TEXT + KRITIK Sonderband  - Digitale Literatur II - Hannes Bajohr - E-Book

TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II E-Book

Hannes Bajohr

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Beschreibung

Literatur ist so digital wie die Gesellschaft, in der sie stattfindet. Heute sind Rezeption und Literaturproduktion weitestgehend von digitaler Technik bestimmt. Und doch lassen sich Unterschiede ausmachen, inwieweit die unter den Bedingungen einer digital bestimmten Lebenswelt produzierte Literatur auch diese Bedingtheit reflektiert. Im Gegenwartsroman, in dem Digitalität vor allem auf Beschreibungsebene Eingang findet, werden die Parameter klassischer literarischer Form selten angetastet. Weiter gehen Experimente in sozialen Medien, in denen die Tools der Plattformen neue Schreibweisen hervorbringen. Und wieder Bedeutung gewonnen hat jene Tradition, die man genuin digitale Literatur nennen kann und die nicht nur nebenbei und instrumentell digitale Technik verwendet, sondern ihre Werke ganz wesentlich durch Computer, Algorithmen oder neuronale Netze produziert. Der Sonderband schreibt die erste Bestandsaufnahme digitaler Literatur in TEXT+KRITIK aus dem Jahr 2001 fort und hebt die Differenzen und Kontinuitäten hervor, die sich in diesem Feld seitdem ergeben haben. Als Diskussion des State of the Art in technischer wie literarischer Hinsicht ist er eine Momentaufnahme einer im Umbruch befindlichen Literatur.

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Digitale Literatur II

Herausgegeben von Hannes Bajohr und Annette Gilbert

TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur. SONDERBAND

 

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

 

Redaktion:

Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Michael Töteberg

Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus

Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,

Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

 

Print ISBN 978-3-96707-548-9 E-ISBN 978-3-96707-550-2

 

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: Hannes Bajohr, nach einer Idee von Gregor Weichbrodt

 

 

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021 Levelingstraße 6a, 81673 Münchenwww.etk-muenchen.de

Inhalt

Hannes Bajohr / Annette Gilbert Platzhalter der Zukunft: Digitale Literatur II (2001 → 2021)

Gregor Weichbrodt On the Road

Eine Liste

Thorsten Ries Digitale Literatur als Gegenstand der Literaturwissenschaft. Ein multimodales Forschungsprogramm

Elias Kreuzmair Die Zukunft der Gegenwart (Berlin, Miami). Über die Literatur der ›digitalen Gesellschaft‹

Kathrin Passig Cocktail Fubar

Unendlicher Stress (mit Gregor Weichbrodt; Auszug)

Jasmin Meerhoff Verteilung und Zerstäubung. Zur Autorschaft computergestützter Literatur

Annette Gilbert Kollaterales Schreiben. Digitale Kollaboration im Zeitalter von Crowdworking und Algotaylorismus

Jasmin Meerhoff aufgestaut

Dîlan Canan Çakir / Anna Kinder / Sandra Richter Computerspiele und Literatur. Schnittmengen, Unterschiede und offene Fragen

Sarah Berger Instagram-Collagen

33

Niels Penke Populäre Schreibweisen. Instapoetry und Fan-Fiction

Berit Glanz »Bin ich das Arschloch hier?« Wie Reddit und Twitter neue literarische Schreibweisen hervorbringen

Fabian Navarro / Selina Seemann der balkon der natur

wir sind die, die gratulieren

Kathrin Passig Wenn man nicht alles selber schreibt. Sieben Gründe für das Generieren von Texten

Karl Wolfgang Flender Do Conceptualists Dream of Electric Sheep? Algorithmische Interpretation des Unbewussten in Conceptual Writing und konzeptueller Codeliteratur

Jörg Piringer entropie

Jörg Piringer dunkelheit

Andreas Bülhoff Zeichenkodierung und digitale Textkunst

Alexander Waszynski Reflexive Immersion. Zur Lesbarkeit korpusbasierter digitaler Poesie

Allison Parrish Compasses

Hannes Bajohr Künstliche Intelligenz und digitale Literatur. Theorie und Praxis konnektionistischen Schreibens

Christiane Frohmann Vom Verlegen. Ein Wirkstättenbericht

Nick Montfort Complaint / Polytropon

Hannes Bajohr / Annette Gilbert Auswahlbibliografie

Notizen

Hannes Bajohr / Annette Gilbert

Platzhalter der Zukunft: Digitale Literatur II (2001 → 2021)

Fortsetzung und doch zugleich wieder nur Momentaufnahme

Die voranschreitende Digitalisierung macht auch vor der Literatur nicht halt. Heute ist nicht nur die Rezeption, sondern auch jeder Schritt der Literaturproduktion – die sich nicht mehr auf den klassischen Betrieb beschränkt – nahezu ausnahmslos von digitaler Technik bestimmt. So ist Literatur stets so digital wie die Gesellschaft, in der sie stattfindet. Damit ist die Ausgangssituation 2021 eine andere als 2001, da der erste TEXT+KRITIK-Band »Digitale Literatur« erschien. Getragen von der Aufbruchsstimmung der 1990er Jahre galt ›das Digitale‹ seinerzeit noch immer als das Kommende. Gerade das literarische Feld betraf das erst in einem sehr begrenzten Bereich. Heute dagegen stehen wir mitten in einer Gesellschaft, die sich, im Partizip Perfekt, als bereits »digitalisierte« versteht.1

TEXT+KRITIK hat die Wechselwirkung von Literatur und Digitalität früh erkannt. Der von Roberto Simanowski herausgegebene Band ist weiterhin ein wichtiges Dokument der Auseinandersetzung mit digitaler Poetik und Praxis. Doch weil sich Wandel im Digitalen nicht nur technisch, sondern auch konzeptuell und poetologisch besonders schnell vollzieht, sind 20 Jahre ein Quantensprung, der es nahelegt, dieser Ausgabe eine zweite folgen zu lassen. Sie nimmt zum einen die Entwicklungen der letzten zwei Dekaden in den Blick. Zum anderen führt sie den Beweis, dass die »Hochphase digitaler Literatur« keineswegs, wie jüngst ein Rezensent meinte, »in den 1990er Jahren« lag und »Dissertationen zum Thema (…) ihren Gegenstand schon als einen historisch gewordenen erscheinen« lassen.2 Weniger ist die digitale Literatur historisch geworden als vielmehr ein bestimmter Begriff von ihr und ein damit bezeichnetes, eher enges Feld literarischer Produktion und literaturwissenschaftlicher Beobachtung. Der Auseinandersetzung mit den poetischen Möglichkeiten des Digitalen konnte die eingeschlafene akademische Diskussion nichts anhaben – wie die reiche Textgrundlage dieses Bandes beweist, floriert sie heute mehr denn je.

Zugleich liegt auf der Hand, dass in einem solch dynamischen Umfeld auch der vorliegende Band nur eine Momentaufnahme des technischen und ästhetischen state of the art sein kann. Sinnbild dieses Selbstverständnisses als Dokument einer fluiden literarischen Landschaft ist einerseits die Aufnahme künstlerischer Positionen in diese Ausgabe: Sie repräsentieren ausgewählte Tendenzen des Feldes und vertiefen das Spektrum der literaturwissenschaftlichen Analysen; ihre Auswahl soll weniger eine historische Entwicklung abdecken als den Moment gegenwärtiger digitaler Literaturproduktion darstellen. Für diesen transitorischen Charakter steht andererseits auch das Ladezeichen, das den Titel dieses Bandes ziert. Das spinner genannte (und normalerweise animierte) Symbol zeigt an, dass eine Anwendung geladen wird. Es markiert so ein besonderes Gegenwartsverhältnis – ein Jetzt, das auf eine unmittelbar zu erwartende, gewissermaßen infradünne Zukunft verweist.

Gregor Weichbrodt: »Loading Book«, Berlin 2018, o. S. Foto: Andreas Bülhoff.

