Aderfeuer - Im Bann der Magersucht - Kathrin Gehlert - E-Book

Aderfeuer - Im Bann der Magersucht E-Book

Kathrin Gehlert

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Beschreibung

Findest du mich zu dick? Immer wieder stellt Kathi dieselbe Frage. Denn Kathi ist magersüchtig. Ihr Leben besteht aus Abnehmen, Laufen und Kraftsport. Ihre Freundin Magersucht ist stets bei ihr, als Kathi immer weiter abmagert, die Haare vermehrt ausfallen und ihr bald jegliche Energie fehlt. Jedes Gramm weniger, das die Waage anzeigt, ist für die junge Frau eine Bestätigung, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Dass sie ein Problem hat, merkt Kathi erst, als ihr Körper streikt und es fast zu spät ist. Mit nur 39 Kilogramm Körpergewicht wird sie in einer Spezialklinik aufgenommen. Dort beginnt sie, sich ihren Problemen zu stellen ihrem Perfektionismus, Streben nach Anerkennung und dem Kampf gegen sich selbst. Denn auch Kathis Körper scheint die Magersucht nicht aufgeben zu wollen. Wann immer sie etwas isst, brennen Kathis Adern wie Feuer. Und auch in anderen Situationen lässt sich der Schmerz unter ihrer Haut nicht kontrollieren und bricht unvermittelt heraus. Sie muss sich entscheiden: Kann sie ihre Freundin Magersucht zurücklassen und ein Leben ohne sie führen? Und will sie das überhaupt?

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KATHRINGEHLERT

 

 

 

Aderfeuer

ImBannderMagersucht

MeinLebenmitEssstörungundSportsucht

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

FürAlexanderInewigerLiebe,Mama

 

Kapitel1

 

 

„Mama, findest du mich zu dick?“ Kathis Mutter stand wie versteinert da,ihrMundzuckteumihreblassenWangenundsiesah,wiesie sich zusammenreißen musste, um ihre Tränen zurückzuhalten. Kathi bekam keine Antwort, weil ihre Mama wohl wusste, dass sie sie sowieso nicht hören wollte, sie nicht verstand und nicht verstehen wollte. Denn Kathi war magersüchtig.

 

Draußen war es noch dunkel. Kathi stand mit nur einem knappen String bekleidet in der Küche ihrer Eltern. Ihre Haut war straff undvon der Sonnenbank gebräunt, auf ihrem Bauch war das Sixpack deutlich ausgeprägt. Die junge Frau war mächtig stolz auf diese perfekteArbeit.IhreArmeundBeinewarendrahtigundmitebenfalls gutsichtbarerMuskulaturausgestattet.Monatelange,strengeDiät bei täglichem Ausdauer- und Kraftsport hatten einen nahezu makellosenKörpergeschaffen,wennKathiauchnochimmernichtzufrieden mit dem Ergebnis war. Nach mehr als 16 Kilogramm Gewichtsabnahmewarbei39KilogrammverbliebenemKörpergewichtund 11 % Körperfettanteil erstmal Schluss. Nicht, weil Kathi aufhören wollte. Ihre Umwelt und körperliche Verfassung nötigten sie, aufzugeben.ZwangensiezurKapitulation.Nurvorerst,wiesiehoffte.

 

In den letzten Wochen hatten die körperlichen Beschwerden zugenommen,beiihrertäglichenArbeitimBürokamsieanihreGrenzen. Die Fragen ihrer Kolleginnen und ihres Chefs, die mitleidigen Blicke und Versuche, ins Gespräch mit ihr zu kommen, waren unangenehmgewordenundlastetenschweraufKathisSchultern.Wenn die Mittagspause anstand, hatte sie die Flucht angetreten, denn es war kaumnochzuertragengewesen.DieAusredenwarenihrausgegangen.

 

Sie war hinten und vorne nicht mehr klargekommen, wenngleich sie vollerTatendrang und Energie gewesen war. Auch in ihrer Arbeit hatte sie gleichzeitig Leere und Erschöpfung gespürt. Ihre Konzentrationhatte von Tag zu Tag nachgelassen und sie verlor sich in Gedankenwelten, die es nicht gab. Sie rannte im Strudel der Finsternis eine nicht endende Strecke ohne Ziel. Es gab kein Entrinnen.

 

IhrHausarzthattesiekrankgeschriebenundsieverbrachtedieZeit zu Hause auf der Couch, ständig im Geist davon getrieben, trotzdem noch etwas an sich verändern zu können. Und zu müssen. Dabei hatte sich eine Menge an ihr verändert: Die schulterlangen nahezu weißen Haare hingen ohne erkennbare Struktur an Kathis Kopf herunter, spröde und stumpf sahen sie aus und manche waren bereits abgebrochen oder gar ausgefallen. Ihr Gesicht wirkte zerbrechlich wie Glas.Die hervortretenden Wangenknochen gaben ihrem Gesicht eine neue Form, welche sie an sich noch nicht kannte. Dennoch fand sich die junge Frau ganz ansehnlich, wenn auch nicht perfekt.

 

Ihre Augen schmerzten unaufhörlich. Es war wie ein Föhn, der hinter den tiefen Augenhöhlen in ihre strahlend blauen Augäpfel kalte Luft nachvornehineinpustet–stetig,unermüdlichunderbarmungslos. Ihr war ständig bitterkalt, sie fühlte sich gleichzeitig stark, unendlichleer und kraftlos. Inzwischen hatte sich ein dichter Flaum auf ihren Wangen ausgebreitet, den man Gott sei Dank nur bei direkter Nähe erkennen konnte. Er war so weich, wie ein kleiner Pelz. Kathis Kopf wirkte etwas groß auf ihrem inzwischen doch recht dünnen Hals und der schmalen Silhouette.

