Adrica & Daria - Peter Fleischer - E-Book

Adrica & Daria E-Book

Peter Fleischer

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Beschreibung

(Buch 5) - Kadra und das Versteck in den Bergen

 

Der Ernst des Lebens beginnt für die Zwillinge Shorny und Sonmo am selben Tag, an dem sie ihre Magierprüfung ablegen.

Die Verwandten treffen ein, die kleine Familienfeier findet ihren Höhepunkt, als ihnen die Zwillinge Harifa und Hatiem buchstäblich in die Arme fallen.

Sie finden Wege, Ereignisse, die notwendig sind, um den Zeitplan für die endgültige Befreiung des Archipels zu erfüllen.

Der Dunkle Magier verbirgt sich weiterhin hinter seiner wahren Identität und benutzt den Küsten– und Landräuber Zembra für ein Ritual, das für seine Macht von großer Bedeutung ist.

Kadra, die Weiße Magierin, und Torak, dessen magische Fähigkeiten denen von Kadra in nichts nachstehen, schaffen für die Gefährten unvorstellbare Bedingungen,

um an dem Ritual teilnehmen zu können – werden sie Zembra, das Werkzeug des Dunklen Magiers, besiegen können?

 

(Buch 6) - Kadra und das Duell der Magien

 

Shirah und Pedro erfahren die Bedingungen, um den Küsten– und Seeräuber Zembra zu besiegen, und akzeptieren die Bedingungen.

Vier Mitglieder einer Familie müssen den Gegner besiegen, ein Orakel wacht über die Auswahl der Herausforderer. Es scheint unmöglich, diese Bedingungen zu erfüllen.

Shorny und Sonmo sind Auserwählte der Grotte der Wahrheit, wird ihr Einsatz zum Sieg führen?

Harifa und Hatiem werden wie ihre Eltern auf getrennten Wegen weitere Missionen erfüllen.

Zwei junge Atlanter scheinen den weiteren Verlauf der Mission zu stören, gehören sie zu Jaffard? Beginnt dieser einen Rachefeldzug?

Nach dem Sieg ist Erholung angesagt. Shirahs Familienanwesen auf der Insel Mangoa scheint dafür geeignet, auch hier macht Jaffard den Gefährten einen Strich durch die Rechnung.

Shorny fällt dem Magier in die Hände, nur sechs aus einer Familie sind die Rettung. Alle Zusammenkünfte gehen über die Zahl hinaus.

Wieder spielen die beiden jungen Atlanter eine Rolle, wer sind sie?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Adrica und ein Wunder

 

Buch 1

 

Diese Geschichte ist frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Handlungsorte sind teils fiktiv

 

Kapitel 01 – Adricas Traum

 

Tanglewood, ein Ortsteil von Santa Maria in Santa Barbara County, Kalifornien

 

Einführung

 

Mein Name ist Adrica, und ich habe beschlossen, die Ereignisse vor und seit meinem zwölften Geburtstag aufzuschreiben. Die mysteriösen Ereignisse begannen zur Adventszeit in der Gemeinde Tanglewood, die zu Santa Maria in Santa Barbara County, Kalifornien, gehört. Als ich wegen einer Kleinigkeit ins Krankenhaus musste, hatte meine Mutter die Gelegenheit, das Leben eines anderen zu retten. Damals konnten wir nicht ahnen, was das für unser zukünftiges Leben bedeuten würde. Als ich Daria kennenlernte, hatten wir beide keine Ahnung, was auf unsere Familien zukommen würde. Waren es nur Zufälle oder Teil eines alten Plans? Gemeinsam mit Daria versuche ich der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Die Ereignisse, die mir von allen beteiligten Personen berichtet wurden, bilden die gesamte Geschichte, die ich als Adrica niederschreiben werde.

 

Adrica saß nervös am Küchentisch und schlug zeitweise die Beine übereinander. Ihre Mutter Ricarda beendete gerade ein Telefongespräch und legte den Hörer auf. Adrica drückte mit einem Finger auf ihr Wurstsandwich und schaute aus dem Küchenfenster, danach zum Kalender, der am Kühlschrank hing. Es war der 13. Dezember 2010. Ricarda war stolz auf ihre Tochter, die schon seit der ersten Klasse ein besonderes Interesse am Lesen und Schreiben zeigte. Adricas Blick zum Kalender blieb nicht unbemerkt – es war die dritte Adventswoche.

 

Sie spülte die Bissen in ihrem Mund mit einem Schluck Milch herunter und drehte dabei die Augen in Richtung ihrer Mutter. Die Hefte für den Unterricht lagen gut sichtbar auf dem Sideboard, wenn man die Treppe hinunter in den Flur kam. Der Schultag endete selten vor drei Uhr nachmittags. Nicht immer schmeckte das Schulessen und nicht immer waren die Hausaufgaben so, wie man es sich wünschte.

 

Ricarda hob das Küchentuch von einer Schale, in der sich Kuchenteig befand, und nebenbei lagen vorbereitete Äpfel auf einem Holzbrett. „Mach dir keine Gedanken über das C in Mathe. Ich weiß, du gibst dir große Mühe“, sagte sie, während sie auf die grünen Ziffern der Backofenanzeige schaute, die unaufhaltsam die Zeit anzeigten. „Ich war nicht anders, aber sicher hast du das schon von deinen Großeltern gehört.“ Adrica lächelte, ob das eine Bestätigung war oder etwas anderes, darüber sprach sie nie.

 

  „Das mit dem C, daran arbeite ich schon“, kaute Adrica auf einem Stück Mandarine. „Habe ich die Aufgabe richtig gelöst? Du hast sie dir gestern Abend angesehen.“

  „Ja, das habe ich. Und weißt du was?“, antwortete Ricarda. Adrica schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf ihr Sandwich.

  „Meine Eltern haben mich im Unklaren gelassen, aber deine Großmutter hat mir zugewinkt, als wir den Schulweg angetreten haben. Für mich war das ein Zeichen, dass ich ihr eine Extraportion Zuneigung geben sollte, denn ich habe den Hinweis verstanden.“

Vom Tisch kam ein „Aha“, dass Ricarda als Zustimmung interpretierte.

  „Ich hatte einen tollen Traum“, sagte Adrica und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich. „Es fühlte sich so nah und real an. Es war unglaublich.“

  „Darauf bin ich gespannt. Ich hoffe, du hast nach dem Unterricht Zeit, mir davon zu erzählen. Ich weiß, dass du Ereignisse sehr gut in Erinnerung behalten kannst. Besser als ich es in deinem Alter konnte und auch heute noch. Einverstanden?“

  „Ja, ich freue mich und ich kann dir sagen, dass du das auch unglaublich finden wirst“, sagte Adrica. In den Worten ihrer Tochter hörte Ricarda etwas, das sich versteckte, etwas, das sie selbst weit in die Vergangenheit zurückführte.

 

Adrica verließ das Haus und befand sich auf dem Schulweg. Neben den Pausenbroten hatte sie auch eine orangefarbene Plastikbox mit Obststücken dabei. Wie jeden Tag traf sie auf ihre Schulfreundinnen, was den gemeinsamen Weg und Gespräche über Hausaufgaben und das, was sie an diesem Tag erwartete, angenehm machte.

 

Zuhause

 

Ricarda knetete den Teig und legte ihn in eine Form, die sie mit Apfelstücken belegte. In wenigen Augenblicken würde sie die Form in den vorgeheizten Backofen schieben. Oft drängten sich Erinnerungen aus der Vergangenheit in ihre Gedanken und nahmen teil an den alltäglichen Hausarbeiten und dem Umfeld. In den nächsten fünfzig Minuten hatte sie Zeit für die Wäsche, und es gab keine Chance, dass der Kuchen anbrennen würde – dafür sorgte die Automatik des Ofens.

 

Ricarda hielt viele Ereignisse fest, die ihre Gedanken beherrschten. Gerade jetzt in der Adventszeit wäre Adrica ein Christkind geworden, aber sie entschied sich dafür, früher auf die Welt zu kommen. Der Wendepunkt in ihrem Leben war das Kennenlernen von Carlos. Oft versuchte Ricarda herauszufinden, ob das zu den Höhen oder Tiefen in ihrem Leben zählte. Carlos war Verkäufer in einem Imbisswagen und arbeitete für einen kleinen Familienbetrieb, um sein erstes Geld zu verdienen. Es war kein schnelles Kennenlernen. An einem verregneten Frühlingstag ging ihr flüchtiges ‚Hallo‘ über eine einfache Begrüßung hinaus.

 

In ihrem kleinen Büro setzte sich Ricarda an den Schreibtisch, schaltete ihr Notebook ein und überprüfte die Verbindungskabel von DSL, dem externen Datenspeicher und dem Multifunktionsdrucker. Sie hatte noch Zeit, bis Conrad, der Sohn ihres Chefs, ihr Akten aus der Kanzlei zur Bearbeitung brachte. Wieder dachte sie an die Studienzeit und an Carlos zurück. Sie öffnete eine Schublade, warf einen Blick in den Flur und drehte sich dann zum Fenster um. Das Notebook war bereit für seine Aufgaben, musste aber noch warten, da sein Benutzer zuerst ein Fotoalbum auf den Tisch legte. Langsam schob Ricarda die Folie zur Seite und berührte zart die Bilder, Erinnerungen an schöne Momente in ihrem Leben, wie diesen, der gute neun Jahre alt war.

 

~ In Erinnerungen ~

 

Im Licht der untergehenden Sonne sah Ricarda Carlos. Sie waren vor dem Steakhaus verabredet, an einem der wenigen Tage, an denen sie sich mit Rock, Bluse und Weste kleidete, um nur als Beisitzerin von Rechtsanwalt Walker, ihrem Chef und sehr guten Freund ihrer Familie, im Gerichtssaal aufzutreten.

Sie blieb stehen, während die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand und Carlos gleichermaßen langsam eine junge Frau, die in seiner Begleitung war, an sich heranzog. Ricarda wusste nicht, wie sie in diesem Moment handeln sollte. Die wichtige Nachricht, die sie für Carlos hatte, hinderte sie nicht daran, den Heimweg anzutreten. Hatte sie das richtig gemacht? Vielleicht war alles nur ... nein, weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht.