Inspiriert ist die Titelgestaltung von Gregor Weichbrodts »Loading Book« (2018), das in der Tradition visueller und konzeptueller Poesie steht und eben jene transitorische Zeitlichkeit von Interfaces zum Thema hat; es zeigt gleichfalls einen spinner auf dem Titel. Im Buchinneren greift Weichbrodt – der im vorliegenden Band mit einem weiteren künstlerischen Beitrag vertreten ist – auf eine zweite Interface-Gestaltung zurück, die sogenannten skeleton screens (vgl. Abb.). Diese oft grau gehaltene, stilisierte Darstellung von Inhaltselementen mahnt die User nicht nur zur Geduld, sondern imitiert abstrakt das Layout der zu ladenden Webseite oder Applikation und nimmt so das Kommende vorweg. Skeleton screens erwecken den Eindruck, dass die Anwendung schneller lädt als sie es tatsächlich tut, und intensivieren so noch einmal den Zeitbezug des Ladezeichens. Beide sind Platzhalter der Zukunft, die den Moment eines bevorstehenden Wandels visuell als stetigen Übergang gestalten. Damit ist auch das Feld digitaler Literatur bestens illustriert, das gleichfalls im ständigen Wandel begriffen ist und zwischen Entwürfen von Zukünftigkeit vermittelt. Dass Weichbrodt dieses Sinnbild digitaler Zeitverhältnisse zurück in die klassische, gedruckte Buchform holt, ist dabei freilich ein eher postdigitaler als ›nur‹ digitaler Schachzug, der über den bewussten Medienwechsel die Spezifik von Analogem und Digitalem gegenüberstellt und ihre Verwobenheit betont.

Analog – Digital – Postdigital

Beginnen wir also mit den Problemen, die auf dem Titel »Digitale Literatur« lasten. Bereits Weichbrodts Remediation weckt Zweifel an der Tragfähigkeit des Begriffs, der um 2001 noch einigermaßen unproblematisch gebraucht werden konnte.3 Wo inzwischen das Digitale alle Lebensbereiche erfasst hat, erscheint die Aufrechterhaltung der Binäropposition ›analog – digital‹ immer fragwürdiger. Nicht nur, weil streng genommen »auch mit Word geschriebene Romane als ›digitale Literatur‹ zu bezeichnen« wären,4 sondern auch, weil das Gegensatzpaar eine durchaus ideologische Fortschrittsgeschichte impliziert.

Der Tatsache, dass im strikten Sinn keine klaren Grenzen mehr zwischen digital und analog zu ziehen sind, will der Begriff des ›Postdigitalen‹ Rechnung tragen. Auch er ist bereits 20 Jahre alt, bezeichnete ursprünglich ein Phänomen in der Musikproduktion5 und wurde vor weniger als zehn Jahren zur allgemeinen Bezeichnung jenes »messy state of media, arts, design after their digitisation«,6 in dem es schwer wäre, irgendeinen gesellschaftlichen Bereich ausfindig zu machen, der nicht vom Digitalen durchzogen wäre.

Das gilt nun auch für die Literatur. Bestes Beispiel dafür ist das gedruckte Buch. Nicht nur, weil jedes Buch durch mehrere digitale Vorstufen (vom Schreibakt per Textverarbeitung bis hin zu Druckvorlage und datenbankgestütztem Vertrieb) geht.7 Sondern auch, weil es sich, als jener Inbegriff des Analogen, zu dem es erst durch die digitale Wende geworden ist, im veränderten Mediengefüge der Gegenwart neu positionieren muss. Im Zuge dieser Neubesinnung wandelt sich das ›alte‹ Medium vermehrt von einer bloßen Standardlösung zum absichtlich gewählten Ausgabeformat: Es ist bewusst das gedruckte Buch statt der vielen verfügbaren digitalen Optionen, für das Autor*innen sich entscheiden.8

Wo zumindest eine Auslegung des Begriffs ›postdigital‹ die Differenz der beiden Pole selbst abschaffen will, indem sie deren unentwirrbare Verwobenheit betont, strebt ein anderer Ansatz die Ausweitung des Digitalen über digitale Technik hinaus und in die Geschichte hinein an. Grundlage ist hier eine symboltheoretische Bestimmung: Das Digitale wird als aus differenzierbaren Einheiten zusammengesetzt verstanden, das Analoge bildet ein kontinuierliches System.9 Diese Deutung bietet sich vor allem für die Literatur an, schließlich ist das Alphabet ein diskretes Zeichenrepertoire. Damit lässt sich die gesamte schriftliche Literaturtradition als digitale beschreiben, womit erneut, aber aus anderer Blickrichtung, die Opposition ›analog – digital‹ in sich zusammenfällt.10

Was also kann angesichts solcher Maximalpositionen noch sinnvoll als ›digitale Literatur‹ bezeichnet werden? Dieser Band plädiert dafür, darin weniger einen streng analytischen als vielmehr einen historischen und reflexiven Begriff zu sehen: ›Digitale Literatur‹ folgt sowohl einer heute recht klar zu identifizierenden Tradition und integriert zugleich eine bestimmte Art und Weise literarischen Verhaltens in der Gegenwart. Sie vollzieht nicht lediglich ›die Digitalisierung‹ mit – das ist in allen gesellschaftlichen Bereichen der Fall –, sondern reflektiert diese Grundbedingung heutiger Literaturproduktion und -rezeption. Sie ist sich, in einem Wort, ihrer Digitalität wesentlich bewusst. Und so kann auch ein scheinbar analoges Buch wie das »Loading Book« digitale Literatur sein.

Historisch: Bezug auf Vorgänger

Im Vergleich der beiden historischen Momente um 2001 und um 2021 springen eher die Differenzen als die Kontinuitäten ins Auge. Interaktivität, Intermedialität, Inszenierung scheinen heute weniger eindeutig Leitbegriffe zur Beschreibung digitaler Literatur zu sein.11 Die relative Marginalisierung dieses theoretischen Arsenals verlief parallel zum Abstieg seines exemplarischen Gegenstandes, des literarischen Hypertextes. Die hyper fiction – die vor dem Web in proprietären Darstellungssystemen wie Storyspace oder HyperCard, danach als im Browser abrufbare HTML-Datei realisiert wurde – betonte vor allem nichtlineare Narrativität und die Möglichkeit der Vernetzung von allem mit allem, was sie insbesondere poststrukturalistischen Beschreibungsansätzen öffnete.12 War so die technische Struktur des Web zum Organisationsprinzip einer Gattung erhoben, erschienen vielen Interpret*innen jener Zeit die Begriffe ›Internetliteratur‹ oder ›Netzliteratur‹ als sinnvolles Rubrum. So wurden selbst solche Arbeiten mit dem Netz identifiziert, die gar nicht darin entstanden waren oder es lediglich als Distributionskanal verwendeten.13

Doch auch 2001 fand diese frühe Kanonisierung Widerspruch: Der Hypertext wurde entweder als techno-utopistischer »Mythos« verabschiedet oder schlicht als ästhetisch »uninteressant« geschmäht.14 Er nutze zudem die technischen Möglichkeiten des vernetzten Computers nur oberflächlich, statt sich mit dessen symbolisch-operativer Tiefenstruktur auseinanderzusetzen.15 Dass die hyper fiction zudem zu einem Zeitpunkt aufkam, da sich electronic literature – ein vor allem im englischsprachigen Raum populärer Oberbegriff – als Feld mit einer eigenen Institutionsstruktur etablierte, motivierte N. Katherine Hayles dazu, ihre proprietäre Phase als »first generation electronic literature« zu definieren und ab der Migration ins Web um 1995 von einer »second generation« zu sprechen;16 als dritte Generation schlug kürzlich Leonardo Flores die Welt der Memes und sozialen Medien vor.17 Problematisch an diesem Generationenmodell ist nicht nur, dass es frühere Werke digitaler Literatur als »prähistorisch« werten (und abwerten) muss,18 sondern auch, dass es eine Stufenteleologie suggeriert; wie die letzten 20 Jahre aber gezeigt haben, können die Spielarten und Genres digitaler Literatur nicht nur sehr gut nebeneinander existieren oder gar ineinander übergehen, sondern auch Konjunkturzyklen durchlaufen, die schwer als Fortschrittserzählung zu fassen sind.