 

So richtig bin ich noch nicht zufrieden mit mir. Ich möchte weiter machen, immerweiter.Eskannkeinerverstehen,wasinmeinemKopfvorgeht.Doch an dem, was jetzt kommt, geht wohl keinWeg vorbei, dachte sie bei sich.

 

In ihrem Elternhaus stand sie nun vor einem nächsten großen Schritt, densienichtgehenwollte,aberdochwohlmusste.Siemusstediebittere Wahrheit erkennen und sich ihrem Schicksal ergeben. Lange hatte sie gehofft, diesem Moment entrinnen zu können, hatte sich gewünscht, dass alles so weitergehen würde, wie bisher und sie endlich erreichen würde,wassiemitihremKörperschonimmererstrebthatte:diePerfektion. Doch nach vielem Zureden ihrer Eltern und einem besorgniserregendenBefundderUntersuchungenihresHausarztesmussteKathinun aufgeben. Das Blutergebnis hatte Eisen- und Kaliummangel offenbart, eineverminderteAnzahlvonThrombozytenundvielesmehr.DieRealität kannte keine Gnade und setzte sich gegen ihren Willen, an ihrem jetzigen Leben festzuhalten, durch. An der Grenze zum Untergewicht angekommen, schwand zudem die Chance einen Platz in einer Klinkzu bekommen, und so hatte sie ihre Vorsätze weiterzumachen zunächst beiseitelegen müssen. Sie war zur Stammkundin beim Arzt geworden.

 

„Sie müssen sich jetzt dringend für eine stationäre Therapie entscheiden. Ich kann hier nichts mehr für Sie tun. Wenn Sie so weiter machen, wird ihre Familie nicht mehr lange was von Ihnen haben. Sie haben in den letzten Wochen nochmals 3 Kilogramm verloren, jetzt sind Sie bei 39 Kilogramm. Wenn das so weiter geht, muss ich Sie einweisen und Sie verlieren zudem den Anspruch auf einen Klinikplatz.Bei diesem Gewicht muss erst eine Vorbehandlung mit künstlicher Ernährung stattfinden, die Klinik nimmt Sie so nicht auf. Wie haben Sie sich entschieden? Haben Sie sich das nochmal durch den Kopfgehen lassen? Sind Sie zu einem stationären Aufenthalt bereit?“, hatte der Arzt gefragt und sie eindringlich angeblickt. Er hatte immer wieder auf die Folgeerscheinungen hingewiesen, die unvermeidbar und teilweiseirreparabelseien.Erhatteunbedingtdurchkommenwollen zu ihr, sie erreichen, eine freie Leitung finden. Die Sorgen waren dem ArztinsGesichtgeschriebengewesen.Sorgen,diebeiderjungenFrau

 

nicht aufkamen, da ihr Ziel noch nicht erreicht war. Für sie war jedes BlutergebnisundGesprächeineBedrohung,jedesGrammweniger, das die Waage anzeigte, eine Bestätigung ihres Erfolges.

 

Doch sie hatte die Ausdauer nicht mehr, die Gespräche und Debatten mit den Eltern und anderen Beteiligten um sich herum weiterzuführen. Sie fügte sich. Auch, weil ihr Körper sich vorerst fügen musste.Und so hatte der Arzt es am Ende geschafft, dass sich Kathi dann doch freiwilligfürdenSchritt,sichhelfenzulassenentschied,auchwenn sie selbst es sich anders gewünscht hätte.

 

Lange hatte sie gezögert und viele Wochen ohne Kontakt zu ihren Eltern verstreichen lassen. Die Angst, mit Vorwürfen und Ängsten überhäuft zu werden, war einfach zu groß gewesen. Es naht meinEnde, wenn ich mein Leben nicht wieder ‚in die richtige Bahn‘ lenke. GenausowürdenesihreElternsagen.Gebeugthattesiesich,weil sie sich auch ihrem ICH gebeugt hatte. Unfähig zu arbeiten und mit dieser Leere, Kälte und Kraftlosigkeit in ihr kam der Anruf, den Kathis Eltern schon so lange ersehnt hatten. Im näheren Umkreis gab es nur wenige Kliniken mit einer Spezialisierung auf Essstörungen, entsprechend lang waren die Wartelisten.

Nach vielen Untersuchungen, Befunden und Gesprächen hatten Kathis ElternGlückgehabtundderNameihrerTochterkamaufeineersehnte Liste.VorgesternwarderAnrufgekommen,dasseinPlatzfürsiefreigewordensei.Mirwirdgeholfen,auchwennicheswederwillnochrichtig erkenne,dassestatsächlichnotwendigist,stellteKathifest.Dennochhatte sie guteVorstellungen von der Behandlung in der Klinik, auch wenn gleichzeitig die Angst und Abneigung davor sehr groß war. Es war ein ewigesGerangelumdasrichtigeGefühlinihr.Dennwaswardenn„richtig“,undwelcheGefühlehattesiedennüberhaupt?EingroßerEmotionsberglagvorihr,densienichterklimmenkonnte.Erwarunüberwindbar.

