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Acht Tage, acht Autoren, acht Ermittler, acht Leichen Wenn Wilsberg auf Julius Eichendorff trifft, wenn Herbie Feldmann und Seifferheld gemeinsame Sache machen … Ein einzigartiges Krimi-Experiment! Ein abgeschiedenes, kleines Nest in einem besonders entlegenen Winkel der Eifel. Ein uraltes Landhaus, gleich neben dem Dorffriedhof. Nächte, so schwarz wie ein Leichenwagen. Was geschieht, wenn sich acht Krimiautoren acht Tage lang an einen solchen Ort zurückziehen? Sie haben natürlich ihre acht mit allen Wassern gewaschenen Serienermittler dabei und stoßen sie mitten hinein in eine mörderische Geschichte. Privatdetektiv Wilsberg aus Münster, Spürnase Britta Brandner aus Bonn, Hobbydetektiv Vincent Jakobs aus dem Sauerland, Meisterkoch Julius Eichendorff aus dem Ahrtal, LKA-Profilerin Wencke Tydmers aus Hannover, Privatdetektiv Waldo aus Halle, Kommissar a. D. Siegfried Seifferheld aus Schwäbisch-Hall und der Spinner Herbie Feldmann aus der Eifel. Sie alle stecken mit einem Mal mitten in einem vertrackten Kriminalfall, wie er ihnen bislang noch nicht begegnet ist. Ein Fall, der ihr geballtes kriminalistisches Gespür erfordert, ein Fall mit nicht weniger als acht Leichen!
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Seitenzahl: 310
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A.N. OnymAcht Leichen zum Dessert
Acht Tage, acht Autoren, acht Ermittler
Hinter dem Pseudonym A.N. Onym verbergen sich acht der renommiertesten deutschen Krimiautorinnen und -autoren: Jürgen Kehrer, Sabine Trinkaus, Kathrin Heinrichs, Carsten Sebastian Henn, Sandra Lüpkes, Peter Godazgar, Tatjana Kruse und Ralf Kramp.
Diese acht haben sich im Sommer des Jahres 2016 in einem alten Haus in der Eifel versammelt, um in nur acht Tagen gemeinsam einen ganzen Roman zu schreiben. Ein ähnliches Experiment haben sie 2013 bereits in der Abgeschiedenheit der Uckermark durchgeführt. Dabei entstand ihr Gemeinschaftsroman »8«. Damals wie heute war die sportliche Voraussetzung, dass es keine vorhergehende Planung geben durfte. Der Roman entstand von der ersten Idee bis zur letzten Silbe innerhalb der achttägigen Schreibklausur.
Bei der Neuauflage dieses »Krimi-Camps« haben sich die Acht diesmal ein noch höheres Ziel gesteckt: Im vorliegenden Roman spielen erstmals ihre acht beliebten Serienermittler gemeinsam die Hauptrolle. Ein Krimi-Experiment, das wohl im ganzen deutschsprachigen Raum einzigartig sein dürfte!
Während ihres Aufenthalts führten die Schriftsteller ein Video-Tagebuch, das man unter www.facebook.com/Das-KrimiCamp und bei youtube anschauen kann.
A.N. Onym
Acht Leichenzum Dessert
Kriminalroman
Originalausgabe
© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von: © maia3000 - www.fotolia.deLektorat: Nicola Härms, RheinbachPrint-ISBN 978-3-95441-321-8E-Book-ISBN 978-3-95441-338-6
Die Holztür fiel krachend ins Schloss. Sperrte die letzte wohlige Wärme hinter sich ein. Dort drinnen, zwischen den groben Wänden aus Stein, ließ einen das Feuer im Kamin den furchtbaren Schneesturm vergessen. Hier draußen war die Comtesse ihm gnadenlos ausgesetzt.
Ein letztes Mal versuchte sie, die Eheleute umzustimmen. Sie klopfte an, flehte und bettelte, es sei doch so kalt, so furchtbar kalt, und wenn sie mit ihr schon kein Erbarmen zeigten, dann doch wenigstens mit dem Kind, um Himmels willen. Doch die Tür blieb verschlossen.
Unaufhörlich fielen die weißen Flocken, so hübsch und so leicht und doch tödlich wie Kanonenkugeln. Erst als ihre in Stroh und Lederlappen gehüllten Füße gänzlich im Schnee verschwunden waren, als der Schmerz in den Zehen allmählich in Taubheit überging, gab die Comtesse auf, zog den löchrigen Mantel enger um sich und den Leib ihres Kindes und lief in die Nacht hinaus. Der Sturm wehte heftig, ließ die kahlen Friedhofsbäume ächzen und pfiff eine schaurige Melodie, als seien die Grabsteine ringsherum ein Instrument, auf dem zu spielen er gelernt hatte. Bei diesem Getöse vernahm man nur leise die Glocke dort oben im Turm der Kapelle. Sie schlug die Mitternachtsstunde, obwohl kein Priester, kein Küster um diese Zeit am Strang zog. Der Wind mochte deren Dienst übernommen haben. Oder auch der Teufel persönlich.
Es solle nicht bange sein, sagte sie dem Kind. Sie werde es ganz nah an ihrem Herzen halten, warm und sicher. Doch die Worte waren kaum zu verstehen, so sehr zitterten ihr die Lippen. Sie gehe nur die Straße entlang und den Hügel hinauf, oben an der Biegung in der Nähe der Krüppeleiche, könne man schon die Häuser von Ringhuscheid erkennen. Dort wohnten gottesfürchtige Menschen, die ihre Türen öffneten für eine Seele in Not. Ganz bestimmt, versprach sie ihrem Kind, wir werden es schaffen. Dabei liefen ihr die Tränen über das feine Gesicht und gefroren zu Eis, noch bevor sie am Kinn angelangt waren, denn der Wind kam von vorn, schlug ihr entgegen mit einer frostigen Faust.