Als das Telefon klingelte, wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Sie nahm sich zusammen, doch es war nicht einfach, mit tränenverschlossener Stimme zu sprechen. Ihre Entschuldigung war formlos, vor Gericht hätte sie keine glaubwürdige Haltung gehabt – warum dachte sie gerade jetzt an ihr Studium? Vom anderen Ende der Leitung hörte sie nur die Frage nach einem neuen Treffen.

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, legte Ricarda schluchzend das Telefon auf die Station. Ihre Nachricht war zu wichtig, also entschloss sie sich, das nächste Treffen einzuhalten. Noch wusste sie nicht, ob sie Carlos wegen der anderen Frau ansprechen sollte.

Ricarda sah auf das Display des Notebooks.

Carlos war nicht zum nächsten Treffen erschienen, davon war Ricarda überzeugt. Sie wollte es wissen und sprach mit dem Besitzer des Steakhauses. Wieder war diese Frau im Spiel und von ausgetauschten Zärtlichkeiten war die Rede. Ricarda bestellte ein extra großes Steak mit Bratkartoffeln und ein großes Glas Cola.

Carlos meldete sich nicht mehr und die Nachricht, die für ihn bestimmt war, erfüllte sich in Ricardas Mutterglück, und das in jeder Hinsicht.

 

Ein kurzes dreimaliges Klingeln holte Ricarda in die Gegenwart zurück. Auf ihrem Gesicht wechselten sich Lächeln und Tränen ab.

Ricarda begrüßte den jungen Mann, der vor der Haustür stand: "Es ist früh, komm rein. Entschuldige bitte, ich muss nach dem Kuchen sehen, er sollte längst fertig sein. Wie läuft es im Büro?"

  „Dank der Nachfrage, aber es gibt Tage, die sind echt ... hm, der Kuchen riecht gut. Was wollte ich sagen? Ach ja, die neue Verteidigung, ein schwerer Brocken. Ben war sich sicher, aber jetzt kommen ihm Zweifel. Zunächst gab es eindeutige Beweise, aber das kannst du selbst aus den Akten entnehmen. Wie macht sich Adrica in der Schule?“

Nachdem Ricarda den Kuchen auf ein Holzbrett gestellt hatte, zog sie sich die Handschuhe aus und füllte zwei Gläser mit Cola.

  „Ich habe noch zwei Sandwiches, wenn du möchtest?“

„Danke gerne, ich hatte noch keine Gelegenheit“, sagte Conrad und griff nach dem Brot. „Ich habe Ben noch nie so ratlos gesehen.“ Mit dem Colaglas in der Hand stellte er sich vor die Terrassentür. Ricarda drückte eine Taste an der Spülmaschine und stand wenige Augenblicke später neben ihrem Besucher.

  „Ich schaue es mir an“, sagte sie und warf einen Blick auf die Akten, die auf dem Tisch lagen. „Habt ihr Fotos?“

Conrad nickte und nahm einen Schluck aus dem Glas.

  „Viel mehr, Videoaufzeichnungen, Kopien von Überwachungskameras.“

  „Ich schaue es mir an und bestelle Ben einen Gruß von mir. Kopf hoch, das wird schon. Du weißt, gemeinsam sind wir ein gutes Team. Zu deiner Frage, Adrica macht sich gut in der Schule. Bisher hat sie in Mathematik und Sport eine C–Note, aber das wird noch besser. Möchtest du etwas sehen?“

Sie bat Conrad, der einen Blick auf seine Armbanduhr warf, in ihr kleines Büro.

  „Wenn es nicht zu lange dauert.“

  „Nein, bestimmt nicht“, sagte sie und nahm einen Schnellhefter vom Wandregal. „Das ist von ihr. Sie hat mich gebeten, das, was sie geschrieben hat, im Computer zu speichern. Du hättest ihre leuchtenden Augen sehen sollen, als sie zum ersten Mal ihre kleine Geschichte auf dem Bildschirm las. Ich weiß nicht, ob ich es ihr…“

  „Sie ist Elf und wird in wenigen Tagen zwölf. Unter deiner Aufsicht kann ich es mir vorstellen. Natürlich darf es nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen, und Hausaufgaben müssen natürlich erledigt sein.“

  „Du sprichst verständnisvoll“, sagte Conrad, während er mit den Schultern zuckte und die letzten Sätze im Hefter las. „Das hier ist gut. Sie hat viel Fantasie, aber sie denkt viel an dich. Die Beschreibung der Haushälterin ist witzig, den Namen hat sie wohl dir zuliebe gewählt.“

  „Ich weiß es nicht, kann es mir aber denken“, antwortete Ricarda mit einem unsicheren Lächeln. „Sie weiß ja, wie ihre Mutter ist. Ich will dich nicht aufhalten, Conrad, dein Vater erwartet dich in der Kanzlei.“

  „Du hast recht, wenn es etwas Wichtiges ist“, erwiderte Conrad und deutete auf das Telefon. Er legte den Hefter neben das Notebook auf dem Tisch.

  „Ich werde es ausrichten. Grüße von uns beiden“, sagte Conrad, bevor er ein paar Schritte ging.

  „Die Geschichte ist gut, schon auf der ersten Seite. Lass sie weiter schreiben, ohne sie zu drängen. Ich spreche mit dem alten Muff, du weißt schon, der Verleger, der auch unsere Formblätter druckt. Er ist besessen von Fantasy–Geschichten.“

  „Danke, Conrad“, sagte Ricarda, als sie die Haustür hinter sich schloss. Als sie wieder in ihrem Büro war, nahm sie den Hefter vom Tisch, schlug ihn auf und las Adricas Geschichte.

  „Gar nicht so schlecht“, dachte sie und legte den Hefter neben das Notebook. Sie reckte sich, stützte dann ihre Hände auf den Tisch. Das Telefon unterbrach die Spannung, die zwischen Ricarda und Adrica entstanden war.

  „Ich komme sofort“, bestätigte sie beunruhigt dem Anrufer. Signaltöne aus dem Keller signalisierten, dass das Waschprogramm der Maschine beendet war. Das Notebook fuhr das System herunter und schaltete den externen Datenspeicher aus. Nach einem kurzen Blick in die Küche verließ Ricarda das Haus.

Kapitel 02 – Im Krankenhaus

 

  „Es ist wirklich nichts Ernstes, gehen Sie zu ihr“, sagte die Ärztin und sah durch die Glasscheibe der Tür. Dann wurde sie nachdenklich. „Ich habe eine Bitte, eine ungewöhnliche Bitte. Eigentlich dürfte ich nicht“, sie sah erneut durch das Fenster.

  „Gibt es Schwierigkeiten?“, wollte Ricarda wissen.

Die Ärztin schüttelte den Kopf.   „Mit ihr nicht. Kann ich Sie sprechen? Sagen wir in meinem Zimmer.“

  „Ja, natürlich. Wir kennen uns seit Adricas Geburt, Sie scheinen mir besorgt zu sein.“

  „Danke, dass Sie sich bereit erklären. Wir sprechen darüber.“

 

Im Arztzimmer

 

Es war ein erschütterndes Gespräch, das die Ärztin mit Ricarda führte. „Das ist im Großen und Ganzen alles, was ich sagen kann“, sagte die Ärztin und klappte die Krankenkarte zu. Sie stellte sich rücklings an den Tisch und sah durch das Fenster auf den Flur. Ihre Gedanken führten sie mehr als elf Jahre in die Vergangenheit zurück. „So lange ist das her?“, flüsterte sie und wandte sich zu Ricarda. „Sie hatten sich vor langer Zeit eintragen lassen und haben die Werte. So eine Entscheidung muss überlegt sein, das braucht Bedenkzeit. Zeit, die der Patient nicht hat. Ich kann nur eins ... Nein, falsch. Ich weiß nur, dass der Patient mit Glück das Weihnachtsfest in der Klinik erleben kann. Wenn er besonderes Glück hat, erlebt er noch ein paar Tage im neuen Jahr. Das ist aber schon viel“, die Ärztin drehte die Krankenakte auf dem Tisch und zögerte einen Augenblick.

  „Danke für alles. Eine Frage: Kann ich den Patienten sehen?“, fragte Ricarda und warf einen Blick auf die Krankenakte. Ein Gefühl zwischen Kälte und Wärme durchfuhr sie, ein Kribbeln, das sie als kleine Stiche unter der Haut spürte.

 

Auf der Station

 

Das Kribbeln ließ sie vor der großen Scheibe des Krankenzimmers erstarren. Dort stand sie, über zwölf Jahre später erkannte sie die Frau an seiner Seite. Ihre Blicke erfassten auch das Mädchen, das am Bettende stand und ihr den Rücken zuwandte. Was sollte sie jetzt machen? Ihr waren alle Umstände bekannt, die Stimmen, die sich ihrer bemächtigten, überlagerten Bilder aus der Vergangenheit und schoben sich wie ein Traum in die Gegenwart. Ricarda bemerkte nicht, dass sich die Laborantin neben die Ärztin gestellt hatte.

  „Auch aus Phoenix ist nichts Verwendbares dabei“, sagte die Laborantin und atmete tief durch. „Wenn wir nicht…“

  „Ich weiß es und du weißt es“, unterbrach die Ärztin sie und wandte sich dann an Ricarda. „Das ist meine Schwester. Sie wollte schon als Kind in den medizinischen Bereich. Sie hat uns damals schon mit ihren Experimenten mit dem Chemiebaukasten beeindruckt. Noch ist die Wissenschaft nicht so weit, um dieser Krankheit entgegenzutreten.“

  „Wenn wir nicht bald einen Spender finden ... du weißt, welchen zeitlichen Spielraum wir haben.“

Ricarda hörte das Gespräch der Schwestern mit an. Wie sollte sie sich entscheiden? Es war eine große Verantwortung. Sie sah auf das Mädchen. Ist das wirklich das, was sie dachte? Die nächsten Worte legten sich wie packende Hände um Ricardas Hals.