 

Kapitel2

 

 

In der Küche der Eltern war es warm, nichtsdestotrotz fröstelte es Kathi – wie immer in letzter Zeit. Die Stimmung drückte. IhrVater war zwar imHaus,konnteihrenAnblickabernichtverkraftenundwarsomiteilig vomErdgeschossindasWohnzimmerimoberenStockwerkdesHauses verschwunden.VielleichtnahmihndieSituationmehrmitalsihreMutter?Sicherirrtesie.MeineMutterversuchtdieRuhezubewahrenundmich zu sehen, ohne darin das zu sehen, was Ärzte und andere Menschen in mir sehen: ein magersüchtiges, kleines, 25 Jahre altes Mädchen.

 

Kathi war kurz nach der Ankunft bei ihren Eltern im Bad verschwunden, um sich auszuziehen. Es war schon ein wenig unangenehm, sichso vor der eigenen Mutter so zu zeigen, aber es half nichts.

 

Fastnackt,nurmitdemschmalenStringbekleidet,standsienun in der Küche und erblickte die Digitalkamera auf dem Küchentisch.Die Mutter schaute stumm durch Kathi hindurch, das Antlitz ihrer Tochter schien sie zu quälen. Sie nahm den silbernen kleinen Fotoapparat mit der rechten Hand von der Tischplatte auf und schalteteihnein.DassurrendeGeräuschertönte,dieBlendevorderLinse verschwand und machte Platz für das, was nun kommen sollte.Kathis Mutter nahm die Kamera in beide Hände und schaute durchden Sucher. Ihre Hände zitterten und warteten darauf, den Auslöser endlichdrückenzukönnen.InderZwischenzeithattedieTochter dieidealeStelleinderKüchegefundenunddavordasRolloam großen Küchenfenster heruntergelassen, damit die Nachbarn nicht hautnah dabei waren.

Kathi stellte sich breitbeinig und mit ausgestreckten Armen hin und versuchteeinLächelninihrjungesGesichtzuzaubern.DieHände

 

ihrer Mutter konnten noch immer keine Ruhe finden, doch ließ siesich nichts anmerken, als sie auf den Auslöser der Kamera drückte. Kathi wechselte mehrfach die Position, es entstanden Bilder ihres Körpers von vorne, der Seite und von hinten. Kaum erledigt, eilte Kathiins Bad, um sich schnell wieder mit Kleidung zu bedecken, denn scheinbar konnte sie ihrer Mutter ihren Körper nicht länger zumuten. Während Kathi ihre Figur lieber weiter perfektioniert hätte, konntendie Eltern den Anblick der anscheinend zu mageren Tochter kaum ertragen.

 

Wenige Augenblicke später kehrte Kathi in die Küche zurück, nahmdie Kamera in die Hand und drückte auf den Knopf neben demDisplay hinten, um sich die Aufnahmen anzusehen. Der Bildschirm schaltete sich ein und zeigte die nackte Wahrheit.

Die Bilder sind gut geworden. Mein Hintern besteht eigentlich nur nochaus Muskulatur. Diese große, hängende Hautfalte, wo nichts mehr drinsteckt… Das gefällt mir nicht so sehr. Aber die Beine und schlanken Arme sind super! Hieran soll sich nichts ändern! Ebenso mein Busen – er istklein, aber sehr straff und braucht keinen BH – perfekt! So wie meinBauch–dasSixpackmaltsichab,ichbindurchtrainiertundknackig. Ich wünsche mir, dass auch das alles so bleibt… Kathi tauchte wiederab in ihre eigene Welt.

 

Ihre Mutter erblasste vor Schrecken und Angst. Denn sie konnte die Begeisterung über die eigenen Bilder im Gesicht ihrer geliebten Tochter ablesen, wie in einem offenen Buch. Doch es handelte sich keinesfalls um eine leichte Lektüre – für die Mutter war es eine Horrorgeschichte. Aber nun konnte sie zum ersten Mal hoffen, dass diese baldein gutes Ende finden würde. Kathi legte die Digitalkamera zur Seite, ihre Mutter ging hinauf ins Obergeschoss, um ihren Mann zu holen.ErkamrunterundallezogenihreJackenan,umdenlangenWegan-

 

zutreten.SeinBlickgingzurKamera–eswardasletzteMal,dasser sie benutzte.

 

Kathi war es etwas mulmig zumute bei dem Gedanken an ihr neues Leben,dasihrnunbevorstand.Hoffentlichmachensiekeineandere Frau ausmir,ginges ihrdurchdenKopf,wie auchinderNachtschon.

 

Die Aufregung war in jede Pore ihres Körpers gekrochen und ließ keine Ruhe aufkommen. Nach zwei Stunden Schlaf konnte sie es im Bett einfachnichtmehraushalten,hattediewärmendenDeckenbeiseite geschlagen und war aufgestanden. Es war erst 04:00 Uhr morgens und noch genügend Zeit, um alle Vorbereitungen zu treffen. Doch an Entschleunigung und innere Ruhe war einfach nicht zu denken. Sie verfiel sie in ihren üblichen Aktionismus – sie wischte das Bad, prüfte ihr E-Mail-Postfach und das Girokonto, brachte den Abfall zu den Mülltonnen, zog alle Stecker aus den Steckdosen heraus, drehte die Heizung runter, goss die Blumen und kontrollierte die Vollständigkeit der Unterlagen.

 

Fokussiert bewegte sie sich zwischen den Umzugskisten und leeren Räumen, die sie heute zum letzten Mal sehen würde. Sie nahm Abschied von dieser Wohnung, denn nach allem wartete ein anderesLebenwoandersaufsie.KathisFamiliehattebereitsallesorganisiert für den Umzug in ein neues Zuhause. Dieser würde vorerst ohne sie stattfinden, denn die Wohnung war bereits gekündigt und wurde in wenigen Wochenneuvermietet.BisdahinblieballesanOrtund Stelle.