Vielleicht war es gut, dieses Dorf zu verlassen. Versunken lag es im Schatten des Tals, wurde versteckt von verschwiegenen Tannenwäldern, gänzlich vergessen von Sonne und Liebe und Barmherzigkeit. Manches Mal hatte sie schon gedacht, der Allmächtige wäre noch nicht bis hierhin durchgedrungen, wäre nur bis Ringhuscheid gekommen und hätte an der Krüppeleiche kehrtgemacht. Trotz der Schneeverwehungen, die ihr bis an die nackten Knie stiegen und die Haut nass und bei jedem Schritt wunder werden ließen, lief sie schneller. Nur fort von hier. Sie hatte schon einmal ein neues Leben beginnen müssen, sie würde es noch einmal wagen. Auch wenn es Winter war und sich ihr das Schicksal gnadenlos entgegenstellte, der Tod um so vieles wahrscheinlicher war. Sie würde nicht ruhen, bis sie endlich Frieden fand und ein kleines bisschen Glück. Mehr wollte sie gar nicht für sich und das Kind.
Der Weg wurde steiler, immer wieder verlor sie den Halt und fiel auf die Knie, rutschte zurück und raffte sich doch wieder auf, was mühselig war mit einem Arm, doch im anderen trug sie schließlich das Kind. Allmählich schwanden die Kräfte, und ihr Atem ging schwer, die kalte Luft zerstach ihre Lunge, und aus ihren Füßen war jegliches Gefühl gewichen, als seien sie eben zu Stein geworden.
Nicht mehr weit, sagte sie zu ihrem Kind, da hinten ist schon die Biegung, ich erkenne an der Kuppe die Krüppeleiche im Schnee. Dort werden wir eine kurze Rast machen, bevor wir in Sicherheit sind. Vielleicht bist du hungrig, denn sonst weinst du doch jede Nacht und verlangst nach der Milch, von der ich dir leider nur so wenig geben kann. Doch gleich, bei der Biegung, wenn Düsterscheid schon beinahe hinter uns liegt, dort werd’ ich dich stillen, versprach sie ihrem Kind, auch wenn du nicht schreist.
Die Hoffnung schien sie an die Hand zu nehmen, die Zuversicht bereitete ihr den Weg. Fast schien es, als leuchte ein himmlisches Licht auf genau diesen unförmigen Baum, der dem Eifeler Dorf als Grenzmarkierung diente. Bis dorthin nur muss ich kommen, dann sind wir gerettet, dann führt der Weg bergab, und Gott wird sich unserer annehmen.
Doch das Licht war verloschen, kaum dass sie an der Biegung angekommen war, und der Blick Richtung Ringhuscheid wurde von einem undurchsichtigen Vorhang aus Schnee verwehrt. Man hätte meinen können, hier ging es nicht weiter, und auch zurück war der Weg für immer verwehrt.
Doch die Comtesse wollte sich nicht zerschlagen lassen von Verzweiflung und Pein. Ich hab’ es dir doch versprochen, sagte sie zu ihrem Kind, du sollst deine Milch haben, wo du doch so lieb bist, so still und so ruhig. Schwer ließ sie sich auf die Wurzeln sinken, öffnete den Mantel ein Stück, achtete darauf, dass der Wind nicht in die raue Wolle kroch, und schob mit den Fingern ganz sacht das Tuch zur Seite, um den Mund ihres Kindes an die Brust zu legen.
Doch das kleine Gesichtchen war kühl und die Augen nur halb geschlossen.
Da wusste die junge Frau, dass sie nun allein auf der Welt war. Das Kind war ihr noch in Düsterscheid genommen worden. An diesem gottvergessenen Ort.
Und sie wünschte, auch sie dürfe nun sterben, und legte sich in den weichen, warmen Schnee.
Eyh Leude, ich hab’ kein Netz!« Die Schreckensnachricht kam von der letzten Bank. Von Marvin, dem mit der größten Klappe in der 8d, wenngleich einem die Negativplatzierung in dieser Horrorklasse nicht besonders leichtfiel.
»Ich auch nicht!« – »Ich auch nicht!« Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Katastrophenmeldung durch den ganzen Bus. Pest, Bombenalarm, Reaktorunglück – für diese Vierzehnjährigen alles Peanuts gegen die Aussicht, auf der Klassenfahrt offline zu sein.
»Herr Jakobs, wussten Sie das?« Joyce hatte sich umgedreht und blitzte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Ihr Blick verriet, dass sie ihrem Klassenlehrer alles zutraute. Auch, dass er ihre Taschen auf Alkohol kontrollierte oder einen Museumsbesuch ausgeheckt hatte. »Wussten Sie, dass wir in diesem Düsterscheid von der Außenwelt abgeschnitten sind?«
Vincent war lange genug Lehrer, um sich durch solche Fragen nicht irritieren zu lassen. »Halb so wild, hier und da hat man durchaus Empfang. Da oben zum Beispiel«, er startete ein Ablenkungsmanöver und zeigte auf ein Kreuz, das in der Ferne neben einer Krüppeleiche in Sichtweite kam. »Wenn ich mich nicht irre, habe ich auf meiner Vorbereitungstour von dort oben mit meiner Frau telefoniert.«
»Wie jetzt?«, mischte sich Dorian vom Sitz links neben ihm ein. »Wir müssen aus dem Kaff raus und rauf zu dem Kreuz, wenn wir Netz haben wollen?«
Vincent zuckte mit den Achseln und verschwieg, dass er bei der Planung der Klassenfahrt neben dem Nichtvorhandensein einer Disco genau dies als Riesenplus eingestuft hatte: dass die Kids nicht die ganze Zeit über an ihrem Smartphone hängen konnten und dadurch vielleicht auf die Idee kamen, direkt – also quasi live – miteinander zu kommunizieren.
