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Einmal gibt es stillen Beziehungsabbruch infolge ausbleibender SMS: Sie wartet auf seine Antwort, er wendet sich von ihr ab und wieder seiner Familie zu. Einmal stimmt Nora Gomringer ein Lob der Mutter an oder erinnert in einer schnellen Revue an einen Bauernhof. Dazwischen unternimmt sie eine kleine Heimaterkundung. Und einmal lesen wir eine wunderbare Kinderverwirrgeschichte, an der ein Esel, ein Hund, eine Katze und ein Hahn mitwirken, vier berühmte Freunde, aber hier in anderen Rollen. Nora Gomringer kann mit ihren Texten immer auch anders. Ihre sprachlichen Register sind stets wieder überraschend, die Vielfalt der Themen scheint unerschöpflich. Sie überwindet Gattungsgrenzen - von Lyrik über Prosa bis hin zu Hörspiel-Skript oder Opern-Libretto - und macht zum Sprachereignis, was nicht so leicht zu erzählen ist. Die wandlungsfähige Dichterin gehört zu den prägenden Stimmen der deutschsprachigen Spoken-Word- und Slam-Szene und wurde für ihre Werke mehrfach ausgezeichnet. In "achduje" versammelt Nora Gomringer Texte, die geschrieben wurden, um gesprochen zu werden - und nun lassen sich diese lesen, als hörte man die Autorin.
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Seitenzahl: 103
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NoraGomringer
achduje
edition spoken script 161. Auflage, 2015© Der gesunde Menschenversand, LuzernAlle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-03853-013-8
eISBN 978-3-03853-014-5
Lektorat
Martin Zingg
Herausgeber
Matthias Burki
Ursina Greuel
Daniel Rothenbühler
Gestaltung
hofmann.to
e-Book
mbassador GmbH, Basel
Audio-Aufnahmen
Alexander Döbereiner, Pyromusic
www.menschenversand.ch
Du hastnichtsvom Endeerzählt
Vorbei bin ich
Erkläre mir, Muse, den Mann,
Vielmals
Mutterns Gehirn
Haus bestellt
Geister vergessen
Berliner Liegewiesenmädchen beschreibt die Umstände
Es bleibtdoch stetsbeim Hören (sagen)
Sprich die raren Dinge
Die Reichste im ganzen Land
Geschichte vom Hund
Ich rede mit dem 18-Jährigen
Gang mit Hermelin
Whenwaiting,a womanis funny
Drei fliegende Minuten
Wilson Opera Monologue
LAUT! Lesen!
tobias
Kinderverwirrbuch
Kindergeschichte
Wie soll ich das beschreiben?
Kleine Formel
LAUT! Lesen!
Heimat
«Jedermann erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.»
Sie öffneten den Mund sehr weit
Der 10. Mann
«Voilà! Espassiertetwas.»
Modern
La Lanterna. Genua speculativa
«Es ist alles eitel»
Was passiert, wenn nichts passiert
Nachwort
«Ständig dieses Innenleben»
Quellenverzeichnis
Nora Gomringer
edition spoken script
22:38
Dich nicht anrufen. Das kostet viel mehr Kraft als dich anrufen. Meine Fingernägel gehen drauf beim Überlegen. Ich beiße sie ab. Das Geräusch ist schön endgültig, die Handlung fatal. Wie sage ich, was ich will?
22:44
SMS formulieren: would you like to share a conversation tonight? Eigentlich will man ja ganz andere Sachen schreiben. Von Weltende und Meteoriten und vom Handlungsbedarf JETZT und vom eigenen Wund-Sein. An allen Stellen, die ein Vergnügen mit dir hatten. Ekelhaft. Wo ist jetzt die Scheißnummer?
22:46
Vielleicht sollte ich dich doch einfach anrufen. Du sagtest, whenever you feel like it. Well, Mister, to set this straight: I ALWAYS feel like it. That’s my f++++ problem.