So führt die Hypertextliteratur, die nahezu identisch mit ›digitaler Literatur‹ gelesen wurde, als Genre heute eine ziemliche Randexistenz. Einzig in spezialisierten Systemen wie Twine überlebt sie noch, knüpft aber kaum an die Ästhetiken ihrer Hochzeit an. Das ist nicht verwunderlich: Einerseits hat »Vernetzung«, damals als definitives Element digitaler Literatur verstanden,19 ebenso eine Bewegung »from concept to utility«20 durchgemacht wie »Interaktivität«,21 die mit Likes und Retweets heute ungleich komplexere den Text betreffende Operationsketten ermöglicht. Andererseits ist die Netzeuphorie der 1990er Jahre durch eine politisch, technisch und ästhetisch ausdifferenzierte Netzkritik gedämpft worden.22 So imaginierte Mark Amerikas Derrida-inspirierte Hypertextfiktion »Grammatron« 1997 noch eine anarchische Cyperpunk-Zukunft, an der sich die frühe Begeisterung für das freie Web ablesen lässt. Heute verzichtet Kris Ligmans Twine-Arbeit »You are Jeff Bezos« (2018) auf einen poststrukturalistischen Theorieuntersatz und verdeutlicht eher in der Tradition marxistischen Agitprops die Kapitalverhältnisse von Big Tech, indem er die User didaktisch daran scheitern lässt, das Vermögen des Amazon-Gründers für wohltätige Zwecke auszugeben.23

Auch hängt die Attraktivität bestimmter Formen oft von der schlichten Verfügbarkeit ihrer technischen Voraussetzungen ab. SMS-Romane erscheinen angesichts der Ablösung durch andere Messaging-Dienste heute als unplausibel. Im Fall des proprietären Containerformats Shockwave bzw. Flash kam eine breit genutzte Gattung kinetisch-visueller Poesie allein deshalb zum Erliegen, weil Adobe das Format Ende 2020 einstellte. Viele zentrale Werke, wie Bas Böttchers »Looppool« (1998), sind seitdem nur noch mit einigem Aufwand über Emulatoren zu betreiben; manche Künstler*innen, wie Young-Hae Chang Heavy Industries, sind seit dem Ende von Flash dazu übergegangen, ihre Arbeiten als Videodateien zu reformatieren, wobei freilich medienspezifische Eigenheiten (etwa, nicht pausieren zu können) verloren gehen.24 Andreas Bülhoff zeigt in seinem Beitrag, dass es auch gestufte Inkompatibilitäten geben kann, wenn etwa das von Netscape eingeführte HTML-Tag »blink« in heutigen Browsern ignoriert wird.

Aber auch jene Textsorte, die im Vorgängerband als die avanciertere gepriesen wurde, weil sie technisch auf Augenhöhe mit dem Computer agiere und mit besonderer »digitaler Authentizität« ausgestattet sei, hat relativ wenig Spuren hinterlassen: »Codeworks« – der net.art-Bewegung der 1990er Jahre nahestehende Lyrik, die einer Programmiersprachenästhetik folgt.25 Mez Breeze etwa, eine ihrer Hauptvertreter*innen, hat sich heute auf VR-Narrative verlegt, die, statt der Konzentration auf codeartigen Text, komplexe technische Ansprüche an Herstellende und Lesende stellen. Damit bewegt sie sich nun im Randbereich zu jenen narrativen Games, die Dîlan Canan Çakir, Anna Kinder und Sandra Richter in diesem Band betrachten. Gleichwohl lassen sich Nachfolgephänomene zu Codeworks ausfindig machen, die, wie Bülhoff zeigt, das Spiel mit der Differenz zwischen Codierung und Darstellung aufnehmen und weiterführen, aber selten noch bewusst unter diesem Titel operieren.

Eine ähnliche Fortschreibung unter anderen Vorzeichen hat die Idee von gemeinschaftlichen Mitschreibeprojekten als besonders digitalaffiner Literaturpraxis erfahren.26 Sie sind in der Gegenwart weiterhin verbreitet, setzen allerdings, wie Annette Gilberts Beitrag ausführt, auf völlig anderen Prämissen und Praktiken auf. Ihr Selbstverständnis ist oft sehr viel pragmatischer als die avantgardistischeren Unternehmungen vor 20 Jahren. Wie gebrochen die Kontinuität zu diesen früheren Versuchen ist, zeigt bereits die Tatsache, dass das Bloggen, das erst Mitte der 2000er zur Blüte kam und inzwischen schon wieder nicht mehr als die Zukunft der Literatur gehandelt wird, im Band von 2001 noch gar nicht vertreten war.

Eine Konjunktur erlebt heute hingegen die älteste Gattung digitaler Literatur, das ›generative Schreiben‹ – literarische Texte, die durch die Ausführung von in formalisierten Programmiersprachen niedergelegten Algorithmen hergestellt werden. Ihre Geschichte ist heute gut aufgearbeitet und ihre klassischen Hauptwerke – von Christopher Stracheys »Love Letters« (1952) und Theo Lutz’ »Stochastischen Texten« (1956) über Alison Knowles’ und James Tenneys »A House of Dust« (1967) und Hans Magnus Enzensbergers Landsberger Poesieautomaten (1974/2000) bis zu Racters »The Policeman’s Beard is Half Constructed« (1984) – sind inzwischen vielfach gewürdigt und interpretiert worden.27 2001 hatte man sie gegen bloße »Bildschirmliteratur« in Stellung gebracht, da sie »die wirklich genuinen Eigenschaften des Mediums zum Einsatz (…) bringen«, also »im digitalen Medium und allein aus diesem heraus eine ganz eigene Literatur entwickeln«.28

Diese Erinnerung war seinerzeit vor allem deshalb nötig, weil die eher produktionszentrierte und daher für Laien schwer zu durchdringende generative Literatur durch die lesezentrierte und -freundliche hyper fiction an den Rand gedrängt wurde. Heute hat sich auch hier die Situation gewandelt. Die Verbreitung grundlegender Programmierfähigkeiten hat zugenommen und man kann geradezu einen Boom digitaler Literaturpraxis beobachten: Er drückt sich etwa im alljährlich im November stattfindenden »National Novel Generation Month« aus, bei dem per Skript ein ›Roman‹ (ein Text mit mindestens 50 000 Wörtern) zu generieren ist.29 Auch lässt sich von den Twitter-Bots der Gegenwart eine recht gerade historische Linie bis zu Strachey ziehen. Sie verfahren oft ebenso generativ wie sein auf Satzschablonen aufbauender Textgenerator und lassen sich – etwa mit Kate Comptons offenem Tool »Tracery«, Gregor Weichbrodts App »Plauder« oder der Seite cheapbotsdonequick.com30 – auch für Laien leicht programmieren. Kathrin Passig berichtet in ihrem Essay von solchen Bots und der Motivation, die hinter ihnen steht. Neben Passig, die auch einen eigenen künstlerischen Beitrag vorstellt, sind mit Jörg Piringer, Nick Montfort, Allison Parrish, Fabian Navarro und Selina Seemann fünf weitere Autor*innen in diesem Band vertreten, die diese ›genuin digitale Literatur‹ in der Gegenwart fortschreiben.

Reflexiv: Bezug auf das Digitale

Soweit die Einordnung digitaler Literatur in ihre historischen Linien, der sicher noch einige hinzuzufügen wären und die sich weiter ausdifferenzieren ließen. Sofern digitale Literatur aber auch darüber definiert werden kann, wie sie ihre eigene – technische wie soziale – digitale Bedingtheit reflektiert, lässt sich auch eine andere Systematisierung versuchen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit scheinen uns drei Idealtypen hervorzustechen: Die rein inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Digitalen, die Verortung in digitalen Produktions- und Rezeptionsumgebungen und die Verarbeitung wesentlich auf der Prozess- und Codeebene.

Was man das ›digitale Inhaltsparadigma‹ nennen kann, begreift digitale Technik, Kultur und Gesellschaft vor allem als Gegenstand narrativer Schilderung. Im Gegenwartsroman, der im Beitrag von Elias Kreuzmair untersucht wird, lässt sich von einer Widerspiegelung der Realität mit besonderem Fokus auf der Digitalisierung unserer Lebenswelt in der Literatur sprechen, in der ihr mimetischer Grundzug zum Tragen kommt. Hier fließen Diskurse oder Realien der digitalen Welt als Inhalt in die Literatur ein, während die Erzählform auf bewusst literarische Traditionslinien setzt und die »Zukunft der Gegenwart« verhandelt.

Als das ›digitalsoziologische Paradigma‹ – dem man als Unterart das ›Plattform-Paradigma‹ zurechnen kann – wären solche Spielarten digitaler Literatur zu bezeichnen, in denen die Affordanzen und sozialen Dynamiken neuer textlicher Partizipationsmöglichkeiten, zumal im Netz und darin überwiegend auf den privatwirtschaftlich kontrollierten Plattformen,31 auch neue Schreibweisen hervorbringen. Das digitalsoziologische Paradigma betont vor allem die Oberflächen, Kontexte und Stätten der Veröffentlichung und Rezeption für die Klassifizierung als digitale Literatur. Anders aber als noch bei der je eigenen Website als »Ort digitaler Literatur«, die 2001 Friedrich Block behandelte,32 ist heute durch die Einfügung vermittelnder Plattformen ein exponentieller Zugewinn an Verbreitung und Popularität sowie Sichtbarwerdung literarischer Produktion zu verzeichnen, die vorher oft höchstens im Halböffentlichen verblieb.

