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Das Buch erzählt die Geschichte einer Reederfamilie, die sich im 20. und 21. Jahrhundert abspielt und 4 Generationen umfasst. Sie beginnt unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg und endet Anfang des 21. Jahrhundert.
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Seitenzahl: 514
Veröffentlichungsjahr: 2023
In einem Dorf in Baden-Württemberg wurde ich 1950 geboren. Nach erfolgreichem Schul-, Lehr- und Studienabschluss arbeitete ich Jahrzehnte in mehreren Firmen als Hochbauingenieur, bis ich 2014 in den Ruhestand wechselte.
Bereits Jahre davor hatte ich den Wunsch schriftstellerisch tätig zu werden.
Alle in diesem Buch genannten Namen und Handlungen sindfrei erfunden. Ähnlichkeiten mit verstorbenen- oder nochlebenden Personen sind rein zufällig!
Udo Lange
Achtung! Hindernisse voraus
Geschichte einer Reederfamilie
© 2023 Udo Lange
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44,
22359 Hamburg
Lektorat: Elke Schnadt
Coverphoto: Pixabay – Jacq (kosten- und lizenzfrei)
2. Auflage
ISBN: 978-3-347-70535-7 (Softcover)
ISBN: 978-3-347-70536-4 (Hardcover)
ISBN: 978-3-347-70537-1 (e-Book)
ISBN: 978-3-347-70698-9 (Großschrift)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Einmal Rom und zurück
Wiedersehen mit Luigi
Praktikum in der Reederei
Das Studium
Die erste Arbeitsstelle
Die Hochzeit
Arbeitsbeginn in der Reederei
Der Neubeginn
Reich und arm
Heimkehr
Das Erbe
Der erste Tag im Ruhestand
Zwiegespräch mit Gott
Stille der Seele
Die Trauerfeier
Weitere Veröffentlichungen des Autors:
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Einmal Rom und zurück
Die Trauerfeier
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Ich danke allen Menschen, die mich zum Schreiben inspiriert haben.
Einmal Rom und zurück
Oberstudiendirektor Schmitz überreichte in einer Feierstunde den siebzehn Abiturienten der Oberprima ihre Reifezeugnisse. In seiner Ansprache ermahnte er die Absolventen, mit dem von ihnen an den Tag gelegten Fleiß auch weiterhin so zu studieren, wie sie es in der Schule praktiziert hatten, um gute Akademiker zu werden. Unter den Glücklichen, die nun das Gymnasium beendet hatten, war auch Egbert Graf vom Hohen Berg.
In der anschließenden kleinen Feier mit Eltern, Lehrern und den Absolventen wurde er von Oberstudiendirektor Schmitz gefragt:
„Na, Graf Egbert, welches Fach oder welche Fächer werden Sie einmal studieren? Auch hier in unserer Stadt?“
„Herr Oberstudiendirektor“, antwortete er lächelnd, „ich habe mir zwar schon ein paar Gedanken dazu gemacht, jedoch bin ich bisher zu keinem Ergebnis gelangt. Vielleicht habe ich ja noch irgendwann einen Geistesblitz.“ „So, so. Was könnten Sie sich denn vorstellen zu studieren?“
„Es tut mir leid. Ich habe einige Ideen, die völlig unausgegoren sind. Daher möchte ich erst dann darüber sprechen, wenn alles sortiert und ausgereift ist.“
Herr Schmitz staunte nicht schlecht über diese Antwort. Graf Egbert war nämlich einer seiner Lieblingsschüler gewesen. So eine ausweichende Antwort hatte er von ihm nicht erwartet. Nun ja, mit dem Gesagten musste er sich leider zufrieden geben. Er war sich aber sicher, dass der junge Graf seinen Weg gehen würde. Es wurmte ihn schon, nicht zu wissen, was er studieren wird. Alle anderen Ehemaligen gaben ihm die unterschiedlichsten Berufswünsche an, und er konnte erkennen, was sie studieren würden.
Nach etwa zwei Stunden verabschiedete sich Egbert zusammen mit seinen Eltern von allen Beteiligten Diese bedankten sich für alles. Sie waren mächtig stolz auf ihren Sprössling, der sehr gute Zensuren auf seinem Abiturzeugnis vorweisen konnte. Damit hatte er allerbeste Voraussetzungen, die Fächer studieren zu können, die ihm auch noch im späteren Leben Spaß bereiten konnten.
Zu Hause angekommen, hatte seine Mutter in der Küche alle Hände voll zu tun, obwohl sie schon vorab einiges vorbereitet hatte. Dann plötzlich ihr Ruf:
„Bitte, setzt euch an den Tisch, ich bringe das Essen rein!“ Sie hatte das Lieblingsessen der beiden gekocht. Es gab zur Feier des Tages Schweinebraten mit selbstgemachten Kartoffelklößen und geschmortem Rotkohl und ihre berühmte Bratensoße. Als Nachtisch servierte sie Vanillepudding mit Schokoladensoße. Allen schmeckte das Essen so gut, dass sämtliche Schüsseln leer wurden.
Nachdem der Tisch abgeräumt war, erledigten Mutter und Egbert den Abwasch. Währenddessen kochte auch schon das Kaffeewasser. Es gab Bohnenkaffee mit selbstgemachtem Marmorkuchen und Schlagsahne.
Graf Friedolin, Egberts Vater, ging nach dem ausgiebigen Kaffeetrinken an seinen Sekretär, öffnete die oberste Schublade und kramte einen größeren Umschlag hervor, der mit einer großen, roten Schleife versehen war. Langsam ging er auf seinen Sohn zu, der ihn lächelnd ansah.
„Mein lieber Sohn, heute hast Du deine Schulzeit erfolgreich abgeschlossen, wozu Mutter und ich Dir ganz herzlich gratulieren. Einen kleinen, aber wichtigen und entscheidenden Lebensabschnitt hast Du hinter dir gelassen. Du wirst bestimmt studieren wollen, wozu wir Dir raten, denn damit öffnest Du dir viele Türen. Wir haben noch ein Geschenk für dich, über das Du dich bestimmt freuen wirst. Nochmals herzlichen Glückwunsch, mein Junge, zum bestandenen Abitur.“
Sie umarmten sich, und die Drückerei wollte kein Ende nehmen, so stolz waren sie auf ihren Sohn. Behutsam öffnete Egbert erst die Schleife, dann den großen Umschlag. Darin befanden sich nicht nur Geldscheine, sondern auch ein Tagebuch, das seine Eltern für ihn geschrieben hatten mit markanten Stationen seines bisherigen Lebens.
Vorsichtig zählte Graf Egbert das Geld. Am Ende waren es für ihn unvorstellbare fünfhundert Mark, bedenkt man, dass es 1953 war. Er war zunächst völlig sprachlos über dieses Geschenk. So eine große Summe hatte er nie und nimmer, selbst in seinen kühnsten Träumen, erwartet. Wortlos nahm er seine Eltern in die Arme, gab jedem einen Kuss und sagte dann nur ein einziges Wort: „Danke,“ so gerührt und überwältigt war er. Er nahm das Tagebuch, blätterte einige Seiten um und las, wie liebevoll seine Eltern seine ersten Schritte beschrieben und wie sehr sie auf ihn geachtet hatten. Graf Friedolin war zwar ein liebevoller Vater, aber auch sehr, sehr streng, der wenig durchgehen ließ. Mal hin und wieder fünf gerade sein lassen, das war nicht sein Ding, wodurch er mit seiner Gattin teils heftige Diskussionen hatte. Sie war eine liebevolle und auch gütige Mutter.
Nach dem Abendessen saßen die drei im Wohnzimmer bei einem Glas Rotwein. Die geführten Gespräche drehten sich nicht mehr um den Schulalltag und seine Unzulänglichkeiten, sondern um die Frage, welche Fächer er studieren möchte und welche Möglichkeiten er damit am Ende hätte.
Egbert favorisierte mehrere Fächer, mochte sich aber noch nicht festlegen. Ihm schwirrte seit längerem eine ganz verrückte Idee durch den Kopf, er hatte aber bisher noch mit niemandem darüber gesprochen, auch nicht mit seiner Mutter, die seine Vertraute war. Sein Wunsch war es, einmal Rom zu sehen und die gesamte Strecke mit seinem Fahrrad zurückzulegen. So war das Geldgeschenk der Eltern sehr willkommen. Die Frage für ihn war nur, wie ‚verkaufe’ ich ihnen die angestrebte Reise? Er grübelte eine ganze Weile, bis ihn seine Mutter lächelnd fragte:
„Egbert, worauf kaust Du rum? Bedrückt dich etwas? Sprich doch einfach darüber oder meinst Du, wir reißen Dir deswegen den Kopf ab?“
„Mama, meine Idee ist einfach zu verrückt, um sie überhaupt auszusprechen.“
„Na, nun mal raus mit der Sprache!“
Er zierte sich immer noch und fand nicht die passenden Worte. Eines wusste er, würde er jetzt einen Fehler machen, wäre die angestrebte Reise schon vorbei, bevor sie überhaupt begonnen hat. Nach einer ganzen Weile gab er sich einen Ruck.