»Das ist übrigens ein Sühnekreuz«, erklärte er, ganz Geschichtslehrer, »gestiftet von den Dorfbewohnern, um einen Fluch abzuwenden. Eine ganz spannende Geschichte: Vor über dreihundert Jahren –«
»Ich will jetzt Netz«, fuhr ihm Dorian in die Parade, »jetzt! Nicht vor dreihundert Jahren!«
Vincent sparte sich eine Ermahnung. Zum »Fluch über Düsterscheid« würden sie beim abendlichen Gruselgeschichtenerzählen am Lagerfeuer sowieso noch kommen. Jetzt standen andere Dinge auf dem Programm. Gerade passierten sie das Ortseingangsschild des Dorfes. Grund genug für Dorian, noch mal Frust abzulassen. »Ich fass’ es nicht. Lockt uns in diese gottverlassene Gegend, obwohl wir eigentlich nach Köln wollen, sorgt dafür, dass wir – zelten«, er sagte das, als käme Zelten gleich nach Brechdurchfall oder dem Schreiben einer Mathearbeit, »und dann gibt’s hier nicht mal Netz.«
»Dafür gibt’s hier andere tolle Dinge.« Vincent stand auf und quetschte sich nach vorn zum Busfahrer durch, vorbei an seiner Kollegin Renate Fobbe, die sich mal wieder schlafend stellte und damit sämtliche Schüleranfragen ihm überließ. Suchend blickte er aus dem Fenster und gab dem Busfahrer gerade noch rechtzeitig Bescheid. Der Bus hielt vor dem Anwesen der Familie Bernardy, der Pudding-Villa, wie man sie wohl hinter vorgehaltener Hand nannte. Pudding-Villa passte ganz gut, wenn man den puddinggelben Anstrich des Gebäudes ansah.
»Da ist ja Tante Tine«, hörte er jetzt Isabell kreischen. Sie zeigte auf die Hinweistafel, die die wichtigsten Informationen über das gigantische Pudding-Imperium verriet. Abgebildet war auch »Tante Tine«, das Gesicht des Puddings, wenn man so wollte. Eine sympathische Köchin, die in einem Topf leckeren Pudding zubereitete – eine Frau, wie man sie sich als Leibköchin wünschte und die man auf jeder Puddingpackung des Unternehmens vor dem stilisierten Familiensitz wiederentdeckte.
»Genau, Tante Tine«, bestätigte Vincent, nachdem er das Mikro aus der Halterung gezogen hatte. »Ihr solltet ja dazu recherchieren. Wer kann über diese berühmte Firma etwas erzählen?«
Ricardas Finger schoss in die Höhe. Und wie immer schoss nur Ricardas Finger in die Höhe. Sie war einer der wenigen Lichtblicke in dieser Klasse. Das machte sie natürlich einsam. Immerhin saß sie nicht allein auf ihrem Zweiersitz. Neben ihr hockte Steffen und starrte nach draußen. Der Nerd hing meist über seinem Computer. Wenn das wie hier nicht ging, starrte er ins Leere, vermutlich konfigurierte er dann imaginäre Computer.
»Ricarda«, sagte Vincent resigniert.
»Die Firma gehört Albertine Bernardy, geboren 1940 in diesem Haus. Sie besuchte als junge Frau die Hauswirtschaftsschule in Neuburg –«
»Neuerburg«, verbesserte Vincent wohlwollend, »das ist ganz hier in der Nähe.«
Ricarda ließ sich zum Glück nicht irritieren. Ein paar der gelernten Infos mussten noch raus. »Nach ihrer Ausbildung experimentierte sie mit Puddingrezepten herum und machte dabei eine bahnbrechende Entdeckung: Sie erfand den ›Pudding ohne Kochen‹ – damals eine Revolution.«
»Voll krass«, meinte Beverly gelangweilt. »Ich steh ja total auf Revolutionen.«
»Mithilfe dieses Puddingrezepts konnte Albertine Bernardy eine riesige Firma aufziehen. Heute gibt es eine Produktpalette von über fünfzig Süßspeisen, die weltweit ausgeliefert wird. Das Hauptwerk liegt sechzig Kilometer entfernt, der Originalpudding wird aber immer noch in der ersten Werksküche hier in Düsterscheid produziert.«
»Sehr gut, Ricarda, du hast dich gut informiert. Kennt jemand den Originalpudding, den Poki?«
»Ich!«, kreischte Isabell. Warum mussten Mädchen in der Pubertät eigentlich alle naselang kreischen? »Als ich wegen der Zahnspange voll das entzündete Zahnfleisch hatte, da konnte ich nur Wabbelzeug essen, und da hat meine Mutter mir immer Poki gemacht.«
»Und habt ihr eine Ahnung, warum der Pudding Poki heißt?«
Sofort schoss Ricardas Finger nach oben. Nur Ricardas Finger natürlich.
»Linus?«, meinte Vincent, weil der definitiv mit etwas anderem beschäftigt war.
»Häh?« Der Bursche schaute erschrocken hoch.
»Warum heißt der Pudding Poki?«, zischte ihm jemand zu.
In Linus’ Kopf arbeitete es offensichtlich. Das musste nicht viel heißen. Dann ging jedoch plötzlich ein Leuchten über sein Gesicht. »Wegen Pokemon?«
»Ich glaube fast, Pokemon-Figuren gab es in den Sechzigerjahren noch nicht. – Ricarda?«
»Pudding ohne Kochen – die Anfangsbuchstaben – und dann noch ein i hintendran, damit es gut klingt.«
»Klasse, Ricarda, du kennst dich gut aus. Wir werden übrigens das Pudding-Museum noch besichtigen. Bestimmt dürft ihr dann alle mal Poki probieren.«
Allgemeines Stöhnen brach aus. In früheren Jahren hätte Vincent das irritiert. Inzwischen nahm er solche Reaktionen wahr wie das Rauschen des Meeres am Strand.
»Schaut euch Tante Tine mal an!«, forderte er seine Schüler jetzt auf. Tatsächlich drehten sich alle Köpfe nach rechts, na ja, fast alle. »Habt ihr eine Vorstellung, welche Bedeutung es hat, dass eine Frau es in den Sechzigern als Firmenchefin ganz nach oben geschafft hat?«
Die Ausdruckslosigkeit in den Gesichtern der Schüler bewies, dass sie es nicht wussten.