Die größte Verschiebung in diesem Bereich besteht wohl in der flächendeckenden Verbreitung und Popularisierung sowie dem enormen Zuwachs an Nutzerzahlen auf der Rezeptions- wie der Produktionsseite. Beides ist Ausdruck jenes ›Always-on‹, das aus der Ubiquität internetfähiger Geräte, der Entwicklung ansprechender Nutzungsangebote durch Unternehmen und Plattformen sowie der Ausbildung entsprechender digitaler Kompetenzen und Praktiken folgt. Nicht umsonst spricht Holger Schulze von »Allgegenwartsliteratur« und »ubiquitärer Literatur«,33 was Christiane Frohmann in ihrem Beitrag zu diesem Band um die Idee einer »instantanen Literatur« ergänzt. Dezidierte Plattformliteratur – das Schreiben auf Twitter, Instagram oder Reddit – wird in den Beiträgen von Berit Glanz und Niels Penke vorgestellt. Das Zusammenspiel von Trends in Populär- und Meme-Kultur mit den Bedingtheiten der Plattformen wirkt dabei oft selbst genrebildend.

Als ›digitalontologisches Paradigma‹ – oder als ›genuin digitale Literatur‹ – wäre schließlich jene dritte Spielart digitaler Literatur zu bezeichnen, die auf dem bewussten Einsatz von Computern, Codes, Algorithmen sowie der automatisierten Verarbeitung von Textkorpora als Schreibmethode beruht. Dass dabei das Ausgabemedium nicht notwendig digital sein muss, sondern auch die traditionelle Buchform annehmen kann, ist Folge der angesprochenen postdigitalen Verschiebung der Gegenwart. Insofern gerade generative Literatur, wie wir diese Form weiter oben genannt haben, auch auf Plattformen stattfinden oder ihr Material auf diesen finden kann, sind zwischen der zweiten und dritten Spielart Überschneidungen auszumachen.

Da die genuin digitale Literatur ihre Poetik von allen drei Formen am engsten am verwendeten technischen Substrat ausrichtet, sind die Umbrüche von Programmier- und Datenparadigmen hier am schnellsten zu spüren und in allerjüngster Zeit anzusiedeln: War das generative Schreiben seit den 1950er Jahren bis etwa um 2014 in sequenziellen Algorithmen, also menschenlesbaren Regelschritten implementiert, erschien mit der weiten Verbreitung des konnektionistischen Modells – auf neuronalen Netzen beruhendes Deep Learning – zum ersten Mal eine ernsthafte Alternative. Da es keine Regeln, sondern nur noch statistische Verteilungen produziert, reduziert sich hier die Menschenlesbarkeit drastisch, wie Hannes Bajohr in seinem Beitrag erklärt.

Parallel dazu hat sich, so zeigt Alexander Waszynski, in Zeiten von Big Data auch die Menge verfügbarer (Text-)Daten potenziert, die ihrerseits Gegenstand literarischer Verarbeitung werden, sodass auch hier eine Zäsur in der Geschichte generativer Literatur nachzuzeichnen ist. Nicht unwesentlich für den Auftrieb, den diese Form in den letzten Jahren erfahren hat, dürften schließlich auch die wechselseitigen Befruchtungen mit anderen literarischen und diskursiven Strömungen wie dem Conceptual Writing oder der Appropriation Literature gewesen sein,34 wie Karl Flender in seinem Beitrag im vorliegenden Band erläutert. Darüber hinaus prägt »big data lit«35, so sie für die Allverfügbarkeit, Veralltäglichung und Normalisierung eines Schreibens und Lesens mit Maschinen steht, neben der digitalen Literatur auch neuere Forschungsansätze.

Zwischen Theorie und Praxis

Die Digital Humanities sind dabei nur eine Option der Literaturwissenschaft, auf digitale Textlichkeit zu reagieren. Die vorgestellten Tendenzen digitaler Literatur erfordern auch von der hermeneutischen Literaturwissenschaft andere Herangehensweisen, wie Thorsten Ries in seinem Versuch einer Neujustierung des analytischen, literaturwissenschaftlichen Zugriffs auf die vielfältigen Ebenen des digitalen Kunstwerks zeigt. Überdies implizieren sie eine eigene Geschichtsschreibung und werfen spezifische literaturtheoretische Fragen auf. Nicht alle von ihnen sind neu. Von Beginn an eingeschrieben ist ihr – wie überhaupt häufig experimentellen, avantgardistischen Strömungen – die starke Überschneidung von künstlerischer, technischer und theoretisch-diskursiver Praxis in Gestalt ihrer Akteur*innen.36 Das lässt sich auch im vorliegenden Band beobachten, in dem mit Jasmin Meerhoff und Kathrin Passig zwei Autorinnen sowohl mit einem künstlerischen als auch einem theoretischen Beitrag vertreten sind; auch Andreas Bülhoff, Berit Glanz, Allison Parrish, Hannes Bajohr und Nick Montfort sind in beiden Rollen aktiv. Darin mag sich einerseits die Theoriebedürftigkeit jeder experimentellen Literatur widerspiegeln, andererseits die Notwendigkeit einer praxeologisch orientierten Literaturwissenschaft ausgesprochen sein, die allem Verstehen die Teilnahme vorausgehen lässt.

Fortgesetzt haben sich auch grundsätzliche literaturwissenschaftliche Überlegungen, die weniger von den speziellen Techniken als der Technifizierung von Literatur überhaupt abhängen. Allen voran die Frage der Autorschaft.37 Sie wird meist an Beispielen der genuin digitalen Literatur diskutiert, deren Vertreter darauf gern mit provokativen Selbstbeschreibungen reagieren: »Ich selber schreibe keine Bücher, ich lasse sie schreiben.«38 Inwiefern computergenerierte Werke als das Ergebnis individuellen, menschlichen Schaffens gelten dürfen oder ob in ihnen Computer teilweise oder hauptsächlich die Autorfunktion ausüben, ist Gegenstand von Debatten und gerade im Kontext maschineller Lernsysteme (›Künstliche Intelligenz‹) erneut umstritten. Für einen Großteil der generativen Literatur wird allerdings der schöpferische auktoriale Akt weiterhin auf Autor*innenseite verortet; er umfasst die Konzeption, Formgebung, Rahmung und Präsentation des Werks. Ein Abriss dieser aus literaturtheoretischer, politischer und juristischer Perspektive immer noch problematischen Materie findet sich im Beitrag von Jasmin Meerhoff.

Diejenigen Formen digitaler Literatur, die sich, wie die Literatur in sozialen Medien, wesentlich auf vernetzten digitalen Oberflächen abspielen, machen hingegen die Frage von Öffentlichkeit virulent. Abgeleitet aus den institutionalisierten Praktiken rund um das gedruckte Buch wird der Akt der Veröffentlichung qua ›Buchwerdung‹ noch immer häufig als unverzichtbare Voraussetzung der Sozialisierung von Texten als Werken gehandelt.39 Dieses Kriterium der Veröffentlichung gerät jedoch an seine Grenzen, wo der Unterschied zwischen privatem und öffentlichem Schreiben, der auch schon im biblionomen Zeitalter Graubereiche kannte, im digitalen Zeitalter weiter verschwimmt. Wo soziale Medien prinzipielle, wenngleich in ›Blasen‹ differenzierte, Öffentlichkeit zum Standard der Veröffentlichung gemacht haben, ist eine Rekonzeptualisierung der Begriffe von Öffentlichkeit und Veröffentlichung notwendig. Sie müsste die Niedrigschwelligkeit der Produktions- und Publikationsmöglichkeiten im digitalen Raum und die potenziell neuartigen Strategien, Praktiken und Institutionen des Öffentlichmachens literarischer Produktion berücksichtigen.40