„Liebe Eltern, wie ihr wisst, war es immer schon mein Traum gewesen, alleine eine Reise zu unternehmen. Ich bin jetzt neunzehn Jahre alt und denke, dass ihr mir vertrauen könnt und ich keinen Blödsinn mache. In der Vergangenheit sprach ich immer wieder von Rom, der Ewigen Stadt am Tiber, die ich einmal besuchen möchte. Und jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt, da ich erst Mitte September mit dem Studium beginnen kann. Die Romreise würde ich Anfang Mai starten, nämlich mit meinem Fahrrad.“
Diese Nachricht war für seine Eltern ein Paukenschlag. Sie schauten sich sprachlos an und schnauften erst einmal kräftig durch. Endlich, nach einer ganzen Weile der Stille, fand sein Vater als erster die Sprache wieder und meinte:
„Egbert, weißt Du überhaupt, auf was Du dich da einlässt? Das sind tausende Kilometer von hier aus. Hast Du dir die Strecke einmal auf einer Landkarte angesehen? Es gibt kaum richtig gut ausgebaute Straßen. Der Krieg ist erst acht Jahre vorüber! Du musst entweder durch die Schweiz oder Österreich, und die Menschen dort sind von uns Deutschen nicht gerade begeistert, von den Italienern ganz zu schweigen. Weißt du wie die deutschen Soldaten in Italien gewütet haben, besonders die SS, und du willst mit dem Fahrrad dorthin? Du brauchst einen Pass für diese Reise, egal welche Strecke du fährst. Lass mich wenigstens eine Nacht über dein Ansinnen nachdenken.“
Egbert war sich völlig im Klaren darüber, dass sein Vater nicht sofort ja sagen würde. Aber mit seinen Einwänden, das wusste er auch, lag er gar nicht verkehrt. Ihm war das Massaker, das die SS in einem Dorf ausgeübt hatte, bekannt. Langsam bekam er auch Zweifel an seinen Reiseplänen. Es war sein Herzenswunsch, einmal nach Rom zu kommen, um sich die antiken Stätten und Sehenswürdigkeiten der Stadt anzuschauen. Seine Mutter meinte nur:
„Schlaf Du auch noch mindestens eine Nacht darüber. Wir sprechen uns morgen, ja?“
Sie lächelte ihn vielsagend an und leerte anschließend ihr Glas Rotwein.
Für Egbert war ihr Lächeln ein Zeichen, dass über sein Ansinnen noch nicht das letzte Wort gesprochen war. Sicher werde sie Vater ‚bearbeiten’, damit er am Ende doch noch zustimmt. So verabschiedete man sich mit einem ‚Gute Nacht‘ ins Bett. Sein Vater saß nach wie vor wie angegossen in seinem Sessel und grübelte über das nach, was ihm sein Sohn ‚serviert’ hatte.
Am nächsten Morgen saßen alle am Frühstückstisch und genossen schweigend und mit ernster Miene den Bohnenkaffee und die frischen Brötchen mit Erdbeermarmelade, Wurst oder Käse. Es wollte einfach kein Gespräch in Gang kommen, denn jeder sann irgendwie über diese Romreise nach, keine lockere Diskussion wie sonst üblich. Egbert schien es, als wollten ihn seine Eltern auf die Folter spannen. Und so kam, wie es kommen musste:
„Mein lieber Sohn. Mutter und ich haben deine Idee vorwärts und rückwärts diskutiert und sind zu dem Schluss gekommen, dich nicht fahren zu lassen.“
Egbert erstarrte und wusste im Moment nicht, was er sagen oder machen sollte. Zur Volljährigkeit fehlten ihm noch 18 Monate. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, begab er sich auf sein Zimmer und schloss sich ein. Er konnte nicht verstehen, warum ihm seine Eltern die Reise verwehrten. Ihr Argument, der Krieg sei erst acht Jahre vorbei, konnte er durchaus akzeptieren. Aber seinen Herzenswunsch völlig auszuschlagen, das war zu viel für ihn. Insgeheim hoffte er immer noch auf eine Wende. Er blieb den ganzen Tag auf seinem Zimmer und ging abends tieftraurig ins Bett, ohne seinen Eltern wenigstens ‚Gute Nacht‘ gesagt zu haben. Er grübelte stundenlang, ob es nicht doch noch eine Lösung gäbe, vielleicht einfach abhauen, ohne das Einverständnis der Eltern? Nein, das kam für ihn nicht in Betracht, wäre aber zumindest eine Lösung.
Am nächsten Morgen saßen wieder alle schweigend beim Frühstück. Nach einer ganzen Weile lächelte ihn sein Vater an und meinte:
„Junge, Junge, da hast Du uns aber eine ganz schöne ‚Denksportaufgabe’ serviert. Mama und ich haben nochmals alles Für und Wider besprochen und sind trotz meiner Bedenken zum Schluss gekommen, dass Du die Reise antreten solltest. Wer weiß, wann sich so eine Chance nochmals bieten wird.“
Egbert geriet vor lauter Freude völlig aus dem Häuschen. Er jubelte, nahm seine Eltern in die Arme, zerdrückte sie fast und rief zum wiederholten Male:
„Danke, danke, danke!“
Graf Friedolin meinte noch:
„Hier, mein Junge, ohne Geld kannst Du so eine Reise nicht antreten“, und drückte ihm einen Umschlag mit Geld in die Hand.
„Vielen Dank Euch beiden.“
„So, nun hast Du zwei Wochen Zeit, die Reise vorzubereiten. Wenn Du Hilfe brauchst, sage bitte Bescheid. Wir sind dir gerne behilflich.“
„Vielen Dank.“
Seine Mutter lächelte ihn an, nahm ihn in die Arme und gab ihm wortlos einen Kuss. Dann sagte sie flüsternd:
„Es war nicht so einfach, ihn zu überzeugen. Du hast auch meinen Segen zur Reise.“
Egbert war der glücklichste Mensch, den man sich jetzt vorstellen konnte. Gleich nach dem Mittagessen begann er mit den Reisevorbereitungen, die noch Tage dauern sollten.
Es war Anfang Mai, als er seine Reise antrat. Alles war gepackt und ordentlich auf dem Gepäckträger verschnürt. Dazu nahm er Lederbänder, die er auf dem Dachboden fand. Sogar ein Ein-Mann-Zelt und eine Luftmatratze hatte er sich ausleihen können, so dass er nicht auf Gasthäuser, sofern sie überhaupt Übernachtungsmöglichkeiten bieten würden, angewiesen war.
Der Abschied von den Eltern war schon ziemlich schwer, und er wusste auch nicht, wann er wieder zurück sein würde. Die Freude aber, dass es jetzt losging, überwog am Ende. Punkt acht Uhr morgens trat er in die Pedale und winkte seinen Eltern zu, bis er um die Kurve der Straße war und sie nicht mehr sah. Ab jetzt war er auf sich gestellt.
Das Wetter war angenehm, und es wehte kaum Wind. So konnte er gut Geschwindigkeit aufnehmen, jedoch waren die Straßen teilweise voller Schlaglöcher, denen er immer wieder ausweichen musste. Irgendwann gegen Abend kam er an einem Bauernhof vorbei. Dort hielt er an und fragte den Bauern, ob er hier auf der Wiese übernachten dürfe. Er habe ein Zelt und Verpflegung dabei und wolle morgen in aller Herrgottsfrühe weiterfahren. Nach kurzer Bedenkzeit bekam er die Erlaubnis, hier nächtigen zu dürfen. Völlig geschafft von der Strampelei legte er sich schlafen. Gegen Morgen, es war etwa fünf Uhr, stand er auf, aß ein wenig, packte wieder alles zusammen und verschnürte die Sachen auf seinem Fahrrad. Dann fuhr er los, immer Richtung Süden. So ging es tagein, tagaus. Kurz vor einem Etappenziel hatte er einen Platten. Gott sei Dank war es der Vorderreifen. Die Straße, auf der ihm das Missgeschick passierte, war ziemlich belebt. Er schob sein Fahrrad ein paar Meter weiter in eine Haltebucht und machte sich an die Reifenreparatur. Nach etwa einer halben Stunde war der Schaden behoben. Plötzlich hupte ein LKW mehrfach und fuhr auch in die Haltebucht. Egbert drehte sich um und sah, dass dieser ein ausländisches Kennzeichen hatte. Er fragte sich, was die Huperei zu bedeuten hätte.