 

  „Er verbringt sehr viel Zeit mit seiner Familie“, sagte die Laborantin und wischte sich Tränen aus den Augen. „Als er von seiner Krankheit erfuhr, war das wie ein Schlag für ihn.“

Die Ärztin übernahm das Gespräch.

  „Das muss jetzt fast zwölf Jahre her sein. Er gab seinen Job auf und zog mit seiner Familie nach Santa Barbara, wo auch seine Eltern leben. Vor einigen Tagen kehrten sie nach Santa Maria zurück. Ich kann die Städte nicht mehr aufzählen, in denen sie ... Entschuldigen Sie bitte“, wandte sich die Ärztin an Ricarda.       „Die Familie des Patienten ist eng mit unserer befreundet. Einmal erzählte er, damals verkaufte er noch Essen aus einem Imbisswagen, er habe den Traum seines Lebens kennengelernt. Doch bevor ... Davon wollen Sie bestimmt nichts wissen“, die Ärztin sah Ricarda an. „Ich könnte sie mit dieser Frau vergleichen. Er hatte seinen Traum genau beschrieben, wollte die junge Frau nicht mit seinen Sorgen belasten. Er ist glücklich, bei seiner Familie leben zu können.“

 

Ricarda fühlte sich von Tausenden Nadeln gestochen. Viele Gedanken trieben durch ihren Kopf, blieben für einen Moment als Bilder einer Erinnerung stehen, flogen weiter und endeten am Tor der Gemeindekirche.

Langsam lief sie den Flur entlang. Adricas Stimme drang in ihre Ohren, nicht aus dem Raum hier, sondern das, was sie am Morgen beiläufig erwähnte.

  „Ich hatte einen tollen Traum. Das war so nah, so real. Das war unglaublich.“

  „Adrica muss noch etwas warten. Schwester Bea bringt sie zum Röntgen und danach bekommt sie einen Verband“, hatte die Ärztin gesagt.

 

Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, atmete Ricarda tief durch und lächelte ihrer Tochter entgegen.

Adrica reagierte nicht wie üblich. Sie sah auf ihr Bein. Schuldgefühle? Warum? Ihre Mutter schloss die Tür. Noch immer wurde sie von Gedanken überflutet, die nun bei Carlos und der jungen Frau waren.

 

  „Ist alles in Ordnung? Wie ist es passiert? Du kannst es mir später erzählen. Ich möchte nur wissen, ob es dir gut geht“, sagte Ricarda besorgt und drückte Adricas Knie.

  „Ja, es geht mir schon besser“, antwortete Adrica und seufzte.

  „Die Hose hat viel abgehalten, nach dem Waschen sieht sie aus wie neu. Ich kann nichts erkennen, was kaputt ist. Aber jetzt erzähl mir erst mal von deinem Traum. Ich bin so gespannt darauf, eine unglaubliche Geschichte zu hören. Das wird uns beiden guttun“, sagte Ricarda und drehte ihre Uhr am Handgelenk.

  „Wir können noch nicht gehen“, flüsterte Adrica leise.

  „Stimmt, ich möchte noch mal mit deiner Ärztin sprechen. Aber erzähl mir schon mal von deinem Traum. Ich sehe, dass du wieder lächelst“, ermutigte Ricarda sie.

  „Es gibt nicht viel zu erzählen. Es war nur seltsam, dass ich heute tatsächlich hier im Krankenhaus bin. Deshalb wollte ich dich nicht beunruhigen“, antwortete Adrica und schwieg einen Moment. „Das Unglaubliche war, dass ich einem Fremden begegnet bin, hier auf dem Flur. Er sah unheimlich aus und hat mich um Hilfe gebeten.“

  „Unheimlich? Was meinst du mit unheimlich?“, fragte Ricarda neugierig.

  „Weiß nicht. Er trug ein weißes Nachthemd und hatte dunkel umrandete Augen. Dann hat mich eine Ärztin angesprochen und dann bin ich aufgewacht“, erklärte Adrica.

Ricarda wusste, dass der Traum ihrer Tochter der Realität nahekam.

  „Träume sind nicht immer nur unerfüllte Wünsche. Träume können auch unheimlich sein oder wie ein Märchen wahr werden. Oft träumen wir von Dingen, die wir uns wünschen oder von Menschen, mit denen wir befreundet sein möchten. Es gibt so vieles, was wir uns erfüllen möchten oder was uns durch andere erfüllt wird“, sagte Ricarda und schaute kurz zur Tür. Ihre Gedanken erinnerten sie daran, dass Adrica ihr größter Wunsch war, den sie nur mit Hilfe von Carlos erfüllen konnte. Jetzt lag er hier und niemand wusste, ob er das Weihnachtsfest überleben würde oder ob er das neue Jahr erleben könnte. Ein Karussell aus Liebe, Leid, Verantwortung und vielen anderen Gefühlen drehte sich in ihrem Kopf.

  „Möchtest du einen Kakao? Im Besucherraum gibt es Automaten“, schlug Ricarda vor.

  „Kann ich auch einen Schokoriegel haben?“, fragte Adrica neugierig.

Das Lächeln ihrer Mutter war für Adrica ein eindeutiges Ja, zumindest für den Teil ihrer Frage.

  „Ach übrigens, du hattest recht mit den Hausaufgaben. Also einen Kakao und einen Schokoriegel. Ich muss sowieso mein Bein bewegen“, sagte Adrica.

  „Was meinst du mit den Hausaufgaben?“, fragte Ricarda und sah auf den Fuß, der den Boden berührte.

  „Hast du es vergessen? Denk an Großmutter“, erinnerte Ricarda sie und suchte in ihrem Portemonnaie nach Münzen für die Automaten.

  „Wenn du fertig bist, werde ich mit deiner Ärztin gesprochen haben und warte in der Cafeteria, okay?“, schlug Ricarda vor.

Adrica nickte und folgte Schwester Bea, die gerade den Telefonhörer aufgelegt hatte.

 

Im Arztzimmer

 

  „Vielen Dank, dass Sie sich noch Zeit genommen haben. Ich würde vorschlagen, Adrica bis zum Wochenende von der Schule zu entschuldigen“, sagte Ärztin, zögernd fuhr sie mit einer Frage fort. „Könnten sie mir auf meine Frage, die ich Ihnen vorhin stellte …“ Ricarda unterbrach die Frage: „Wenn es möglich ist, werde ich das tun.“

  „Sind Sie sicher, dass Sie das übernehmen möchten? Ein Gespräch dauert normalerweise nicht länger als zwanzig Minuten.“

  „Ich werde mit Adrica reden. Sie ist ein kluges Mädchen und lernt schnell, wenn es sein muss. Außerdem findet sie schnell heraus, was wichtig ist und was nicht. Ihre Großeltern wohnen nebenan, also ist für Aufsicht gesorgt“, erklärte Ricarda.

 

Nach dem Gespräch im Besucherraum

 

Ricarda warf Münzen in den Getränkeautomaten, drückte die Auswahltaste und der Becher fiel in die Halterung. Das Geräusch einer Kaffeemühle drang aus dem Automaten. Sie sah zum Tisch, auf dem die Zeitschrift lag, in der Adrica geblättert hatte. Der Besucherraum war leer. Hinweistafeln an der Wand zeigten den Weg zur Cafeteria. Ricarda schüttelte den Kopf und blickte schnell in die Runde. Zum Glück hatte niemand sie beobachtet.

Vertieft in ihre Gedanken blätterte sie in der Zeitschrift. Die historischen Stadtfotos fesselten ihre Aufmerksamkeit. Was von dem damaligen Central City, das 1885 in Santa Maria umbenannt wurde, war heute noch erkennbar? Sogar die Flagge vor dem Rathaus hatte weniger Sterne als heute. Woher hatte Adrica die Ideen für ihre Geschichte? Ricarda erinnerte sich an die Randnotizen, die Adrica über den Verlauf der Geschichte gemacht hatte. Es war erstaunlich, wie ein fast zwölfjähriges Mädchen einen roten Faden in ihren Gedanken hatte.

 

Ihre Gedanken schweiften zunächst über das, was sich gerade im Krankenhaus ereignete, dann gingen sie in die Zukunft und blieben am Weihnachtsfeiertag stehen. Die Zeit flog Jahre zurück und die damaligen und heutigen Ereignisse zeichneten zusammen ein Bild der Wahrheit.

Sie erinnerte sich an ein Zitat, das jemand im Büro erwähnt hatte: „Ich glaube nichts, was ich höre, und nur die Hälfte von dem, was ich sehe, bevor ich mich selbst überzeugt habe.“ Hatte sie sich von dem, was sie sah, überzeugt? Nein.

 

Ein unsichtbares ‚Ich‘ setzte sich neben Ricarda und starrte wie sie auf die Seite der Zeitschrift. In dem zurückgelehnten Stuhl überlegte sie, welches der abgebildeten Angebote für ihre Tochter geeigneter wäre. Ja, Adrica sollte einen Computer zu Weihnachten bekommen. Das wäre auch ein Zugeständnis an Bens Vorschlag, die ständigen Geschenkanfragen im Büro zu beenden. „Du machst das richtig“, flüsterte eine Stimme. Ricarda lächelte nur trotzig und antwortete still: „Natürlich mache ich es richtig.“ Ein nicht ausgesprochener Seufzer hätte nur zwei Worte: Oh Mann. PC oder Notebook? Conrad musste helfen.

 

Ein kurzer Moment des Einschlafens hatte Ricarda ergriffen.

 

Auf dem Flur erklärte eine Krankenschwester einem suchenden Mädchen den Weg zur Cafeteria. „Mutti möchte einen Becher Kaffee und ich Kakao“, bedankte sich das Mädchen bei der Krankenschwester. Ricardas linke Hand ließ die umklammerte Zeitschrift über ihre Oberschenkel rutschen, als sie die Augen öffnete. Durch das Geräusch einer fallenden Münze sah sie zum Getränkeautomaten und unterdrückte ein aufkommendes Gefühl. „So ein Mist. Warum geht das nicht?“, fluchte das Mädchen leise, als es die abgelehnte Münze aus dem Rückgabefach nahm.

