Advent, Advent, der Christbaum brennt! - Anja Koeseling - E-Book

Advent, Advent, der Christbaum brennt! E-Book

Anja Koeseling

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Beschreibung

Weihnachten – das Fest der Liebe. Die Tage im Jahr, an denen die ganze Familie zusammenkommt und beim leckeren Braten harmonisch beisammensitzt … Oder wie war das? In der Realität sieht das Ganze oft eher anders aus. Wo man hinschaut, Geschenke, die man gleich beim ersten Blick für das nächste Schrottwichteln einplant, und unterm Weihnachtsbaum herrscht schon wieder Scherbensalat. Spätestens nach dem Abendessen hängt der Familiensegen so schief, wie die selbst gesungenen Weihnachtslieder klingen. Dann heißt es statt besinnlicher Weihnachtsstimmung und Winterromantik: Katastrophenalarm! Dieser Weihnachtsschmöker versammelt 24 Geschichten über das Chaos in der Adventszeit und an den Festtagen selbst – von Nervenzusammenbrüchen beim Plätzchenbacken und Eskalationen über der Weihnachtsgans – und zaubert dabei jedem Weihnachtsmuffel ein Lächeln ins Gesicht.

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EXTRA

Weihnachten ohne Stress

7 ultimative Entspannungstipps zum Fest

Haben Sie sich als Kind auch immer so unbändig auf Weihnachten gefreut? Was waren wir doch alle naiv. Damals ahnten wir noch nichts von Vorweihnachtshektik und Geschenkestress …

Wie schön wäre es doch, noch einmal so unschuldig und frei von Zwängen zu sein wie damals! Und wissen Sie was? Es ist möglich, genau das noch einmal zu erleben. Zwar können wir die Uhr nicht zurückdrehen, wohl aber die Stressfaktoren so klein wie möglich halten.

1: Deko-Downsizing»Früher war mehr Lametta? Im Gegenteil!«

Mit dem vorweihnachtlichen Dekorieren könnten Sie locker zwei bis drei komplette Arbeitstage verbringen. Bis jeder Leuchtstern am perfekten Platz erstrahlt, jedes Krippenfigürchen nach Feng Shui ausgerichtet und jedes Sprühschneefensterbild angebracht ist, braucht es seine Zeit. Wann hat das eigentlich angefangen, dass ein simpler Adventskranz und vielleicht noch eine Bodenvase mit strohsternbehängten Tannenzweigen nicht mehr ausreichten?

Unser Tipp: Reduzieren Sie den Weihnachtsschmuck auf ein Minimum. Am besten konzentrieren Sie sich auf die Stücke, die Ihnen so gut gefallen, dass Sie sich theoretisch auch das ganze Jahr über daran erfreuen könnten. Und dann tun Sie genau das!

Merke: Was man nicht wegräumt, muss man im nächsten Advent auch nicht wieder suchen …

2: To-do-Cancelling»Abhaken ist gut. Durchstreichen ist besser!«

Vielleicht hat man Ihnen geraten, Aufgaben zu verteilen, um den Stress zu reduzieren. Vergessen Sie das! Das macht am Ende sogar noch mehr Arbeit. Bekämpfen Sie das Übel lieber an der Wurzel und stutzen Sie die Aufgabenliste auf das absolut Notwendige zurecht! Ganz ehrlich: Glauben Sie wirklich, Ihre Verwandtschaft freut sich über die alljährlichen Hunde-und/oder-Kinder-mit-Nikolausmützen-Fotos? Sind Sie sicher, dass Sie die Feiertage ohne frische Strähnchen nicht überstehen? Und wer soll bloß all die Plätzchen essen, die Sie im Schweiße Ihres Angesichts backen?

Unser Tipp: Das sprichwörtliche »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen« tritt an Weihnachten außer Kraft! Machen Sie sich nicht mehr Arbeit als nötig. Am besten gar keine.

Merke: Die Wohnung putzen, bevor die Gäste kommen, ist so sinnvoll, wie den Verdauungsschnaps vor dem Essen zu trinken!