»Überlegt mal: Damals waren Frauen nur selten berufstätig. Sie machten den Haushalt und kümmerten sich um die Kinder. Diese Frau jedoch hat richtig Karriere gemacht, sie hat –«
»Boah, guckt mal – der Typ!« Es war Marvin, der da durch den Bus rief, nach draußen zeigte und damit alle Aufmerksamkeit absorbierte. Auch Vincent konnte sich nicht entziehen. Und tatsächlich, da stand jemand in Gummistiefeln und Arbeitshose auf dem Rasen der Pudding-Villa und gestikulierte wild, als spräche er mit jemandem, obwohl er doch mutterseelenallein war. Irgendwie seltsam.
»Boah, guckt mal!«, wiederholte Marvin stupide. »Ich glaub’, der hat Netz.«
Komisch!« Herbie Feldmann sprach laut, um das Geräusch des vorbeifahrenden Busses zu übertönen. »Wirklich komisch!« Er ließ nachdenklich den Blick über den Vorplatz des Hauses wandern. Eine kurz geschnittene Rasenfläche, eingerahmt von mehreren Blumenrabatten mit Stockrosen, Frauenmantel und Margeriten, dahinter ein paar Sträucher, die offenbar regelmäßig in Form gehalten wurden. Gepflegter Eifeler Landhaus-Chic. Er konnte beim besten Willen nicht erkennen, was es hier für ihn zu tun geben sollte.
Der Rasen. Der alte Mann hat gesagt, du sollst dich um den Rasen kümmern. Herbies Begleiter Julius schob ebenfalls nachdenklich die Unterlippe vor.
»Der Rasen ist geschnitten, die Kanten einigermaßen ordentlich abgestochen. Was gibt es da großartig zu tun?«
Er wird gleich erkannt haben, dass du ohnehin nichts auf die Reihe kriegst, und hat sich gedacht, am Rasen kannst du nicht viel verkehrt machen.
Herbie warf dem Mann an seiner Seite einen verächtlichen Blick zu. »Wirklich unglaublich komisch, Julius. Dann weiß ich nicht, warum man mir den Job gegeben hat. Ich fahre jetzt also jeden Tag eine Dreiviertelstunde hierhin und wieder zurück, nur um nichts verkehrt zu machen? Toll.« Er machte ein paar planlose Schritte hin und her und zuckte erneut mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was soll ich denn mit dem Rasen tun?«
»So kann er jedenfalls nicht bleiben«, sagte eine raue Stimme hinter ihm. Herbie wandte sich um. Der Alte war unbemerkt wieder aufgetaucht und trug einen vergammelten Pappkarton vor der Brust.
Unsicher schielte Herbie zu Julius hinüber, der jetzt an die Seite des Alten trat und versuchte, in den Karton hineinzulinsen. Der Alte nahm ihn gar nicht zur Kenntnis, was kein Wunder war, denn Herbie allein konnte Julius sehen und hören. Seit einem Aufenthalt in der Psychiatrie hatte er diese Pest von einem Begleiter am Hals. Von seiner Jugend an folgte ihm dieser große, fette, bärtige Kerl auf Schritt und Tritt. Er hatte eine mitunter bösartige Vorliebe für schlechte Witze und brachte Herbie stets in Situationen, in denen er anderen Menschen wie ein echter Spinner vorkommen musste.
Der Alte hatte den Karton abgesetzt und richtete sich mit einem Ächzen wieder auf. »Jaja, der Rasen«, sagte er und fummelte ein Päckchen Tabak aus der rechten Tasche seines speckigen Kittels. »Da müssen wir noch mal ran. Der ist total verdorrt. Zu viel Sonne dieses Jahr.« Aus der Verpackung fischte er eine krumme, handgedrehte Zigarette hervor, schüttelte Tabakkrümel ab, steckte sie sich in den Mund und zündete sie an.
»Wässern?«, vermutete Herbie. »Düngen?«
»Lackieren.« Der knotige Zeigefinger des Alten wies auf den Karton. »Da müsste der passende Farbton dabei sein. Das Zeug ist ohne Lösungsmittel, das tut dem Gras nix. Ich habe im Schuppen hinterm Haus noch eine Spritzpistole und einen kleinen Kompressor, das kriegen wir schon hin.«
»Ich soll den Rasen lackieren?« Herbie konnte es nicht glauben. Er hatte diese Stelle als Hausmeistergehilfe von seiner Tante aufs Auge gedrückt bekommen, die in der beständigen Furcht lebte, ihr Neffe könne in den Genuss seines Vermögens, das sie als Vormund verwaltete, gelangen, ohne irgendeiner Arbeit nachzugehen, sei sie auch noch so entwürdigend. Jetzt sollte er also Gras lackieren.
Oh ja, das macht man hier so. Julius klatschte begeistert in die Hände. Sie nennen es Vorgarten-Graffiti. Manchmal sprühen diese putzigen Eifeler auch ihren Himmel marineblau an oder verpassen den Birken und Eschen die neueste Modefarbe.
»In ein paar Tagen wird das große Firmenjubiläum gefeiert. Da rückt hier die ganze Presse an und will ein schönes Postkartenmotiv vor der Linse haben. Die Chefin sagt, dass hier alles picobello sein muss. Aber allein schaffe ich das dann doch nicht mehr. Ich werde nächsten Monat sechsundsiebzig.« Er reichte Herbie die grobe Hand. »Ich bin Karl Reuschenbach. Sag ruhig Karl zu mir, so wie alle anderen auch.«
»Herbie.« Er schlug ein. Dann ging er in die Hocke und faltete den Karton auf.
»Wenn du in das Russischgrün einen ordentlichen Schuss Zinkgelb reinkippst, müsste das in etwa hinhauen«, knarzte Karl und blies milchigen Rauch in die Luft.