 

Ich habe alles fertig gepackt, um mein altes Leben zu beenden und einNeues am anderen Ende der Stadt zu beginnen. Kathi stoppte das GedankenkarussellundließamEndedieTürinsSchlossfallen,ohne

 

sich noch einmal umzudrehen. Eigentlich hatte sie sich hier eh nicht richtig wohl gefühlt.

Gut, wie alles ist, stellte Kathi fest, während sie bei ihren Eltern die letzten Tage bei sich zu Hause nochmal Revue passieren ließ und vor sich hinträumte. Je näher der Klinikaufenthalt rückte, umso mehrstand für sie fest, dass sie ihr altes Leben nochmal in Bildern festhalten und vergleichbar machen wollte mit dem, das danach kommen würde. Sie wollte Aufnahmen von sich – vor und nach der Klinik, denn immerhin sollte sie mindestens vier Wochen dortbleiben und hoffte darauf, dass sich nichts Wesentliches an ihr ändern würde. Für einen solchen Vergleich waren Fotos perfekt geeignet.

 

Kapitel3

 

 

Die Familie stieg in das Auto. Kathis Gepäck und das unverzichtbare Kopfkissen waren bereits im Kofferraum verstaut. Es war viertel vor sechs, der Himmel war dunkel und ein leichter Nebel schwebte über demAsphalt.Eigentlichwaresnochvielzufrüh,umloszufahren, aber Kathis Vater war nicht zu bremsen. Er war gereizt, fuhr seinerFrau ständig über den Mund und wirkte sehr angespannt. Die Nerven lagen blank. Kathi versuchte, die Situation zu ignorieren und schwieg.SowieimmerinletzterZeit,weilessichalsbeste Waffe gegen Unmut und Unverständnis bewährt hatte, einfach die Lippen geschlossen zu halten.

 

Es ging los in der Dunkelheit auf die Autobahn. Freude und Panik gekoppelt an Leid, Hoffnung, Traurigkeit und Schmerz. In Kathi war alles durcheinander wie ein reißender Wildwasserstrudel. In einem Moment redete sie viel bei der Fahrt, dann war sie wieder leer und brachte keine Silbe heraus. Nachdem die Hälfte der Strecke zurückgelegt war, machten sie kurz Rast an derTankstelle, an der auch Kathi und ihre Mutter bei der Fahrt zum Vorgespräch gehalten hatten. Sie kauften drei Latte Macchiato und fuhren die letzten Kilometer bis zur Klink. Die Umgebung schien ihr sehr vertraut und doch fremd.

Einsam.Sowieich.

 

DieBäume,AutosundHäuserzogenanihrvorüber,siespürtedie Kältedraußen,obwohlsieimaufgeheiztenAutoderElternsaß.Die Strecke kam ihr endlos vor, die insgesamt drei Stunden dehnten sichwieKaugummi.DasOrtsschilderschienamrechtenFahrbahnrand und bestätigte, dass sie endlich ihr Ziel erreicht hatten. Ihr Fahrtziel. DerKurort,indemsichdieKlinikbefand,warwieausgestorbenund

 

wirkte langweilig, leer und trist. Der Himmel präsentierte sich wolkenverhangen und grau. Die Atmosphäre glich wie einer Geisterstadt, was wahrscheinlich hauptsächlich dem Wetter geschuldet war.

 

Denn eigentlich handelte es sich um einen gepflegten und freundlichen kleinen Ort mit mondänen Altbauten, einem liebevoll gestalteten Dorfplatz und allerlei ausgefallenen Geschäften. Sie durchquerten ein paar Häuserreihen und passierten breit angelegte Grünflächen, um dann in die Straße einzubiegen, in der sich das große Klinikgelände befand. Kathis Vater fuhr bis zum Eingang vor und ließ die beiden Frauen aussteigen. Er bog um die nächste Ecke und verschwand ausder Sicht. Wahrscheinlich brauchte er ein wenig länger, um einen Parkplatz in der Nähe zu finden, und dann auch das Gepäck mitzubringen.

 

Kathi erblickte die großen Schiebetüren, die sie bereits vor ein paar Wochen mit ihrer Mutter zum Aufnahmegespräch passiert hatte. Ihr fröstelte bei dem Gedanken für mehrere Wochen, über Weihnachten und den Jahreswechsel hinweg, in diesen fremden Mauern zu sein. Doch es ging kein Weg zurück, und so stiegen sie die Stufen hinaufundtratenindasFoyerderKlinikfürPatientenmitEssstörungenein.

 

Im hinteren Teil des Empfangsbereiches erwartete sie ein merkwürdiger Anblick: Eine riesige Menschenansammlung in der Eingangshalle. TraurigeundlachendeGesichtervermischtensich,Jungund Alt, dick und dürr…. Anreisende, alles noch vor sich, und Abreisende, gesund, mit vielen Erinnerungen und fotografierend vor dem festlich geschmückten Weihnachtsbaum. Alles wirkte unwirklich.

Vielleicht,weilichnichtwirklichbin.

DieabstrakteSituationnahmihrenLaufundKathiwünschte,siewürde zudenengehören,diejetztmitihrenAngehörigennachHausefahren

 

können,anstattsinnlosundsteifanNikolaushierzustehenundaufeine neueZukunftzuwarten,diesieeigentlichnichtwollte.KathisVaterkam mit dem Gepäck herbeigeeilt und riss Kathi aus ihren Gedanken.