3: Shopping-Minimalismus»Eines für alle statt für alle irgendwas«

Was dem Großvater schenken, der doch eh alles hat? Was der Mutter, die überhaupt keine Hobbys pflegt? Was dem Onkel, der gar nicht so viele Socken durchlöchern kann, wie er Jahr für Jahr bekommt? Geschenke kaufen ist Stress pur! Zumindest wenn man auf Geldpräsente und Gutscheine verzichten und wirklich für jeden etwas ganz Individuelles aussuchen will. Tun Sie sich das gar nicht erst an – es klappt ja doch nicht.

Unser Tipp: Kaufen Sie einfach für alle dasselbe. Ein witziges Spiel, ein angesagtes Buch, eine brandneue CD – irgendwas, was Ihnen selbst so gut gefällt, dass Sie davon überzeugt sind: Das könnte allen gefallen. Und wenn nicht? Wer’s nicht mag, kann es ja umtauschen …

Merke: Das Motto »Keep it simple« macht aus Shopping-Stress einen gemütlichen Einkaufsbummel. Wer es noch reduzierter mag, kaufe einfach nur ein einziges Präsent und verlose das unter seinen Lieben. Das macht die Bescherung gleich noch viel spannender.

4: Party-Verweigerung»Lieber blau machen als blau werden!«

Auf welche Weihnachtsfeiern freuen Sie sich wirklich? Und zu welchen gehen Sie nur anstandshalber? Weil es Ihr Chef, Ihr Partner, Ihre Kinder, Ihre Freunde, Ihre Clubkameraden, Ihre Kollegen, Ihre Nachbarn oder sonst wer erwarten? Und dann müssen Sie schon wieder etwas für die Tombola spenden, langweilige Reden ertragen, O Tannenbaum singen, schrottwichteln und so tun, als hätten Sie das peinliche Techtelmechtel am Nebentisch nicht bemerkt …

Unser Tipp: Konzentrieren Sie sich auf die Veranstaltungen, auf die Sie sich wirklich freuen! Und sagen Sie alle anderen gnadenlos ab. Oder noch besser: Sagen Sie nicht ab, sonst wird man versuchen, Sie zu überreden. Machen Sie einfach blau. Nichts ist befreiender!

Merke: Entschuldigen Sie Ihr Fernbleiben nur, wenn jemand Sie vermisst hat und sich anschließend erkundigt, wo Sie gesteckt haben. Und auch dann genügt ein simples: »Hab’s einfach nicht geschafft. Weihnachtsstress – Sie wissen ja …«

5: Verpackungsboykott»Schließlich geht’s ums Auspacken – nicht ums Einpacken!«

Natürlich ist es ein bisschen unromantisch, das Schmuckstück, das Buch oder den Seidenschal einfach so zu überreichen. Wenn es keine Verpackung gäbe, wäre die Bescherung eine ziemlich nüchterne Veranstaltung. Aber müssen Sie sich deshalb gleich mit Glitzerpapier, Engelaufklebern, Geschenkband und Folienschleifen abquälen? Es geht doch nur darum, den Augenblick der Erkenntnis ein bisschen hinauszuzögern.

Unser Tipp: Verpacken Sie Ihre Geschenke in Kissenhüllen. Die gibt es in fast allen Formaten und meistens auch mit Reißverschluss. Das spart unfassbar viel Zeit, sieht gut aus und löst das Post-Bescherungs-Müllentsorgungsproblem gleich mit: Einfach Hüllen wieder zusammenfalten und zurück in den Schrank. Fertig!

Merke: Falls ein Präsent ein bisschen großformatiger ausfällt – das Ganze funktioniert natürlich auch mit Bettbezügen.

6: Menü bearbeiten»Das ist doch bloß Nahrungsaufnahme! Eigentlich …«

Karpfen. Gans. Raclette. Truthahn. Wild. Knödel. Rotkohl … Da leidet man ja schon beim Lesen unter Völlegefühl! Haben Sie etwa, so wie das früher üblich war, in der Adventszeit gefastet? Nein? Nun, dann können Sie sich beruhigen: Sie werden über die Feiertage auf gar keinen Fall verhungern. Vermutlich müssten Sie vorher nicht einmal einkaufen gehen, um sitt und satt zu werden, wetten?

Unser Tipp: Wie wäre es mit einem leckeren Resteessen? Einfach alles in eine Auflaufform, Käse drüber und ab in den Ofen. Und gleich haben Sie viele Stunden gewonnen, die Sie viel sinnvoller nutzen können (siehe Punkt 7).