 

Ricarda legte die aufgeschlagene Zeitung auf den Tisch. „Warte, ich helfe dir“, sagte sie und griff in ihre Jackentasche, da sie oft Kleingeld dabei hatte. „Das passiert schon mal, besonders bei abgenutzten oder ganz neuen Münzen.“

Wie zuvor am Fenster im Flur betrachtete sie das Mädchen von hinten. Ein Schreck durchfuhr ihren ganzen Körper, als sie sich vom Automaten wegbewegte. Vor ihr stand eine Doppelgängerin ihrer Tochter.               „Entschuldigung, sind Sie Adricas Mama?“, fragte das Mädchen.

  „Ich bin Adricas Mutter“, antwortete Ricarda, immer noch den Schrecken verarbeitend und mit einem freundlichen Gesichtsausdruck.

  „Es muss seltsam für Sie sein, Ihre Tochter in Begleitung einer Doppelgängerin zu sehen“, begann Daria schüchtern das Gespräch. „Ich musste mich auch erst daran gewöhnen, dass sie wie ich aussieht. Und das wird erst richtig komisch, wenn ich mich als Neue in der Klasse vorstellen muss. Heute ging das nicht. Ich weiß nicht, wo sie ist? Wir wollten uns hier treffen.“

Ricarda steckte eine Dollarmünze in den Automaten, das Mädchen drückte die Auswahltaste und stellte anschließend den Becher auf den Tisch. Der Vorgang wiederholte sich noch einmal für den Kakao. „Danke für Ihre Hilfe“, sagte das Mädchen.

  „Wenn ich helfen kann, mache ich das“, antwortete Ricarda.

  „Hier ist der Dollar. Ich kann nichts Besonderes daran finden“, sagte das Mädchen und interessierte sich mehr für die Werbung in der Zeitschrift. „Die Notebooks sind nicht schlecht. PCs kann man aufrüsten. Ich kann mir schon denken, warum meine Eltern mich gefragt haben. Ich muss dann gehen, sonst wird der Kaffee kalt. Und nochmals danke.“

  „Schon gut“, erwiderte Ricarda und lächelte dem Mädchen zu. „Es ist nett, dich kennenzulernen. Adrica ist in deinem Alter und sie hat sich heute verletzt, nichts Ernstes.“

„Das beruhigt mich“, sagte das Mädchen erleichtert. „Es war Adricas Fahrrad, auf jeden Fall sind wir zusammengestoßen und sie ist unglücklich gestürzt. Ich möchte Adrica in den nächsten Tagen besuchen, wenn es möglich ist?“

  „Ja, sicher, wenn deine Eltern es erlauben“, antwortete Ricarda.

  „Allein schon wegen der Hausaufgaben, die muss sie ja bekommen. Ich denke, sie wird diese Woche nicht zur Schule gehen können. Oh je, ich darf nicht an morgen denken. Mein erster richtiger Tag in der neuen Schule.“

  „Dankeschön, das ist sehr nett von dir. Hier ist meine Karte, da steht die Adresse drauf, sowie die Telefonnummern“, sagte Ricarda und reichte Daria die Karte.

 

Daria warf einen Blick darauf und sah Ricarda an. Es schien, als wolle sie etwas sagen, aber sie steckte die Karte in ihre Hosentasche. ‚Das ist mehr als ein Zufall‘, dachte Ricarda und Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Sie hatte es nicht gewagt, das Mädchen auf ihre Familie anzusprechen, und das als Rechtsanwältin, so war sie nicht vor Gericht. In diese angespannte Situation hinein rief eine Stimme in die Cafeteria: „Frau Alejandro! Ich heiße Daria!“

 

Wenige Augenblicke später in der Cafeteria

 

Adrica betrat die Cafeteria und drückte auf ihren Verband. Sie nahm die verschiedenen Düfte, darunter den von Kaffee und Kakao, wahr. Auf einem Tisch lagen Zeitschriften, eine Tageszeitung und ein Dollar, den sie sich nahm, um sich einen Kakao am Getränkeautomaten zu holen. Sie stellte ihre Getränkebecher auf den Tisch. Zur Verwunderung ihrer Mutter fragte sie sich, warum das Geldstück bei Daria nicht funktioniert hatte. Ihre Augen wanderten über die bunten Titelseiten, sie nahm eine Zeitschrift und blätterte darin. Bei den historischen Fotos ihrer Stadt verweilte sie länger und sah zwischendurch zur Decke.

 

  „Jetzt kann ich mir vorstellen, wie Pedro und Shirah hier gelebt haben“, flüsterte sie leise.

  „Pedro, Shirah?“

  „Ja, du weißt schon, die Hauptfiguren meiner Geschichte. Übrigens, wann darf ich an deinem Notebook schreiben? Ich habe einiges aufgeschrieben.“

  „Am Samstag. Du kannst auch den PC benutzen, der Bildschirm ist größer. Ich habe Conrad deine Geschichte zum Lesen gegeben. Bist du darüber nicht böse?“

  „Nein. Conrad Walker? Der Sohn deines Chefs?“

  „Ja, genau. Die Familien kommen am Wochenende zum Kaffee, freust du dich? Jedenfalls ist er beeindruckt von deinem Talent und meint, dass ich dich so gut wie möglich unterstützen soll.“

  „Dann gibt es wieder deinen berühmten Apfelkuchen.“

 

Adrica blätterte zur nächsten Seite und bewegte ihre Beine. Ihre Blicke schweiften durch die fast leere Cafeteria. Ein sehnsüchtiger Ausdruck lag in Adricas Augen, den ihre Mutter nicht übersehen konnte. Diese Blicke sollten nicht länger sehnsüchtig bleiben, Ricarda erinnerte sich an Conrad und seine Meinung dazu.

  „Bist du traurig?“, legte Adrica die Zeitschrift auf ihre Beine. „Ich merke es. Seit wir über meinen Traum gesprochen haben, was ist, mit dir?“

  „Es gibt etwas, das auf deinen Traum hindeuten könnte", versuchte Ricarda ihrer Tochter zu erklären.

  „Macht dich das traurig?“ Adrica betrachtete ihren Verband.

  „Nicht direkt. Ich möchte es dir erklären, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll“, nun musste Ricarda ausführlicher werden und nach den richtigen Worten suchen, doch Adrica wollte es anders.

  „Du kannst damit bis Zuhause warten.“

 

  „Ich sollte es dir lieber hier erklären. Es geht um den Mann in deinem Traum“, Ricarda atmete tief durch.     „Die Ärztin hat mit mir über einen Patienten gesprochen, der stationär aufgenommen wurde. Zuerst schien es mir nicht wichtig zu sein. Sie bat mich um Vertraulichkeit, aber aus den Krankenakten geht hervor, dass der Mann und ich ... wie soll ich es erklären?“

  „Du meinst, dass der Mann und du etwas gemeinsam habt?"

  „Ja, so könnte man es sagen", höherer Blutdruck, spürbares Herzklopfen am Hals und Wechsel der Körpertemperaturen standen im Gegensatz zu dem, was Ricarda ihrer Tochter erklären konnte. Sie war auf sich allein gestellt, musste ihr bisheriges Leben als alleinerziehende Mutter weiterführen oder eine unglaubliche Chance ergreifen. War Adricas Traum ein Hinweis? Eine Tür, die vor Jahren zugeschlagen wurde und nun einen Spalt offenstand? Sie wusste, wie sie Adricas Frage beantworten konnte. „Ich habe vor längerer Zeit einen Spendertest gemacht. Aufgrund meiner Werte könnte ich dem Patienten helfen.“

  „Der Mann in meinem Traum hat mich um Hilfe gebeten“, Adrica schob ihre Oberlippe über die Unterlippe, klappte die Zeitschrift zu, legte sie auf den Tisch und nahm einen Schluck aus ihrem Getränkebecher. „Du könntest dem Mann helfen? Wie?“

  „Ich habe meine eigenen Vorstellungen davon. Deine Ärztin könnte es dir besser erklären, so dass du es auch verstehst.“

Adrica fuhr mit ihrem rechten Zeigefinger unter ihre Nase entlang und presste erneut die Oberlippe auf die Unterlippe. „Es fühlt sich an, als hätte mich etwas ergriffen. Seitdem wir darüber sprechen, habe ich ein seltsames Gefühl, das ich nicht beschreiben kann.“

  Mir geht es genauso.“

  „Mama, zu Hause erzähle ich dir etwas über Daria. Sie ist die Neue in meiner Klasse.“

Kapitel 03 – Der Krankenbesuch

 

Adrica befand sich in ihrem Zimmer und ordnete die Bücher und Hefte im Sideboard, während ihre Mutter mit den Walkers telefonierte, die noch in der Kanzlei waren.

  „Sie ist so tapfer“, sagte Ricarda und schaute aus dem Küchenfenster auf das bewölkte Wetter. „Ach ja, du weißt es ja nicht. Eigentlich rufe ich an, um mit jemandem zu reden. Es ist mir wichtig. Könntest du kommen? Bring deine Frau und Conrad mit“, sagte sie erleichtert und legte den Hörer auf.

  „Ben, Cathrin und Conrad kommen vor dem Abendessen. Ich hoffe, dass die Brötchen reichen. Frische habe ich nicht“, sagte sie.

Ricarda öffnete die Verpackung mit den Aufbackbrötchen, legte sie in den Backofen und wählte ein Programm aus.

Die Zeit verging und die Besucher, Cathrin und Ben, wurden empfangen.

