ad Judith N. Shklar - Hannes Bajohr - E-Book

ad Judith N. Shklar E-Book

Hannes Bajohr

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Beschreibung

Judith N. Shklar gilt als wichtigste Theoretikerin des Liberalismus im 20. Jahrhundert und steht in ihrer amerikanischen Heimat gleichberechtigt neben Größen wie Hannah Arendt oder John Rawls. Bekannt vor allem für das Konzept des "Liberalismus der Furcht" ist ihr Werk ungleich vielfältiger, umfasst ideengeschichtliche Studien nicht weniger als Reflexionen über Ungerechtigkeit und Staatsbürgerschaft. "ad Judith Shklar" nimmt sich der Denkerin in ihrer ganzen Komplexität und in drei Schritten an: Eine ausführliche Werkbiografie gibt einen umfassenden Überblick über ihr Leben und Schaffen; sie erzählt die Fluchtgeschichte der Emigrantin Shklar während des Zweiten Weltkriegs sowie die Schwierigkeiten, denen sie als Frau in ihrer akademischen Karriere ausgesetzt war. Unter dem Titel "Judith Shklar heute" untersucht der zweite Teil die Aktualität ihres Denkens am Beispiel von drei drängenden Themen: • Wie können in einer liberalen Demokratie die Stimmen der Opfer ungleich verteilter Macht gehört und repräsentiert werden? • Wie muss der Begriff politischer Ungerechtigkeit im Kontext der Klimakrise neu justiert werden? • Und wie lassen sich die aktuellen Fragen nach Flucht, Migration und Integration mit Shklars politischer Theorie verstehen? Eine detaillierte Bibliografie, die für das Studium ihres Werkes unerlässlich ist, schließt den Band ab. Judith Shklar, 1928 – 1992, war eine aus Riga stammende Politologieprofessorin an der Harvard University. Sie gilt als die wichtigste Theoretikerin des Liberalismus im 20. Jahrhundert.

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Hannes Bajohr / Rieke Trimçev

ad Judith N. Shklar

Leben – Werk – Gegenwart

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book (EPUB)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2024

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Foto: Courtesy Harvard University Archives

Alle Rechte vorbehalten.

EPUB: ISBN 978-3-86393-591-7

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

ISBN 978-3-86393-133-9

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de

Für Inhalte Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Inhalt

1.Einleitung

2.Werkbiografische Skizze

3.Shklar heute

3.1.Aus Sicht der Opfer: Mit ihnen, über sie und für sie sprechen

3.2.Passive Ungerechtigkeit in Zeiten des Klimawandels

3.3Staatsbürgerschaft – eine Frage der Loyalität?

3.4Fazit: Die Aktualität des Liberalismus der Furcht

4.Judith N. Shklar:Vollständige Bibliographie

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

1. Einleitung

Das Werk der amerikanischen Politiktheoretikerin Judith Nisse Shklar erscheint heute aktueller als bei ihrem Tod vor drei Jahrzehnten. Im September 1992, als Shklar wenige Tage vor ihrem 65. Geburtstag einem Herzinfarkt erlag, war der Kalte Krieg bereits an ein Ende gekommen, die ehemals mächtige UdSSR in fünfzehn unabhängige Staaten zerfallen und die DDR in der Bundesrepublik aufgegangen. Shklar bekam es noch mit: Der westliche Liberalismus hatte ganz offensichtlich triumphiert. Der Einzug der Marktwirtschaft und demokratische Reformen in Osteuropa würden den Kontinent freier und friedlicher machen, war die Hoffnung vieler westlicher Kommentator:innen. Mit ihrer charakteristisch skeptischen Haltung und der steten Mahnung, sich weder von offenbaren Fortschritten zu hoffnungsvoll stimmen zu lassen, noch die immerwährende Gefahr von Furcht, Grausamkeit und Unterdrückung zu vergessen, schien Shklar damals wie aus der Zeit gefallen.

Heute, dreißig Jahre später, ist die Situation eine völlig andere. Statt dem endgültigen Sieg des Liberalismus sehen wir einer erneuten Systemkonkurrenz entgegen. Die Hoffnung, dass sich in Europa und der Welt nun Frieden ausbreiten würde, ist enttäuscht worden. Bewaffnete Konflikte nehmen weltweit erneut zu und in der Ukraine findet „vor unserer Haustür“ ein Angriffskrieg statt. Die Mobilisierungserfolge populistischer Parteien und Politiker:innen in den USA und Europa haben die liberale Demokratie in den letzten Jahren eher als abgewirtschaftetes Modell denn als zukunftsfähiges System abgestempelt und ihr explizit die Drohung einer „illiberalen Demokratie“ entgegengesetzt. Und auch hierzulande wächst die Zahl jener stetig, die mit autoritären, nationalistischen und rechtsextremen, mit dezidiert antiliberalen Positionen liebäugeln.

Dass liberale Politik und liberales politisches Denken, sollten sie denn kein „Ende der Geschichte“ zeitigen, auch nur wünschenswert wären, ist heute umstrittener denn je. Im traditionalistischen Spektrum wird der Liberalismus eher als Dekadenzerscheinung betrachtet – sei es als angebliche Lizenz zur egozentrischen Nabelschau diverser Minderheiten oder als Mob gewordene Vollstrecker einer twitternden „Cancel Culture“. Dass sich auch Liberalkonservative dieser Kritik anschließen, zeigt zudem, wie unklar es ist, ob es den Liberalismus überhaupt gibt. Von links wird er, gern mit dem angehefteten Präfix „Neo-“, des Übels eines in die Verästelung aller Lebens-, Arbeits-, und Beziehungsbereiche vordringenden Kapitalismus bezichtigt oder als politisch zahnloser Quietismus, mitunter reine Besitzstandswahrung kritisiert. Triumphalismus sieht anders aus.