Merke: Irgendwas ist immer in der Speisekammer. Oder im Tiefkühler. Oder in der Süßigkeitenschublade …

7: Extrem-Couching»Feiertage sind zum Faulenzen da!«

Wie viele Pflichtbesuche haben Sie geplant? Und wie viele Gäste erwarten Sie? Vermutlich kommt da alles in allem eine stattliche Zahl zusammen. Oder aber Sie machen es wie bei den Weihnachtsfeiern und streiken einfach.

Unser Tipp: Treffen Sie sich nur mit den Menschen, die Sie wirklich gern um sich haben wollen. Je weniger Höflichkeitsbegegnungen der unerfreulichen Art Sie absolvieren, desto geringer das Konfliktpotenzial – und das ist an den Feiertagen bekanntlich besonders groß.

Merke: Man muss auch einfach mal nichts machen. Wenn nicht an Weihnachten, wann dann?

KAPITEL 1

Familienchaos-Geschichten

Weihnachten – das Fest der Familie

Wer kennt sie nicht, diese Sehnsucht, Weihnachten im Kreise seiner Familie verbringen zu wollen? Doch ist man erst einmal mittendrin in diesem Chaos, möchte man der lieben Familie am liebsten wieder entfliehen.

Die Mutter ist kurz vorm Burn-out, der Vater zieht sich zurück in sein Arbeitszimmer. Die Kinder platzen vor Vorfreude und haben alle Aufmerksamkeitsdefizite. Oma mäkelt am Essen rum, Opa trinkt vor sich hin und wird ganz still. Der Hund jagt die Katze, die sich auf den Weihnachtsbaum rettet …

Und trotz allem schleicht sich eine tiefe Sehnsucht vor dem 24. Dezember in unser Herz und lässt es ganz warm werden. Die Sehnsucht nach Familie, Geborgenheit und Glückseligkeit im Kreise seiner Liebsten.

Und wir steigen in das Auto, in den Flieger, in die Bahn und lassen uns wieder auf das gleiche nervenzerrende Familienfest ein: Weihnachten.

Die Kipferl des Grauens

»Ich kann nicht! Ich schaffe das dieses Jahr einfach nicht. Mitte November ist unser Kater gestorben, zehn Tage später hat sich mein Schwiegervater den Oberschenkelhals gebrochen und dann bekamen meine Jungs vor zwei Wochen auch noch das Norovirus. Ich habe wochenlang nur Taschentücher an heulende Kinder verteilt, mit meiner Schwiegermutter Krankenhausbesuche bei deren jammerndem Mann gemacht und die letzte Woche dann permanent vollgekotzte Bettwäsche gewechselt. Wenn ich jetzt auch nur ein einziges Plätzchen backen soll, drehe ich durch und bringe meine Familie um!«

Meine Freundin Merle klang am Telefon, als meinte sie es verdammt ernst. Unwillkürlich fiel mir der Kinderreim »Lizzie Borden mit dem Beile, hackt Papa in Einzelteile …« ein und ich schluckte.

»Gibt es bei eurem Bäcker keine Fertigplätzchen?«, wagte ich zu fragen.

Als Antwort drang ein gereiztes Schnauben durch den Hörer. »Da solltest du mal meine Familie hören. ›Merle, Liebes – du wirst es doch wohl neben deinem Halbtagsjob noch schaffen, ein paar Plätzchen selbst zu backen. Schon den Kindern zuliebe‹«, verfiel sie in einen glockenhellen Sopran, der verdächtig nach ihrer Schwiegermutter Gisela klang. »Und Patrick hält mir einen Vortrag über misshandelte Käfighühner, deren degenerierte Eier sich im Teig der Vanillekipferl befinden, die unsere Kinder essen«, fuhr sie fort. »Nein, mit irgendwelchen Fertigprodukten brauche ich erst gar nicht ankommen.«

Als Mutter dreier Söhne im Alter von sieben, neuneinhalb und zwölf Jahren hatte Merle es sowieso schon nicht leicht. Dazu kam noch ein Ehemann, der zwar ganz nett, aber in seinem früheren Leben wahrscheinlich das Alphatier irgendeiner Pavianherde gewesen war, denn er war dominant und wusste grundsätzlich, wie die Dinge zu laufen hatten.