Der Fahrer stieg aus seinem Führerhaus und ging langsam auf Egbert zu. Seine Hautfarbe schien durch die Sonne gebräunt zu sein. Er trug eine eng anliegende Strickmütze und hatte einen kleinen Oberlippenbart. Rasiert war der Mann vermutlich drei oder vier Tage nicht mehr, so sah er zumindest aus. Er sprach Egbert in gebrochenem Deutsch an:
„Wohin Du wollen? Ich mitnehme dich. Dann wir beide nicht so allein und Du nix brauchen treten die Fahrrad.“
Egbert lächelte ihn freundlich an und meinte dann:
„Ich möchte nach Rom fahren.“
Der Fahrer riss Mund und Augen auf.
„Du mit die Fahrrad nach die Roma?“
„Ja, da möchte ich hin.“
„Mama mia, Du wissen wie weit? Mit die Fahrrad isse nix gut. Ich dich mitnehmen.“
Egbert wusste nicht, wie er sich jetzt entscheiden sollte und ob er diesem Mann vertrauen konnte. Daher fragte er ihn, bis wohin er ihn denn mitnehmen könnte und wie viel er dafür bezahlen müsse. Er war sich immer bewusst, dass er nicht uneingeschränkt Geld hatte. Er musste ja auch dieselbe Strecke wieder zurückfahren. Bevor Egbert noch etwas sagen konnte, meinte der Fahrer:
„Ich bin die Luigi, und Du heißen wie?“
„Mein Name ist Egbert.“
„Mit die LKW muss ich durch die Roma fahren und dann nach die Ostia an die Hafen.“
Egbert war sprachlos und konnte einerseits sein Glück nicht fassen, andererseits kamen ihm Zweifel, ob die Mitnahme gut wäre. Nach kurzem Nachdenken entschied er sich für die Reise mit Luigi. Der wollte von Egbert nichts haben. Er war selig, die weite Strecke nicht alleine fahren zu müssen. Außerdem hatte die Mitfahrt noch einen Vorteil, Egbert brauchte die Alpenpässe nicht mit dem Fahrrad zu überwinden. Es war der sechste Tag seiner Reise.
Kaum hatte Luigi den Motor angelassen, begann er irgendwelche Lieder leise zu singen oder zu pfeifen. So ging es den ganzen lieben langen Tag. Egbert hätte sich gerne mehr Ruhe gewünscht. Aber sollte er einen glücklichen Menschen maßregeln? Nein, das war nicht seine Art.
Unterwegs kamen sie an unzähligen Ruinen vorbei. Egbert hatte in den ersten Tagen schon einiges gesehen, aber das was er jetzt sah, war schon gewaltig. Dörfer, in denen nicht ein Haus heil geblieben war, zerstört und ausgelöscht durch den verdammten Krieg. Wie mag es wohl in Österreich und Italien aussehen? Er wusste es nicht, und er bekam jetzt eine Ahnung von dem, was ihn vielleicht erwarten könnte.
Nach Tagen kamen sie an die deutsch / österreichische Grenze. Es wurde bereits langsam dunkel. Luigi wollte hier übernachten und erst am nächsten Morgen die Grenze passieren. Sie machten es sich so gut es ging auf der Fahrerbank bequem und schliefen schnell ein, denn der Tag war anstrengend gewesen. Egbert wird die Nacht so schnell jedoch nicht vergessen, da Luigi in den wundersamsten Tönen schnarchte, so dass es für ihn kaum zum Aushalten war. Völlig gerädert stand er auf, während Luigi vor Freude strahlend seine Morgentoilette verrichtete. Als er damit fertig war, sah man sein feines Gesicht. Die Bartstoppeln hatten es doch ziemlich ‚verunstaltet’.
Aus einem Fach unterhalb der Sitzbank kramte er ein Bündel Papiere hervor, nahm seinen und Egberts Pass und begab sich zur Zollabfertigung und Passkontrolle. Egbert sah nach einer Weile, wie der Zöllner und Luigi wild gestikulierten. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, was möglicherweise nicht in Ordnung sein könnte. Ob die Frachtpapiere verkehrt ausgestellt waren oder im Pass ein Eintrag fehlte, er wusste es nicht. Nach knapp einer Stunde kam Luigi mit hochrotem Kopf und in Schweiß gebadet zu seinem LKW zurück. Er schimpfte die ganze Zeit auf Italienisch, das Egbert nicht verstand. Seine Hände legte er so zusammen, als wolle er beten, richtete sie nach oben und sagte:
„Mia Madre, grazie mille!“
Für Egbert war es ein Stoßgebiet. Wofür sich Luigi bedankte, wusste er nicht. Schweigend fuhren sie über die Grenze. Es war ein wunderschöner Tag, Sonnenschein und blauer Himmel, nicht eine Wolke zu sehen. Die gute Laune der beiden war unübersehbar.
Nach einigen Stunden begann der Anstieg zum Brennerpass und damit ein Stück weiter der Übergang nach Italien. Der LKW ächzte und stöhnte. Es ging teilweise nur im ersten Gang voran. Der Straßenzustand war nicht besonders gut, so dass Luigi immer wieder größeren Schlaglöchern ausweichen musste.
Oben am Pass angekommen, legten sie eine Pause ein. Luigi brauchte unbedingt eine Weile Ruhe, denn die Fahrerei war schwer für ihn, weil sein Auto keine Servolenkung hatte. Nach einer guten halben Stunde setzten sie die Fahrt fort. Unten im Tal angekommen, begann wieder die Zollprozedur. Aber dieses Mal verlief alles reibungslos, und Luigi kam mit einem Grinsen auf seinem Gesicht aus dem Zollgebäude. Was ihn so fröhlich stimmte, sagte er nicht. Sie fuhren noch ein Stück weiter bis zu einem Gasthof. Luigi meinte, für heute sei er genug gefahren. Nun sei es Zeit, etwas Vernünftiges zu essen und auch hier die Nacht zu verbringen. Sie betraten den Gastraum und staunten, wie voll er war. Dabei war es erst kurz nach sechzehn Uhr.
„Guten Tag, Luigi, wie geht es dir?“, klang es plötzlich mit lauter Stimme auf Italienisch aus dem Hintergrund. Dieser antwortete ihm ebenfalls auf Italienisch:
„Hallo, Bruno, gut geht es mir. Ich bin auf der Fahrt nach Ostia, und Du?“
„Ich muss morgen nach München und Fliesen abladen. Das wird wieder eine elende Fahrt, überwiegend einspurige Landstraße. Wen hast Du da im Schlepptau? Der sagt ja gar nichts.“
„Den habe ich vor einigen Tagen mit seinem Fahrrad aufgelesen. Er ist ein sehr angenehmer Mensch.“
„Ist er Italiener dem es die Sprache verschlagen hat?“
„Nein, er ist Deutscher.“
Plötzlich wurde es still im Gastraum. Die Anwesenden saßen wie erstarrt auf ihren Sitzplätzen und schwiegen. Da ergriff Egbert das Wort und sagte:
„Guten Tag, meine Herren. Ich hoffe, Sie hatten bisher alle eine angenehme Fahrt.“
Und diese beiden Sätze sagte er in bestem Italienisch! Es waren die einzigen, die er behalten hatte. Die Fahrer schauten sich an. Einer zuckte mit den Achseln und meinte:
„Danke, ich hatte eine sehr gute Fahrt. Woher bist Du?“
Dann ging es in Deutsch weiter, so dass Luigi übersetzen musste.
„Aus einer norddeutschen Großstadt. Mein Reiseziel ist Bella Roma.“
Mit der Aussage war das Eis gebrochen, und die Mienen erhellten sich wieder. Es wurde ein gemütlicher Abend bei gutem Essen und Wein. Egbert ließ es sich am Ende nicht nehmen, auch Luigis Verzehr zu bezahlen. Die Rechnung belief sich umgerechnet auf zirka fünfzehn Mark. Das war schon viel Geld. Dafür war er andererseits auch eine gewaltige Strecke mitgenommen worden und bereits ein ganzes Stück in Italien. Jeder der beiden hatte ein Einzelzimmer, und Egbert genoss es, mal nicht im Zelt oder auf der Sitzbank des LKWs übernachten zu müssen, sondern in einem weichen Bett zu liegen. Er hatte sich den Wecker auf sechs Uhr gestellt, denn es sollte um sieben Uhr dreißig nach dem gemeinsamen Frühstück weitergehen.
Die Nachtruhe war wunderbar, wenn man von dem Gebrumme einiger Insekten absah. Luigi kam gut gelaunt zum Frühstück und schlürfte zunächst einen Becher mit heißem Kaffee. Er aß nicht viel und meinte zu Egbert:
„Nix gut die viele Essen. Dann ich kaputt für Fahren.“
Der junge Graf nickte ihm zustimmend zu. Beide verließen das Gasthaus, in dem sie sich wohlgefühlt hatten und stiegen in den LKW.