In dieser Situation wird Judith Shklar wieder neu entdeckt. Ihr Werk scheint wie geschaffen für einen Moment, in dem liberales Denken von allen Seiten unter Druck gerät. Vor allem ihr Essay „Der Liberalismus der Furcht“, veröffentlicht im Schicksalsjahr 1989, scheint als kraftvolle Artikulation eines selbstbewussten, dabei aber auf das Wesentlichste reduzierten Liberalismus geeignet, zweifelnden Liberalen Trost, Orientierung und sogar Kampfeswillen zu spenden. Dem Liberalismus der Furcht gehe es, so fasste Shklar denkwürdig und knapp diese mit Montaigne und Montesquieu beginnende Linie zusammen, nicht um positive Hoffnungen, sondern allein um die Vermeidung eines höchsten Übels: „Dieses Übel ist die Grausamkeit und die Furcht, die sie hervorruft, und schließlich die Furcht vor der Furcht selbst.“1 Das klingt nach einer zwar minimalen, aber doch eindeutig normativen Theorie, mit der Shklar Liberalen eine klare Handlungsregel an die Hand gibt. Mehr noch, diese Regel – eine Vermeidungsregel – ist durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und auch Shklars eigene Biografie unterfüttert. Geboren in eine jüdische Familie im Riga der Zwischenkriegszeit musste sie 1939 über Russland und Japan erst nach Kanada, dann in die USA flüchten. So scheint ihr eigenes Leben als Exilantin und Entkommene des Holocausts die Plausibilität ihrer liberalen Theorie zu verbürgen, die den Grausamkeiten der Gegenwart gewachsen ist.

Wenn das nicht falsch ist, so ist es doch verkürzt. Shklars Liberalismus – das ist die Annahme, die diesem Buch zugrunde liegt – formuliert weniger klare politische Handlungsanweisungen als eher eine Methode, politische Urteilskraft zu entwickeln. Mehr als einmal hat Shklar sich selbst als Skeptikerin bezeichnet: Ihre Zweifel richten sich vor allem auf die Annahme, dass man für den Bereich des Politischen überhaupt unumstößliche Regeln festlegen könne, die auf konkrete Situationen nur noch angewandt werden müssen. Ihr Buch Legalism (1964) wie auch die Studie Über Ungerechtigkeit (1992) sprechen beide von den Grenzen eines solchen regelgeleiteten Denkens: Weder das Recht noch die Ethik dürften allein nach dem Modell des Tribunals gedacht werden, vor dessen Autorität sich jeder Fall klar und für alle offensichtlich entscheiden ließe oder für dessen Entscheidungen jeweils eine Letztbegründung gegeben werden könne. Noch mehr gilt das für die Politik, die viel zu häufig in rechtlichen oder deontologischen, also in regelartigen Begriffen gedacht wird.

Regeln haben ihren Platz im normalen Gefüge moderner Gesellschaften, aber sie sind nicht alles, was es gibt – die grundsätzliche Ausrichtung eines Rechtssystems kann nur außerhalb seiner selbst gewährleistet werden und jede Ethik muss offen sein für Fälle, die nicht in ihr Raster passen. Statt auf Regeln zu setzen und ideale Systeme zu konstruieren, geht es vielmehr darum zu zeigen, dass niemand an der Politik vorbeikommt. Ihre hitzige Sprache besteht aus Aushandlungen, Machtentscheidungen, Kompromissen, Debatten und Protesten, nicht aus dem kalten, automatischen Kalkül eines Rechtsoder Moralformalismus, in dessen Rigidität die Welt ein für alle Mal verstanden, aufgeteilt und verarbeitet worden ist.

Dieses Buch behauptet, dass Shklars Projekt eher eine ausdauernde Übung in politischer Urteilskraft ist. Natürlich hat auch der Liberalismus der Furcht Maximen und Hoffnungen, die aber nur als Leitlinien für eine unendlich komplexe Wirklichkeit dienen. Politisches Denken ist für Shklar stets ein Denken im Bewusstsein der Bodenlosigkeit von Politik. In Abwesenheit von festen Regeln und letzten Sicherheiten zu handeln erfordert Urteilskraft, und um liberal zu handeln ist eine liberale Urteilskraft vonnöten, die nicht zuletzt die Verletzlichkeit von Personen und die Fragilität von Institutionen im Bewusstsein hält, auch wenn es gerade einmal aufwärts gehen sollte. Daher darf als Antwort auf die Frage „Was würde der Liberalismus der Furcht zu diesem Phänomen sagen?“ nicht mit Praxisrezepten gerechnet werden, sondern eher mit einer verfeinerten Beschreibung und einer Ein- und Abgrenzung von besseren und schlechteren Handlungsoptionen. Shklars Skeptizismus, an festen Regeln zweifelnd, zielt auf die genaue Beobachtung, die begriffliche Nuancierung und das politische Urteil, das immer wieder revidiert und angepasst werden muss, wenn neue Fakten aufzunehmen und vor allem neue, vorher ungehörte Stimmen zu hören sind.

Diese Abwesenheit von festen Handlungsregeln sollte aber kein Grund zur Enttäuschung sein. Im Gegenteil verleiht diese Perspektive Shklar eine Flexibilität, die sie zu einer dringend nötigen Vermittlungsfigur macht. Sie lässt sich weder einem auf die Bewahrung des Status quo ausgerichteten Liberalismus zuordnen, der liberale Politik auf die institutionelle Sphäre und die Gewährung von Rechtssicherheit beschränkt, noch zur identitätspolitisch-emanzipatorischen Linken. Was sie aber attraktiv macht, glauben wir, ist die Tatsache, dass sie auf eine produktive Weise zwischen den Stühlen sitzt und zwischen diesen Positionen vermitteln kann. Anders als der klassische Liberalismus ist Shklar hellhörig für die Artikulation von Ungerechtigkeiten durch Marginalisierte; und anders als die eher kommunitaristische Linke misstraut sie Gemeinschaften und hält am Individuum als Nullpunkt politischer Entscheidungen fest. Ihr Liberalismus ist gerade nicht minimalistisch oder konventionell, wie man nach der Lektüre ihres „Liberalismus der Furcht“ meinen könnte, sondern hat eine progressive, auf politische Gestaltung setzende Komponente, ohne utopisch zu werden.

Das zeigt sich exemplarisch an ihren Antworten auf drei Grundfragen des liberalen Denkens: Welche Rolle spielt der Staat in einem liberalen Gemeinwesen, und wie tief darf er in die gesellschaftliche Sphäre eingreifen? Wer ist ein:e Staatsbürger:in, und welche Anforderungen stellt ein liberales Gemeinwesen an diese Rolle? Und schließlich: Wie genau bewahrt liberales Denken in seinen Antworten auf diese Fragen den für es konstitutiven individualistischen Kern?