Auch in Bezug auf die ›Kritikwürdigkeit‹ literarischer Werke hat die Philologie ihren Radius zu erweitern. Mit der ständigen Zunahme an Produzent*innen im Digitalen gewinnen Bereiche literarischen Schaffens an Sichtbarkeit, die sich bisher eher außerhalb des Betriebs und unter dem Radar der Literaturwissenschaft bewegten. Das liegt nicht nur daran, dass sie an den Verlagen und anderen Gatekeepern vorbei produziert und verbreitet werden, etwa im Selbstverlag, in sozialen Medien, in Fan-Fiction-Foren oder auf Social-Reading-Plattformen. Hinzu kommt auch, dass ein Großteil dieser weitgehend unreguliert entstandenen literarischen Produktion nicht den unausgesprochenen Ansprüchen genügt, den Philologie und Literaturkritik an literarische Werke anlegen: keiner etablierten Ästhetik folgend, nicht in klassischer Buchform publiziert und damit weder ›werkfähig‹ noch als Forschungsgegenstand legitim. Dass gerade populäre, aus der Digitalkultur hervorgehende Formen ein bedeutsames Segment literarischer Produktion der Gegenwart sind, zeigt hingegen Niels Penke in seinem Beitrag.41 Trotzdem hat die digitale Literatur stets mit dem Vergleich zum Buch zu kämpfen. Sie kann ihn subversiv unterlaufen, wie im Falle von Weichbrodts »Loading Book«, oder affirmativ aufnehmen, wie bei den wieder zu Büchern gewordenen Facebook-»Statusmeldungen« von Stefanie Sargnagel oder den Social-Media-Collagen und »Tinder Shorts« von Sarah Berger, die in diesem Band mit einem künstlerischen Beitrag vertreten ist.42 Dass es in diesem Zwischenraum auch spezielle »Digitalverlage« gibt, die eine Mittlerfunktion zwischen den Sphären übernehmen, zeigt praxisnah der Beitrag von Christiane Frohmann.

Freilich besteht der größte Teil der heute produzierten digitalen Literatur aus Werken, die sich wenig um literaturwissenschaftliche Kategorien und Feuilletondiskurse scheren. Sie werden in einer fröhlichen Vielfalt medialer Formate produziert, die selbst die Grenzen des Literarischen aufweichen – etwa, wenn sie »Dateitypen als Publikationstaktik« betreiben,43 neben Text- und PDF- auch Video-, Ton- und Bild-Dateien verbreiten und sogar ZIP-Archive, offene PowerPoint- oder Google-Docs-Dokumente zirkulieren lassen und so »Austausch und Weitergabe gegenüber örtlicher Fixierung« betonen, was sie in den Augen von Harry Burke zum »Symbol für eine Dichtkunst in expandierenden Medienzusammenhängen« macht.44 Eben jene Zusammenhänge aber wurden von der digitalen Literatur vorbereitet und von ihrer Theoretisierung begleitet. Und so arbeitet digitale Literatur mit am Projekt eines erweiterten und ständig sich erweiternden Literaturbegriffs als Herausforderung für die Literaturwissenschaft.

Zukünftige Vergangenheit

Wie der spinner und die skeleton screens ist auch die digitale Literatur ein Platzhalter der Zukunft, deren eigene Vergangenheit stets unmittelbar bevorsteht. Nichts veraltet so schnell wie das Futurum der Gegenwart. Dass diese Literaturform daher ihre Geschichte immer wieder neu schreiben muss, ist ebenso klar wie die Schwierigkeit, sie auf Dauer zu stellen.

Das ist vor allem ein Problem für die üblichen Konsekrationsinstanzen und Sammelinstitutionen, die dieses Feld literarischer Praxis oft nicht oder zu spät und unvollständig erfassen. Die Tradierung und Theoretisierung digitaler Literatur ging daher in der Regel von den Akteur*innen selbst aus. Am einschlägigsten sind wohl die Electronic Literature Organization (ELO) mit ihrer Electronic Literature Collection, der Electronic Book Review sowie die Net Art Anthology, außerdem die p0es1s-Reihe und die ELMCIP- und ADEL-Datenbanken. Seiten wie netzliteratur.net und das Open Source-Organ »Dichtung Digital« dagegen sind mittlerweile weitgehend inaktiv oder in einer reinen Archivfunktion online. Digitale Werke und die Kontexte ihrer Entstehung – dafür stehen HyperCard und Flash nicht anders als »Dichtung Digital« – sind aber besonders ephemer, weshalb ihre Bewahrung und Überlieferung für zukünftige Forschung zentral sein muss.45

Es gibt Bemühungen etablierter Sammlungsinstitutionen: Das Innsbrucker Zeitungsarchiv erfasst digitale Literaturmagazine, -blogs und Autorenhomepages, während das Deutsche Literaturarchiv Marbach in einem Pilotprojekt »Literatur im Netz« archivierte; derzeit baut es zusammen mit der Universität Stuttgart ein »Science Data Center für Literatur« auf, das digitale Literatur nachhaltig für die Forschung sichern soll.46 Freilich sind viele Initiativen noch von einem aus der ersten und zweiten ›Generation‹ stammenden Begriff digitaler Literatur geprägt, der mit seiner eigenen Genealogie auch eigene Ein- und Ausschlusskriterien in Anschlag bringt. Die gegenwärtige Entwicklung wird man immer nur mit einiger Latenz begleiten können.

Es ist daher nicht nur theoretisch angebracht, in Zukunft den Begriff der digitalen Literatur ökumenisch offen zu halten, sondern auch praktisch wahrscheinlich, dass sie sich eher in weniger organisierten Formen fortspinnt – auf GitHub-Repositorien, Reddit-Threads und Twitter-Diskussionen – als in scharf umgrenzten Institutionen. Es kann dabei Beachtungskonjunkturen geben, es mögen sich ihr die Türen von Suhrkamp und des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs öffnen und Klett-Cotta mag die Experimente veröffentlichen, die etablierte, ›konventionelle‹ Autoren wie Daniel Kehlmann mit KI anstellen.47 Letztlich aber bleibt sie als immer futurische Form nur in ihrer jeweiligen Gegenwart fassbar, sodass ihre Zukunft nicht abzusehen ist. Es ist gut möglich, dass ein dritter TEXT+KRITIK-Band in weiteren 20 Jahren etwas ganz anderes unter ›digitaler Literatur‹ verstehen wird – oder der Begriff, als völlige Exekution des Postdigitalen, im Jahre 2041 dann gar keinen Sinn mehr ergibt. Bis dahin unternimmt der vorliegende Band die nötige Momentaufnahme, um ihr auch eine Vergangenheit zu sichern.