 

Ben Walker hatte Cathrin Thomas an der Uni kennengelernt. Schon immer hatte die junge Frau mit den dunkelblonden Haaren und den tiefgrauen Augen Jura studieren wollen. Lange Zeit war sie sich nicht sicher gewesen, denn wenn es aufgrund der zwanghaften Natur polizeilicher Verhöre zu einem unberechtigten Geständnis der Verdächtigen kam, war es für die Verteidigung schwer, die Unschuld oder berechtigte Zweifel an ihrer Mandantschaft zu beweisen. Nach der Zulassung der Miranda–Regelung änderte Cathrin ihren Entschluss und schrieb sich für ein Jurastudium an der Uni ein. Ben Walker wiederum entschied sich, die nächste Generation von Rechtsanwälten in seiner Familie zu repräsentieren. Der junge Mann mit den braunen Haaren und hellbraunen Augen ermöglichte es ihnen, außerhalb des Campus zusammen zu leben und zu lernen. Nicht nur auf Fotos machten sie eine gute Figur, sie waren beide nicht größer als 170 cm, was später nur von ihrem Sohn um fünf Zentimeter übertroffen wurde. Conrad hatte gerne längere Haare, die ihm bis fast zur Schulter reichten. Hinter der Sonnenbrille, die er oft trug, verbargen sich braune Augen. Er war Jurist und hatte sich auf Familienrecht spezialisiert. Der Umgangston in der Familie war locker, jeder sprach sich mit dem Vornamen an. Cathrin nannte die Mutter Ricarda und Ben den Vater. Gemeinsam mit Enrique Alejandro, Ricardas Vater, übernahm er als privater Ermittler die Beweismittelsicherung.

 

Im Wohnbereich herrschte Stille, bis Adrica von den Ereignissen am Morgen auf dem Schulweg erzählte.

  „Wo soll ich anfangen? Das fing schon vor dem Haus der Millers an. Die Kette ist von den Zahnrädern gesprungen, Mathew hat mir geholfen und ich habe es bis zur Schule geschafft. Dort ist es dann wieder passiert“, sagte sie und tastete ihren Verband ab. „Der Rücktritt hat nicht funktioniert, ich habe zu fest am Vorderradbremszug gezogen. Dann bin ich gegen die offene Tür des Sekretariats geknallt und auf dem Rasen gelandet. Daria stand mit Mister Zeeman, dem Handwerker meiner Schule, hinter der geöffneten Tür und wurde durch den Aufprall meines Fahrrads an der Schulter getroffen und in seine Arme geschleudert. Beide haben mir geholfen. Daria hat mir ihre Hand gereicht und versucht, mich aufzurichten. Unglaublich, aber wahr, sie sieht mir sehr ähnlich“, fuhr Adrica fort.

  „Das kann ich nur bestätigen“, sagte Ricarda und erzählte von ihrer eigenen Begegnung mit Daria.             „Übrigens, sie kommt morgen und bringt dir die Hausaufgaben. Und das die ganze Woche über. Conrad, könntest du morgen das Fahrrad abholen? Melde dich bei Mister Zeeman, dem Hausmeister.“

  „Wird erledigt. Aber vielleicht könnten wir das gemeinsam machen. Die Bestellungen für die Kanzlei müssen im Town–Center abgeholt werden. Dann können wir das Fahrrad holen und zu Daniel bringen. Ich komme damit nicht klar, es ist alles so kompliziert geworden“, sagte Conrad.

  „Und Adrica? Ihre Großeltern haben einen Fall in Las Vegas übernommen und kommen nicht in Frage. Sie muss ihr Bein schonen und ist nicht umsonst von der Schule befreit“, sagte Ricarda.

  „Ihr seid nicht tagelang weg. Ich komme alleine zurecht, auch für ein paar Stunden", druckste Adrica herum.

 

Nachdem Cathrin ihren Tee umgerührt hatte, machte sie Adrica einen Vorschlag: „Ich komme morgen früh mit Conrad. Er erledigt mit deiner Mutter die Besorgungen und wir beide warten und machen das Mittagessen. Was hältst du davon?“

  „Hackbraten, mit Mischgemüse, Kartoffelbrei und Pudding? Mein Lieblingsessen“, antwortete Adrica und wartete auf die Bestätigung ihres Menüvorschlags.

  „Hackbraten. Ich weiß nicht, was deine Mutter im Kühlschrank hat“, sagte Cathrin.

  „Im Gefrierschrank ist Hackfleisch, das muss ich nur rausholen.“

  „Der letzte Hackbraten, den wir bei euch gegessen haben, war besonders lecker. War es ein neues Rezept?“

  „Du wirst es kaum glauben, warte mal“, sagte Ricarda und suchte etwas in einem Schrank. „Hier, es ist aus diesem Tagebuch. Wir haben es auf einem Garagenflohmarkt gekauft. Unsere Nachbarin Hannah, die ihr ja kennt, hat uns geholfen, es zu lesen, da es in Sütterlin geschrieben war.“

  „Auf solchen Flohmärkten findet man oft kleine Schätze“, sagte Cathrin, als sie das Buch von Ricarda bekam. Sie las darin: „Ehrlich gesagt, haben wir anders schreiben gelernt. Was ist das hier, was neben den Rezepten geschrieben wurde?“

  „Hannah hat alles in ein neues Buch abgeschrieben. Wie du siehst, ist es nicht viel. Es geht hervor, dass die junge Frau, von der die Rede ist, die Tochter des Gemeindegründers war. Das ist über einhundert Jahre her. Soweit ich weiß, war es 1881. Nachdem Adrica alles gelesen hatte, hat sie die Aufzeichnung in dem Tagebuch als Vorlage genommen und an einer Fantasy-Geschichte geschrieben. Conrad hat alles gelesen, was sie bisher geschrieben hat.“

Cathrin hielt das Buch in den Händen. „Kennst du den Namen des Ortes, an dem das passiert ist?“

  „Wie war das noch gleich? Ich komme gleich darauf.“

  „Kelowna“, bemerkte Adrica. „Siehst du, die Autorin behält den Überblick. Stimmt's? Dein Lächeln sagt mir alles. Ich hoffe nur, dass Daniel nicht zu überfordert ist und mit dem Fahrrad zurechtkommt.“

  „Ich habe das Fahrrad zu Beginn des Schuljahres bekommen“, sagte Adrica und drückte erneut auf ihren Verband. „Das hätte ich nicht tun sollen. Mein Fahrrad steht im Keller. Es wird wahrscheinlich verstaubt sein und die Reifen werden keine Luft mehr haben.“

Cathrin schüttelte den Kopf. „Alles nur noch Massenproduktion. Ob da überhaupt noch Schläuche in den Reifen sind? Die Schaltung und der Dynamo sind irgendwie alle im Hinterrad eingebaut. Ich kann verstehen, dass Conrad damit überfordert ist. Bei allem, was mit PC–Ermittlungen zu tun hat, kennt er sich aus.“

  „Das Telefon“, rief Adrica und ihre leise Erwartung erfüllte sich. Zum Glück galt für Las Vegas dieselbe Zeitzone. „Nein Oma, du musst dir keine Sorgen machen, alles ist in Ordnung. Das freut mich. Ich gebe dir Mama. Oma, sie möchte dir etwas sagen. Bestimmt über ihren Fall.“

Das Telefon machte seine Runde. Zuletzt kam Ben an die Reihe, der mit Enrique sprach, der nun am anderen Ende der Leitung war.

Adrica freute sich über den Besuch, der zwei Stunden vor dem Schlafengehen kam. „Gute Nacht. Ich freue mich auf nächsten Samstag. Mutti sagte, ihr kommt zum Kaffee.“

  „Du hast vergessen, zu sagen, dass du meinen PC benutzen darfst. Aber nur drei oder vier Seiten abschreiben, sonst wird es zu viel“, sagte sie hoffnungsvoll, dass ihre Mutter nicht auf die falsche Betonung eingehen würde, und rutschte vom Sessel. „Gute Nacht, wir sehen uns am Wochenende.“ Adrica winkte von der zweiten Stufe der Treppe.

 

  „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Soll ich noch etwas zu trinken bringen?“, fragte sie und stellte das Abendbrotgeschirr auf ein Tablett.

  „Ich helfe dir“, sagte Cathrin und stand auf, um Ricarda durch die Pendeltür zu folgen. „Es geht nicht nur um Adricas Verletzung. Ich kenne dich schon lange.“

Ricarda räumte das Geschirr in die Spülmaschine, gab den Reiniger dazu und schaltete das nützliche Küchengerät ein.

„Es gibt etwas“, fuhr sie fort. Auf dem Tablett standen Gläser, Limonadenflaschen und ein Schälchen mit selbst gebackenen Keksen. „Du wirst es nicht glauben, aber Ereignisse aus meiner Vergangenheit sind mir heute wieder begegnet. So unglaublich es auch klingt.“

  „Da bin ich aber gespannt, Bill sicher auch“, sagte Cathrin.

Ricarda nickte und stellte das Tablett auf den Tisch. Jeder goss sich sein Getränk ein.

Ricarda erzählte den Tagesablauf in groben Zügen, als Bill sie unterbrach.

 

  „Also Adricas Vater“, sagte er und nahm sich einen Keks aus der Schale, legte ihn auf den Tisch. „Es geht nicht nur um dich, sondern auch um Adrica. Ich meine damit nicht nur das medizinische Problem. Die Behandlungen sind auf einem hervorragenden Stand. Damit will ich nicht sagen, dass sie immer zum Erfolg führen.“

 

  „Ja. Du weißt gar nicht, was für Gefühle mich durchströmten, nachdem die Ärztin mit mir gesprochen hatte. Während des Gesprächs mit einer Laborantin überkamen mich weitere Gefühle. Eine Frau, eine Tochter und der Mann hinter der Glasscheibe“, senkte Ricarda den Kopf. „Daria ist in Adricas Alter. Ich konnte der Kleinen im Besucherraum helfen.“

  „Wie lange verbleibt dem jungen Mann?“, fragte Bill.

  „Ich weiß es nicht, Cathrin. Die Ärztin sprach von einer Zeit bis zum Jahresende. Vielleicht sogar darüber hinaus, wenn er großes Glück hat.“

  „Bist du damit einverstanden?“

  „Bill, deshalb wollte ich mit euch sprechen. Ja, ich habe zugestimmt. Schon am Morgen wollte Adrica mir von einem eigenartigen Traum erzählen. Sie weiß gar nicht, wie weit dieser Traum in die Realität reichen könnte. Für mich war alles wie ein Zeichen. Als ob Gott mir eine verpasste Chance zurückgeben würde.“

  „Verpasst oder ungenutzt. Betrachte die Ereignisse als Hinweise. Oft müssen wir in unserem Leben Entscheidungen treffen. Nicht nur für uns selbst. Für diejenigen, die uns lieben, für unsere Freunde, sogar für diejenigen, die uns aufgrund unserer Arbeit begegnen“, sagte Bill.