 

Die nette Dame am Empfang der Klinik begrüßte die Familie und übergab Kathi ein Klemmbrett mit diversen Zetteln und einem Stift, um dann an einen Raum am Ende des Korridors zu verweisen.

 

Es ist derselbeWarteraum, in dem ich bereits vor dreiWochen saß für mein Erstgespräch in dieser Klinik. Kathi setzte sich, um die ausgehändigten Papiere zu bearbeiten. Die Eltern entledigten sich ihrer warmen Jacken und nahmen neben ihr Platz.

 

KathiblättertedurchdieDokumente,eswarenmehrereSeitenmitKästchenzumAnkreuzenundFreitextfeldern.EinVerhör.DieFragenzuihrerPersonnahmengefühltkeinEnde,dochsiemusstenfürdieAufnahmeimSystemvollständigbeantwortetwerden.Sträubenhalfalsonichts. WährendsieFrageumFragebearbeitete,warennochmehrPatientinnen undPatientensamtAngehörigendazugekommen.EsherrschteSchweigen, überall nur bleiche und starre Gesichter, kalterTee und eine wohl vergessene Packung Schokokekse direkt vor Kathi auf dem Tisch. Alle warenstill,nurKathisElternversuchten–leise,flüsternd–mitihrKonversationzubetreiben.DochKathikonntenichtfolgen,siewargänzlich überfordert. Die Kekse machten sie nervös.

Wer hat sich wohl diesen geschmackvollen Streich in einer Essgestörten-Klinik einfallen lassen? Während sie in ihren Gedanken noch nach dem Kekssünder suchte, gaben ihre Eltern das Gespräch mit ihrer Tochter auf. Die Situation machte ihnen sichtlich zu schaffen, die Tränen inden Augen ihrer Mutter waren nicht zu übersehen. Auch Kathi kämpfte mit ihren Gefühlen und wünschte sich, die Warterei würde endlich ein Ende haben.

 

Als sei Kathis hilfesuchender Blick durch die Mauer gesehen worden,wurde die Familie endlich aufgerufen. Eine große, schlanke Frau begrüßte sie und stellte sich als Dörte Haugendorn, Psychotherapeutin,vor. Sie lächelte freundlich und wartete, bis sich die Familie erhobenhatte. Danach schüttelte sie zuerst den Eltern, im Anschluss Kathi die Hand. Sie fühlte sich warm an, der Händedruck war kräftig und länger als bei förmlichen Begrüßungen mit Kunden beispielsweise. So, als ob sie kurz innehalten und der Situation etwas Besonderes geben wollte. Meine Hand fühlt sich bestimmt an wie der Tod, dachte Kathi. Die Situation war etwas unbehaglich, so viel Nähe konnte sie nicht gebrauchen, sie wollte nur noch weg, war aber gefangen.

Frau Haugendorn beendete die Szene abrupt, als sie zurTagesordnung überging. „Kommen Sie bitte“, sprach sie und machte eine einladende Handbewegung, ihr zu folgen.

 

Die Familie verließ den Raum und betrat den Korridor. Die Therapeutin lief energischen Schrittes voran durch die schier endlosen Flure, die sich vor ihnen befanden. Kathi und ihre Eltern hatten Mühe, ihrem zügigen Gang zu folgen.

„Tut mir leid, ich bin immer viel zu schnell unterwegs. Mein Mann beklagt sich auch immer darüber“, entschuldigte sie sich im Umdrehen unddrosselteihreGeschwindigkeit.Siepassiertendenmodernen Trakt der Klinik, der vor wenigen Jahren angebaut worden war, und gelangten schließlich in den Altbau. Das Gebäude erinnerte Kathi andie Häuser in der Südstadt in der Heimat, in der die Decken hoch und schön mit Stuck verziert waren. Hier war es ähnlich, die stattlichen Wände und das Gewölbe im Flurbereich verliehen der Krankenhausatmosphäre ein wenig Wärme und Charme.

 

Kathi fragte sich, wo sich wohl ihr Zimmer befinden würde. Frau Haugendornliefweiterhinvorihrherundsprachdabeiunentwegt,

 

doch Kathi hörte nichts. Sie hatte den Eindruck, sich am Ende eines langen Tunnels zu befinden, an dem es keine Fluchtmöglichkeit gab. Die lange Autofahrt, die Warterei, Durchqueren des riesigen Klinikkomplexes auf der Suche nach ihrem Bestimmungsort – es war zu viel. Kathis Sinne spielten verrückt. Ihr Kopf dröhnte.

 

NachzahlreichenGängenundEtagenfandsichdieGruppedannschließlich am Ende des Korridors vor einem Zimmer wieder, das dann wohl Kathisseinwürde.SiefühltesichwieeineVerurteiltebeiderAnkunftin einemStraflager,dasihrdienormaleWeltvorenthält.Zumindeststellte sie sich das in dem Moment so vor, aber natürlich entsprang der VergleichnurihrerFantasie,manifestiertdurchihrechaotischeGefühlswelt.

 

Die Therapeutin öffnete schwungvoll dieTür und ließ die Familie eintreten. Kathi schaute sich im Zimmer um: zwei Betten, die Einrichtung und Größe des Raumes, das Bad und der Ausblick – alles war super,wäre der Umstand an sich nicht gewesen, dass sie nicht in einem Wellnesshotel,sondernineinerKlinikfürEssstörungeneinquartiertwar. Es handelte sich europaweit um eine der wenigen Spezialkliniken, die ausschließlichdieseKrankheitundderenBegleiterscheinungenbehandelte.DasHausverfügteüberfast100stationäreBehandlungsplätze und behandelte mehrere Hundert Patientinnen und Patientenpro Jahr. Schon erstaunlich und auch erschreckend, wie viel Bedarf anscheinend bestand, diese Krankheit heilen zu wollen, sofern das überhaupt möglich war. Wenn auch der Wille dafür bestand.