1 Vgl. etwa Felix Stalder: »Kultur der Digitalität«, Berlin 2016 oder Armin Nassehi: »Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft«, München 2019. Vgl. den Beitrag von Elias Kreuzmair. — 2 Philipp Hartmann: »Über Arbeiten zur digitalen Literatur«, in: »Arbitrium« 38, 2 (2020), S. 403–406, hier S. 404 f. Für eine brauchbare aktuelle Darstellung der Geschichte digitaler Literatur, vgl. Scott Rettberg: »Electronic Literature«, Cambridge 2019. — 3 Dass sich digitale Literatur von anderen literarischen Spielarten abgrenzen lässt, stand damals außer Zweifel. Von Anfang an umstritten war allerdings ihre geeignete Bezeichnung. Neben »digitaler Literatur« wurden etwa vorgeschlagen: »Electronic Literature«, »E-Poetry«, »digital literary art«, »ergodic literature«, »cybertext«, »Netzliteratur«, »digitale Dichtung«, »Internetpoesie«. Aus pragmatischen Gründen verzichten wir auf die genaue Diskussion dieser Terme, glauben aber, dass »digitale Literatur« ihre wesentlichen Bedeutungsschnittmengen abzudecken vermag. — 4 Hannes Bajohr / Kathrin Passig / Philipp Schönthaler: »Nichts als Hybride. Ein Gespräch über ›Digitale Literatur‹«, in: »Transistor« 2, 2 (2019), S. 18–29, hier S. 22. — 5 Vgl. Kim Cascone: »The Aesthetics of Failure. Post-Digital Tendencies in Contemporary Computer Music«, in: »Computer Music Journal« 4 (2000), S. 12–18. — 6 Florian Cramer: »What is Post-Digital?«, in: »APRJA« 3, 1 (2014), S. 8; zuvor auch ders.: »Post-Digital Writing« in »electronic book review«, 2012, http://electronicbookreview.com/essay/post-digital-writing (15.4.2021). — 7 Vgl. N. Katherine Hayles: »Intermediation«, in: »New Literary History« 38 (2007), S. 99–125. — 8 Vgl. Lori Emerson, »Reading Writing Interfaces«, Minneapolis 2014, S. 184. Damit steht die Rückkehr zum analogen Medium oft im Zeichen einer »aesthetic of bookishness«, die nicht nur Werkzeug von Avantgardeliteratur ist, sondern auch Eingang in das Programm großer Publikumsverlage gefunden hat (etwa J. J. Abrams /Doug Dorst: »S.«, New York 2013). »At the moment of the book’s foretold obsolescence because of digital technologies« steht dann »the emergence of a creative movement invested in exploring and demonstrating love for the book as symbol, art form, and artifact.« Jessica Pressman: »Bookishness. Loving Books in the Digital Age«, New York 2020, S. 1. — 9 Vgl. Nelson Goodman: »Sprachen der Kunst«, Frankfurt / M. 1995, S. 115–121. — 10 Vgl. z. B. Jens Schröter / Alexander Böhnke: »Analog / Digital. Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung«, Bielefeld 2004; Heinz Hiebler: »Die Widerständigkeit des Medialen. Grenzgänge zwischen Aisthetischem und Diskursivem, Analogem und Digitalem«, Hamburg 2018, S. 384–386; Florian Cramer: »Exe.cut[up]able statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts«, Paderborn 2011, S. 9–10. Vgl. für eine andere Problematisierung dieser Kategorien Kathrin Passig / Aleks Scholz: »Schlamm und Brei und Bits«, in: »Merkur« 798 (2015), S. 75–81. — 11 Roberto Simanowski: »Autorschaften in digitalen Medien. Eine Einleitung«, in: Heinz Ludwig Arnold / Ders.: (Hg.): TEXT+KRITIK. H. 152: »Digitale Literatur«, München 2001, S. 3–21, hier S. 4. — 12 So vor allem bei George Landow: »Hypertext. The Convergence of Contemporary Theory and Technology«, Baltimore 1992 und Jay David Bolter: »Writing Space. Computer, Hypertext, and the Remediation of Print«, London, New York 1991. Vgl. dazu Uwe Wirth, »Der Tod des Autors als Geburt des Editors«, in: Arnold / Simanowski (Hg.): »Digitale Literatur«, a. a. O., S. 54–64. Zugleich hatte dieser Fokus einen Einfluss auf die historisch orientierte Literaturwissenschaft, die hypertextuelle Referenzverfahren etwa in Vladimir Nabokovs »Pale Fire« und Lawrence Sternes »Tristram Shandy« aufzuspüren vermochte, vgl. Kurt Fendt: »Leser auf Abwegen. Hypertext und seine literarisch-ästhetischen Vorbilder«, ebd., S. 87–98. Einflussreich war auch die Begriffsprägung der »ergodic literature«, die ebenfalls eine Genealogie nichtdigitaler Vorbilder konstruierte, vgl. Espen Aarseth: »Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature«, Baltimore 1997. Für einen apologetischen Rückblick auf diese Gattung, vgl. Stuart Moulthrop: »Hypertext Fiction Ever After«, in: Dene Grigar / James O’Sullivan (Hg.): »Electronic Literature as Digital Humanities. Contexts, Forms, & Practices«, New York 2021, S. 150–162. — 13 Vgl. Peter Gendolla / Jörg Schäfer: »Auf Spurensuche. Literatur im Netz, Netzliteratur und ihre Vorgeschichte(n)«, in: Arnold / Simanowski (Hg.): »Digitale Literatur«, a. a. O., S. 75–86. Freilich war, wie Kathrin Passig zeigt, auf Kritiker*innenseite der Widerstand gegen das Netz als Ort von Literatur von Anfang an groß, vgl. Kathrin Passig, »Vielleicht ist das neu und erfreulich«, Graz 2019, S. 5–17. Dass der Begriff Netzliteratur weiter in Gebrauch ist, heute aber vor allem den sozialen Raum des Web meint, zeigt etwa Kathrin Lange / Nora Zapf (Hg.): »Screenshots. Literatur im Netz«, München 2019. — 14 Vgl. Stefan Porombka: »Hypertext. Zur Kritik eines digitalen Mythos«, München 2001; Florian Cramer: »Warum es zuwenig interessante Netzdichtung gibt. Neun Thesen«, 27.4.2000, https://www.netzliteratur.net/cramer/karlsruher_thesen.html (15.4.2021); Michel Chaouli: »How Interactive can Fiction be?«, in: »Critical Inquiry« 31 (2005), S. 599–617. — 15 Vgl. Florian Cramer: »sub merge {my $enses; ASCII Art, Rekursion, Lyrik in Programmiersprachen«, in: Arnold / Simanowski (Hg.): »Digitale Literatur«, a. a. O., S. 112–123. — 16 N. Katherine Hayles: »Electronic Literature. New Horizons for the Literary«, Notre Dame, Ind. 2008, S. 7. — 17 Vgl. Leonardo Flores: »Third-Generation Electronic Literature«, in: Grigar / O’Sullivan (Hg.): »Electronic Literature«, a. a. O., S. 27–41. — 18 Vgl. Christopher Funkhouser: »Prehistoric Digital Poetry. An Archaeology of Forms, 1959–1995«, Tuscaloosa 2007. Für eine Geschichte früher digitaler Literatur aus eher europäischer Sicht, vgl. Saskia Reither: »Computerpoesie. Studien zur Modifikation poetischer Texte durch den Computer«, Bielefeld 2003. — 19 Vgl. Christiane Heibach: »Ins Universum der digitalen Literatur. Versuch einer Typologie«, in: Arnold / Simanowski (Hg.): »Digitale Literatur«, a. a. O., S. 31–42, hier S. 32; ausführlicher dies.: »Literatur im elektronischen Raum«, Frankfurt / M. 2003, S. 32–65. — 20 Moulthrop: »Hypertext Fiction«, a. a. O., S. 152. — 21 Friedrich W. Block: »Website. Zum Ort digitaler Literatur im Netz der Literaturen«, in: Simanowski / Arnold (Hg.): »Digitale Literatur«, a. a. O., S. 99–111, hier S. 106 f. — 22 Eine frühe Ausnahme bildet Geert Lovink / Pit Schultz (Hg.): »Netzkritik. Materialien zur Internet-Debatte«, Berlin 1997. — 23 Mark Amerika: »Grammatron«, 1997, http://www.grammatron.com; Kris Ligman: »You are Jeff Bezos«, 2018, https://direkris.itch.io/you-are-jeff-bezos (15.4.2021). — 24 Vgl. Bas Böttcher: »Looppool«, 1998, http://www.looppool.de, und Young-Hae Chang Heavy Industries: https://www.yhchang.com/ (15.4.2021). — 25 Simanowski: »Autorschaften in digitalen Medien«, a. a. O., S. 4; vgl. v. a. Cramer: »sub merge«, a. a. O. — 26 Vgl. Heibach: »Ins Universum«, a. a. O., S. 39, und dies.: »Literatur im elektronischen Raum«, a. a. O. — 27 Vgl. Funkhouser: »Prehistoric Digital Poetry«, a. a. O.; Reither: »Computerpoesie«, a. a. O.; Matteo D’Ambrosio: »The Early Computer Poetry and Concrete Poetry«, in: »MatLit« 6, 1 (2018), S. 51–72; Hannes Bajohr, »Schreibenlassen: Texte zur Literatur im Digitalen«, Berlin 2022. — 28 Simanowski: »Autorschaften in digitalen Medien«, a. a. O., S. 13. — 29 Vgl. https://nanogenmo.github.io. — 30 Vgl. Kate Compton: https://tracery.io; Gregor Weichbrodt: http://plauder.app; George Buckenham: https://cheapbotsdonequick.com. — 31 Vgl. Nick Srnicek: »Platform Capitalism«, Cambridge 2016. — 32 Block: »Website. Zum Ort digitaler Literatur im Netz der Literaturen«, a. a. O. — 33 Holger Schulze: »Ubiquitäre Literatur. Eine Partikelpoetik«, Berlin 2020, S. 11. — 34 Vgl. Hannes Bajohr (Hg.): »Code und Konzept. Literatur und das Digitale«, Berlin 2016. — 35 Hannes Bajohr: »Halbzeug. Textverarbeitung«, Berlin 2018, S. 105. — 36 Vgl. Alvaro Seiça: »Digital Poetry and Critical Discourse. A Network of Self-References?«, in: »MatLit« 4, 1 (2016), S. 95–123; vgl. auch Hanna Engelmeier: »Was ist die Literatur in ›Digitale Literatur‹«, in: »Merkur« 823 (2017), S. 31–45. — 37 Vgl. für einen Ansatz, der vor allem die erste und zweite »Generation« betraf, Florian Hartling »Der digitale Autor. Autorschaft im Zeitalter des Internets«, Bielefeld 2009. — 38 Gregor Weichbrodt zit. n. Elias Molle: »The Publishing Sphere. Session 2 – Protocols«, 14.6.2017, https://www.epitext.hkw.de/the-publishing-sphere-session-2-protocols (15.4.2021). — 39 Vgl. Annette Gilbert: »Im toten Winkel der Literatur. Grenzfälle literarischer Werkwerdung seit den 1950er Jahren«, Paderborn 2018. — 40 Vgl. Annette Gilbert: »Die Zukünfte des Werks. Kleiner Abriss der Gegenwartsliteratur mit Blick auf die Werkdebatte von Morgen«, in: Dies. / Lutz Danneberg / Carlos Spoerhase (Hg.): »Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs«, Berlin, Boston 2018, S. 495–550; Hannes Bajohr: »Publishing / Publicking«, in: Annette Gilbert / Lionel Ruffel (Hg.): »The Publishing Sphere. Ecosystems of Contemporary Literatures. Reader«, Berlin 2017, S. 229–232. — 41 Vgl. Brit Kelley: »Loving Fanfiction. Exploring the Role of Emotion in Online Fandoms«, London 2021. — 42 Stefanie Sargnagel: »Statusmeldungen«, Reinbek 2018; Sarah Berger: »Match Deleted. Tinder Shorts«, Berlin 2017. — 43 J. Gordon Faylor: »Dateitypen als Publikationstaktik. Ein Gespräch von Hannes Bajohr«, in: »Kunstforum International« 256 (2018), S. 166–171. — 44 Harry Burke: »Page Break«, in: »Texte zur Kunst« 98 (2015), S. 119–123, online https://www.textezurkunst.de/98/burke-page-break-de (15.4.2021). — 45 Vgl. https://collection.eliterature.org; https://electronicbookreview.com; https://anthology.rhizome.org; http://www.p0es1s.net; https://elmcip.net; https://adel.uni-siegen.de; https://www.netzliteratur.net; http://www.dichtung-digital.de (22.6.2021). Die Problematik der Archivierung digitaler Literatur wird periodisch immer wieder thematisiert, vgl. Nick Montfort / Noah Wardrip-Fruin: »Acid-Free Bits. Recommendations for Long-Lasting Electronic Literature«, 2004, https://eliterature.org/pad/afb.html (15.4.2021); Florian Hartling / Beat Suter: »Archivierung von digitaler Literatur. Probleme – Tendenzen – Perspektiven«, in: »SPIEL« 29, 1–2 (2010); Dene Grigar: »Archiving Electronic Literature. Selection Criteria, Methodology, and Challenges«, in: »Journal of Archival Organization«, 15, 1–2 (2018), S. 20–33; Grigar zeichnet für das Projekt »The Next« verantwortlich, das neue Schaufenster der ELO. — 46 Vgl. http://dilimag.literature.at und http://literatur-im-netz.dla-marbach.de; siehe dazu Jutta Bendt (Hg.): »Netzliteratur im Archiv. Erfahrungen und Perspektiven«, Marbach 2017; https://sdc4lit.org. — 47 Bajohr: »Halbzeug«, a. a. O.; Jörg Piringer: »kuzushi«, 2020, https://bachmannpreis.orf.at/stories/3047340 (22.6.2021); Daniel Kehlmann: »Mein Algorithmus und ich. Stuttgarter Zukunftsrede«, Stuttgart 2021.