Er hatte ein kantiges, wettergegerbtes Gesicht und struppiges, graues Haar. Die gekräuselten, weißen Haare seiner Koteletten reichten bis zu den Wangenknochen. Trotz seines hohen Alters war er noch muskulös und schien in der unaufgeregten Verrichtung seiner täglichen Arbeit eine Art Lebenselixier gefunden zu haben. Er stieß plötzlich ein leises Grunzen aus und sagte: »Aha. Konnte ja nicht lange dauern. Da kommt ja schon die Nächste.«
Ein kleines, hellgrünes Fahrzeug mit Kölner Kennzeichen rollte fast geräuschlos durch das offene, schmiedeeiserne Tor und hielt direkt vor dem Hauseingang.
»Presse?«, fragte Herbie, der unterdessen die Farbdosen um sich herum auf dem Rasen aufgereiht hatte.
»Verwandtschaft. Die Nichte von der Chefin mit ihrem komischen neuen Hybridauto. Wirklich lustig. Was sie an Sprit einspart, verdonnert ihr Cousin an Flugbenzin, wenn er mit seinem Männerspielzeug durch die Gegend düst. Und manchmal auch ihr Bruder. Jaja, so kurz vorm Jubiläum ist hier ganz groß was im Gange.« Er winkte der kleinen, fülligen Frau zu. Sie nickte knapp zurück. Herbie schätzte sie auf Mitte vierzig. Als sie mit energischem Schritt das Auto umrundete und sich am Kofferraum zu schaffen machte, umflatterte ihr asiatisch anmutendes Leinenkostüm ihren kompakten Körper.
»Johanna«, sagte Karl. »Heißt mit Nachnamen Bernardy, so wie die Chefin, nur mit so ’nem ulkigen Bindestrichnamen dran. Hatte mal ’nen Mann aus Indien oder so ähnlich.« Er wandte Herbie das Gesicht zu, grinste und ließ die struppigen Augenbrauen nach oben tanzen. »Veganerin. Kannst du dir so was vorstellen? Kein Kotelett, keine Schlagsahne, kein Frühstücksei?«
Aber natürlich kannst du dir das vorstellen. Genauso trostlos sieht es doch seit Jahren in deinem Kühlschrank aus!
Herbie erkannte undeutlich einen Firmenschriftzug auf der Autotür.
»Ich helfe ihr beim Gepäck«, sagte er, aber Karl legte ihm eine Hand auf den Arm und hielt ihn zurück.
»Nein, nein, da gewöhnen die sich sonst am Ende noch dran.« Er betrachtete die Farbdosen und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Hm, nix Passendes dabei, was? Komm, wir gucken mal im Schuppen nach.« Er drückte den Zigarettenstummel mit Daumen und Zeigefinger aus und setzte sich in Bewegung. Die Frau verschwand mit einem Handkoffer im Haus.
Brav trottete Herbie hinter Karl her. Julius feixte derweil ununterbrochen. Er schien an der absurden Situation großen Spaß zu haben. Die Kieswege machen wir in Pink, ja? Und die Bruchsteinmauer da hinten knallorange!
Das sicher uralte Haus war viel größer, als es von vorne den Anschein hatte. Es machte einen ordentlichen, soliden Eindruck, bis auf die liebevoll renovierte, gelb angestrichene Straßenfassade war es jedoch nicht besonders schmuckvoll hergerichtet. Es gab ein paar Fenster, an denen die Kunststoffrollladen herabgelassen waren, und der Putz war hie und da rissig und verwittert.
Seine Tante hatte ihm eingeschärft, er dürfe ihr auf dieser Arbeitsstelle keine Schande machen. Das tat sie eigentlich immer, und er machte es ihrer Ansicht nach eigentlich dann doch jedes Mal. In diesem Fall schien es ihr jedoch besonders wichtig zu sein. Die »Chefin«, so wie Karl sie nur nannte, war diese Pudding-Königin, die nun wirklich jeder zwischen acht und achtundachtzig kannte und auf deren Bekanntschaft sich Tante Hettie mächtig was einbildete.
Karl entriegelte die alte Holztür eines Backsteinanbaus. Das Schloss klemmte, aber Karl wusste offenbar genau, wie er die Tür beim Umdrehen des Schlüssels leicht anheben musste, damit er sie aufbekam. Während Karl durch die Öffnung griff und nach dem Lichtschalter tastete, bemerkte Herbie am Ende des leicht abfallenden Grundstücks einen bärtigen, jungen Mann in einer Lederjacke, der breitbeinig dastand, unentwegt auf und ab wippte und das Handy ans Ohr hielt. Er telefonierte laut und gestenreich.
»Auch Verwandtschaft?«, fragte Herbie, und Karl nickte. »Phillipp aus Hannover. Das ist sein Lieblingsplatz da hinten. Da hat er Handyempfang. Ein Neffe von der Chefin. Ich sag ja, hier ist schwer was los, wegen Samstag.«
Sie gingen in den Schuppen und fanden sich einem wüsten Sammelsurium von Regalen und alten Küchenschränken voller Gerätschaften aller Art gegenüber.
»Bei mir zu Hause sieht das anders aus«, erklärte Karl. »Da kenn ich keine Unordnung. Aber hier bin ich jetzt seit über dreißig Jahren das Mädchen für alles und finde nie die Zeit, mal aufzuräumen. Das stört eigentlich auch keinen, denn das Haus ist ja mehr oder weniger unbewohnt. Nur jetzt zu diesem Jubiläum fliegen sie plötzlich von überallher ein und machen ein großes Tamtam. Ich weiß nicht, ob das alles sein muss, aber mich fragt ja auch keiner.« Er deutete auf einen Stapel von alten Farbdosen. »Da suchen wir gleich was raus. Damit der Rasen wieder schön gesund aussieht.«
Herbie betrachtete die Dosen. Gleich daneben befanden sich Schachteln und kleinere Dosen mit aufgedruckten Totenkopfsymbolen.