Für Shklar besitzt zwar der Staat das größte Potenzial zur Unterdrückung, doch muss heute Ähnliches zum Beispiel auch von mächtigen Konzernen befürchtet werden. Deswegen verteidigt Shklar staatliche Eingriffe in den Markt und wohlfahrtsstaatliche Umverteilung als effektive Möglichkeit, solche Ungleichheiten zu verhindern, die Quellen von Furcht und Grausamkeit werden können – ohne allerdings staatliche Umverteilung als prinzipiellen Wert an sich zu verteidigen. Auch gilt ihr der Staat als eine fragwürdige Einrichtung, die alle in ihr Lebenden über den gleichen Kamm allgemeiner Regeln schert und individuelle Erfahrungen nivelliert, aber gerade deshalb auf die stete Wachsamkeit einer engagierten Bürgerschaft angewiesen ist. In Form des Nationalstaats neigt er zudem zu Krieg und Grausamkeit, ist aber auch die einzige Institution, die solche Grausamkeiten zu beenden vermag.

Ähnlich differenziert fällt Shklars Sicht auf Staatsbürgerschaft aus: Einerseits betont sie immer wieder, dass Staatsbürgerschaftsrechte nie an prinzipiell exkludierende Voraussetzungen gebunden sein dürfen. Andererseits gibt es bestimmte demokratische Charakterzüge, die ein Staat fördern dürfen muss. Zwar sollen Bürger:innen sich für ihre Mitmenschen einsetzen und für sie ihre Stimme erheben, aber nicht so, dass dadurch die Stimmen der so Verteidigten übertönt werden. Auch sind kollektive Identitäten und die in ihnen kultivierte Solidarität oft ein Grund für Marginalisierung, vor der Individuen geschützt werden müssen; zugleich aber können Gruppen auch ihre eigenen Mitglieder unterdrücken, für deren Schutz dann von außerhalb gesorgt werden muss. Und obwohl in einer liberalen Demokratie Debatten und die Auseinandersetzung im Gespräch vorherrschen sollen, darf man sich doch nicht der Illusion hingeben, dass sie ganz ohne den Diskurs verzerrende Machtpositionen stattfinden.

Dieses Buch ist sowohl eine Einführung in Shklars Denken als auch dessen Erprobung an Fragen der Gegenwart. Es begreift Shklars unorthodoxe Position als Chance, nicht nur ihr Werk bekannter, sondern auch ihre Einsichten im Hier und Heute fruchtbar zu machen. Das Buch gliedert sich daher in zwei Teile.

Der erste Teil liefert eine ausführliche Werkbiografie, die einen leicht zugänglichen wie umfassenden Überblick über Shklars Leben und Schaffen gibt. Sie ist für jene gedacht, die sich für die Person Shklar, ihren historischen Hintergrund und die chronologische Entwicklung ihres Werks interessieren. Der zweite Teil erprobt die Urteilskraft des Liberalismus der Furcht an drei Themen unserer politischen Gegenwart. Erstens wenden wir uns den Kontroversen um die sogenannte Identitätspolitik zu, die oft für einen inflationären Gebrauch des Opferbegriffes und fragwürdige Opferkonkurrenzen verantwortlich gemacht wird. Wir diskutieren mit Shklar, wie man Opfer erkennt, wie man über sie spricht und wie man sie selbst zu Wort kommen lässt. Zweitens beschäftigen wir uns ausgehend von den Herausforderungen des Klimawandels mit der Frage, ob Ungerechtigkeiten stets Folgen aktiver Handlungen sein müssen. Hier kann Shklar helfen zu verstehen, wann auch das Unterlassen und Nichthandeln eine Ungerechtigkeit darstellen kann. Drittens wenden wir uns den anhaltenden Debatten um Migration und Staatsbürgerschaft in einer Einwanderungsgesellschaft zu. Ausgehend von Shklars Überlegungen über Loyalitäten und politischen Verpflichtungen von unfreiwillig Exilierten und Geflüchteten in liberalen Gemeinwesen zeigen wir, was aus diesen Diskussionen für eine liberale Konzeption von politischen Verpflichtungen aller Staatsbürger:innen zu lernen ist. Das Buch schließt mit einer kompletten Bibliografie aller von Shklar zu Lebzeiten und posthum veröffentlichten Schriften.

Bei all diesen Themen, so möchten wir zeigen, kann Shklar uns Prinzipien an die Hand geben, mit denen wir zwar keine klare Handlungsanweisungen formulieren, aber unsere Urteile bilden, überprüfen und schärfen können. Dass wir bei all diesen Ausführungen keine Neutralität beanspruchen können, ist ebenfalls ein an Shklar geschulte Einsicht: Jeder hat ideologische Präferenzen, die auch die Interpretationen leiten. Wir sehen in Shklar eine Linksliberale mit Hang zu sozialdemokratischen Positionen, die konservativen wie wirtschaftsliberalen Tendenzen eine klare Absage erteilt; wir teilen diese Haltung, auch wenn wir ihre Grenzen erkennen. Sie zu entwickeln – an Shklars Denken entlang, aber mit einem Blick für die Gegenwart – ist Ziel dieses Buches.

ad Judith N. Shklar hätte es ohne Irmela Rütters nicht gegeben. Wir danken ihr für die Einladung, unsere Reflexionen über den Liberalismus der Furcht in dieser Reihe der Europäischen Verlagsanstalt zu veröffentlichen und so die Fäden eines langjährigen Austausches noch enger zusammenzuweben. Unser Dank für die hervorragende Betreuung im Hause der EVA gilt auch Christoph Claussen, der das Manuskript äußerst umsichtig lektoriert hat. Ruth Schachter und Marion Kane, der Schwester und der Nichte Judith N. Shklars, danken wir für die Einblicke in private Fotoarchive und die Erlaubnis, einige bisher unbekannte Familienbilder in diesem Buch abzudrucken. Michael und Gerald Shklar und den Harvard University Archives sei für die Möglichkeit gedankt, aus dem Nachlass von Judith N. Shklar zu zitieren.

2. Werkbiografische Skizze

In ihrem Nachruf auf Hannah Arendt schrieb Judith Nisse Shklar 1975 über die Philosophin, dass „für sie und ihre Zeitgenossen das Exil die tiefste und unmittelbarste Erfahrung“ ihres Lebens gewesen sei. Dass Shklar sich womöglich selbst zu diesen Zeitgenoss:innen zählte, bemerkte sie höchstens indirekt. „Man kann den Leiden der Exilanten nur sehr schwer unmittelbar Ausdruck verleihen, und es ist unmöglich, sie denen zu erklären, die sie nie erfahren haben.“1 In der Gesellschaft der Vereinigten Staaten, in der es niemanden mehr gab, der den letzten Krieg auf amerikanischem Boden noch selbst erlebt hatte, war diese Erfahrungsdiskrepanz der Abgrund, der zwischen den zwei großen Gruppen von Intellektuellen klaffte – zwischen jenen, denen ihre Flucht aus dem Europa des Zweiten Weltkriegs eine, wie Arnold Schönberg sie bitter nannte, „Vertreibung ins Paradies“ bedeutete,2 und den dort Geborenen, für die die Emigration höchstens noch als verblassender Familienmythos Präsenz besaß.