Gregor Weichbrodt

On the Road

Die Wegpunkte, die Jack Kerouac in seinem Roman »On the Road« bereist und beschrieben hat, wurden mit Hilfe des Google Routenplaners verarbeitet. Das Ergebnis ist eine 55 Seiten lange Routenanweisung. Insgesamt, so behauptet Google, dauert die Reise 272,26 Stunden (bei 28206,97 km).

Gregor Weichbrodt

Eine Liste

zwei rote Zwiebelnelf Meter Tiefedrei Serientreffervier Prozent Vorsprung

https://twitter.com/EineListe/status/1312803458685296642

acht Tische302 Drinks54 Damenslips830 Senioren

https://twitter.com/EineListe/status/1326997012563197953

elf DAX-Konzerneneun Tatverdächtige

https://twitter.com/EineListe/status/1330620886223826945

zwei Luxushotelssieben Passagierevier Begriffe100 Jugendliche

https://twitter.com/EineListe/status/1335649005532016641

450 Ausstellerzwei Einkommensklassenneun Kilo Kokaindrei Corona-Tests

https://twitter.com/EineListe/status/1318284630131343362

zwei Spielzeitensieben Löcher

https://twitter.com/EineListe/status/1343983931754999810

20 Stunden Hoffnung15 Euro mehr Kindergeld110 Milliarden Umsatzzwei verschiedene Antikörper

https://twitter.com/EineListe/status/1340722427354116103

13 Millionen Menschen4,5 Zentimeter tiefe Stichverletzungvier Verteidiger450 000 Einzelhandelsgeschäfte

https://twitter.com/EineListe/status/1318601660760002561

»Eine Liste« durchsucht aktuelle Nachrichtentexte nach zählbaren Dingen und generiert Listen. Zu finden auf https://twitter.com/Eineliste.

Thorsten Ries

Digitale Literatur als Gegenstand der LiteraturwissenschaftEin multimodales Forschungsprogramm

Einleitung1

Digitale Literatur steht auf der Agenda der Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Raum, ein systematisches Forschungsprogramm ist hingegen derzeit ein Desiderat. Die Studien Hannes Bajohrs, Friedrich W. Blocks, Florian Cramers, Chris T. Funkhousers, Peter Gendollas, Saskia Reithers und Roberto Simanowskis haben wichtige Grundlagen gelegt, ohne dass bislang eine disziplinäre Integration erreicht worden wäre.2 Das Deutsche Literaturarchiv Marbach am Neckar schafft derweil mit dem Aufbau der Sammlung »Netzliteratur« (Projekt »SDC4Lit«) eine Quellenbasis für die Forschung.3 Digitale Literatur im deutschsprachigen Raum weist eine reiche, weit zurückgehende Geschichte und eine bis heute höchst aktive und einflussreiche Produktion auf, auch wenn die Szene das stetige Wachstum der internationalen elektronischen Literatur im Zeitraum vom Ende der 1990er bis Mitte der 2010er Jahre nicht mitvollzogen hat.4 Die germanistische Forschung hat den Gegenstand bislang – mit Ausnahme der genannten Studien und vereinzelten historischen und medienwissenschaftlichen Beiträgen5 – weitgehend ignoriert. Im internationalen Bereich haben die Geisteswissenschaften eine eigenständige Theoriebildung und Entwicklung von Lektüre- und Analysemodellen zu ›elektronischer Literatur‹ betrieben, die unter anderem mit der Forschung von Espen Aarseth, Philippe Bootz, Dene Grigar, Loss Pequeño Glazier bis N. Katherine Hayles, Matthew Kirschenbaum, Leonardo Flores, Lori Emerson, Giovanna Di Rosario und Mark Marino verknüpft ist und inzwischen Allianzen mit den Digital Humanities eingeht.6 Die germanistische Literaturwissenschaft steht vor der Aufgabe, digitale Literatur als Gegenstand zu integrieren und ihr disziplinäres Verhältnis zu ihm konzeptionell und methodologisch zu klären. Der folgende Beitrag skizziert anhand von Beispielen aus der internationalen Forschung den Ansatz eines multimodalen Forschungsprogramms zur digitalen Literatur, welches die multiplen Analyseebenen und historischen Dimensionen in einem anschlussfähigen Lektüre- und Analysemodell zusammenführt.