Luigi startete den Motor, der zu stottern begann. Ihm entfuhr ein „Mia Madre.“ Aber nach ein paar Sekunden war alles wieder in Ordnung. Er schüttelte den Kopf. Anscheinend hatte er für die Ruckelei keine Erklärung.
An diesem Tag schafften sie es bis kurz vor Florenz. Dort schliefen sie wieder im Fahrerhaus, da es zwar einen Gasthof gab, aber keine Übernachtungsmöglichkeit, und Luigi nicht gewillt war, auch nur noch einen Meter weiterzufahren. Beide schliefen einigermaßen gut, und die Fahrt wurde kurz vor fünf Uhr morgens fortgesetzt. Sie wollten heute unbedingt Rom erreichen. Luigi hätte dann noch eine gute Stunde bis Ostia, wohin er seine Ladung bringen musste.
Sie hatten Florenz seit zirka einer Stunde hinter sich gelassen, als sie auf ein Stauende zufuhren. Luigi fluchte, und sein Redeschwall wollte nicht enden. Egbert verstand überhaupt nichts von alledem. Luigi stieg aus um zu schauen, warum es nicht weiterging. Sein Wagen stand vor einer scharfen Rechtskurve, die er nicht einsehen konnte. Was war der Grund für den Stillstand? Nach einer ganzen Weile kam er zurück und sagte nur:
„Unfall mit die LKW und die Baueranhänger.“
Aha, dachte sich Egbert. Ein LKW hat einen Trecker mit Anhänger gerammt, und der war bestimmt völlig demoliert. Nach mehr als einer Stunde löste sich der Stau auf, und sie konnten die ‚Bescherung’ sehen. Der Anhänger lag umgekippt neben der Fahrbahn. Der LKW hatte zudem auch noch die Vorderfront kaputt und stand ebenfalls auf dem Randstreifen. Es sah zumindest so aus, dass keiner der beiden Fahrer verletzt war. Der Trecker, so Luigis Vermutung, fuhr wohl von einer Nebenstraße in die Hauptstraße, und einer der beiden Fahrzeuge konnte nicht mehr bremsen oder hatte die Geschwindigkeit des anderen unterschätzt. Luigi schüttelte nur den Kopf und sagte leise:
„Jesus Maria.“
Gegen Mittag legten sie eine Pause ein, die sie in einem Gasthof verbringen wollten. Sie mussten unbedingt eine Kleinigkeit essen. Außerdem wollte Luigi telefonieren. Beide bestellten sich je einen Teller Pasta mit Salat und ein Mineralwasser. Für ein Glas Wein war es viel zu warm, und es war auch nicht ratsam. Als sie gegessen hatten, verschwand Luigi in der kleinen Telefonzelle, die sich im Bereich des Tresens befand. Nach ein paar Minuten sah er ihn wild gestikulieren. Plötzlich wurde es still. Er kam heraus, lächelte und strahlte über beide Wangen: „Hatte Luigi Gluck. Musse fahren die nächste zwei Woche wieder nach die Deutschland.“
„Wohin musst Du denn?“
„Nach die Bremen.“
Graf Egbert war erfreut über diese Nachricht und wagte zunächst nicht zu fragen, ob er wieder mitgenommen werden könnte. Die Zeit mit Luigi war sehr angenehm, auch wenn er den ganzen Tag pfiff oder leise vor sich hin sang. Es waren, so Egberts Vermutung, irgendwelche Arien aus italienischen Opern oder sonstige Gesangsstücke, die ihm alle nicht bekannt waren. Luigi kam ihm zuvor und fragte:
„Wann Du nach die zu Hause musse?“
„An welchem Tag genau würdest Du von Rom abfahren?“
Er brummte irgendetwas vor sich hin und meinte nach einer Weile:
„Genau heute in zwei Woche.“
Egbert konnte sein Glück kaum fassen und sagte sofort zu, da sich seine Terminvorstellung genau mit der von ihm deckte. Aber was wäre, wenn er verhindert wäre, früher oder später seine Fahrt antreten könnte? Soweit wollte er nicht denken. Bisher hat alles besser geklappt als gedacht.
Gegen neunzehn Uhr erreichten sie Rom, und Luigi wollte wissen, wo er ihn absetzen soll. Egbert überlegte einen kurzen Moment und meinte dann:
„Am Beginn der Via Appia Antica.“
Luigi lächelte und fuhr zur gewünschten Stelle. Dort fand er auch eine Möglichkeit, länger parken zu können. Er nahm das Fahrrad und das Gepäck von der Ladefläche und verabschiedete sich von Egbert. Sie vereinbarten: morgens um sechs Uhr an dem kleinen Parkplatz am Kolosseum, genau heute in zwei Wochen.
Beide winkten sich noch lange hinterher, bis sie sich nicht mehr sahen.
Gott sei Dank hatte sich Egbert beim letzten Halt vor Rom noch Brot, Käse und Tomaten gekauft, so dass er jetzt wenigstens sein Abendbrot zu sich nehmen konnte. Anschließend stieg er auf sein Fahrrad und fuhr stadteinwärts. Nach wenigen Minuten sah er ein großes Grundstück, auf dem eine Villa stand. Dort fragte er auf Englisch nach, ob er im Garten sein Zelt aufbauen und dort schlafen dürfe. Nach einigem Hin und Her erklärte sich sein Gesprächspartner dazu bereit. Egbert verbrachte eine ruhige Nacht in seinem kleinen Zelt.
Am nächsten Morgen stand er auf, packte alles zusammen und klingelte, um sich zu bedanken und zu verabschieden. Der Herr von gestern öffnete die Tür. Er hatte seinen Morgenmantel und Hausschuhe an und wirkte noch ziemlich verschlafen. Auf Egbert machte er den Eindruck, dass er seine Morgentoilette noch nicht verrichtet hatte. Die beiden verabschiedeten sich. Egbert bedankte sich nochmals für die Gastfreundschaft, die ihm zuteilgeworden war und ging langsam die Treppe hinunter. Als er fast unten war, rief ihm eine weibliche Stimme hinterher:
„Du nix mangare for die Fruhstuck?“
Egbert drehte sich um. An der Haustüre standen eine gut aussehende junge Frau und der Mann. Beide bedeuteten ihm, er möge doch zurückkommen, um mit ihnen zu frühstücken. Was hatte er heute Morgen für ein Glück! Dankbar nahm er das Angebot an. Die drei unterhielten sich auf Englisch und Deutsch, teilweise mit eingeflochtenen italienischen Wörtern. Manchmal verstand man sich überhaupt nicht, dann wurde mit allem, was möglich war, gestikuliert. Wenn auch das nicht mehr half, zuckte man mit den Schultern und lächelte sich an.
Egbert erzählte ihnen, dass er seine Schulzeit beendet hatte und in den nächsten Tagen die Sehenswürdigkeiten Roms besichtigen wolle. Ob er in diesem Zeitraum alles schaffen würde, wisse er nicht. Die Gastgeber lächelten ihn an und nickten zustimmend.
Mittlerweile war es schon gegen Mittag, als Egbert aufstand und sich nochmals für alles bedankte. Das Paar schaute sich lächelnd an, nickte sich zu und sagte dann zu ihm:
„Du schlafen in die Garten immer können.“
Er freute sich sehr darüber. Jetzt hatte er einen festen Platz zum Nächtigen in dieser riesigen Stadt. Mit einem „Grazie mille“ verabschiedete er sich.
Er schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr die Via Appia Antica stadtauswärts, vorbei an herrlichen Pflanzen. Nach einigen hundert Metern machte er eine längere Pause. Er setzte sich auf einen großen Stein, schloss die Augen und sog die Düfte seiner Umgebung ein. Dann ging es weiter Richtung Kolosseum. Er konnte nur einen kurzen Blick in den Innenraum dieses bedeutenden Bauwerkes werfen, weil der Zugang verschlossen war. Schade, dachte er, vielleicht komme ich morgen hinein. Er schob sein Fahrrad über eine große Kreuzung und bemerkte vier Tafeln, die an einer Wand angebracht waren. Darauf sah er die Entwicklung des ehemaligen Römischen Reiches bis heute. Faszinierend war zu sehen, welche enormen Ausmaße es einst hatte. Davon geblieben ist nur noch die Stadt Rom. Er setzte sich auf eine Bank und hielt einen Moment inne um zu verschnaufen, denn es war schon sehr warm. Den lauen Abend verbrachte er vor seinem Zelt. Was er schon lange nicht mehr getan hatte war, sein Tagebuch weiterzuschreiben. Er musste seine Eindrücke und Erlebnisse festhalten, bevor sie aus dem Gedächtnis verloren gingen. Als es dunkel wurde, zog er sich in sein Zelt zurück und schlief recht bald ein.