Auf seinen fragenden Blick hin erklärte Karl: »Wir haben eine Karnickelplage. Also eigentlich ist es nur eins, aber das ist ein richtiges Biest. Frisst uns immer den Küchengarten ratzekahl leer. Irgendwann erwische ich das Vieh.« Er zog nacheinander ein paar Schubladen auf, fingerte in deren Inhalt herum und summte dabei: »Es grünt so grün …« Schließlich förderte er eine Lackierpistole zutage, deren Chromglanz fast völlig unter Staub und Farbspritzern verschwunden war. »Das Haus verliert nix!«, sagte er triumphierend. Und für einen Moment ging sein Blick ins Leere, und er murmelte: »Jaja, das Haus …«
Er atmete tief durch und bückte sich in einen Winkel des Schuppens, in den das Licht der Deckenlampe nicht hineinreichte. Beim Kramen verursachte er laut polternde Geräusche. Dann kam er wieder zum Vorschein und streifte sich ein paar Spinnweben von den Schultern. »Da hinter dem Schrank steht der Kompressor, wie ich das vermutet habe. Kannst du ja mal rausholen. Aber erst …« Er hob wichtig den krummen Zeigefinger. »Zuerst machen wir mal Pause!«
Herbie spürte erst jetzt, was für einen Hunger er hatte. »Habe ich da vorhin so etwas wie Frikadellen gerochen, als wir an dem halb offenen Fenster vorbeikamen?«, fragte er.
Karl nickte. »Hat wahrscheinlich der Küchenchef gemacht, den sie extra haben antanzen lassen. Ein Sternekoch aus dem Ahrtal, glaube ich. Julius Eichenfeld oder so.«
»Julius?«, entfuhr es Herbie.
Unverschämtheit!
»Und so eine Physiotherapeutin aus Bonn ist auch noch hier, die massiert die Chefin dreimal am Tag, damit sie am Wochenende gut in Schuss ist. Ich sag ja, hier ist richtig was los.«
Wie um seine Aussage zu bestätigen, ertönte von draußen in diesem Moment eine laute, herrische Männerstimme: »Karl! Karl, bist du da?«
Karl nickte Herbie grinsend zu. »Der Letzte im Team. Albert, der andere Neffe von der Chefin. Der Bruder von der Veganerin. Ganz anderer Typ, wirst du schon noch merken. Er leitet hier das Stammwerk der Firma.«
»Der Rasen, Karl!«, tönte es von draußen. »Wird das heute noch was? Der Pavillon muss auch noch aufgebaut werden!«
Karl klopfte Herbie auf die Schulter und sagte mit einem verschmitzten Grinsen: »Willkommen bei der Pudding-Familie Bernardy!«
Julius Eichendorff rührte im Vanillepudding. Er hatte sich einen Michelin-Stern erkocht, siebzehn Punkte im Gault&Millau, der Restaurantkritiker des Trierischen Volksfreunds hatte ihn einst als »Gottes Geschenk an alle, die Schweinefüße lieben« bezeichnet, und nun rührte er Pudding.
Tütenpudding wohlgemerkt.
Der nicht gekocht werden musste.
Das Einzige, was in dieser Küche gerade kochte, war er selbst.
Julius hatte Albertine Bernardy angefleht, etwas anderes mit dem Pudding kochen zu dürfen, ihn mit frischen Waldbeeren zu flankieren, die seinen künstlichen Geschmack überdeckten, oder ihn vielleicht in einem Strudel zu verstecken, damit man ihn noch nicht einmal sehen musste. Aber da heute die drei potenziellen Nachfolger von Albertine Bernardy eintrafen, allesamt Nichten und Neffen, wollte die Herrin des Hauses eine große Kump Pudding.
Nicht mal Eischaum durfte er drunterrühren!
Kurz hatte er überlegt, ob er für Klumpen sorgen sollte, weil diese bei einem schlechten Pudding oft das einzig Erfreuliche waren.
Aber er klumpte nicht.
Dieser Pudding stand für alles, was Julius Eichendorff, Koch und Inhaber des Restaurants Zur Alten Eiche in Heppingen im nahegelegenen Ahrtal, wo die Rotweinreben wuchsen und das Klima fast mediterran war, verachtete. Pudding, das war ursprünglich ein diffiziles Gericht, das in einer Form durch Erhitzen in einem kochenden Wasserbad gegart und danach gestürzt wurde. Er selbst besaß noch alte Puddingformen mit Bajonettverschluss. Manchmal kam Grießpudding mit echter Tahiti-Vanille bei ihm auf die Karte. Bei einem guten Pudding wollte man sich die Kleider vom Leibe reißen und darin suhlen.
Nach diesem hier wollte man stundenlang kochend heiß duschen. Also die Zunge.
Aber das Pudding-Imperium von »Tante Tine« basierte auf dieser Mischung, die heute kaum noch jemand kochte, da es bessere Rezepturen gab. Doch heute Abend musste es »Tante Tines Poki« geben.
Aber eigentlich war er ja nicht wegen dieses Puddings hier. Es gab schließlich einen anderen Auftrag von Albertine Bernardy, einen kulinarisch bedeutend wichtigeren. Und etwas Gutes hatte das Ganze schon jetzt: Er befand sich tatsächlich in der gelben Villa von der Puddingpackung, mit der er groß geworden war. Er fühlte sich ein wenig wie in einer Puddingtüte.
Julius beugte sich so weit über die Küchenzeile, wie es sein von einem ausgiebigen Mittagessen gefüllter Bauch zuließ, und blickte aus dem geöffneten Fenster. Unter diesem war ein kleines Kräuterbeet angelegt, das leider regelmäßig von einem großen, verfressenen Karnickel heimgesucht wurde. Die vage Hoffnung auf ein wenig Minze zur Dekoration wurde durch den Anblick des verwüsteten Beets zerstört. Karnickelzilla hatte wohl wieder zugeschlagen.
Draußen sprühte so ein armer Wicht immer noch Grashalme an. Und redete dabei die ganze Zeit mit sich selbst. Manchmal brüllte er sich auch an. Würde Julius wahrscheinlich auch tun, wenn er den ganzen Tag Grashalme anmalte. Der Rasen sah nun aus wie bei einem Tipp-Kick-Teppich.