Judith Shklar kannte die Leiden des Exils. Sie verliehen ihr eine intellektuelle Perspektive, die sich von der ihrer alteingesessenen Landsleute unterschied. Ihre Differenzen mit Michael Walzer etwa, dem sie bis zu ihrem Tod in persönlicher Freundschaft verbunden war und in Fragen von Rechten, Staatsbürgerschaft und gemeinschaftlich geteilten Werten heftig widersprach, beschrieb sie als einen „Dialog zwischen einer Exilantin und einem Staatsbürger“ (VLE 56–57). Aber gleichzeitig war sie bei ihrer Ankunft in Nordamerika zu jung, um die USA mit gänzlich europäischen Augen zu betrachten und jene für viele der älteren Flüchtlinge typische melancholische Distanz anzunehmen. Mochte die Erfahrung einer erzwungenen Emigration eine gerade für die politische Philosophie hilfreiche Sensibilität mit sich bringen, so barg sie doch die Gefahr, den Sinn für die Gegenwart zu verlieren.

Nicht weniger als die naive Zuversicht der amerikanischen Immigrantenkinder missfiel Shklar die „Nostalgie, die unter Exilanten so verbreitet ist.“3 Wer nur noch Exilant:in ist, hat „keine Zukunft, nur eine Vergangenheit. Der eigene Charakter wird durch das Exil nicht besser.“4 Shklar wählte einen dritten Weg, der darin bestand, sich jener Vergangenheit zu stellen, die sie auch selbst so geprägt hatte, ohne ihr völlig zu verfallen. Als Mittel dazu diente ihr eine durch Geschichtsbewusstsein und literarische Einfühlungskraft mit Welt angereicherte politische Theorie. Diese sei „eine komplexe Reaktion auf eine grundlegende Leidenschaft“, schrieb sie einmal. „Es muss persönlich erfahrene politische Ereignisse geben, die ein anhaltendes Interesse daran schaffen, die entscheidende Frage zu stellen: ‚Wie kann man all dies überhaupt denken?‘“5 Dass die eigene Biografie den Grundimpuls liefert, heißt dabei freilich nicht, dass sie dieses Denken auch völlig bestimmte, und es wäre falsch, Leben und Werk Judith Shklars ganz aufeinander zu reduzieren. So sehr sie auch mit der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und ihrer eigenen rang, weder war sie geneigt, sich einem unhistorischen Optimismus hinzugeben, noch Nostalgie für die alte Welt zu empfinden, der nachzutrauern sie ohnehin wenig Grund besaß.

Das Elternhaus: Aron und Agnes

Die alte Welt, das war in ihrem Fall das Riga der Zwanzigerjahre. Als Judita Nisse wird sie am 24. September 1928 als jüngste von drei Töchtern in eine wohlhabende, gebildete und liberale deutschsprachige jüdische Familie geboren. Lettland, erst seit zehn Jahren eine eigenständige Republik, befindet sich in einer Phase angespannter Ruhe. Der Befreiungskrieg gegen die Sowjetunion, der mit seinen konkurrierenden Faktionen, mit seinem roten wie seinem weißen Terror auch ein blutiger Bürgerkrieg war, liegt sogar nur acht Jahre zurück. Und nicht viel mehr als zehn Jahre werden dem Land als unabhängigem Staat noch vergönnt sein.

Schon das Leben der Eltern ist von den Turbulenzen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, von Erstem Weltkrieg und Russischer Revolution geprägt. Der Vater Aron Nisse, genannt Ronja, Jahrgang 1889, stammt aus bescheidenen Verhältnissen und wächst als eines von fünfzehn Kindern streng religiöser Russisch und Jiddisch sprechender Bauern im Dorf Jaunjelgava auf, einem Schtetl südlich von Riga.6 Mit vierzehn wird er, wie alle seine Geschwister, zu Verwandten in die Stadt geschickt. Nach Beendigung der Schulzeit folgt er seinem Lieblingscousin Fritz Berner nach St. Petersburg, der dort zum Ingenieur ausgebildet wird. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, meldet sich Aron in Russland als Freiwilliger: Er begeistert sich für den Krieg, steigt in der Armee schnell auf und wird bald mit der Fahrausbildung von Rekruten betraut. Der Familienlegende zufolge macht Majakowski bei ihm den Führerschein (OH I,11).7 Die Oktoberrevolution beendet seine militärische Karriere. Als zaristischer Offizier rechnet er sich unter den Bolschewiki kaum Chancen aus und verlegt sich darauf, defekte Militärfahrzeuge zu reparieren und auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, wofür er ins Gefängnis geworfen wird und erst 1919 wieder freikommt.8 Zurück in Riga, gründet er mit Fritz eine Reihe von Unternehmen, deren Geschäftsfelder sich vom Straßenbau bis hin zum Handel mit synthetischem Kaffee erstrecken, bis er stellvertretender Direktor der Ölimportfirma Latrus wird, die er schließlich aufkauft.9 Ende der Zwanzigerjahre sind die beiden sehr reiche Männer, die ihren wirtschaftlichen Projekten eher aus Langeweile denn aus Notwendigkeit nachgehen. Zu ihrem kleinen Imperium gehören eine Schokoladenfabrik in Palästina und eine Leimfabrik in Riga. Shklar berichtet, dass ihr Vater ihr am Ende seines Lebens sagte, ein halbwegs intelligenter Mensch müsse nicht mehr als zwei Stunden am Tag aufwenden, um ein großes Vermögen anzuhäufen (OH III,7). Vom Schokoladenhersteller, Marke Elite, bleibt Shklar ihr Leben lang Anteilseignerin.