Digitale Literatur: Definitionen, Textbegriff, Analysezugänge

Digitale Literatur ist der im europäischen Raum derzeit geläufigste Sammelbegriff für eine literarische Kunstform und Literaturbewegung, welche auch als ›Electronic Literature‹ – so etwa im Namen der internationalen Electronic Literature Organization (ELO) beziehungsweise ›e-lit‹ – oder ›littérature numérique‹ bekannt ist.7 Ihre Definition befindet sich historisch im Fluss, bedingt durch den technologischen Wandel, der digitale Literaturformen ermöglicht beziehungsweise veralten lässt (etwa in Gattungen wie Netzliteratur, Flash-basierter ›flash e-lit‹ etc.), sowie durch den Prozess der internen Differenzierung nach medienkünstlerischen Form- und Konzeptaspekten (etwa in Form von Hypertext-Literatur, Cyberpoetry, New Media Poetry, Quellcode-Kunstwerken: Codeworks, Code als konkretes Konzeptkunstwerk) und schließlich durch an literarische Gattungsbestimmungen angelehnte Formaspekte (etwa in Electronic Poetry, Code Poetry, digitale Poesie, digitale Dichtung).

Der digitale Textbegriff ist gegenüber der an statische Text- und Distributionsmedien gebundenen Literatur erweitert und umfasst neben im digitalen Medium performiertem literarischen Text Hypertexte, Literatur in Form von Bild, Video und Ton, textgenerierende Algorithmen und KI-Modelle sowie deren Output und literarischen Programmcode. Nicht alle Anteile eines Werks der digitalen Literatur sind notwendigerweise im gewohnten Sinne textförmig, vielmehr kann die Lektüre entweder »nontrivial effort«,8 Interaktion oder konzeptionell-technisches Verständnis seitens der Leser*innen erfordern – so etwa im Fall von Jaromils »forkbomb« (2002), einer Zeichenfolge, deren Ausführung auf Unix-Systemen einen Systemabsturz zur Folge hatte.9 Ein wiederkehrendes Motiv digitaler Literatur ist die Reflexion und Neuverhandlung des Text-, Literatur- und Medienbegriffs. Beispiele hierfür wären diese Begriffe performativ infrage stellende, dynamisch auf dem Bildschirm dargestellte Kunstwerke, den Akt des Schreibens befragende, algorithmisch-generative Literaturwerke,10 aus Quellcode bestehende Kunstwerke (sogenannte Codeworks), die Grenze des textlich Repräsentierbaren überschreitende KI-Modelle und Plattform-Literatur, welche das soziale Medium zur Verbreitung nutzt und in eine kritische und historische Auseinandersetzung einbezieht.11 Man denke etwa an die konzeptuellen Texte der Reihe »Poetisch Denken«, welche mittels KI-Modellen erzeugt wurden, die durch analytisches Training von neuronalen Netzen anhand eines Textkorpus – etwa den Werken Monika Rincks, Ann Cottens unter anderem – gewonnen wurden.12

Eine einflussreiche Definition digitaler Literatur lautet (ELO, 1999): »Electronic literature refers to works with important literary aspects that take advantage of the capabilities and contexts provided by the stand-alone or networked computer.« Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass diese Bestimmung – ebenso wie Katherine Hayles’ Zusatz von 2007, digitale Literatur werde in der Regel auf Computern geschrieben und am Computer rezipiert13 – den technischen Produktions- und Performanzaspekt von »born-digital« Literatur betone, die Definition des »important literary aspect« hingegen unbestimmt lasse. Einige relevante Werke – etwa in gedruckter Buchform verbreitete, algorithmisch generierte Literatur – würden damit ausgegrenzt. Während sich Hayles’ bekanntes Diktum »Print is Flat, Code is Deep« auf die medienspezifische Analyse von Hypertext-Literatur bezieht und somit gleichfalls zu kurz greift, ist ihre Definition der Funktion elektronischer Literatur durchaus reicher, wenn sie argumentiert, dass digitale Literatur auf die Erwartungshaltung und Lesegewohnheiten der Printmedien aufbauen muss, um diese und somit den Modus des Literarischen zu transformieren.14 Elektronische Literatur wäre demnach, laut Hayles, nicht mehr an eine verbale Textform gebunden, sondern allgemeiner zu verstehen als Oberbegriff für multimediale, digitale Kunstwerke, welche die Geschichte, Kontexte und Produktion der Literatur transformierend hinterfragen.15

Hayles’ Definition, beziehungsweise die Definition der ELO, ist keineswegs unumstritten. In einer Gegenbewegung zu Hayles’ einerseits medial-technischer, andererseits auf die Transformation des Literaturbegriffs orientierter Definition betont etwa Noah Wardrip-Fruin in seinem – gleichfalls noch auf Hypertexte fokussierten – Modell der medienspezifischen Analyse der fünf Elemente digitaler Literatur (Daten, Prozess, Interaktion, Oberfläche, Kontext) die Rolle der »attention to language« in jedweder Kunstform.16 Daneben fallen die Ansätze Phillipe Bootz’ und Friedrich Blocks ins Auge. Für Bootz ist das definierende Merkmal von digitaler Dichtung, dass das technische Artefakt eine »semiotische Lücke« zwischen der sichtbaren Komponente und der technischen Komponente erzeuge, welche dadurch beide als »der« Text angesehen werden können – wenn auch von unterschiedlichen Perspektiven aus.17 Bootz bestimmt die sprachliche Reflexion digitaler Literatur im Spannungsfeld dieser beiden Textebenen und der semiotischen Lücke: »Digital poetry today explores the role of language in signs that use this gap, and which only exist thanks to it. In this case, programming can become a new condition, a new context for poetic creation.«18 Während Bootz digitale Dichtung analytisch als Spannungsfeld von Textebenen und den die semiotische Lücke nutzenden sprachlichen Zeichen fasst, konfiguriert Block digitale »Poesie« im Rahmen seiner disziplingeschichtlichen Analyse des »Sprachspiels« – unter Anleihen bei Luhmann – als intermediales »Reflexions- und Kommunikationsmedium« und »Medium zweiter Ordnung«: »Poesie konzipiert selbstbezüglich Reflexivität als den basalen Mechanismus in Kognition und Kommunikation bzw. Identität und Sozialität. Poesie ist als Reflexions- und Kommunikationsmedium ein Medium zweiter Ordnung.«19 Als ein solches Reflexionsmedium zweiter Ordnung thematisieren digitale Literatur und akademischer Diskurs die Ubiquität des Digitalen als mögliches Problem, etwa in Florian Cramers These, dass die Gegenwart bereits »post-digital« sei.20 Eine digital-literarische Reflexion dieser Problematik ist das von Lori Emerson beobachtete Interface Hacking, welches die »unsichtbar« gewordenen Interfaces wiederum sichtbar zu machen sucht.21

Ein multimodales Forschungsprogramm

Den diskutierten historischen Zugängen, digitale Literatur zu fassen, ist gemeinsam, dass sie auf mehreren technischen, semantischen und konzeptuellen Ebenen des Werks gleichzeitig ansetzen. Ein Ansatz zur Lektüre und Analyse digitaler Literatur muss, so wurde hergeleitet, multimodal sein: Nicht allein die dynamisch interaktive Bildschirmperformanz eines digitalen literarischen Kunstwerks ist Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses. Vielmehr geraten (auch) der Quellcode, der Datenverarbeitungsprozess, der Code-Schreibprozess, der technische Kontext und deren historische Dimension in den Blick. Jedem Werk der digitalen Literatur sind eine mehrschichtige individuelle, literarische, mediale und technische Geschichte und ein multimodales Bezugssystem eingeschrieben, welche digital-literaturgeschichtliche Bezüge und Kontexte, mediengeschichtliche Aspekte der Bildschirmperformanz und Aspekte historischer digitaler Materialität (historische Aspekte des Quellcode, Programmiersprachen und -Umgebungen, Betriebssysteme und digitalforensische Befunde) umfassen können.22

Code, Prozess und literarischer Kontext

Cramers Studie »Exe.cut[up]able statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts«23 lenkt den literaturwissenschaftlichen Blick methodologisch auf die Prozess- und Ausführungsebene von poetischen Kalkülen und literarischen Codeworks. Dies ist methodologisch durchaus folgenreicher als in der Forschung gemeinhin wahrgenommen wird, denn Cramers Lektüreansatz erfasst neben Bildschirmperformanz und Quellcode den Nachvollzug des algorithmischen Vorgangs als Teil des Verfahrens: So gelingt Cramer die lesenswerte Analyse der Concrete Perl Poetry Nick Montforts (etwa die 32 Zeichen langen Perl-Programme)24 und des Perl-Gedichts »jabberwocky.pl« (2000) des Programmierers Eric Andreychek. In Cramers Analyse erschließt sich das Code-Gedicht weder aus der