Julius winkte ihm zu. »Eine Kump Pudding?«
Der Grashalmmaler nickte. »Gern.« Dann fügte er zur Seite gewandt hinzu: »Nein, du bekommst nix davon ab.«
Julius brachte es nicht übers Herz, dem armen, verwirrten Mann diesen Tütenpudding einfach so zu geben, deshalb raspelte er fix etwas Zartbitterschokolade darüber, schnitt eine Banane hinein, verwandelte die Erdnussbutter mit Sahne im Handumdrehen in eine Sauce und reichte ihm diese Schüssel hinaus. »Einmal Pudding Elvis Presley. Ich bin übrigens Julius.« Er reichte ihm zuerst den Pudding, dann die Hand.
»Herbie. Ich hab’ einen guten Freund, der auch Julius heißt. Und ich mal nicht immer Rasen an.«
»Ganz ehrlich: Das freut mich ungemein für dich.«
Jemand stand plötzlich in der Küche, die von der Größe auch in einem Fürstenhof nicht deplatziert gewesen wäre. Es war ein Mann von Mitte dreißig, mit cognacfarbener Lederjacke und einer zerschlissenen Jeans, der man aber auf den ersten Blick ansah, dass jeder Riss vom Spitzendesigner geplant war. Die Risse in Julius’ Gartenhose befanden sich nur an den Knien.
Der Mann erinnerte Julius an den amerikanischen Schauspieler Brad Pitt – mit Vollbart. Einem dieser Bärte, die nicht nach »Mann aus den Bergen«, sondern nach »Mann aus der Wellnessoase« aussahen. Holz hacken konnte dieser Bursche sicher nicht.
»Hey, ich bin der Phil, der Lieblingsneffe von Tante Tine. Und Sie müssen der Koch sein. Weil wenn Sie der Klempner sind, haben Sie sich tierisch verirrt.« Er lachte. »Hier, wenn Sie mal Werbeartikel brauchen, die produzier ich mit meiner Agentur.« Er reichte Julius eine Pflasterpackung. »Das hier ist supercool. Das ist dann zwar nicht realisiert worden, war aber eine geile Idee.«
Auf der Packung stand: ›Krankenhaus Hannover – Krank vor Glück!‹
Phil lehnte sich über den Küchentresen. »Sagen Sie bitte, bitte, bitte, dass es heute Abend nicht wieder Pudding gibt, wie immer, immer, immer!«
»Es gibt Pudding«, antwortete Julius. »Ich will da nichts beschönigen.« Er stellte das Rühren jetzt ein. Da konnte er rühren, so viel er wollte, aus diesem Pudding würde nie etwas anderes werden als gelber Kleister. Mit ohne Geschmack.
Phils Gesicht fiel in sich zusammen. »Ich hatte so auf Sie gezählt!«
»Im Kühlschrank finden sich ein paar Frikadellen und rheinischer Kartoffelsalat. Habe ich eben für das Personal vorbereitet.«
»Ich habe mich schon immer dem Personal verbunden gefühlt.« Phil stellte alles auf den Küchentresen und füllte einen Teller. »Sie sind als kulinarischer Berater von unserem Tantchen eingestellt worden, nicht wahr?«
Julius nickte. »Ich soll die von Ihnen und den anderen entwickelten Produktideen kochen und beurteilen.«
Phil zog den Reißverschluss seiner Lederjacke auf. »Tataa!«
Auf seinem T-Shirt stand: ›Pumsti – Pudding am Stiel‹. Darüber ein Stiel mit einem gelben Smiley, der die Zunge herausstreckte. »Das wird der Mega-Renner. Da braucht man keine Schale mehr für Pudding, man isst einfach vom Stiel. Alles isst besser, wenn es mit Stiel ist.«
Eine andere Stimme ertönte. »Dir würde ein bisschen mehr Stil auch guttun.«
Der eintretende Mann war eine imposante Erscheinung, gehüllt in eine klassische Lodenjacke kombiniert mit einer roten Brille, die Modernität ausdrücken sollte. Das Gesicht schien davon nichts zu wissen. Julius kannte ihn, es war Albert Bernardy, der das Werk der Pudding-Dynastie hier in Düsterscheid leitete. Als Präsident und Großsponsor des Fußballvereins »Weiß-Gelb Düsterscheid« stand er in der Hierarchie sogar weit über dem Pfarrer.
»Grüß dich, Phillipp. Pudding am Stiel. Warum ist da noch nie einer draufgekommen?« Er nahm ihn in den Arm. »Ich mach nur Spaß. Hat was, deine Idee. Neue Wege, finde ich gut.«
Phil mampfte derweil eine Frikadelle. »Die ist super, wusste nicht, dass die so gut schmecken können.«
»Frikadellen sind das fehlende Bindeglied zwischen Fleisch und Brötchen«, erwiderte Julius.
»Was ist denn deine Idee, Albertus Magnus?«, fragte Phil seinen Cousin. »Womit willst du die Pudding-Päpstin überzeugen?«
Albert zog eine Präsentationsmappe aus seiner Aktentasche und stellte sie aufgeklappt hin. »Darf ich vorstellen: Tante Tines Vulkanpudding!«
Julius starrte auf das Bild, das jemand aus dem Andalusien-Anfängerkurs ›Seidenmalen‹ volltrunken und im Dunkeln gemalt haben musste. Es sah nicht aus wie ein Vulkan mit Lava. Es sah aus wie etwas, das jemand mit Blut im Stuhl ausgeschieden hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, wer das in den Mund nehmen würde.
»Ein kostengünstiger Weg in die Zukunft. Im Endeffekt ist es unser Traditionspudding braun gefärbt mit Götterspeise in der Mitte. Wenn man diesen kegelförmigen Fertigpudding stürzt, sieht er aus wie ein Vulkan kurz vor dem Speien.«
Speien, dachte Julius, war das richtige Wort.