Bringt Aron in die von ihm gegründete Familie Geld ein, so steuert die Mutter – seine Cousine, die Schwester von Fritz – Bildung bei. Geboren 1888 in Riga als Agnes Berner, wächst sie in gutbürgerlichem Hause auf. Ihr Vater Josif, der zur deutschsprachigen jüdischen Gemeinde gehört und eher kaiser- als zarentreu ist, heiratete in eine verarmte, aber gesellschaftlich höher stehende Familie ein. Seine Frau Mariana ist hochgebildet und weitgereist, besitzt ein baccalauréat vom französischen Lyzeum in Riga, spricht Deutsch, Französisch, Russisch und hat Latein gelernt. Mariana legt größten Wert auf die akademische Bildung ihrer Kinder. Nachdem sie ihren Sohn zusammen mit Aron nach Petersburg geschickt hat, lässt sie ihre zwei Töchter in der Schweiz die letzten Schuljahre beenden und in Lausanne die Universität besuchen. Agnes studiert Medizin, erlangt schließlich den Doktorgrad und publiziert in verschiedenen Fachzeitschriften. Aber auch sie erlebt Krieg und Revolution. Als sie nach Abschluss ihres Studiums wieder nach Riga heimkehrt, muss sie an der Front Lazarettdienst leisten, bevor sie nach Moskau in eine Kinderklinik verlegt wird. Setzte sie anfangs große Hoffnungen in die Revolution, fällt sie hier angesichts der Vorzugsbehandlung der Funktionärskinder schnell vom Glauben ab. Nachdem Aron auf wahrscheinlich nicht ganz legalem Weg aus dem Gefängnis freikommt, sind die beiden gezwungen, für eine Weile in Russland im Untergrund zu leben, bis sie die richtigen Papiere für ihre Rückkehr nach Riga organisieren können.

Anfang der Zwanzigerjahre endlich kehren sie heim. Agnes eröffnet nach einer Weiterbildung zur Kinderärztin, die sie in Berlin absolviert, eine kostenlose Pädiatrie im Rigaer Elendsviertel. Sie setzt damit die Tradition ihrer Mutter fort, die sich in der jüdischen Gemeinde karitativ engagiert hatte. Aber von der altmodischen Almosenkollekte ist sie weit entfernt: Sie hat eine moderne, organisierte Form von Wohltätigkeit im Sinn, die stark von der deutschen Sozialdemokratie beeinflusst ist. Während Agnes ihre Klinik führt, geht Aron seinen Geschäften nach. Als Judita, genannt Dita, 1928 geboren wird, scheint es, als sei es mit den Wirren nun schon lange vorbei.

Kindheit in Riga: Kultivierte Abgrenzung

Doch auch jetzt ist die Ruhe in Riga nur äußerlich. Um 1930 leben hier 370 000 Einwohner. Die ethnischen Lett:innen machen nur etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus, der Rest besteht aus russisch-, deutsch- und jiddischsprachigen Minderheiten. Die jüdische Gemeinde, vergleichsweise jung und erst seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts offiziell geduldet, ist in sich gespalten: Neben wohlhabenderen assimilierten Jüdinnen und Juden, die sich kulturell nach Deutschland orientieren, ist der größte, Jiddisch sprechende Teil ärmer und tief religiös.10 Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen stehen einander nicht selten offen feindselig gegenüber, und trotz einer kurzeitigen Liberalisierung – in der mit Zigfrīds Anna Meierovics ein Jude erster Außenminister und später sogar Ministerpräsident war – ist der Antisemitismus, befeuert durch die sozialen Tumulte der Nachkriegszeit, auf dem Vormarsch. Die gesellschaftliche Labilität ist in der politischen gespiegelt: Gegründet als Demokratie, wird Lettland schon 1934 nach dem Staatsstreich des früheren Ministerpräsidenten Kārlis Ulmanis in ein autoritäres Regime überführt.

In einem Rückblick auf ihre Kindheit beschreibt Shklar die Atmosphäre in der lettischen Hauptstadt als äußerst angespannt: „Diese Gesellschaft war in vielerlei Hinsicht durch und durch korrupt. Sie war korrupt in der Weise, dass die zu politischer Macht Gekommenen lange Zeit unterdrückte Landarbeiter gewesen waren und ihre Machtausübung finanziell wie militärisch skrupellos genossen. Es gab genügend gescheite Leute, zumeist den Weißen nahestehende Russen und Juden, die die Hoffnungslosigkeit der Lage erkannten und der Mentalität des carpe diem folgten. Zudem war es eine Gesellschaft, in der jeder an jedem Tag seines Lebens Feindseligkeiten zu spüren bekam und in der eine Armut herrschte, die schwer zu beschreiben ist. Ein Kind auf dem Schulweg morgens um acht wurde auf der Strecke dreier Blocks von mindestens drei Bettlern angesprochen. Man musste immer damit rechnen, einen Mann regungslos vor Trunkenheit oder Erschöpfung auf dem Gehsteig liegen zu sehen. Jede Familie, egal welcher Einkommensschicht, hatte Angehörige, die von Almosen lebten.“ (OH I,3)

In dieser Umgebung erziehen die Eltern ihre Töchter im Bewusstsein kultivierter Abgrenzung: „Sie setzten ein absolutes Vertrauen in die moralischen und intellektuellen Fähigkeiten ihrer Kinder und behandelten uns dementsprechend, was den äußersten Kontrast zwischen meiner Familie mit ihren hohen persönlichen Maßstäben und einer absolut verkommenen Welt unübersehbar machte. Und das impfte uns eine gewisse Skepsis, wenn nicht gar Zynismus ein.“ (LL 264) Freilich ist diese distanzierte Haltung nicht unbegründet: „Für das Leben der Juden wurde der Antisemitismus zum entscheidendsten Faktor, ob sie nun Geld hatten oder nicht. […] Diejenigen, die gebildet und wohlhabend waren, und davon gab es einige, schienen unter der Diskriminierung nicht besonders zu leiden. Im Gegenteil, sie akzeptierten den Antisemitismus als ein Zeichen der allgemeinen Dummheit der Gojim. Dennoch war es unsinnig, zu ignorieren, dass man in eine Gesellschaft geboren worden war, deren große Mehrheit einen lieber tot als lebendig gesehen hätte. Und dieses Wissen hält in einer solchen Gesellschaft schon früh Einzug in das eigene Leben“. (OH I,2–3)11