In den folgenden Tagen besichtigte er das Pantheon, den Petersdom, die Engelsburg, das Forum Romanum, einige zugängliche antike Villen vergangener Herrscher, die Piazza Navona, den Trevibrunnen und noch vieles mehr - ein Mammutprogramm! Zur Dokumentation all dieser Stationen hatte sein Vater ihm die Kamera geliehen und zusätzlich zwanzig Farbfilme mit je sechsunddreißig Aufnahmen spendiert.
Der Tag der Abreise nahte, und es wurde Zeit, von dieser wundervollen, geschichtsträchtigen Stadt, die Graf Egbert so in sich eingesogen hatte, Abschied zu nehmen.
Am Vorabend seiner Heimreise ging er mit einem Strauß Blumen zu dem Hausbesitzer und der jungen Dame, um sich von ihnen zu verabschieden und sich für die freundliche Aufnahme zu bedanken. Er klingelte. Die junge Frau öffnete lächelnd die Tür und sagte:
„Bitte, reinkommen und eine Wein mit uns trinken!“
Graf Egbert trat ein und wurde in das Wohnzimmer gebeten. Als er sah, dass dort ein Buffet aufgebaut war, sagte er:
„Oh, Sie bekommen noch Besuch, da möchte ich nicht weiter stören.“
Der Hausherr antwortete ihm lächelnd:
„Die Gast ist gerade gekommen.“
Graf Egbert war etwas irritiert, denn er wusste nicht, wie er die Aussage deuten sollte. Die junge Dame ging auf ihn zu und flüsterte:
„Du biste die Gast.“
Jetzt verstand er noch weniger. Warum sollte er bei den Herrschaften eingeladen sein? Er hatte nichts Besonderes getan, was in seinen Augen ein gemeinsames Essen rechtfertigen würde. Sie sah seinen verwirrten Blick meinte nur:
„Sie sein sehr sympathisch.“
Er wollte noch etwas darauf antworten, aber sie machte nur:
„Pst“, und legte den Zeigefinger auf ihren Mund, was so viel bedeuten sollte, dass er bitte schweigen möge, denn alles sei so in Ordnung.
Der Hausherr führte Egbert an das Buffet und ermunterte ihn:
„Bitte, nehmen Sie!“
Graf Egbert war überwältigt von den dargebotenen Speisen, die er teilweise noch nie gesehen hatte, geschweige denn gegessen. Es waren Antipasti, Fleisch- und Fischspeisen, sowie Nudelgerichte aufgedeckt. Alleine der Anblick des Buffets war eine Augenweide für jeden. Zu den Gerichten wurde Rotwein gereicht. Dem armen Grafen gingen die Augen über. Auch wusste er nicht, wer das alles essen sollte bei dieser Unmenge an Speisen. Um nicht unhöflich zu sein, aß er von jedem ein winziges Häppchen und schwelgte in den verschiedenen Geschmacksrichtungen.
Nach einigen Stunden verabschiedeten sie sich, tauschten aber vorher noch Adressen und Telefonnummern aus. Graf Egbert hatte irgendwie das Gefühl, dass man sich wieder sehen würde, konnte aber keine Begründung dafür geben.
Als er sein Zelt betrat um schlafen zu gehen, schaute er noch auf seinen Wecker, der ihm dreiundzwanzig Uhr dreißig anzeigte. Höchste Zeit ins Bett zu gehen, dachte er, denn er sollte am anderen Morgen um fünf Uhr aufstehen. Das würde ihm schwerfallen. Aber was sollte er machen? Wollte er von Luigi mitgenommen werden – wenn er denn überhaupt kam - musste er am verabredeten Treffpunkt sein.
Der Wecker klingelte pünktlich. Egbert packte alles ein und verstaute die Sachen auf dem Gepäckträger seines Fahrrades. Ihm fiel der Abschied von Rom schwer, denn er hatte Menschen getroffen, die ihn mit offenen Armen aufgenommen hatten. Er schwang sich auf sein Fahrrad und schaute noch einmal zurück, aber es war niemand mehr zu sehen. Als er um die Ausfahrt gebogen war, dachte er sich im Stillen: jetzt nur keinen Platten! Aber es ging alles gut. Er stand an dem vereinbarten Treffpunkt und wartete auf Luigi, drehte sich in die Richtung um von der er gekommen war, als wollte er dem Gastgeberpaar nochmals Lebewohl sagen, als ihn ein ohrenbetäubendes Hupkonzert aus allen seinen Gedanken riss. Er sah Luigi mit seinem LKW kommen. Dieser stieg aus und begrüßte ihn derart überschwänglich, dass er nicht wusste, wie ihm geschah. Er dachte sich nur, ich bin doch nicht sein Bruder oder Sohn. Gemeinsam hievten sie das Fahrrad samt Gepäck auf die Ladefläche, verschnürten es, und deckten es mit einer wasserdichten Plane ab.
Als sie Rom hinter sich gelassen hatten, wurde Luigi gesprächig.
„Was Du gemacht in die Roma?“
„Ganz viele Sehenswürdigkeiten angeschaut. Es war wunderbar.“
„Sonste nix?“
Graf Egbert hatte das Gefühl, dass Luigi enttäuscht von seiner Antwort war. Bloß ‚altes Zeug’ angesehen, so zumindest war sein Gesichtsausdruck.
„Du nix junge Signorina?“
„Nein, nicht eine. Aber Du?“
„Ich nix Signorinas. Luigi verheiratet.“
Egbert sah, wie seine Augen bei dieser Aussage leuchteten. Er muss wohl glücklich verheiratet sein. Jetzt machten die Fahrten von ihm ins Ausland Sinn. Er bekam gutes Geld, das er sparen konnte, um für seine Familie und sich ein gesichertes Leben zu ermöglichen.
Die Fahrt verlief ohne weitere Vorkommnisse. Auch die Übernachtungen in den Gasthäusern waren angenehm, bis sie knapp die österreichisch / deutsche Grenze erreichten. Plötzlich ein Knall und Ruckeln des Fahrzeuges. Luigi hielt an, stieg aus und ging um seinen LKW. Dann hörte Egbert wildes Fluchen. Auch er stieg aus und sah, dass der hintere rechte Reifen platt war.
Luigi hatte Gott sei Dank als Ersatz zwei komplette Reifen mit Felgen und Schläuchen, die auch aufgepumpt waren, auf der Ladefläche. So machten sie sich an den Radwechsel. Eine Mutter ließ sich partout nicht lösen. Immer wieder versuchte es Luigi. Egbert sah, wie er sich quälte. Der Schweiß lief in Strömen, aber lösen ließ sich diese eine Mutter nicht.
„Darf ich mal probieren?“
„Wann die Luigi nix kann machen, Du auch nix können“. Er zeigte ihm seine Oberarmmuskeln, die sich unter seinen weiten Hemdsärmeln verbargen.
Egbert nahm einen Hammer, schlug einmal kräftig auf den Mutterkopf, setzte den großen Schraubenschlüssel an und drehte die Mutter erst etwas an, zumindest versuchte er es, dann in die Gegenrichtung. Mit dem zweiten Ruck begann sie sich zu lösen. Luigi war erleichtert und klopfte Egbert anerkennend auf die Schulter.
„Mache gut, danke.“
Nach einer knappen Stunde war das Rad gewechselt, und die Fahrt ging weiter. Die Reparatur hätte keine fünf Minuten länger dauern dürfen, denn sonst wäre der Grenzübergang geschlossen gewesen. Welch ein Glück hatten sie heute! Die beiden Zollbeamten hatten kein Interesse an einer großen Kontrolle. Sie warfen einen kurzen Blick ins Führerhaus, dann auf die Frachtpapiere und die Pässe, stempelten was notwendig war ab und winkten das Fahrzeug durch. Somit hatten sie wieder deutschen Boden unter den ‚Füßen’. Kaum waren sie durch den Zoll gefahren, sahen sie, wie der Schlagbaum heruntergelassen und verschlossen wurde. Die Grenze war somit bis zum anderen Morgen dicht.
Sie fuhren noch eine gute Stunde und beendeten dann ihre Fahrt bei einem Gasthof, den Luigi von früheren Touren kannte. Er schaute auf die Uhr, die genau einundzwanzig Uhr anzeigte. Es war Zeit, etwas Vernünftiges zu essen und zu trinken. Als sie die Treppe hinaufgingen, fragte er:
„Schlafen in die Auto oder in die Haus hier?“
Bevor Egbert etwas sagte, warf er einen Blick in sein Portemonnaie, lächelte Luigi an und antwortete:
„Schlafen wir hier im Haus.“
Sie saßen beide noch eine ganze Weile bei Bier und Rotwein und erzählten sich von ihren Familien. Dann wurde es Zeit, sich ins Bett zu verabschieden.