Wenn es nach mir ginge, kann gerne alles so bleiben wie es ist. Denn wenn ich jetzt wieder essen muss, werde ich sicher fett und muss mich danndurch Sport wieder der hässlichen Pfunde entledigen. Aber auch das schaffe ich, das weiß ich. Denn mein Wille ist stark und ich bin unermüdlich und unerbittlich. Ich kann jedes Hindernis und jede Grenze überwinden. KathischautezurlinkenSeite,andersicheinesderzweiBettenbefand.

 

AufdemeinenlageingroßerKoffer,davorstandenzweiweitereGepäckstücke. Gegenüber befand sich die zweite Schlafmöglichkeit, unberührt und weiß. Die Koffer schienen von ihrer Zimmergenossin zu sein.

Genossin, genau das trifft es. Straflagergenossinnen. Oder ZellenbewohnerinnenimKnast? Wiesiewohlseinwird,meineMitbewohnerin? Wie ist ihr Name? Was macht sie beruflich? Wie alt wird sie sein? Welche Essstörung hat sie? Ich hoffe, dass wir gut zurechtkommen und dass siekeine Bulimie hat. Diese Krankheit ist schlimm, habe ich auch immer wieder. Es ist eine Belastung, das Fressen und Brechen anderer Menschen hautnahzuerleben.Aberichkennedasnurzugut.MitEsseninmeinemKörperhasseichmich,esistnichtgut,esschadetmir,peinigtmich, esmussweg.Kaumhabeichgegessen,denkeichdarübernach,wieich das Unheil abwenden und die Kalorien, die meinen Körper einnehmen, wieder loswerden kann. Die nächste Toilette darf nicht weit sein, mein Leben wird zum Spießrutenlauf.

 

Kathiversuchtenichtweiterdaranzudenken,wasihrnichtgelang. Zu übermächtig waren die Erfahrungen, die sie gemacht hatte. Überall hatte sie sich beobachtet gefühlt, denn natürlich hatten alle geahnt, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Genau, sie war nicht stimmig. Passte nicht mehr ins Bild. Es wurde zu schwierig, zu merkwürdig. Wozu soll man denn dann auch Fragen stellen? Viel zu anstrengend, denn mit den Antworten kann man eh nichts anfangen. Also stellt man am besten keine Fragen und schaut weg. Und so hatte keiner etwas gesagt, auch nicht im Fitnessstudio, wenn sie dort täglich über eine Stunde auf dem Laufbandzubrachte,unddünnerunddünnerwurde.GanzimGegenteil – sie war sogar noch ermutigt und bestätigt worden, weiterzumachen. Die Männer hatten ihr nachgesehen und ihr das Gefühl gegeben, attraktiv zu sein. Schöner mit jedem Pfund, das sie verlor.

Alle Laufbänder waren vor einer Spiegelwand angeordnet gewesen, Kathiliefsichselbstentgegenundkonntegleichzeitigbeobachten,

 

werdie TreppeausdemKrafttrainingsbereichhinunterkamoderin dieverschiedenenunterenoderweiterenStudioräumehineinging. Die Blicke der Männer sprachen Bände. Nach dem Laufen war sie verschiedentlich angesprochen worden, manchmal hatte sie auch eine Handynummerbekommen.InErgänzungzumAusdauersporthatte sie im Freihantelbereich trainiert oder an den verschiedenen Geräten, um ihre Muskeln zu definieren. Häufig mit dem ein oder anderen Herren, um die Aufmerksamkeit, die ihr gewiss war, zu genießen.

Alles hatte harmlos angefangen, um sich dann ins Grenzenlose zu steigern. Es war wie eine Sucht – der Hunger trieb sie an zum Sport und der Sport trieb sie an zum Hungern. Das Ergebnis hatte sie immer wiederbestätigtundihrgrenzenloseKraftgegeben,dasProgramm Tag für Tag zu wiederholen und zu genießen. Sie hatte endlich ihre Aufmerksamkeit. Egal, wo Kathi hinkam, die Auswahl an männlichen Verehrern und Gaffern war bombastisch, sie hätte an jedem Fingerzwei haben können, doch stand ihr nicht der Kopf danach. Nacheinem kurzen Smalltalk oder Flirt verlor sie das Interesse, denn ihr Körper stand im Fokus und sie konnte sich ausschließlich darauf konzentrieren. Sie genoss die Aufmerksamkeit, doch das Verlangen nach Körperkontakt zu Männern oder Sex wurde immer schwächer. Die Gedanken daran drangen überhaupt nicht durch dieses engmaschige Netz aus Körperkult und Fixierung. Es ging nur darum, gut bei der Männerwelt anzukommen und gesehen zu werden. Sobald sie das Interesse eines Mannes gewonnen hatte, spielte sie mit ihm. Die Macht über die Gefühle der Männer zu haben, sie mit ihrem Antlitz zu berauschen – das war der Kick. Mehr gab es nicht, denn mehr konntensie auch nicht geben. Kathi hatte sich im Tunnel befunden und alles andere um sie herum war abgeschottet, außerhalb von ihr und ihrem Leben. Nichts kam an sie heran, niemand kam an sie heran.

