offiziere hinter ihr erbrach sich, spuckte sein Frühstück auf die Erde. Ein paar murmelten Gebete oder machten ungläubige Bemerkungen. Doch so kurz nach dem Lied verblassten solche Geräusche angesichts der Magie, die zuvor stattgefunden hatte. Einer Magie, die eine wahre Huldigung an die Sprache der Schöpfung darstellte. Und an die der Zerstörung. Die ehrfürchtige Stimmung rührte nicht nur von den toten Numrek. Und auch nicht nur von ihren zitternden Soldaten. Diese Stille wurde ihr von der ganzen Welt gesungen. Die gesamte Schöpfung war sprachlos vor Ehrfurcht.
So schien es viele Atemzüge lang zu bleiben. Die Armee hinter ihr kam näher. Als Corinn klar wurde, dass ihre Offiziere schweigend und wartend dastanden, sagte sie: »Schickt Soldaten in die Festung, um die Kinder zu holen. Sie sollen als unsere Geiseln am Leben bleiben – zumindest für den Augenblick.«
Die Königin drehte sich um, und ihr Kettenhemd klirrte bei der Bewegung. General Andeson starrte sie mit blassem Gesicht an. Melio stand neben ihm, den Blick auf das Gemetzel gerichtet. Sie wichen zurück, als der Gestank von brennendem Fleisch und Innereien sie erreichte. Der Gestank und die Gase von Körpern, die von innen nach außen gedreht worden waren – das alles war beinahe zu viel, um es zu ertragen. Corinn atmete durch den Mund. Sie holte sich ihre Kraft aus der Ehrfurcht und dem Abscheu und der Angst auf den Gesichtern der Männer.
»Was hingegen diejenigen angeht, die ich hier ausgelöscht habe«, fuhr sie fort, »verbrennt sie. Alle. Verwandelt das, was noch von ihren Leichen übrig ist, in Asche, und lasst die anschließend nach Acacia bringen. Wir werden sie mit Mörtel vermischen und die Straßen der Unterstadt damit neu pflastern. Von jetzt an wird selbst der einfachste Bauer auf den Überresten der Numrek herumlaufen. Und so wird es allen ergehen, die sich mir entgegenstellen.«
Andesons Kehle schien wie zugeschnürt. Statt etwas zu sagen, nickte er nur.
Zufrieden machte Corinn auf dem Absatz kehrt.
Sie hätte es beinahe bis zu den Pferden geschafft, ehe sie wankte, stolperte und zusammenbrach.
2
Der Scav traf sich mit Prinzessin Mena Akaran an einem verlassenen Strand, der von Walknochen übersät und mit Brocken aus durchscheinendem Meereis gesprenkelt war. Trotz des kalten Windes trug er kein Hemd, so dass sein dürrer Oberkörper frei war und die kleinen, festen Muskeln sich deutlich unter einer dünnen weißblauen Haut abzeichneten. Seine strohblonden Haare, in die an mehreren Stellen Lederstreifen geflochten waren, hingen schlaff und verfilzt herunter. Er blickte nicht auf, als Mena aus dem Ruderboot sprang und durch den Schaum an den Strand stapfte. Er blickte ihr nicht in die Augen, als Gandrel sie vorstellte, und er erwiderte auch den Blick keines anderen Mitglieds ihrer Gruppe. Auf die Fragen, die Gandrel ihm stellte, antwortete er in einem derben Dialekt, dem Mena noch nicht einmal ansatzweise folgen konnte.