Nach dem gemeinsamen Frühstück setzten sie die Fahrt fort. Sie kamen, wie auf der Hinfahrt auch, immer wieder an zerstörten Häusern vorbei und sahen auch etliche Bombentrichter, die noch nicht zugeschüttet waren. Auch sahen sie den Wiederaufbau von Gebäuden. Egbert dachte nur, welch ein Wahnsinn dieser verdammte Krieg! Hoffentlich erleben wir dieses Elend und diese Schrecken, die so ein Ereignis mit sich bringt, nie wieder!
Nach mehreren Tagen erreichten sie gegen Abend den Stadtrand von Bremen. Damit war die gemeinsame Fahrt zu Ende. Beide tauschten noch ihre Adressen und Telefonnummern aus. Sie wollten einander nicht loslassen. Was keiner der beiden ahnte: Es sollte eine lebenslange Freundschaft werden, und sie sollten sich noch häufiger sehen als sie sich jetzt vorstellen konnten.
Egbert erreichte sein Zuhause am dritten Tag, nachdem er sich von Luigi verabschiedet hatte. Seine Eltern fielen aus allen Wolken, denn sie hatten mit einer so frühen Heimkehr ihres Sohnes nicht gerechnet. Diese war erst in etwa zwei Monaten vorgesehen.
Es wurde ein langer feuchtfröhlicher Abend bei gutem Essen und Wein. Egbert erzählte ihnen ausgiebig seine Erlebnisse, besonders von den wunderbaren Menschen, denen er begegnen durfte. Zum Schluss sagte er:
„Ich werde Euch immer dafür dankbar sein, dass ihr mir diese Romreise ermöglicht habt. Das werde ich Euch nie vergessen, vielen, vielen Dank.“ Er nahm seine Eltern in die Arme, drückte sie, und gab jedem einen Kuss.
Somit ging ein lang gehegter Traum zu Ende. Egbert sprach noch öfters über die Reise, nachdem er auch sein Tagebuch vervollständigt, und alle Bilder in die Alben eingeklebt hatte. So konnte er manchen Abend mit seinen Erlebnissen füllen.
Für seine Eltern war auch interessant zu sehen, wie positiv sich ihr Sprössling entwickelt hatte. Egberts Mutter meinte nur zu ihrem Gatten:
„Was so eine Reise doch alles ausmacht, nicht wahr?“
Graf Friedolin sah seine Gattin an und sagte mit einem verschmitzten Lächeln:
„Du hast mal wieder recht.“
Wiedersehen mit Luigi
Nachdem Graf Egbert alle seine Bilder in die neuen Alben eingeklebt und auch alles beschriftet hatte, nahmen sich seine Eltern an einem Samstagnachmittag Zeit, um sich seine Fotos anzuschauen. Sie hatten sie vorher nur flüchtig betrachtet, als er sie vom Fotografen abgeholt hatte. Es entspann sich eine lebhafte Diskussion, ob er diese Reise noch einmal wiederholen könnte, nämlich noch bevor er sein Studium beginnen sollte. Die eigentliche Frage aber lautete: welches Fach studieren?
„Papa, kannst Du mir bitte sagen, wer die Reederei führt, wenn Du abwesend bist?“
„Das kann ich Dir sagen, nämlich unser Prokurist, Herr Neulich.“
„Wenn Du irgendwann die Firma nicht mehr leiten möchtest oder sie aus Altersgründen in andere Hände legen willst, wer übernimmt sie dann?“
„Ich hoffe, dass Du einmal mein Nachfolger wirst.“
„Papa, von den Dingen habe ich absolut keine Ahnung.“
„Was hältst Du davon, wenn Du nicht sofort mit Deinem Studium beginnst, sondern erst ein paar Monate in die Firma reinschnuppern würdest? Dann könntest Du alle Abteilungen durchlaufen und danach entscheiden, welche Studienfächer du belegen möchtest.“
„Das ist eine gute Idee. Ich hatte mir einen Studiengang schon vor längerer Zeit ausgewählt, bin mir aber noch nicht ganz schlüssig. Es wäre Jura. Was ich genau nach dem zweiten Staatsexamen machen möchte, wird sich zeigen.“
Vater jubelte insgeheim und fand die mögliche Auswahl sehr gut, da ja auch Verträge geschlossen werden müssen. Leider reicht dieses Studium nicht, da der Wirtschaftsteil fehlt, der enorm wichtig ist.
„Mama, was hältst Du von dem Ganzen?“
„Mein Junge, ich habe davon nicht so viel Ahnung, fände es aber trotzdem gut, wie Du es vorhast. Tue dir bitte selber einen Gefallen. Papa hat so viel Erfahrung. Wenn Du klug bist, und davon gehe ich aus, befolge seinen Rat, auch wenn Du im Moment vielleicht keinen Sinn darin siehst.“
„Papa, was meinst Du dazu, dass ich eventuell Jura studieren will?“
„Es wäre wunderbar, da Du immer wieder mit rechtlichen Dingen konfrontiert sein wirst. Mein Rat wäre jedoch, auch noch Wirtschaftswissenschaft zu belegen. Dann hättest Du eine vorzügliche Grundlage und eine Ausbildung, die sich sehen lassen kann. Ich möchte das wärmstens empfehlen, aber entscheiden musst Du selber, da möchten wir dir in keiner Weise reinreden.“
Egbert schwieg. Seine Gedanken gingen hin und her. Es war nicht einfach für ihn, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Ist Anwalt, Richter oder Staatsanwalt der richtige Beruf für ihn? Und dann noch zwei Studiengänge auf einmal! Nach einer ganzen Weile meinte er:
„Ich werde in Ruhe über den Vorschlag nachdenken. Am Wochenende sollte dann die Entscheidung fallen, da ich meine Studienbewerbung in der Universität abgeben möchte. Eines kann ich euch jetzt schon verraten, ich werde die nächsten Monate in der Reederei arbeiten um zu prüfen, ob das einmal mein Beruf für immer werden könnte. Eine wirkliche Vorstellung habe ich nämlich noch nicht, die wäre mir aber sehr wichtig.“
Graf Friedolin lächelte und meinte nach einer ganzen Weile:
„Wollen wir noch ein Glas Rotwein miteinander trinken? Eigentlich müsste ich noch eine Kleinigkeit für morgen vorbereiten. Ich mag einfach heute nicht mehr. Dafür fahre ich eine halbe Stunde früher als gewohnt ins Büro. Mein Kopf ist leer. Zu viel hatte ich heute um die Ohren. Egbert, könntest Du bitte drei Rotweingläser und den Korkenzieher aus der Vitrine holen? Danke. Ich gehe eben den Wein holen.“
„Egbert, das brauchst Du nicht. Beides ist schon auf dem Tisch nebenan.“
„Mama, kannst Du Gedanken lesen?“
„Manchmal, ja.“ Und damit verließ sie mit einem verschmitzten Lächeln das Wohnzimmer. Graf Friedolin öffnete bedächtig die Flasche und roch, die Augen nach oben gerichtet, am Korken, den er gerade gezogen hatte.
„Hm, wenn der Wein so gut schmeckt wie er riecht, dann ist er wirklich gut. Den habe ich erst vor ein paar Wochen gekauft.“
Er goss die Gläser nur halb voll, damit der Wein sein Bouquet entfalten konnte. Nach einer Weile sagte er dann:
„Auf euer Wohl, ihr Lieben. Möge die Studienfächerauswahl ein gutes Ende finden.“
Es entspann sich noch eine lebhafte Diskussion über die aktuelle Politik, als das Telefon klingelte.
„Egbert, könntest Du bitte abnehmen? Ich bin nur für Herrn Neulich oder Frau Hendrixen zu sprechen.“
Es war bereits zwanzig Uhr dreißig, und keiner wusste, wer denn um diese Zeit noch etwas wollte. Er nahm den Hörer ab:
„Ja bitte?“
Buona sera, Egbert? Luigi ist an die Apparat. Wie dir geht?“
„Luigi, guten Abend. Von wo rufst Du an?“
„Ich bin in die Bremen und morgen fahre ich in die Hafen von Hamburg. Du und ich treffen, o.k.?“
„Ja, gerne. Und wo?“
„An die Kai neun in die Hafen. Du wissen wo ist? Du mich finden und dann essen irgendwo, o.k.?“
„Si, mio amico. Du rufst mich an, wenn Du fertig bist, dann komme ich zu dir. Danke, ich freue mich.“
Noch bevor Luigi etwas sagen konnte, war das Gespräch unterbrochen. Vermutlich hatte er kein Kleingeld mehr.