Esgabnurnochsiemitsichselbst.

SieunddieSucht.

 

Kapitel4

 

 

„Frau Lei, hören Sie mir zu? Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?“, fragteFrauHaugendornnunetwaseindringlicher.Kathiwarwieder im Jetzt angekommen, hatte überhaupt nicht gehört, was die Dame gesagt hatte, denn sie war in ihren Erinnerungen verloren. „Bevor wir Sie nun untersuchen und in der Klinik rumführen, müssen wir Ihre Sachen kontrollieren. Bitte öffnen Sie Ihr Gepäck und verabschiedenSie sich jetzt von Ihren Angehörigen.“

 

DieAufforderungkamsehrplötzlichundunerwartet.Wiesollman sichdaraufbittevorbereitenundwiesollmandassodirektumsetzen? Die Blicke zwischen ihr und ihren Eltern gingen hin und her, sie schauten sich an und weinten, umarmten sich und wollten einander nicht mehr loslassen.„Du schaffst das. Du bist stark“, sagte Kathis Vater.

 

Kathi sah ihren Eltern hinterher, als sie gingen, dann waren sie plötzlich weg. Eine leichte Panik machte sich in ihr breit. Doch sie kamnicht dazu, sich dieser hinzugeben, denn es erfolgte die Gepäckkontrolle. Sie musste den Inhalt beider Koffer komplett auspacken und die verschiedenen Teile vorzeigen. Kaugummis wurden gesichert, denn diese waren in der Klinik verboten. Die Antibabypille und die Herpescreme wurden erstmal konfisziert, sie mussten zur Genehmigung zum Arzt. Das Klinikteam hatte bereits kleine Klebeschildchen mit Kathis Namen und einer Nummer vorbereitet und ausgedruckt. Frau Haugendorn klebte sie auf die Verpackungen, tat sie in einen Beutel, durch den die Nummern noch immer durchschimmerten.

Ja, genauso fühle ich mich – wie eine Nummer. Ich bin Häftling 2701, untergewichtig,manerwartetschnellFortschrittevonmir,sonsterfolgt

 

die Zwangsernährung. Jawohl. Es fehlt nur noch der Wärter, der vor mir steht, und mich zur Handlung auffordert.

 

In ihren Gefühlen gefangen, liefen Kathi Tränen über die Wangen, es wurden mehr und mehr, denn sie hatte Angst, was kommen würde. Doch es gab keine Zeit und kein Erbarmen, denn sie musste sich mit den Regeln dieses Knastes vertraut machen und tauchte daher wieder auf aus ihrer tristen Gedankenwelt.

 

Die Therapeutin beruhigte sie, musste dann jedoch mit dem formellen Teil fortfahren. Es folgte ein langer Vortrag über die täglichen Abläufe zur Behandlung von Essstörungen in der Klinik, verschiedene Einblicke in die einzelnen Therapien und vieles mehr. Es schien kein Endezu nehmen. Kathi wurde ganz schwindelig von den ganzen Terminen und To-dos, Regeln und Pflichten.

 

Wiekannichdasbloßdurchstehen?Besondersschlimmwirdfürmich die Kontaktsperre: 14 Tage kein Telefonat oder Brief mit meinen Eltern oder anderem Angehörigen und Freunden. Isolationshaft! Kathi lief ein Schauer über den Rücken.

 

Als der Informationsstrom von Frau Hagendorn endlich beendet war, verließen sie das Zimmer und liefen durch diverse Korridore zu den Behandlungszimmern, die ab sofort für mindestens vier Wochen zum täglichen Anblick dazugehören würden.

 

KathimussteschonandennächstenTagdenken.Dermorgendliche Check umfasste unter anderem Wiegen und Blutdruckmessen. Wiegen. Ja, das kann ich gut, reflektierte sich Kathi und die vergangenen Zeiten.

 

Jeden Tag hatte sie sich im ganzen Jahr gewogen und peinlich genau Buch geführt über jedes Gramm zu viel an ihrem Körper. Jede Änderung nach unten hatte sie stolz gemacht und glücklich, hatte sie motiviert,weiterzumachen,ihrenKörperweiterlaufenund-hungern zu lassen. Kathi schwelgte in Erinnerungen an die Zeit, in der das LaufbandihrbesterFreundwarundsiegarnichtgenugvomLaufen bekommen konnte. Es lief immer weiter und sie lief mit. Immer weiter nach vorne, immer weiter zum Ziel, die nächsten Kalorien zu verbrennen und den Körper zu trimmen und zu verschönern. In diese Gedanken versunken, fiel sie fast die Treppen hinauf. Das Jetzt hattesie zurück.

 

„Hier vorne rechts melden Sie sich bitte im Schwesternzimmer. Dort bekommen Sie alle weiteren Informationen und ihre Medikamente.WirsehenunsdannmorgeninmeinerSprechstunde.Ihre Termine für morgen und die Woche bekommen Sie auch gleich. Kommen Sie erstmal gut an. Bis morgen“, sprach die Therapeutin und schüttelte Kathis Hand zur Verabschiedung.