Weder Aron noch Agnes Nisse sind praktizierende Juden. Während der Vater höchstens im Jahrestakt eine Synagoge betritt, versteht sich die Mutter als dezidiert religionsfeindlich (OH I,3). Vor allem als Reaktion auf die äußere Zuschreibung bleibt das Bewusstsein der eigenen Identität in einer solchen Umgebung trotzdem stets gegenwärtig. So lernen Shklar und ihre Schwestern Hebräisch, nicht das der Thora allerdings, sondern das moderne Iwrit; ihr Vater hatte sich nach seiner Rückkehr aus Russland zum überzeugten Zionisten entwickelt und spielte lange mit dem Gedanken einer Emigration nach Palästina. „Wir wussten, dass wir Juden waren. Und wir wurden dazu erzogen, jeden um uns herum zu hassen, weil jeder uns hasste.“ (OH II,7)12 Doch selbst eine solche Abgrenzung gegen die feindliche Umgebung kann es nicht verhindern, dass in einem eigentümlichen Synkretismus herrschende Grundwerte und -tugenden übernommen werden. „Uns wurde aber auch beigebracht, und dies war ebenfalls ein Teil unserer Kultur, dass es wichtig ist, hart zu sein, dass man bei physischem Schmerz nicht weinen darf, dass körperliche Fitness wesentlich ist, dass Sport und sportlicher Erfolg Tugenden sind.“ (OH II,7) Dita und ihre Schwestern gehören dem jüdischen Sportbund Makkabi an, der seine Mitglieder blau-weiß uniformierte. Dieser Militarismus, berichtet Shklar später, lag überall in der Luft und „unterschied sich nicht sehr von der Hitlerjugend. Alles und jeder war davon infiziert.“ (OH II,6) Auch harte Arbeit, Selbstbeherrschung, Pflichterfüllung haben im Nisse-Haushalt einen hohen Stellenwert. „Rücksicht für sich selbst einzufordern, galt gewissermaßen als Ausdruck schlechter Manieren, als Charakterschaden, den man für vulgär hielt.“ (OH II,7)

Diese Werte – man mag in ihnen, wie später Seyla Benhabib, ein „Preußentum“ erkennen13 – impft vor allem Agnes ihren Kindern ein. Sie verknüpfen sich leicht mit ihren sozialdemokratischen Überzeugungen, die auf ihre Zeit in der Schweiz und Deutschland zurückgehen. „Es war ein prinzipiengeleiteter Sozialismus, der Wert darauf legte, einen jeden zu guten Staatsbürgern zu machen. Ein Sozialismusmodell, das mit dem russischen nichts zu tun hatte.“ (OH I,10)14 Umstürzlertum liegt Agnes Nisse fern. „In meiner Familie gab es recht besehen wenig revolutionäre Neigungen. Die Revolution repräsentierte für meine Eltern eher eine entmutigende persönliche Erfahrung.“ (OH I,13) Als Agnes später im katholischen Montreal, wo Verhütungsmittel verboten sind, in einer jüdischen Jugendorganisation Sexualkunde unterrichten soll, übergeht sie das Thema: „Meine Mutter legte es nicht darauf an, das Gesetz zu brechen. Linke Politik hin oder her, aber das Gesetz wurde nicht gebrochen, schließlich wurden wir in Deutschland, oder zumindest in der deutschen Kultur erzogen.“ (OH III,9) Dass Shklar ihr Leben lang keinen Fuß auf deutschen Boden setzen wird, ändert an dieser Sozialisation wenig.15

Beide Eltern arbeiten viel, allein die Mutter verbringt regelmäßig Zwölfstundentage in ihrer Klinik. Um die Erziehung von Dita und der mittleren Schwester Ruth kümmern sich hauptsächlich Kindermädchen. Ruth beschreibt ihr Leben in Riga aus der Rückschau als für die Zeit „typisch bürgerlich“. Die Wohnung liegt in einem prächtigen Wohnhaus im Neobarockstil in der Dzirnavu iela (Mühlstraße) 58 im Rigaer Zentralbezirk. Dennoch scheint den Eltern die Spannung zwischen ihrer sozialdemokratischen Gesinnung und ihrem bürgerlichen Leben zu denken gegeben zu haben: „Da meine Eltern den Prunk der nouveaux riches verachteten, hatten wir kein eigenes Auto, besuchten staatliche Schulen und besaßen keine besonders ausgesuchte Kleidung oder teures Spielzeug. Dennoch waren wir uns bewusst, dass wir in größerem Komfort, ja sogar Luxus lebten als der Großteil der Bevölkerung.“16

Als es Zeit ist, in die Schule zu gehen, weigert sich Dita so beharrlich, dass die Eltern sich nicht anders zu helfen wissen, als einen Privatlehrer zu engagieren, der ihr zu Hause Lesen und Schreiben beibringt. Mit acht Jahren greift die Schulpflicht, und sie wird auf die Rigaer Ezra-Schule geschickt, eine Neugründung, die auf den Ausschluss von Jüdinnen und Juden von den deutschen Gymnasien nach 1936 zurückging. Als jüdische Schule fällt sie unter eine gesetzliche Minderheitenregelung, was bedeutet, dass Hebräisch unterrichtet und jüdischer Religionsunterricht gegeben werden muss, Lettisch jedoch als Verkehrssprache dominiert.17 Dass „allerdings neun Zehntel der Kinder Deutsch sprachen und aus bürgerlichen Familien stammten, die an diesen Fächern kein Interesse hatten, machte die Erziehung sehr schwierig.“ (OH II,5) Man findet eine Lösung: „Sobald die Tür zufiel, wurde der Unterricht natürlich auf Deutsch gehalten, weil wir andernfalls weder Mathematik noch etwas anderes hätten lernen können. Nicht, dass ich überhaupt viel gelernt hätte – ich mochte die Schule nicht. Sie langweilte mich zutiefst.“ (OH II,5–6) Diese Klage wird Shklar später noch öfter ausstoßen. Dennoch ist der Unterricht anspruchsvoll, man legt gleichermaßen Wert auf eine humanistische wie auf eine naturwissenschaftliche Bildung. Vor allem Sprachen haben Gewicht: Neben Hebräisch und Lettisch wird Dita im Französischen, Deutschen, Englischen und Russischen unterrichtet. Nach der Schule besucht sie Sprachtutorien und Klavierstunden. Sie ist eine gute Schülerin, aber bringt nicht viel Leidenschaft für den Unterricht auf. „Ich döste während der Stunden. Mir machte der Sportunterricht Spaß, und das war’s.“ (OH II,6–7)