22:47
Von außen beobachten, wie man langsam dumm wird und immer dünner. Wirklich beides. Dumm, weil man stumpf wird im Kopf, und dünn, weil man spitz wird, die Knochen vom Nichts-essen-Wollen aus der Haut lugen. Schau mal, da, fühl mal, da. Ich bin gerade noch. Da. Es macht PING. Du Luzifer, immer, wenn deine Nachrichten eintreffen, leuchtet alles. Auch ich.
22:47:30
I really think you are wonderful. But she needs me. The children need me. I need them.
We should stop this.
22:50
22:51
22:53
Nix leuchtet. Sonnenfinsternis.
22:56
So hörte es sich an, wenn der Schrei von Munch ein Audiofile wäre. Und kein Bild.
Minutenlanges Kreischen, Brummen, Kreisen wie eine schwangere Frau kurz vor der Niederkunft. Hecheln. Tippen mit schnellen Spinnenfingern:
22:57
So this means you are ending it? Us? – Ich sehr stolz auf so viel Wille zur Konfrontation. Mit abgekauten Nägeln.
22:57:10
.
.
.
.
22:57:52
PING
22:59:56
I am sorry to write YES. I was really in love with you, maybe I still am. Somehow. But if I want to work right and live well, I need to be like this now. Can you understand this?
23:02
Starr bin ich und mein Brustkorb brennt. So fühlt es sich also an. Eine Hitze, die rumort. Mein Hals ein Vulkanschlund. Lavaworte wollen seiner Frau alles vor die Füße speien, damit ihm dieser Weg, den er gerade wieder baut, versperrt ist. Und er nur mich hat. Fieberhaft überlege ich, was ich tun kann, um ihn zu halten. Setze an, tippe Pleases und Don’ts und Let mes. Und lösche alles wieder nach und nach, ohne es gesendet zu haben. Eine, die sich das Flehen verbietet. Sich die Finger verstümmelt, die Zunge schnürt, die Lippen vernäht.
23:20
Eine, die mit Schluchzen den Kopf auf das Kissen eines anderen legt. Der liegt längst in Träumen. Und hat ihre inneren Brände nicht mitbekommen. Der ist ein ruhiges, klares Wasser. Ungetrübt. Sie ist eine Ruine, feste Materie in Not. Sie kippt, sinkt. Hat den Mund auf beim Weinen, sieht so jämmerlich aus. Ich denke, ich sehe jämmerlich aus. Von außen betrachtet. Das Heulen macht mich ganz stumpf. Heulen ohne Geräusch ist noch trauriger. Aber wehe, er wacht auf.
23:33
Letzter Blick auf den Funkwecker. Inneres Memo: Merke dir dieses Gefühl. Vergib es ihm nicht.
05:31
Erster Blick auf den Funkwecker. Inneres Memo: Erinnere dich an das Gefühl. Welches Gefühl? Ich taste mich innerlich ab. Nichts heil. Wo bin ich in diesem Chaos?
05:35
Ich liege und denke und bin ganz falsch hier. Falsche Adresse. Falscher Kopf auf falschem Körper. Neben falschem Körper im falschen Bett.
05:46
Ich stehe auf. Leise. Ich stehle mich fort.
05:46:30
Ich knipse das Licht an. Ich stehe vor dem Badezimmerspiegel und sehe mich nach 6 Stunden Schlaf und mit angeklebten Tränen. Ich sehe falsch aus. Nicht richtig, das bin nicht ich. Kein Wunder, dass du diese Frau nicht mehr willst. Ich glaube, das ist das Gefühl, an das ich mich erinnern wollte.
05:49
Ich ziehe meine Laufsachen an. Die weißen Schuhe. Mein MP3-Player, die Schlüssel.
Der Monolog beginnt. Du spinnst, ist mitten in der Nacht. Du gehst laufen. Und wenn er fragt: Warum bist du so früh laufen gegangen. Ja, mein Gott, eben drum.