 

AmBehandlungszimmerangekommen,erwarteteKathieinerschreckendes Bild. Im Flur vor dem zweiten Arztzimmer saß eine rappeldürre, großgewachsene junge Frau, wahrscheinlich etwas jünger als Kathi, schätzungsweise 21 Jahre alt. Es ließ sich schwer sagen, denn ihrGesicht war ausgemergelt und fahl, die Wangenknochen traten stark heraus, die Augen stierten gegen die genüberliegende Wand und hatten jeglichen Glanz verloren. Ihre Haare schienen vermehrt ausgefallen zu sein und die verbliebenen klebten acht- und hilflos an ihrem Kopf. DerMundwarzueinemblassenStrichgeformt,dazwischensteckte ein Strohhalm, der in einem kleinen milchtütenähnlichen Karton mündete. Ihre knochigen Hände hielten den Trinkkarton fest, sie regtesichnicht,auchnicht,alssichKathinebensieaufdenStuhlsetz-

 

te, um auf ihre Untersuchungen zu warten. Die Beine des Mädchens waren als solche nicht mehr zu erkennen, man sah nur die Knochen,die sich sehr deutlich unter der Hose abmalten und die Knie, die sich spitz durchdrückten. Der linke Arm hing nutzlos an ihrem Körper herunter, nur der Griff, der den Karton umklammerte, schien die Statur zusammenzuhalten. Nicht eine Bewegung war zu erkennen, alleslief extrem langsam und wirkte nicht real. Aber leider war Kathi tatsächlich da und das Mädchen auch.

NurnocheinpaarWochenmehr,undichhättevielleichtauchsodagesessen. Aber meine Muskeln hätten das niemals zugelassen.

 

Oderdoch?

 

EsvergingenendloseMinuten,ohnedasssichirgendetwastat.Die Tür zum Schwesternzimmer war geschlossen, eine weitere Patientin wohl noch drin. Die Stille war unerträglich. Was hätte Kathi in dem Moment für einen Kaugummi gegeben oder für die Anwesenheit ihrer Eltern, die in dieser Minute ruhig etwas Unpassendes hätten sagen dürfen – Hauptsache die unangenehme Stille war weg.

 

SomussderTodsein,wennmanalleinist.Einsam,kaltundstill.

 

Kapitel5

 

 

Die Tür schwang auf und die beherzte Pflegerin riss Kathi aus ihren traurigen Gedanken.

„Lina, bist du fertig? Hast du ausgetrunken?“, fragte sie mit einem warmen Lächeln Kathis Sitznachbarin.

Diese rührte sich erst nicht, drehte dann wie in Trance den Kopf und sagte:„Ichkannnichtmehr.Kannichnichtnachherweitermachen?“

„Ich stelle es dir kalt und wir probieren es in einer Stunde nochmal.Dumusstesheuteleertrinken,sonstmusstduinsKrankenhaus“, sagte die Schwester. Ihre Stimme war sehr angenehm, zwar bestimmt, aber warm und gütig.

Lina nickte nur, stand umständlich und langsam auf, um der Schwester den Karton auszuhändigen. Die Blicke trafen sich, Kathi sah in traurige Augenhöhlen, sah ein Mädchen, das aufgegeben hatte, müde, kraftlos, abwesend – ganz weit weg war sie, das Hier schien sie zu überfordern und zu quälen. So wie mich.

Sie sah zu, wie das Mädchen gekrümmt an ihr vorbeischlurfte. In Kathi zog sich alles zusammen, der Anblick von Lina hatte sie mitgenommen und sie überlegte erneut kurz, ob sie wohl auch irgendwann so aussehen würde, wenn sie den Weg in der Klinik nicht wie vorgesehen gehen würde. Nein, dazu wird es nicht kommen, meldete sich direkt Kathis Verstand. Dafür bin ich viel zu sportlich, meine Muskulaturbleibt, nur das Fett geht! Das Umschalten ihrer Gedanken funktionierte wie immer einwandfrei. Sie erblickte ihre Freundin am Ende des Ganges,dieihrzuwinkte.IhreFreundinMagersucht–kraftvollundstark.

 

„FrauLei,Siesinddran.Herzlichwillkommenbeiuns!Siesindheute angekommen, richtig? Ich habe schon Ihre Medikamente gerade bekommenzurVerwahrung.DiePillekönnenSienatürlichgleich

 

wieder mitnehmen, die Herpescreme behalten wir hier. Falls Sie sie brauchen, kommen Sie einfach hier wieder hin“, sagte die Schwester und lächelte Kathi an.

„Ja, ich bin eben erst angekommen. Danke Ihnen!“, entgegnete Kathi und brachte keine weiteren Silben heraus, obwohl sie vorher noch so viele Fragen in ihrem Kopf gesammelt hatte.

„Sie brauchen nicht aufgeregt zu sein, wir machen jetzt noch ein paar Untersuchungen und dann können Sie direkt zurück in Ihr Zimmer und sich erstmal einrichten und ankommen. Haben Sie Ihre Zimmernachbarin schon kennengelernt?“

„Nein, leider noch nicht. Sie war eben nicht da, als ich mit meinen Eltern ankam. Und dann bin ich ja auch schon los zu Ihnen“, erwiderte Kathi.

„Okay, dann starten wir jetzt sofort, dann haben Sie noch etwas Zeitbis zum Mittagessen. Ich bräuchte etwas Urin von Ihnen und Blut müssten wir nachher auch noch abnehmen. Aber eins nach dem anderen. Ziehen Sie sich bitte kurz hinter derTrennwand aus, ich muss Sie wiegen und messen.“

 

Kathi trat in das Zimmer ein und ihr wurde ganz schummrig zu Mute. So ähnlich mussten sich wohl junge Männer bei der Musterung fühlen.

„IchbinSchwesterKlara,SiebrauchenkeineAngstzuhaben“,sagte sie und verzog ihren Mund zu einem kräuseligen Lächeln.

Scheinbar hat sie meine Hemmungen gemerkt und will mich etwas aufmuntern,