Die Flucht: Achtzehn Monate von Riga bis Montreal

Zwei Katastrophen beenden im September 1939 das relativ friedliche Interim der Familie. Die erste ist der drohende Kriegsausbruch, der die Nisses dazu veranlasst, ihre sofortige Ausreise zu planen. Er hatte sich bereits mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt angekündigt und die Stationierung sowjetischer Truppen im Baltikum tat ein Übriges, eine Unheil verkündende Atmosphäre zu schaffen. Ruth Nisse soll auf ein Internat in England und besucht dazu eine englische Vorbereitungsschule in Riga, auch wenn sie davon überzeugt ist, dass der Krieg bald ausbrechen müsse und sich alle Internatspläne zerschlagen werden.18 Die älteste Schwester Miriam, genannt Mira, soll in den USA Medizin studieren.19 Der Vater will sie begleiten und die restliche Familie später nachholen. Ihm erscheint Europa zusehends als „Mausefalle“ und früh kümmert er sich um Visa; seine Befürchtungen werden durch den Kriegsausbruch bestätigt.20

Die zweite Katastrophe ist für Dita weit traumatischer. Wenige Tage vor ihrer Abreise kommt Mira ums Leben. Sie erstickt, wohl wegen eines defekten Gasboilers, im Badezimmer der Rigaer Wohnung. Die Umstände sind unklar, die Spekulationen reichen von Selbstmord bis zur Sabotage durch den deutschen Hausmeister; wahrscheinlich aber ist es ein bloßer Unfall (OH II,9–10).21 Auch noch mehr als vierzig Jahre später wird Shklar den Tod der Schwester als das Schrecklichste bezeichnen, das ihr je widerfahren ist (OH II,9). Die Familie ist wie paralysiert, die Eltern sind unfähig, Pläne zu machen, obwohl gerade für den Großfabrikanten und ehemaligen Zarenoffizier Aron klar ist, dass seine „Überlebenschancen unter den Russen gleich null waren und wir sofort etwas unternehmen mussten. Der Grund für seine Flucht 1939 waren nicht die Deutschen, wie für viele andere, sondern die Russen, weil er aufgrund seiner Vergangenheit nicht überlebt hätte.“ (OH II,12)

Schließlich fällt Fritz Berner für die erstarrte Familie eine Entscheidung. Keine Woche nach Miras Tod „packte er uns alle auf ein Luftschiff und schickte uns nach Schweden. […] Wir wollten nicht gehen und ich bin mir sicher, dass meine Eltern es vorgezogen hätten zu bleiben.“ (OH II,10)22 Als Konsequenz des Hitler-Stalin-Pakts beginnt die UdSSR noch im selben Jahr, ihren Einfluss auf Lettland auszuweiten, was 1940 in der Besetzung kulminiert. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion wechselt die Besatzungsmacht, und die Deutschen nehmen am 1. Juli 1941 die Hauptstadt ein. Fritz überlebt den Krieg nicht; wie alle anderen Mitglieder der Familie wird er im Rigaer Ghetto ermordet und fällt im Winter 1941 dem Massaker der SS an Rigaer Jüdinnen und Juden im Wald bei Rumbula zum Opfer, bei dem an zwei Tagen 25 000 Menschen erschossen werden.23 „Wir wären nicht davongekommen, wenn meine Schwester nicht gestorben wäre und mein Onkel nicht das Heft in die Hand genommen hätte.“ (OH II,11) Dita ist elf Jahre alt, als sie Riga verlässt. Später erzählt sie, der Vater habe ihr beim Abschied gesagt, dass ihre Kindheit nun vorüber sei.24

Die erste Etappe ihrer Flucht ist für die Nisses zunächst noch erträglich. Sie erreichen am 27. September 1939 Stockholm und bleiben etwa neun Monate.25 Die Schwestern integrieren sich schnell in das gesellschaftliche Leben der Stadt und beginnen sogar, miteinander Schwedisch zu sprechen. Wichtiger noch ist die liberale Atmosphäre, die der Familie etwas völlig Unbekanntes bietet: „Es war unsere erste Erfahrung mit der Abwesenheit von Antisemitismus.“ (OH II,19) Auch den Eltern gefällt das Land. Aron, der einen Großteil seines Vermögens retten kann, fasst schnell Fuß und erhält ein Stellenangebot bei einer Handelsbank. Aber mit dem Fortschreiten des Krieges – die Deutschen besetzen im April 1940 Dänemark und Norwegen – scheint Schweden nicht mehr sicher. Agnes versucht erst, ihre Eltern nachzuholen; als das scheitert, entscheidet sich die Familie, ihrer Flucht eine neue Station hinzuzufügen.26

Ein Bekannter drängt sie, nach Kanada auszureisen, wo man gegen den Kauf einer gewissen Menge Land und dem Vorsatz, als Farmer zu arbeiten, ein Visum erhält. Geld ist für die Familie das geringste Problem; unterstützt von Mark Sorensen, einem Vertreter der kanadischen Eisenbahn, der für die Visumsvergabe in Skandinavien zuständig ist, lässt sich Aron wahrheitswidrig bescheinigen, Landwirt werden zu wollen, und erwirbt, mit einer Farm bei Cornwall, Ontario, auch eine Einreiseerlaubnis.27 Problematischer ist, dass der einzige mögliche Weg zu diesem Zeitpunkt über die Sowjetunion führt. Besonders Aron setzt sich mit diesem Fluchtkorridor großer Gefahr aus, aber es bleibt ihm keine andere Wahl. Mit falschen Papieren reisen die Nisses nach Tallin und anschließend, in einem „überfüllten Zug voller jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und der früheren Tschechoslowakei“ über Leningrad nach Moskau, um dort einen vom Roten Kreuz für Flüchtlinge bereitgestellten Sonderzug der Transsibirische Eisenbahn zu besteigen.28 Aron erweist sich, so wird später in der Familie erzählt, auch hier als guter Geschäftsmann: „Er kaufte eine große Menge an damals sehr beliebten Mickey-Mouse-Uhren. Diese extravagante Investition erlaubte es ihm, auf der Reise die russischen Wächter zu bestechen, um Essen zu erhalten und gelegentlich den Zug verlassen zu können.“29 Nach zwölf Tagen Fahrt unter für die Familie ungewohnt schlechten Hygiene- und Versorgungsbedingungen erreichen sie endlich Wladiwostok und setzen nach Japan über, in die Hafenstadt Tsuruga, zu der europäische Flüchtlinge im sonst abgeschotteten Land noch Zugang haben. Die Hoffnung auf Sicherheit erfüllt sich aber auch hier nicht: Arons Gelder, die in einer New Yorker Bank lagern, sind mit einem Mal blockiert; weil Lettland inzwischen zur UdSSR gehört, hat die Bank sie eingefroren. Noch bevor er das kanadische Visum erwerben kann, muss er nun persönlich nach New York reisen, um sein Geld auszulösen.