Als kinderloser Single sah ich meistens fasziniert auf dieses Familienleben, das mir wie das Praxisbeispiel des Darwinismus erschien (Survival of the fittest, Sie wissen schon). Jetzt aber tat Merle mir aufrichtig leid. Und weil sie erstens meine allerbeste Freundin ist – und das bereits seit zwanzig Jahren – und ich zweitens gern backe, purzelten mir die Worte aus dem Mund, ehe ich nur eine Sekunde über die Konsequenzen nachdenken konnte: »Wenn du willst, komme ich nächste Woche zu euch und backe mit deinen Jungs.«

»Das würdest du tun?« Merle klang wie Maria kurz vor der Niederkunft, die unvermittelt von Donald Trump ins Weiße Haus zur Entbindung eingeladen worden war. Ihr Tonfall hätte mich aufhorchen lassen sollen, aber in diesem Moment war ich Trump – und geblendet vom Glanz meiner eigenen Großzügigkeit bejahte ich milde und erklärte mich darüber hinaus auch noch bereit, sämtliche Zutaten mitzubringen.

»Du kannst in Ruhe Weihnachtsgeschenke kaufen gehen, während ich mit deinen Kindern in der Küche Spaß habe. Kein Problem.«

»Meine Güte, du bist wirklich ein Engel«, sagte Merle.

Dadurch im wahrsten Sinne des Wortes beflügelt, schwebte ich am folgenden Samstag bei ihr zu Hause ein, bepackt mit zwei Kilo Mehl, mehreren Päckchen Butter und Zucker, einem Glas Himbeergelee sowie diversen Tütchen mit Nelken- und Lebkuchengewürz.

»In Deckung – hier kommt der Rosinenbomber.«

»In Deckung – hier kommt der Rosinenbomber«, witzelte Patrick, als er mir die Haustür öffnete, und hätte ich nicht beide Arme voll mit diversen Kalorienbomben gehabt, hätte ich ihm wahrscheinlich zur Begrüßung eine geknallt. Ich bin empfindlich, was meine Figur oder mein Gewicht angeht, und bei Merles Ehemann wusste man nie, ob sein Humor Absicht oder Versehen war. Doch weil es stark auf Weihnachten, das Fest der Liebe und des Friedens, zuging, schenkte ich ihm nur ein Saccharin-Lächeln.

»Möchtest du vielleicht mit deinen Kindern backen? Als Ausgleich für deine dreimal nicht in Anspruch genommene Elternzeit als Vater?«, fragte ich freundlich.

Prompt verschwand Patrick mit einem gemurmelten »Hab noch was zu erledigen« in seinem sogenannten Arbeitszimmer, das – wie ich nach einem heimlichen Blick durch den Türspalt vor ein paar Monaten gesehen hatte – von einem Vierzig-Zoll-Monitor beherrscht wurde. »Wenn die Kinder im Bett sind, verkriecht er sich hier drin und schaut oft eine ganze Staffel von The Walking Dead«, hatte mir Merle unter vier Augen anvertraut. Ich bezweifelte, dass Patrick sich des Nachts wirklich ausschließlich herumtaumelnde Zombies in zerschlissenen Klamotten ansah oder nicht doch etwas Appetitlicheres, Leichtbekleidetes, aber das war nicht mein Problem.

»Menno, glotzt Papa wieder diese Zombie-Filme, die wir nicht dürfen?« Auftritt des Erstgeborenen, der proportional zur Pubertät auf immer mehr Vollverben verzichtete.

»Hi, Lucca. Na, alles klar?«, sagte ich betont munter und tröstete mich, dass ein knappes »Joooh« besser war als gar keine Antwort. Immerhin begrüßten Felix, der Mittlere, und Nesthäkchen Tim mich deutlich euphorischer, wobei ihre begehrlichen Blicke den drei Tafeln Schokolade galten, die sich an der Spitze der Ernährungspyramide aus Fett und Zucker auf meinem Arm türmten.

»Die sind zum Backen«, machte ich gleich jeglichen Annäherungsversuchen den Garaus. »Ich hoffe, ihr seid bereit für die große Plätzchenschlacht.«

»Nope, ich bin raus«, verkündete Lucca. »Ich geh zu ’nem Kumpel zocken.«

Ich atmete die Negativität aus, wie meine Yogalehrerin es uns neulich gezeigt hatte.