„Welch eine Freude! Luigi fährt morgen nach Hamburg. Ich werde zu ihm fahren und ihn treffen. Darf ich ihn nach Hause mitbringen, um ihn Euch vorzustellen? Er ist ein ganz feiner und liebenswerter Mensch.“
„Ja, bringe ihn hierher!“
„ Was könntest Du denn kochen?“
„Ich schaue mal in den Vorratskeller, da wird sich schon etwas Passendes finden, mach dir bitte keine Sorgen.“
Egbert war völlig aus dem Häuschen vor Freude. Er hatte nicht damit gerechnet, Luigi so bald wiederzusehen. Dann könnte er ihm auch seine Alben mit den Bildern, die in Rom entstanden sind, in Ruhe zeigen.
Die drei saßen noch eine ganze Weile zusammen und genossen den herrlichen Wein, der, wie auf dem Etikett stand, aus Italien kam. War das reiner Zufall oder wollte Graf Friedolin etwas ganz Neues ausprobieren? Es sah zumindest danach aus. Nachdem auch das letzte Glas geleert war, zogen sich alle drei zurück, um schlafen zu gehen. Sie wünschten sich eine Gute Nacht und gingen zu Bett. Am nächsten Morgen saßen alle frohgelaunt beim Frühstück. Graf Friedolin meinte:
„Egbert, wenn Du Luigi am Kai neun triffst, rufe mich bitte im Büro an, bevor ihr losfahrt. Ich habe keine Ahnung, wie lange er bleiben kann, aber ich möchte diesen Tausendsassa unbedingt kennenlernen. Es bahnt sich geschäftlich etwas an, wobei er behilflich sein könnte.“
„Papa, hast Du für ihn einen Auftrag? Das wäre wunderbar. Dann könnten wir etwas zurückgeben. Er wollte partout kein Geld für meine Mitnahme nach Rom annehmen. Das Äußerste waren zwei Essen einschließlich der Getränke, die er annahm.“
„Das Ganze ist noch nicht endgültig vertraglich vereinbart. Mich würde es aber wundern, wenn das Geschäft nicht zustande käme. Ich habe ein gutes Gefühl dabei.“
Er lächelte und schaute seinen Sohn vielsagend an. Nach kurzem Schweigen sagte er:
„Ich fahre jetzt in die Firma. Wie besprochen, bevor ihr losfahrt, rufe mich bitte an. Ich freue mich sehr auf das Kennenlernen.
Egbert setzte sich an seinen Schreibtisch und begann, seine Studienbewerbung für die Universität zu schreiben. Seine Entscheidung, welche Fächer er studieren will, war gefallen. Er bewarb sich für ein Jura- und ein Wirtschaftswissenschaftsstudium. Es war ihm zwar nicht ganz geheuer mit den beiden Studiengängen, aber vorteilhaft wäre es schon, zumal er erst im Sommersemester des nächsten Jahres beginnen will, sofern die Universität seinem Ansinnen zustimmen würde. Bis dahin wollte er in der Reederei seines Vaters arbeiten, um die Abläufe, die bestimmt spannend sind, näher kennenzulernen. Alles war fertig geschrieben, nur die Kopie des Abiturzeugnisses mit der notariellen Beglaubigung fehlte noch. Das wollte er am Montag alles erledigen. Kaum dass er fertig war, läutete das Telefon. Seine Mutter nahm das Gespräch an und rief laut:
„Egbert, ich glaube Dein Freund Luigi ist am Apparat.“ Er rannte so schnell er konnte die Treppe hinunter und nahm den Hörer, den ihm seine Mutter mit ausgestrecktem Arm reichte. „Danke.“
„Graf Egbert.“
„Hallo, hallo, ist die Luigi an die Apparat. Wann Du kommen in die Hafen zu Kai neun?“
„Ich muss nur noch Schuhe und Jacke anziehen, dann fahre ich mit dem Fahrrad los.“
„Gut. Ich warte. Ciao, bis später.“
Egbert beeilte sich und wäre fast auf Hausschuhen losgelaufen, wenn ihn seine Mutter nicht daran erinnert hätte, doch lieber seine Straßenschuhe anzuziehen.
Die Straßen und Wege, die er fuhr, waren teilweise immer noch in einem katastrophalen Zustand und hatten streckenweise Vorkriegsniveau. Dauernd musste er tiefen Schlaglöchern ausweichen. Er dachte die ganze Zeit, nur jetzt bitte keinen Plattfuß! Nein, bitte nicht heute. Nach für ihn endloser Zeit erreichte er den Kai neun. Dort lag ein großer Frachter, der immer noch entladen wurde. Etwas abseits stand ein LKW mit einem ausländischen Kennzeichen. Er fuhr darauf zu, sah aber seinen Freund nicht. Egbert klopfte heftig an die Fahrertür, und nach wenigen Sekunden tauchte ein verschlafenes Gesicht hinter der Fensterscheibe auf. Es war Luigi, der sich die Wartezeit mit einem Nickerchen vertrieben hatte. Er öffnete die Tür und stieg aus seinem Fahrerhaus. Es ertönte ein Jubelschrei. Beide lagen sich minutenlang in den Armen.
„Luigi, mein Freund. Es ist wunderbar, dich wiederzusehen. Ich habe so oft an dich gedacht und mich gefragt, wann wir uns wieder begegnen werden. Ich freue mich so sehr.“
„Egbert, Du gut aussehen. Ich habe große Freude auf die Wiedersehen.“
„Luigi, ich lade mein Fahrrad auf deinen LKW, und dann fahren wir zu meinen Eltern. Sie laden dich zum Essen ein und möchten dich unbedingt kennenlernen.“
„Zu die Eltern? O.k, aber musse Blumen haben. Luigi nix gehen ohne Blumen.“
Egbert verlud sein Fahrrad und stieg ins Fahrerhaus.
„Wo ist das Telefon, von wo aus Du mich angerufen hast? Ich muss meinen Vater anrufen, bevor wir zu uns nach Hause fahren.“
Er deutete an, dass die Telefonzelle da hinten sei, also in entgegengesetzter Richtung. Sie fuhren los und erreichten bald das Häuschen. Gott sei Dank telefonierte niemand, so dass Egbert sofort seinen Vater anrufen und ihm sagen konnte, dass sie jetzt losfahren würden.
Die Route zu seinem Haus gab Egbert vor, da er die Strecke genau kannte. Luigi schimpfte in seiner Sprache über den desolaten Zustand der Straßen.
„Mama mia. Straße nix gut für meine Auto und die Reifen. Warum so kaputt?“
Egbert verkniff sich, auf die Frage zu antworten. Er wusste, dass der Straßenzustand immer noch auf den Krieg zurückzuführen war. Nachdem die Rüttelstrecke beendet war, fuhren sie in ein vornehmes Wohngebiet, in dem die Straßen gut ausgebaut waren. Nach kurzer Strecke sagte Egbert:
„Bitte da vorne anhalten, dann sind wir da.“
Luigi stelle seinen LKW halb auf den Bürgersteig, der immer noch breit genug war für die Fußgänger.
„Was, Du hier wohnen in die Palast?“
„Ja, hier wohnen wir.“
Er wollte erst gar nicht mitkommen. Plötzlich fiel ihm ein:
„Nix Blumenstrauß. Wir zurück mussen fahren.“
Er ließ sich nicht bewegen, ohne diesen zu seinen Eltern zu kommen. Es halfen keine guten Worte, sie fuhren wieder zurück. Sie hatten Glück und fanden einen Blumenladen, der gerade schließen wollte, da Mittagspause war. Die Verkäuferin ließ beide doch noch in das kleine Geschäft. Luigi suchte ein paar Blumen aus, bezahlte den Strauß, und beide fuhren wieder los. Egbert war ganz schön nervös. Er war gespannt, was seine Eltern sagen würden. An der Haustür angekommen, klingelte er, denn er wollte, dass seine Eltern öffnen und er sie nicht mit Luigi im Wohnzimmer überrascht. Nach einer Weile öffnete sich die Tür, und Graf Friedolin mit seiner Gattin standen vor ihm.
„Mama, Papa, darf ich Euch meinen Freund Luigi Bonavista vorstellen? Er war es, der mich mit seinem LKW nach Rom gefahren hat.“
„Guten Tag, Herr Graf, Guten Tag, Frau Gräfin.“
Er begrüßte sie formvollendet mit einem Handkuss und überreichte ihr den Blumenstrauß, der ihm so wichtig war.“
„Herr Bonavista, seien Sie herzlich willkommen. Bitte treten Sie ein!“
Graf Friedolin führte Luigi ins Wohnzimmer und bot ihm einen Sitzplatz an. Er wartete jedoch so lange mit dem Hinsetzen, bis auch die Gräfin saß, die noch die Blumen in eine Vase stellte und auf dem Tisch platzierte.