Am 2. Juli 1940 geht die Familie in Yokohama für die zwölftägige Überfahrt nach Seattle an Bord der M. S. Heian Maru. Nachdem das amerikanische Transitvisum und die Einreiseerlaubnis für Kanada nach mehr als zwei Monaten Flucht verfallen sind, besteht Ditas erster Kontakt mit Amerika in einem Internierungslager für illegale Einwanderer:innen. Zwischen Prostituierten und chinesischen Flüchtlingen teilt sich die Mutter mit den Kindern eine Zelle, während Aron, nach allen Rückschlägen psychisch am Ende, in Einzelhaft genommen wird. Agnes’ robuster Pragmatismus und ihre langjährige Erfahrung als Ärztin zahlen sich aus, sie behält die Nerven und wehrt mit der Flasche ausbedungenen Desinfektionsmittels die Typhusgefahr ab. Aber es gibt weder Verwandte noch Freund:innen in den USA und so niemanden, der für die Familie bürgen und sie aus dem Lager holen kann. Nur ein glücklicher Zufall in Gestalt amerikanischer Religionsfürsorge bewirkt ihre Freilassung: „Jemand entschied, dass man sich unseres religiösen Wohlergehens annehmen müsse, und so schickten sie uns zwei Rabbis.“ Bei seinem Besuch empört sich einer der Geistlichen über die Situation, „dass eine Dame und zwei adrett gekleidete und wohlerzogene, Oxford-Englisch sprechende Kinder mit Prostituierten zusammengepfercht waren“ (OH II,16). Er weiß um die Macht der öffentlichen Meinung und benachrichtigt die örtliche Presse. Am 29. Juli 1940 zeigt ein großes Foto im Seattle Post-Intelligencer die in der Tat adrette Familie Nisse; der Begleittext beschreibt sie als untypische, weil gebildete und großbürgerliche Flüchtlinge, die endlich das gelobte Land erreichen.30 Der Artikel zeigt Wirkung, und am nächsten Tag sind die Nisses frei.31 Mit einem befristeten Aufenthaltsvisum können sie ihre Reise nach New York fortsetzen, wo der Vater schließlich das langersehnte kanadische Visum erhält.

Judita ist zwölfeinhalb, als sie in Montreal eintrifft und ihre mehr als achtzehnmonatige Flucht ein Ende hat. Wie zum Zeichen der Endgültigkeit ihrer Ankunft ändert sie ihren Namen bei der Einreise in Judith.

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„Wenn man mich nach den Auswirkungen dieser Abenteuer auf meinen Charakter fragen würde“, schreibt Shklar später trocken, „würde ich sagen, dass sie in mir einen bleibenden Hang zu schwarzem Humor hinterlassen haben.“ (LL 264) Allerdings unterschlägt diese Selbstbeschreibung den psychologischen Tribut, den die Flucht von der Familie fordert. Die Kinder entfremden sich von den Eltern und hegen ihnen gegenüber für einige Zeit reflexhafte Verachtung. „Wir machten sie plötzlich für all unser Elend verantwortlich. […] Wir machten sie dafür verantwortlich, jüdisch zu sein.“ (OH II,22) Aber auch bei den Eltern selbst hinterlässt die Flucht tiefe Spuren. Der inzwischen herzleidende Vater, wohlhabend und – trotz neuer Investitionen, wie einer Fabrik für Angorawolle und eines weiteren Schokoladewerks, Marke Mary Lee32 – mit zu viel Zeit zum Nachdenken ausgestattet, scheint vor allem „mit einiger Bitterkeit die Geschichte seit 1914 vor seinem geistigen Auge Revue passieren“ (OH III,8) zu lassen, während die Mutter sich um nichts anderes als seine Pflege kümmert. Für Dita bedeutet das: „Seit meinem zwölften Lebensjahr hatte ich mein Leben so ziemlich selbst in der Hand und traf die meisten meiner Entscheidungen, was Bildung und allgemeines Wohlergehen anging, allein.“ (OH III,1) Der Ausspruch ihres Vaters vor der Flucht bewahrheitet sich: „Ich hatte nichts, was man eine Jugend hätte nennen können.“ (OH III,1)

Montreal, der neuen Heimat, bringt Judith wenig Zuneigung entgegen. „Es war keine Stadt, die man leicht lieb gewann. Politisch wurde sie durch ein Gleichgewicht aus ethnischer und religiöser Missgunst zusammengehalten.“ (LL 264) Anders als in Schweden gibt es hier einen spürbaren Antisemitismus, auch wenn er nicht die extremen Formen annimmt, die er in Riga besessen hatte. Es sind eher subtile Stiche als handfeste Bedrohungen. Viele private Institutionen und Vereine etwa nehmen keine Jüdinnen und Juden als Mitglieder auf. Die Nisses sehen darin wieder die so vertraute antisemitische Ignoranz, die hier aber noch durch die weitverbreitete völlige Ahnungslosigkeit weltpolitischer Vorgänge verstärkt wird. Bis auf die Existenz von Lebensmittelkarten spielt der Krieg im Leben der Stadt keine Rolle, was die Nisses, die seine Auswirkungen gerade noch am eigenen Leib gespürt hatten, gegenüber den Einheimischen nur weiter isoliert. Aber auch zur traditionellen Klasse aufstrebender Immigrant:innen gehören sie nicht.

„Die Einwanderungsgeschichte Kanadas und der Vereinigten Staaten war vor allem von Menschen geprägt, die um einer Ausbildung und eines ordentlichen Lebensstandards willen kamen. Für uns war das schulische und intellektuelle Klima Montreals ein desaströser Abstieg, und wir waren nicht bereit, kulturell bescheiden zu sein. Wir waren keine bettelnden Einwanderer. Uns ging es, was Finanzen und Bildung betraf, sehr gut.“ (OH III,3) Kulturelle Ablehnung wie intellektuelle Überlegenheit spürt Judith vor allem in der protestantischen Mädchenschule, die sie in Montreal besucht. Obwohl sie mehrere Klassen überspringt, langweilt sie der anspruchslose Unterricht wieder maßlos. Ihre Bildung holt sie sich anderswo, in Bibliotheken und aus den elterlichen Bücherregalen. Bereits in Riga war in ihr ein Lesehunger erwacht, der sie nicht mehr loslassen wird. Ihr erstes Buch und eine frühe Lieblingslektüre ist eine deutsche Übersetzung von David Copperfield. Uriah Heep, Dickens’ kriecherischer Jasager, wird ihr in Ganz normale Laster