05:51
Ständig dieses Innenleben. Das innen leben. Warum hast du das alles angefangen, als ich nichts brauchte, keinen Wunsch aussprach, heil war und vor allem nicht wusste, was mir fehlte. Du hast mir neue Wörter vorbuchstabiert, mich schnabelgefüttert. Nichts ist Vergangenheit, wenn nicht Gegenwartslüge. So gegenwärtig bin ich nicht. Bin ja nicht mal hier auf diesem Weg, in diesem Lauf, in diesen Atemintervallen. Bin irgendwo an einem See, auf einer Bank mit einem Mann. Sehr entfernt. Adele «Turning Tables», Adele «Rolling in the Deep». Irgendwie ist es auch lustig, dass alle Lieder so und so gehört werden können. In love and out of love on a journey and at a standstill. At the crossroads and while driving up a serpentine road.
05:59
Ist ziemlich dunkel auf dem Pfad mit dem Geröll, geht aber. Ich bin ziemlich schnell.
Für eine, die vollgesogen ist mit Trauer und Nicht-fassen-Können.
06:10
Jetzt schwitze ich. Ich stelle mir vor, was du zu mir sagst, wenn wir uns sehen. Ob wir uns wiedersehen? Ich verdiene mir unser Wiedersehen, indem ich mich darauf vorbereite. Vorsatz: lauf schneller. Renn ihm davon. Oder entgegen. Renn einfach. Ist egal, wenn du außer Atem kommst. Hör auf, dich zu kontrollieren.
06:20
Bei Kilometer 5? Kann sein. Die ganze Runde hat 8,5 und ich laufe das gewöhnlich in 50 Minuten. Nicht schnell, aber stetig und länger könnte ich immer. In ein paar Häusern brennt Licht. Die fangen an mit dem Tag. Manfred Mann’s Earth Band «Blinded by the Light», Kosheen «Catch», Basement Jaxx, Gonzales, Händel.
06:40
Du hast nichts vom Ende erzählt. Immer nur vom Anfangen, dies und das zu tun. Jetzt bin ich raus aus deinem Erzählen.
06:50
Ich bin da. An der Haustür. Leise. Ich mache jetzt auf Ritual und sage zu mir: jetzt immer so. Und ich steh wieder heulend da und gebe keinen Ton von mir. Wie kann man so vorbei sein?
07:10
Ich weiß es nicht.
07:11
I don’t know. Das tippt sich seltsam ohne Worterkennung. Ich schicke ein Buchstabenrätsel ab. Denk mal ein bisschen darüber nach, Arschloch.
Den Vielgereisten mit Meilenkonto und setz dich neben mich
zu einem Gespräch über das Gute an und das Beste in
und das Ausreichende um ihn
Ich las von dem Mann, der an einem Faden sich als Retter
herbeifädeln ließ. Es ging dort um Monster und Mädchen und
Irrwege, Skelette von Jungfern säumten den Weg
Ich las von dem Mann, der aufbrach ins Totenreich,
die Liebste zu retten
Er sang die Schatten zur Räson, vertraute 200 Schritte darauf,
dass sie ihm folgen konnte, bei 201 verklang sein Gesang
Muse, es scheint mir,
der Mann ist ein Wanderer, Retter, per se
Ein Sänger und Liebhaber, vertrauend und ängstlich zugleich
Wer will es ihm nehmen, dass alle ihn schätzen,
ihn gottgleich empfinden
Ich las von dem Mann, der seine Tochter in einem
Kellerverlies hielt
Wie ein Wesen aus Schatten und Traum. In all diesen Jahren
Verlor sich die Spur so vieler im oberen Reich, kein Wort
kam über die Lippen
Ich las von dem Mann, der in einem Haus das Ende
von vielen plante
Und an einem Tag und in einer Nacht versuchte,
ein Land zu entzweien
In Norwegen hielt er sich auf, das Freie zu binden,
war seine Lust
Muse, es scheint mir,
der Mann ist ein Mörder, Verstecker per se
Ein Spinner und Spieler, vergaunert und grausam zugleich
Wer will es uns nehmen, ihn zu verdächtigen, wenn
Migräne uns überfällt
Ich warte seit Jahren auf einen, der kommt,
mit allem, was männlich ich achte
Damit ich mich gebe ganz Haut, ganz Haar, ganz Knochen,
in allem, was Gott aus mir machte
Muse, es scheint mir,
dass Männer versockelt, die Lippen versiegeln,
keiner erreicht ihre Herzen. Die Hobbys sind zahlreich,
das Leben sehr körperbetont. Breitbeinig der Stand,
weitflächig die Hand, die mich liebkost oder schlägt.