  „Ich weiß“, sagte Ricarda nervös und bewegte die Hände vor ihrem Körper. Ihre Gedanken schienen etwas aus der Vergangenheit zu suchen, über das sie mit ihrem Besuch sprach.

  „Du kennst Ben. Ungläubig legte ich die Vorladung auf den Tisch. Du hast nur kurz darauf geschaut und dann mit den Schultern gezuckt. Dann hast du mir erklärt, wie wichtig es für die Schuldentscheidung war und dass ich daraus viel lernen könnte. Und so kam es. Zusammen mit elf anderen stand ich vor der Entscheidung: schuldig oder nicht schuldig. Nach Stunden, die wir gemeinsam und ohne Kontakt zur Außenwelt verbrachten, gab der Richter unser Ergebnis bekannt. Ohne Bens Hilfe, zum ersten und bisher letzten Mal, saß ich auf dem Platz, der weder den Zuschauern noch den Juristen vorbehalten war. Jeder von uns zwölf war sich seiner Verantwortung bewusst. Die Protokolle der Polizei, der Justiz, die Gutachten von Sachverständigen, die Aussagen der Zeugen und schließlich die Plädoyers der Staatsanwältin und der Verteidigerin. Es war unsere Aufgabe, alle Zweifel auszuräumen. Zwölf unparteiische Bürger dieser Stadt.“

Ben legte seine Hände in den Nacken. „Das habt ihr auch getan. Ein Zeuge hat sich in seiner Aussage verstrickt, die von der Polizei aufgenommen wurde, und wich später in einem wichtigen Punkt ab. Letztendlich wurde der Zeuge der Straftat überführt.“

Cathrin bat Ricarda, sich neben sie zu setzen. „Mit solchen Entscheidungen müssen wir ständig rechnen, egal ob als Mitglied der Jury oder als Verteidigerin.“

  „Mir ist die Verantwortung bewusst. Ich könnte mir nicht vorstellen, auf der anderen Seite der Justiz zu stehen. Wie oft erfahren wir, dass Ermittlungen von Recht und Ordnung ...“, unterbrach Ricarda an dieser Stelle. „Ich muss jetzt selbst abschätzen, wie ich das Damalige mit dem Heutigen zu einem richtigen Ergebnis vereinen kann. Ich weiß nicht, was die Ärztin weiß, aber hoffentlich zieht sie eigene Schlüsse aus den Laborergebnissen und meinem gesamten Verhalten. Dazu kommt ihre eigene Bekanntschaft mit Carlos Familie. Es geht darum, den richtigen Weg zu finden. Carlos hat keine Ahnung, er hat nur Angst. Wenn die Behandlung gut anspricht, wird er sich bei seinem Retter bedanken wollen. Das ist der Moment der Wahrheit.“

  „Ich verstehe, du willst nicht zu aufdringlich sein. Deine Eltern sind in Las Vegas. Du weißt, dass wir für dich da sind, falls etwas Unvorhersehbares passiert. Bill und ich werden dich nach der Behandlung aus dem Krankenhaus abholen. Vielleicht solltest du vorher mit der Ärztin sprechen? Nein, vielleicht wäre es besser, ihr einen Brief zu geben. Schreib alles auf. Vergiss nicht, eine Einladung für Carlos und seine Familie zu erwähnen. Hat sie deine Telefonnummer?“

 „Ja, für den Notfall. Was würde ich nur ohne euch machen? Ich habe etwas, das ich euch zeigen möchte, und ich schäme mich, dass ich es euch nicht schon längst gezeigt habe. Wartet“, sagte Ricarda und verließ ihren Platz. Im Wandschrank bewahrte sie seit langer Zeit eine Metallkassette auf, in der sie ihre Schätze aufbewahrte.

 

Aufgeregt und mit einem Lächeln im Gesicht öffnete sie die Kassette, nahm einige Dinge heraus und legte sie auf den Tisch. „Einer der Dollarscheine von meinem ersten Gehalt“, sagte sie und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Das ist es“, fügte sie flüchtig hinzu und spürte, wie ihre Körperwärme stieg. Wie lange hatte sie diesen Umschlag nicht mehr in der Hand gehabt? Seit sie ihn in die Kassette gelegt hatte? „Das ist er.“

Cathrin nahm das ihr gereichte Foto. „Ein gut aussehender junger Mann.“

  „Cathrin hat recht. Adricas Vater? Es ist schwer zu sagen, welche Eigenschaften sie von ihm hat. Ihr habt einige Ähnlichkeiten“, sagte Bill und legte das Foto zu den anderen „Schätzen“.

 

  „Adrica sagt nie etwas. Wenn ich sie von der Schule abhole, schaut sie den anderen Mitschülern hinterher“, sagte Ricarda und stellte die Schatzkassette wieder in den Wandschrank. „Wenn das Wort ‚Eltern‘ fällt, fährt sie mit der Zunge über ihre unteren Zähne. Hier ist es.“

  „Noch ein weiterer deiner ‚Schätze‘? Ein Fotoalbum?“

  „Ja, Bill. Ich habe alle Bilder auch auf einer DVD.“

  „Wenn du möchtest, können wir die Videos auch auf einen Datenträger brennen.“

  „Das wäre großartig. Adrica wird älter und wird irgendwann in den Erinnerungen an ihre Kindheit schwelgen. Wir schauen uns oft die Familienvideos an. Bill macht das für euch.“

  „Ich möchte nicht zu weit in die Zukunft planen. Wir wissen nicht, was uns erwartet. Aber Weihnachten soll etwas Besonderes sein, unvergesslich, an dem wir uns immer wieder erfreuen können.“

 

Im oberen Stockwerk waren die Gespräche im Wohnzimmer nur schwach zu hören. Alle Türen waren mit fünf Zentimeter breiten, pastellfarbenen Streifen versehen, wobei der orangefarbene Streifen den Zugang zu einem Raum markierte, hinter dem seine schlafende Bewohnerin auf den neuen Tag wartete. Das Mondlicht fiel durch die hochgestellten Lamellen der Jalousien und wachte über einen Traum, der in dieser Nacht den Lebensweg des Mädchens verändern würde.

Im Wohnzimmer wurden Fotoalben angeschaut und über vergangene Zeiten gesprochen, sowie über die Planung von Adricas Geburtstag und Weihnachten.

  „Was war das?“, fragte Cathrin ihren Ehemann.

  „Keine Ahnung“, antwortete er knapp.

  „Ich dachte, du hättest es auch gesehen“, murmelte sie.

  „Ich habe auch nichts bemerkt. War etwas Besonderes? Ich hoffe, Adrica schläft und läuft nicht im Haus herum“, sagte Ricarda, nicht besorgt, aber unsicher, wie sie antworten sollte.

  „Das könnte gut möglich sein, Ricarda. Ist sie unempfindlich gegenüber Gewittern?“

  „Wie meinst du, dass?“, bekam Ricarda als Antwort, als der nächste Blitz und Donner erklang. „Ach so meinst du das. Ja, natürlich. Bisher hat es ihr nichts ausgemacht, wenn sie eingeschlafen war“, warf sie einen flüchtigen Blick zur Treppe und bemerkte auch das helle Licht im Flur.

  „Wenn man bedenkt, dass wir Dezember haben“, sagte Bill, nachdem er seine Lesebrille auf das Fotoalbum gelegt hatte und sich mit beiden Händen die Augen rieb. „Wir haben hier wirklich Glück mit dem Wetter. Denkt nur an die Ostküste.“

  „Oh ja“, unterbrach Ricarda. „Ich weiß gar nicht, wie lange das her ist. Adrica war noch nicht einmal geboren. Das muss mit meinen Eltern gewesen sein“, sie schien nachdenklich in ihren langsamen Worten, was ihr fraglich erschien, sprach sie als Antwort an sich selbst aus. Das Folgende kam flüssig und beinhaltete Erleichterung. „Auf jeden Fall war ich froh, nach einer Woche in New York wieder zu Hause zu sein.“

 

Cathrins Erinnerungen führten sie zurück in ihre Kindheit und Jugend: „Meine kleine Schwester kam immer mit ihrem Kopfkissen in mein Zimmer und verkroch sich unter der Decke. Wenn wir heute darüber sprechen, können wir nur darüber lachen. Wäre auch zu komisch, als Analystin in einer Wetterstation.“

  „Anders als Cathrins Schwester stellte sich Ben ans Fenster und verfolgte den Blitz und den anschließenden Donner. Zugegeben, wenn es heftig krachte, zuckte er zusammen. In seinem Berufsleben musste er andere Gewitter über sich ergehen lassen und zog trotz allem eine gute Bilanz.“

  „Musstest du jetzt damit anfangen? Das war jetzt aber dicht und mein Herz, ich weiß nicht, wo es ist, es pocht bis zum Hals“, konnte Cathrin von der Wohnzimmeruhr ablesen, dass es bereits zehn Uhr fünfunddreißig abends war. „Es ist spät geworden.“

  „Bevor du ... wie soll ich es sagen? Ihr könnt bei mir übernachten.“

  „Wenn wir dir nicht zur Last fallen? Das große Bett im Gästezimmer ist gemütlich, dass du Nachthemden und Schlafanzüge hast, wissen wir. Was guckst du mich so fragend an? Hast du vergessen, dass wir letztes Silvester bei euch übernachtet haben? Macht nichts, deine Gedanken sind bei Adrica und Carlos. Conrad kann im kleinen Gästezimmer übernachten. Dann wäre das Haus belegt. Die Autos stehen vor der Garage. Ehrlich gesagt, möchte ich jetzt auch nicht nach draußen. Nicht wahr, Bill?“

  „Dreistimmige Bestätigung. Dann würde ich sagen, schnell ins Bad und ins Bett.“

 

  „Ich muss sie nach dem Weichspüler fragen, der ist wirklich gut. Und es duftet hier im Raum nach…“

  „Nach Orange und Kakao, aber nicht aus der Küche. Ricarda gießt selbst Duftkerzen. Eine Kleine steht auf ihrem Schreibtisch im Büro. Cathrin, was ist mit dir?“

  „Nichts“, schlug sie die Federbettdecke zum Fußende. „Das Gewitter scheint abzuklingen.“

  „Ich kenne meine Frau, dich bedrückt etwas.“

  „Ja, du hast recht.“

  „Ist es wegen der Kleinen?“

Bevor seine Frau sich äußern konnte, vollzog die Natur den nächsten Akt ihres Schauspiels.