Egbert war über Luigis Verhalten höchst erstaunt. Das hatte er von einem ‚einfachen’ Lastkraftwagenfahrer nicht erwartet.
„Hat Ihnen mein Sohn gesagt, dass Sie bei uns zum Mittagessen eingeladen sind? Ich hoffe, Sie haben einen anständigen Hunger mitgebracht.“
„Luigi nix viel essen wann fahren die Auto.“
Er lächelte sie an. Irgendwie fanden die Eltern Gefallen an dem ‚jungen Mann’, der sich einerseits ungezwungen benahm, aber souverän auftrat. Vor allem aber mochten sie sein italienisches Deutsch. Es klang so wunderbar in ihren Ohren.
„Herr Bonavista, bitte gestatten Sie mir eine persönliche Frage. Sind Sie selbständig oder sind Sie bei einer Firma angestellt?“
„Ich bin halbe meine Chefe, und halbe angestellt.“
Der Graf konnte sich keinen Reim auf seine Antwort machen. In seinem Verständnis gab es nur entweder die Selbständigkeit oder als Angestellter bei einer Firma zu arbeiten. Er wollte jetzt auch nicht indiskret werden und ließ es auf sich beruhen. Seine Vermutung war, dass es eine italienische Variante gab, die ihm aber noch nicht bekannt war, zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Aus dem Esszimmer rief eine Stimme:
„Bitte zum Essen kommen, ich decke jetzt auf!“
Die drei Herren begaben sich in Richtung Esszimmer, als Egbert bemerkte:
„Hm, das duftet wunderbar. Findet Ihr das nicht auch? Ja, Mama ist eine fantastische Köchin.“
Sie setzten sich an den geschmackvoll gedeckten Tisch. Luigi faltete, bevor er den Suppenlöffel nahm, die Hände und murmelte etwas auf Italienisch, das die anderen nicht verstanden und bekreuzigte sich am Ende.
„Buon appetito!“
„Einen gesegneten Appetit!“
Als Vorspeise hatte die Gräfin eine Blumenkohlsuppe serviert. Das Hauptgericht bestand aus einer Fischpfanne, zu der sie Reis und Salzkartoffeln reichte, und als Nachspeise gab es ein Zitronensorbet. Keiner sprach während des Essens ein Wort. Nach dem letzten Bissen meinte Graf Friedolin genüsslich:
„Meine Liebe, Du hast heute mal wieder gezaubert. Das Essen war vorzüglich, vielen Dank.“
„Danke, mein Lieber. Es war mal wieder etwas anderes.“
„Signora, die Essen war perfetto. Grazie mille.“
Die Gräfin brachte allen noch einen frisch aufgebrühten Kaffee und reichte dazu ein paar Plätzchen, die sie zuvor von ihrem Lieblingsbäcker gekauft hatte. Das Schlimme war jedoch, dass sie so gut schmeckten, dass man nicht aufhören konnte, sie zu essen. Sie waren der reinste Genuss.
Graf Friedolin ließ die Aussage seines Gastes, er sei halb selbständig und halb angestellt nicht los. Er fragte sich, wie er das verstehen soll. Man kann doch nicht je die Hälfte sein, oder?
„Herr Bonavista, wie darf ich Ihre Aussage verstehen, Sie seien zur Hälfte angestellt und zur Hälfte selbständig?“
„Herr Graf, wann ich fahre nach die Deutschland bin ich angestellt, fahre ich nach Italia bin ich selbständig oder auch beides.“
Graf Friedolin schmunzelte still vor sich hin, als Egbert das Wort ergriff:
„Papa, Luigi arbeitet im Angestelltenverhältnis, wenn er eine Tour nach Deutschland für die Firma seines Chefs fährt. Hat diese keine Ladung für Italien, versucht Luigi etwas zu bekommen, das er dann auf eigene Rechnung transportiert. Das bedeutet, Geschäfte an seinem Chef vorbei in die eigene Tasche. Das passiert auch schon mal für Fahrten nach Deutschland, wenn auf dem LKW noch Platz ist. Wie sagte er es einmal so schön: ‚musse jeder leben‘. So ist halt die italienische Lösung.“
Graf Friedolin musste herzhaft lachen, aber auch darüber, wie begriffsstutzig er heute war.
„Herr Bonavista, könnten Sie sich vorstellen, auch für uns zu fahren?“
Luigi überlegte eine Weile. Ihm schossen die Gedanken hin und her. Dann meinte er:
„Naturlich. Aber die LKW nix mir gehören. Ich kann was mitnehmen und fahren, wenn meine Chef nix zum Mitnehmen hat. Manchmal muss ich nach die Munchen, um dort etwas aufladen und nach die Milano fahren.“
Schweigen von allen. Irgendwie musste es doch eine Lösung geben, auch wenn sie auf die italienische Art wäre. Die Gräfin hatte das Gespräch mitbekommen.
„Mein Lieber, warum kauft die Reederei keinen LKW, der auch gebraucht sein kann, stellt ihn Herrn Bonavista zur Verfügung, und er bezahlt ihn in Raten ab? So wie ich dich in der Vergangenheit verstanden habe, verlangen hiesige Spediteure, wenn sie überhaupt nach Italien fahren, horrende Summen. Dafür könnte die Firma auch ein Fahrzeug kaufen.“
„Himmel, darauf hätte ich auch kommen können! Heute scheint absolut nicht mein Tag zu sein. „Herr Bonavista, bitte seien Sie so nett und geben mir ihre kompletten Kontaktdaten wie Adresse, Telefon- und Kontonummer. Ich lasse einen Vertrag ausarbeiten und schicke Ihnen diesen zu. Vorher vereinbaren wir telefonisch die Frachtraten für die Fahrten. Der noch zu kaufende LKW wird ein gebrauchtes Fahrzeug sein, jedoch in einem erstklassigen Zustand, denn Sie fahren mit ihm große Strecken. Was halten Sie von meinem Vorschlag?“
Luigi konnte nicht glauben, was er gehört hatte. Befand er sich noch in einem Tagtraum oder war das die Realität? Er überlegte eine ganze Weile, denn seine Gedanken gingen kreuz und quer durch seinen Kopf. Wenn er zusagen würde, müsste er seinem Chef, der auch noch sein Schwager war, kündigen. Eigentlich geht so etwas überhaupt nicht, denn die Familie steht immer an erster Stelle. Was sollte er jetzt nur antworten? Ihm war bewusst, dass dieser Vertrag eine Vereinbarung für eine längere Zeit sein würde und ihm, sowie seiner Familie, ein gutes Einkommen ermöglichte. Graf Friedolin sah an seinem Gesichtsausdruck, welch innere Kämpfe er austrug und sagte nach einiger Zeit:
„Sie müssen sich jetzt nicht entscheiden. Überlegen Sie alles später in Ruhe mit Ihrer Frau. Sie sollte auch Bescheid wissen, da Sie viel unterwegs sein werden. Sollten Sie sich gegen einen Vertrag mit uns entscheiden, bedeutet das nicht den Abbruch unserer Beziehungen.“
Luigi atmete auf, denn das Hintertürchen war gefunden.
Egbert saß stumm wie ein Fisch in seinem Sessel und verfolgte gespannt die ganze Zeit das Hin und Her, ob ja oder nein. Am Ende lächelte er Luigi an und sagte zu ihm:
„Ich habe alle Fotos in Alben geklebt und beschriftet. Darf ich sie dir zeigen? Ich möchte auf keinen Fall unhöflich sein, aber darf ich fragen wann Du wieder fahren musst?“
Er schaute auf seine Uhr, die fünfzehn Uhr anzeigte.
„Musse fahren in die halbe Stunde. Wann Du viele Fotos haben, dann heute nix.“
„Ich möchte dir wenigstens ein Album zeigen. Da sind Bilder, auf denen du zu sehen bist.“
Sie blätterten das Album durch und blieben bei einem Foto, auf der eine bildschöne junge Frau zu sehen war.
„Schone Frau. Bella Donna!“ Er nickte mit dem Kopf, um seiner Bewunderung für die junge Dame noch mehr Ausdruck zu verleihen. Das Album war zu Ende geschaut, und seine Uhr zeigte fünfzehn Uhr dreißig. Er stand auf und sagte mit trauriger Stimme:
„Musse heute noch fahren nach die Hannover und Ladung abliefern. Wann die Straßen so schlecht wie in die Hamburg, Luigi brauchen noch viele Stunde fahren.“
Das verstand jeder, dass er jetzt gehen musste. Graf Friedolin war schon eine ganze Weile nicht mehr im Herrenzimmer, als er mit einem Paket in seinem Arm zurückkehrte.
„Herr Bonavista, darf ich Ihnen noch etwas mitgeben?“ und drückte ihm ein Paket in die Hände.