Schwarz-weiß ist die Welt, die der Mann
– oft farbenblind – auf seinen Schultern trägt
Ich käme zu küssen, das alles in Farbe zu tauchen. Versprochen.
Ich bitte dich, schick mir den einen, den anderen, mal den
Und mal den, damit ich erkenne, wie einzeln sie alle,
wie kostbar so mancher, wie schön
Wen ich dann wählte, das bliebe bei mir,
Geheimnis, das Frauen gefällt,
es kehrten sich Himmel und Erde schließlich,
ginge es dann nur um Geld
Ja, ich bin eine Sammlerin, webe den Teppich erneut
und warte ergeben
Komm, Muse, erklär mir die Männer.
Komm, Muse, erklär mir die Welt.
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Einmal tanzte der Bauer so wild im Matsch, dass das Kalb sich erschreckte
Einmal nahm ich Rizinus und verlor das Kind
Einmal lief sie einem Mann nach, der sie partout nicht wollte
Einmal wollte ich einen Apfel vom Baum schütteln und bekam zehn auf den Kopf
Einmal kam ein Soldat und als ich ihm die Hand geben wollte, sah ich, dass da bei ihm keine mehr war
Einmal schoss ihr das Blut in den Kopf, als sie einen Ländler mit dem Landrat tanzen sollte
Einmal pinkelte sie im Stehen, um ihre Füße auf der eiskalten Weide zu wärmen
Einmal stand da ein Kuchenbuffet und das Haus duftete nach Erinnerungen, weil sie keinen mehr backen würde
Einmal rief er mich beim Namen meiner Schwester
Einmal war der Bauer so müde, dass er im Stall auf meiner Schwester einschlief
Einmal erzählte ich der Lehrerin, was uns passierte auf dem Hof
Einmal kam sie zu Besuch
Einmal und nie wieder
Einmal schüttelte ich die Betten und die Federn wirbelten herum wie im Märchen
Einmal sagte sie, sie wolle den Bruder in der Stadt besuchen und der Bauer sagte vielleicht
Einmal wieder sagte er vielleicht
Einmal noch fragte sie
Einmal zeichnete ich einen großen Hund und schraffierte seine Umrisse, weil es wichtig ist, unberechenbar zu bleiben
Einmal kam ein Brief an meine Schwester an und der Bauer las ihn ihr vor in ihrer Kammer, der Bauer las sehr langsam
Einmal hielt ich eine Hand im Dunkeln, sie war warm und weich
Einmal war die Mutter bei uns und trank Schnäpse mit dem Bauern
Einmal berührten sich dabei ihre Hände, gleich packte sie ihre Tasche und ging, ohne auf mich gewartet zu haben
Einmal kam ich nach Hause zu einem leeren Haus, nie war ich glücklicher
Einmal fiel ein Hund in die Jauchegrube
Einmal musste der Jäger kommen, der trank auch Schnäpse
Einmal sagte meine Schwester, sie könne rennen wie der Wind
Einmal war das Fenster offen, bevor alle wach waren in diesem Haus, der Wind wehte hinein
Einmal stand ich im Nachthemd, es war sehr früh, und ich sah meiner Schwester nach, wie sie rannte wie der Wind
Einmal stellte ich Milch, Brot, Schnaps auf den Tisch
Einmal fasste er mich an, sagte Worte, die ich nicht verstand, zeigte Geheimnisse auf
Auf einmal war und blieb ich meine Schwester, ersetzte ein um das andere Mal einen Menschen mit einem anderen