„Ich hoffe, das war das letzte Mal“, rief Cathrin und atmete tief durch. „Langsam glaube ich, der Himmel will uns wirklich ein Zeichen geben. Der geheimnisvolle Tag ist noch nicht zu Ende. Bevor das Gewitter nicht aufhört, lege ich mich nicht hin“, bemerkte sie trotzig.

 

Nachdem sie die Fotoalben geschlossen und wieder in den Wandschrank gestellt hatte, schaute Ricarda im Flur nach dem Rechten und nahm ein Taschentuch aus der Box auf dem Sideboard.

In wenigen Tagen feiert Adrica ihren zwölften Geburtstag. Der kleine Kreis, bestehend aus Cathrin, Bill, Conrad und ihr selbst als Mutter der Betroffenen, hüteten ein vorläufiges Geheimnis, das nach ihrer Rückkehr mit den Großeltern geteilt wurde.

 

  ‚Wie werden meine Eltern reagieren?‘, fragte sich Ricarda. ‚Adrica ist das einzige Enkelkind und nun stehen zwei bevorstehende Ereignisse an, die das gesamte Familienleben beeinflussen. Beinahe dreizehn Jahre sind genug, genug an allen Vorurteilen und Belastungen. Er ist ihr Vater! Sicher, ein Problem drängt sich auf, und das nach all den Jahren. Wie wird Carlos reagieren.‘

Neben der Tücherbox befand sich auf dem Sideboard der bunte Blumenstrauß, den sie aus dem kleinen Blumenladen im Einkaufscenter geholt hatte, und ein blauer Hefter, den sie völlig vergessen hatte.

Im Haus war Ruhe eingekehrt. Cathrin lag neben Bill, Ricarda hatte das Bad verlassen. Im Schlafzimmer sah sie zum Radiowecker und gab sich ein paar Minuten vor der Nachtruhe dem Lesen in dem Hefter hin.

Null Uhr, ein neuer Tag hatte begonnen. Laut Wettervorhersage sollte die Tagestemperatur siebzehn Grad erreichen. Ricarda legte den Hefter auf den Nachttisch und schlief wenig später im eintönigen Trommelklang der Regentropfen an der Fensterscheibe ein. Das Gewitter hatte die Region verlassen.

 

Ein sonniger Tag

 

Der Morgen wurde durch das erste Sonnenlicht, das sich den Weg durch zerrissene Wolken bahnte, in Adricas Zimmer und den Wohnbereich des Hauses geleitet.

  „Ben“, flüsterte Cathrin. „Das kann doch nicht wahr sein, schnarcht er mal nicht, schläft er fest wie ein Stein“, murmelte sie. „Ben“, versuchte sie es erneut, jedoch vergeblich.

Sie hob die Beine aus dem Bett, suchte nach ihren Hausschuhen und spitzte ihre Ohren. „Das wird Ricarda sein, sicher konnte sie nicht ruhig schlafen“, flüsterte Cathrin zu sich selbst und gelangte, ohne Ben zu stören zur Tür. Sie warf einen Blick zurück zum Bett und schüttelte den Kopf.

Das Licht aus der Küche drang durch das Wohnzimmer zum Flur, es roch nach frischen Brötchen und Kaffee. „Das Frühstück ist fertig?“, sprach sie leise, lauschte den Geräuschen aus dem Bad und begab sich dann zum Wohnbereich und stieß gegen die Pendeltür.

  „Das ging schnell“, sagte Conrad, drehte sich um und wollte gerade „Cathrin?“ sagen, als sein Name bereits fiel: „Conrad?“

  „Das ist heute schon das zweite Mal, dass mich eine attraktive Frau vor Tagesbeginn erkennt. Guten Morgen, Cathrin.“

  „Ja, guten Morgen“, erwiderte sie und winkte ab. „Ich hoffe, das Gäste–WC ist frei. Danach können wir ans Frühstück denken.“

  „Geh nur, ich mache das Frühstück fertig“, bemerkte Conrad.

  „Muss ich, bevor Ben aufwacht. Ricarda belegt schon das Bad.“

 

  „Als hätte ich es geahnt, erst wie ein Stein schlafen und dann ... Muss ich in die obere Etage, auch wenn Adrica nicht mehr schläft, sie wird kaum das Bad und das Gäste–WC zugleich benutzen."

Aus ihrem Selbstgespräch herausgerissen wurde sie zu ihrem Glück, als die Badtür geöffnet wurde.

  „Cathrin! Du hast mich erschreckt.“

  „Das kann gut möglich sein, Ricarda, in meinem Aufzug. Also das nächste Mal gehe ich gleich…“

  „Oh, entschuldige, ich will dich nicht aufhalten.“ Ricarda trat in den Flur und machte Platz.

  „Schon gut, kannst du Conrad in der Küche helfen? Ben wird auch bald fertig sein.“ Cathrin schloss hinter sich die Badtür.

 

Endlich kehrte Ruhe ein und alle saßen am Frühstückstisch im Wohnbereich.

  „Findet ihr nicht, dass Adrica von Tag zu Tag hübscher wird?“, scherzte Conrad und schob eine Gabel voll Rühreier in den Mund.

Ricarda vertrat eine andere Meinung: „Ich würde behaupten, es trifft auf Mutter und Tochter zu, Betonung liegt auf ‚und‘.“

  „Habe ich den Höhepunkt meiner Schönheit schon überschritten? So so“, las Cathrin aus den Blicken, die sie auf beide Männer warf, einen spontanen Scherz heraus.

Conrad sah zu den Eltern: „Heute steht die Einkaufstour, Adricas Fahrrad und der Besuch bei Daniel an. Später muss ich noch etwas erledigen“, zwinkerte sie nur.

Cathrin schnitt ein Brötchen auf und bemerkte nebenbei an Ricarda gerichtet: „Du warst heute so früh wach.“

  „Eigentlich hätte ich noch länger geschlafen. Außer im Büro und bei Adrica steht auch ein Telefon an meinem Bett. Ein Anruf hat mich geweckt. So verschlafen, wie ich noch war, konnte ich die Frau am anderen Ende der Leitung kaum verstehen. Sie hat den ersten Satz wiederholt und erwähnt, dass sie sich nächste Woche persönlich bei mir melden wird. Bis dahin ist sie nicht erreichbar. Das wars.“

Ricarda hatte die Belege für das Town–Center überflogen und hatte nun eine Frage: „Hat sie nicht gesagt, wer sie ist?“

  „Nein. Laut der angezeigten Rufnummer gehört der Anschluss zum Gemeinderat der Ortschaft Kelowna.“

„Kelowna? Gibt es diesen Ort?“, fragte Adrica und goss sich Tee in ihre Tasse. „Du kennst doch die Geschichte, die ich schreibe.“

Ricarda wusste keinen Rat, alles war mehr als geheimnisvoll: „Im Moment weiß ich auch nicht, ob wir von dort Mandanten haben. Hilft alles nichts, machen wir das Frühstück zu Ende und beginnen dann mit dem Tagesablauf. Cathrin, das Hackfleisch liegt auf dem Küchenschrank. Die haltbare Milch für den Pudding, die Vanillesoße und für den Kartoffelbrei stehen im ausziehbaren Schrank. Was machst du, Ben?“

  „Ich bleibe bei Cathrin, dann wird das Mittagessen schneller fertig.“

Ricarda konnte das Lächeln und Nicken von Cathrin deuten. Conrad hatte den Autoschlüssel in der Hand, zum Glück fuhr er einen Pick-up: „Da passt alles auf die Ladefläche, inklusive Fahrrad. Ich muss mit Daniel sprechen, ein neues Armaturenbrett mit eingebautem Navi in Sichthöhe wäre nicht schlecht.“

  „Wie bei den Neuwagen? Ich weiß, du hängst an dem Auto. Bestimmt wird dir geholfen werden. Aber jetzt los“, drängelte Ricarda.

 

Zu Hause

 

  „Wann kann ich mein Fahrrad wieder benutzen?“, war Adricas wichtigste Frage.

  „Wenn Daniel sich Mühe gibt bis zum Ende der Woche und deine Ärztin grünes Licht gibt. Ist das Essen fertig?“, bekam sie als beste Antwort ihrer Mutter.

  „So gut wie“, rief Cathrin aus der Küche.

  „Ich helfe euch“, sagte Ricarda, legte die Post, die sie aus dem Briefkasten genommen hatte, auf das Sideboard.

  „In Zukunft werden wir Fahrtziele besser finden. Daniel kann tatsächlich etwas mit dem Armaturenbrett machen. Worüber die Männer gesprochen haben, weiß ich nicht. Es wurde etwas ausgemessen, es soll so gut wie passen. Frag Conrad, der weiß es.“

  „Ich hoffe nur, dass ich beim Kochen alles richtig gemacht habe.“

  „Ich vertraue Cathrin voll und ganz. Mit dem Pudding kann man nichts falsch machen. Decken wir den Tisch, dann können wir essen.“

 

Conrad sah auf die Uhr: „Ich muss dann mal, mein letzter Auftrag für heute. Ihr wartet hier?“, fragte er seine Eltern.

Kapitel 04 – Conrads Deal

 

Belcoms TV- und PC-Shop

 

Anoki Belcom, der Ladenbesitzer, schraubte an einem offenen PC. Als er Conrad im Laden bemerkte, begrüßte er ihn scherzhaft: „Amigo, was geht? Braucht der alte Ben wieder mal unsere Hilfe?“

  „Um Ben geht es dieses Mal nicht. Du weißt ja, Unmögliches mache ich selbst, für Wunder suche ich meinen alten ‚Häuptling‘ und einen der letzten Nachfahren amerikanischer Ureinwohner, Anoki.“

  „Den hast du ja gefunden. Das mit dem letzten Nachfahren sei dahingestellt, man weiß nie, was kommt. Welches Wunder soll vollbracht werden?"