»Pfiffig«, sagte jedoch Phil. »Das hat schon viel Schönes!«
»Nicht wahr?«, antwortete Albert. »Die Produktion könnten wir hier bei uns im Hauptwerk im Handumdrehen und kostengünstig angehen. Das habe ich bereits geprüft. Das ist für mich ja kein Problem, da ich ein Werk leite und die Abläufe seit Jahren ganz genau kenne. Bei uns sind alle begeistert. Vulkanisch! Das wird ein neues Symbol für die Eifel werden!«
Julius hielt das für denkbar, schließlich war die Gegend ja als der Arsch der Welt bekannt. Wenngleich als der schönste.
»Wo hast denn du die Frikadellen her?«, fragte Albert.
»Kühlschrank«, antwortete Phil. »Personalessen. Aber da Tantchen uns alle wie Personal behandelt, dürfen wir sicher auch.«
»Mich behandelt sie nicht wie Personal.« Albert nahm sich gleich zwei Frikadellen.
Das hätte er besser nicht getan, denn plötzlich stand eine kleine, pummelige Frau im Zimmer und tztztzte in seine Richtung. »Ach, Bruderherz, du willst ja nicht auf mich hören, dabei meine ich es doch nur gut mit dir. Das gilt auch für dich, lieber Cousin. Jedes Stück Fleisch verkürzt euer Leben!«
»Und noch dramatischer das der Tiere«, feixte Phil.
Die Frau umarmte ihn und Albert trotzdem herzlich, dann reichte sie Julius die Hand. »Ich bin Johanna Bernardy-Ngongo. Falls es heute Abend nichts Veganes gibt, werde ich Ihre sofortige Entlassung herbeiführen.«
»Es gibt Pudding«, erwiderte Julius. »Soweit ich das beurteilen kann, ist weder Fleisch noch sonst etwas Essbares darin.«
Die Frau schaffte es, pummelig zu sein und gleichzeitig völlig genussfeindlich zu wirken. Ihre voluminösen, naturgelockten Haare standen so steil zu Berge, dass entweder Haarlack oder Sahnesteif verwendet worden sein musste. Darum hatte sie ein farbenfrohes Leinentuch geschlungen, sodass es irgendwie afrikanisch aussah – von einem Stamm, der zu Recht ausgestorben war.
»Herr Eichendorff ist von Tine als Berater hinzugezogen worden. Für unsere Projektideen«, erklärte Albert. »Mein Vulkanpudding hat ihn bereits beeindruckt.«
Johanna nahm sich eine herrenlose Tomate aus dem Kühlschrank und schob die Frikadellen ganz nach hinten in die Ecke. »Die Zukunft gehört der ayurvedischen Medizin, die Zukunft der Speisen deshalb der ayurvedischen Ernährung. Auch ayurvedischem Pudding. Sein Rezept habe ich von meiner letzten Indienreise mitgebracht. Man kann ihn essen, aber sich damit auch einreiben.«
Phil und Albert unterdrückten ein Lachen, während Julius sich fragte, ob er das mit dem Einreiben als Berater auch testen musste.
»Entsprechend der ayurvedischen Lehre sind alle sechs Geschmacksrichtungen in dem Pudding vereint: süß, sauer, salzig, scharf, bitter und herb, also zusammenziehend.«
»Klingt köstlich«, sagte Phil. »Ich mag es immer am liebsten, wenn mein Essen mich zusammenzieht. Das schafft unser Poki auch. Dafür muss ich nur dran denken.«
»Ihr nehmt mich wieder einmal nicht ernst und verkennt völlig den Markt. Vegetarisch und vegan boomen, ayurvedisch wird der nächste Trend. Mein Pudding ist alles drei und konkurrenzlos. Ich nenne ihn ›Vedapu‹.«
»Ich muss schon sagen«, sagte Julius, »dass Ihre Familie ein ganz besonderes Händchen für Puddingnamen hat.« Er schaffte es nur deshalb nicht laut aufzulachen, weil er mit dem rechten Fuß und seinem ganzen Gewicht auf dem linken stand. Das tat sauweh. »Es ist ein Name, den man nach einmaligem Hören schon nicht mehr vergisst.«
Johanna trat näher, ihre stahlblauen Augen zu Schlitzen verengt. »Nehmen Sie mich auf den Arm?«
»Über Ayurveda mache ich nie Scherze!«, antwortete Julius. Und vergaß zu erwähnen, dass der Grund, warum er niemals darüber scherzte, der war, dass er nie darüber sprach. »Albertine Bernardy sagte mir, ich solle Ihre Rezepte für heute Abend zubereiten. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn ich diese jetzt erhalten würde, da ich eventuell noch einiges dafür besorgen muss.« Unter anderem starke Alkoholika, um bei der Zubereitung dieses im wahrsten Sinne des Wortes gequirlten Quatsches nicht unentwegt zu lachen.
Wenn man etwas tat, das man liebte, verging die Zeit wie im Flug. Da Julius jedoch Pumsti, Vedapu und Puddivul zubereiten musste, wie er den Vulkanpudding der Einfachheit halber und ganz im Sinne der Familie getauft hatte, zog sich die Zeit. Serviert wurde der Originalpudding Poki im selben Topf, in dem die Hauswirtschaftsschülerin Albertine einst ihren revolutionären Pudding erfunden hatte. Das schäbige, verbeulte Ding stand nun auf der festlichen Tafel mit den silbernen Kerzenleuchtern. Die Stühle des schweren Eichenholztisches waren samtbespannt, die Gläser aus Kristall, das Geschirr, in dem gleich der Pudding landen würde, aus antikem Meißener Porzellan.
Julius kontrollierte die drei zubereiteten Pudding-Prototypen, die er unter vergoldeten Cloches auf drei Beistelltische gestellt hatte.
Als die Standuhr sieben Uhr schlug, erschienen wie auf ein geheimes Kommando zuerst Johanna, dann Phillipp und schließlich Albert. Der Kopf der Tafel blieb frei für Albertine. Niemand sprach, während der Duft des Familienpuddings unbarmherzig den Raum eroberte, wie die Horden Dschingis Khans das arme Nordchina.
Zackige Schritte erklangen, dann trat die Pudding-Königin von Zigarettenrauch umhüllt in den Roten Salon, dessen Fenster eine Panoramasicht auf den Friedhof boten.