  „Adrica. Die Tochter…“ Conrad sah sich im Laden um und wurde von Anoki unterbrochen.

  „Die Kleine von Ricarda? Verstehe. Ich kann mir nicht nur vorstellen, worum es geht, ich habe sogar das Richtige auf Lager.“

  „Du bist schneller als der Wind“, neckte Conrad.

  „Das ist nun mal so im Geschäftsleben, die Konkurrenz schläft nie.“

  „Es hat aber nichts damit zu tun, dass Ben angerufen hat?“

  „Alter Spielverderber, ich wollte gegen das Zelt meines Großvaters mit dir wetten.“ Anoki hob seinen Kopf.

  „Schätze mal, dann wäre er ziemlich sauer“, stichelte Conrad erneut.

  „Wieder hereingefallen, der wohnt besser, als du denkst. Nun zu deinem Anliegen.“

  „Das kennst du ja bereits.“ Conrad folgte den Bewegungen, die Anoki mit einem Werkzeug auf einem Prospekt vollzog.

  „Wenn du mal deine Augen auf den mittleren Bildschirm richten würdest“, forderte Anoki mit kratziger Stimme auf.

  „Da sollte sich gleich was tun.“

  „Ich sehe, dass sich auf dem Bildschirm daneben etwas tut, und du solltest dir eine Cola oder dergleichen genehmigen. Bei einem Froschkonzert hättest du gute Chancen.“ Conrad nahm den Stuhl, den Anoki ihm in den Verkaufsraum stellte.

  „Wäre schade, ich will, dass die Frösche den ersten Platz bekommen.“ Anoki warf einen Blick ins Innenleben des PCs.

 

Eine junge Frau in Dienstbekleidung betrat den Laden, Anoki hatte wie immer wachsame Augen: „Hallo Schwesterchen, welch ein Glanz in meiner bescheidenen Behausung. Der zweite Besuch in Folge heute. Hast du etwas vergessen?“

„Nein, ich habe die Straßenbaustelle da draußen aufgelöst, es war eine Fehlinformation vom Straßenbauamt. Sie wird gerade samt Baustellenampel abgebaut. Nun zu meinem Herren Bruder, Übertreibung ist das eigentliche Markenzeichen unseres Geschäftes. Hallo Conrad“, begrüßte sie den Freund der Familie.

  „Hallo Peta, soweit alles okay?“

Nachdem sie ihre Dienstmütze auf den Ladentisch gelegt und ihren Gürtel zurechtgerückt hatte, strich sie sich mit beiden Händen durch ihr schwarzes, schulterlanges Haar.

Ihrem Bruder lag eine Frage auf dem Herzen: „Wie ist es? Hat Officer Belcom zum Jahreswechsel frei?“

  „Officer Belcom? Detektive Belcom! Ab nächstem Jahresbeginn. Ich habe den Lehrgang bestanden. Wie ist es? Ich wollte das im neuen Steakhaus am Wochenende nach Weihnachten feiern.“

  „Hast du tüchtig gespart, Schwesterchen? Du weißt, wenn der ganze Stamm ...“

  „Du willst doch nicht ganz Kalifornien und angrenzende Staaten abklappern? Hör dir den an, mit so etwas lebe ich schon seit unserer Geburt zusammen. Wie ist es mit dir, Conrad, kommst du?“

  „Wenn ich ein paar Gäste mitbringen darf?“, wollte Conrad wissen.

  „Natürlich, gern. Was bastelt mein Bruder denn für dich?“ Peta lief ein paar Schritte im Raum und blieb an einem Verkaufstisch stehen.

 

  „Ein Geschenk für Ricardas Tochter. Sie hat bisher nur einen Laptop, wir haben uns für einen PC entschlossen“, erklärte Conrad.

Peta kannte sich nach wie vor hervorragend im Geschäft aus und bat Conrad zum nächsten Verkaufstisch.   „Hast du das schon gesehen? Davon haben wir alle verkauft, bis auf dieses Bundle, das ist reserviert. Du kommst eine halbe Stunde zu spät. TV und Festplattenreceiver mit Blu-Ray–Player. Zusammen vierhundertfünfundsiebzig Dollar.“

  „Adrica hat einige DVDs, klar, da wäre das hier schon brauchbar“, erklärte Conrad seiner Zwillingsschwester Anoki.

  „Ja, schade. Der Käufer will es nach dem 21. Dezember abholen“, sagte sie und griff nach einem Zettel.       „Ja, am 21., so steht es hier. Sag mal, großer Häuptling, kann man das noch nachbestellen?“

  „Wo denkst du hin, Schwesterchen, so weit geht der Geiz nun wirklich nicht. Nach Weihnachten gibt es keinen Preisnachlass mehr.“

  „Du hörst es, Conrad. Und wenn du bei anderen Händlern nachfragst?“

  „Ich hatte schon den Hörer neben dem Telefon liegen, die Nachfrage ist groß, auch von anderen Händlern. Also keine Chance.“

Peta zuckte bedauernd mit den Schultern und sagte zu Conrad: „Dann muss ich wieder los. Hat mich gefreut, dich zu sehen. Die Einladung steht, oder?“

  „Wenn du genug Plätze frei hast, immer.“ Conrad gab ihr ein Daumen hoch.

  „Da kannst du drauf wetten. Übrigens, Adrica bekommt von mir dreißig Dollar für das Geburtstagsgeschenk. Warte noch mit der Bezahlung!“, rief Peta an der Tür und warf ihm ein Augenzwinkern zu.

  „Willst du das Revier oder den Stamm mobilisieren?“

  „Lass dich überraschen, Brüderchen. Bis bald.“ Sie schloss die Ladentür und lief zum Streifenwagen.

   

  „Brüderchen, das sagt sie nur bei bestimmten Anlässen. Wusstest du das? Du hast bei ihr einen Stein im Brett“, bemerkte Anoki, während er die Seitenwände am PC-Gehäuse montierte.

  „Ihr seid tolle Freunde. So, zeig mir mal, was du anbieten möchtest.“ Conrad wollte endlich den PC sehen.

  „Auch wenn ich dir den ganzen technischen Kram erkläre, siehst du den Wald vor lauter Bäumen nicht. Meine Kunden schauen sich die Gerätebeschreibung an. Einige haben bereits Vorstellungen aufgrund dessen, was sie von anderen gehört haben. Dann gibt es diejenigen, die alles ausführlich erklärt haben wollen. Du kennst dich soweit aus, für dich reichen die Informationen auf dem Blatt.“

  „Sie sagen viel. Wie wäre es mit einem kleinen Umbau?“, fragte Conrad nach.

  „So wie ich es für Ben gemacht habe? Das ist längst erledigt, oder soll die junge Dame bis ins Greisenalter warten, bis das erledigt ist, was sie möchte? Wenn deine Adleraugen jetzt auf den Bildschirm wandern würden, wäre ich glücklich“, sagte Anoki und runzelte die Stirn. „Ein Meisterstück, oder? Was sagst du?“

  „Wie immer, großer Häuptling. Ich bin stolz auf dich, und Adrica wird es auch sein.“

  „Das hoffe ich doch, altes Greenhorn. Jugendschutz ist integriert, aber ein wichtiger Unsinn bleibt leider.“

  „Was meinst du?“ Neugier war in Conrads Frage zu hören.

Nach einem tiefen Atemzug folgte Anokis weitere Erklärung: „Also, das war nicht meine Idee. Die Leute von meinem Stamm würden mich an den Marterpfahl binden. Einige Softwareprogramme benötigen eine permanente Internetverbindung. Soweit ich konnte, habe ich Freeware installiert. Ricarda wird bestimmt nicht erfreut sein, Jahresbeiträge an die Hersteller zahlen zu müssen.“

  „Das müssen wir im Büro auch nicht“, bestätigte Conrad lächelnd.

  „Das könnt ihr von der Steuer absetzen. Aber wir schweifen vom Thema ab. Ich muss dir noch einiges erklären.“

 

Für Conrad war es nicht schwer, den Erklärungen seines Freundes zu folgen, der ihm schließlich half, die Kartons zum Auto zu bringen.

  „Falls das TV–Bundle herrenlos bleiben sollte, hast du meine Telefonnummer.“

  „Ich gebe Rauchzeichen“, waren Anokis letzte Worte, begleitet von einem humorvollen Gesichtsausdruck.

Dann richteten beide ihre Aufmerksamkeit auf eine vorbeifahrende Harley.

Kapitel 05 – Geburtstag

 

Jetzt kannte Adrica das Gefühl, das Daria an ihrem ersten Tag als Neue in der Schule gehabt hatte. Der erste Tag gemeinsam mit ihr im Unterricht. Der erste Tag in der letzten Schulwoche des Jahres. Und ihr Geburtstag. Die Wunde war gut verheilt, das Knie belastbar, noch konnte sie nicht behaupten, dass alles in Ordnung sei, aber das konnte man von ihrem Fahrrad sagen.

 

Am Fahrradstellplatz der Schule würde sie Daria treffen. Sie musste sich bei ihr bedanken. Zum einen hatten sie die ganze Woche über Hausaufgaben zusammen gemacht. Die anderen Mitschüler hatten aus verschiedenen Gründen abgesagt, nur Daria würde sie nach dem Unterricht begleiten. Adrica hatte es geahnt, aber sie war nicht traurig.

 

Am Vormittag zu Hause bei Adrica

 

Conrad und seine Verlobte Susan halfen Ricarda bei den Geburtstagsvorbereitungen. In der oberen Etage des Hauses waren die Hobbyhandwerker voll in ihrem Element. Susan schaltete den Akkuschrauber aus. „Ich glaube, es hat geklingelt, Ricarda.“

  „Wir sind so vertieft, dass wir Wichtiges leicht überhören“, sagte Ricarda, als sie auf die Uhr sah. „Die Post? Nein, die kommt später. Egal, ich werde gleich nachsehen.“