Ein erster Anflug von Gereiztheit legte sich über meine Samariter-Stimmung, aber ich atmete die Negativität aus, wie meine Yogalehrerin es uns neulich gezeigt hatte. »Gut, kein Thema. Aber du weißt ja – ohne Backen keine Plätzchen. Dann können wenigstens deine Brüder mehr davon essen.«

Damit ließ ich den Zwölfjährigen stehen, dessen Zahnspange jetzt gut sichtbar war, da ihm der Mund offen stand.

Siegesgewiss steuerte ich die Küche an, während Tim und Felix eifrig hinter mir herwieselten – offenbar hatte meine Drohung wenigstens bei den Jüngeren gewirkt. Vor dem Backofen kniete fluchend Merle und kratzte an einer schwarzen Kruste im Inneren herum. »Wenn ich denjenigen erwische, der als Letzter hier drin Pizza gemacht hat«, zischte sie und schabte eine verkohlte Salamischeibe vom Ofenboden.

»Der Papa!«

»Der Lucca!«, ertönte es unisono von Tim und Felix und Merle verdrehte die Augen.

»Wieso frage ich eigentlich noch«, seufzte sie, ehe sie sich erhob und mich umarmte. »Schön, dass du da bist. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll …«

»Ach, vergiss es. Die zwei Jungs und ich werden Spaß haben, nicht wahr?«

Tim und Felix nickten auf Merles drohenden Blick hin artig, aber sie sahen aus wie zwei Sträflinge, die man zur Arbeit im Steinbruch abkommandiert hatte. Mein pädagogischer Ehrgeiz erwachte. Man muss die Kinder da abholen, wo sie stehen. »Kommt schon! Das wird lustig. Ihr dürft auch die Plätzchen verzieren, wie ihr wollt«, startete ich Teil eins des Motivationsprogramms. Lustlos schlurften Tim und Felix zur Arbeitsplatte und blieben mit hängenden Armen davor stehen wie zwei abgeschaltete Haushaltsroboter.

»Und jetzt?«

»Jetzt machen wir erst mal den Teig«, trällerte ich und schob Merle nachdrücklich aus der Küchentür. »Du gehst shoppen und lässt dich erst in drei Stunden wieder hier blicken, klar?«

Stolz darauf, nicht auf die blödsinnige Idee gekommen zu sein, das Abwiegen der Zutaten mit allerlei pseudolustigen Matheaufgaben zu verbinden, legte ich eine Stunde später zwei Teigkugeln für Engelsaugen und Vanillekipferl in den Kühlschrank. »Halbe Stunde Pause, danach geht es ans Ausstechen«, erklärte ich. Felix und Tim hatten sich jedoch schon beim Wort »Pause« wieselflink davongemacht und ich fragte mich, ob es vielleicht ein Fehler gewesen war, die beiden nicht einfach in die Küche einzusperren, bis der Teig fertig gekühlt war.

Ich spürte, wie meine Sympathie für die Waldorfpädagogik schwand.

Zwei Tassen Kaffee später (zum Glück wusste ich, wie Merles Espressomaschine funktionierte) und nach mehreren pseudo-optimistischen WhatsApps an Merle kostete es mich tatsächlich einige Mühe, die zwei Jungs aus ihren Zimmern zu holen und wieder in die Küche zu lotsen. Ich spürte, wie meine Sympathie für die Waldorfpädagogik schwand und einem Kasernenhofton Platz zu machen drohte, doch ich riss mich zusammen. »So, als Erstes machen wir Engelsaugen.« Ich versuchte so freudig zu klingen, als sei ich der Engel der Verkündigung persönlich.

Statt der ehrfürchtigen Hirten sahen mich zwei Augenpaare voller Verachtung an. »En-gels-au-gen?«, fragte Felix gedehnt.

»Ey, wie uncool«, vervollständigte Tim.

Na prima, dachte ich verbittert. Das kommt davon, wenn der Vater Untoten-Filme glotzt, statt seinen Kindern Gutenachtgeschichten vom Sandmann vorzulesen. Aber weil mich die Geringschätzung im Gesicht des Mittleren empfindlich in meiner Bäckerehre traf und der Jüngste bereits zu Fluchtbewegungen neigte, fasste ich einen Entschluss. »Gut, dann machen wir eben Zyklopenaugen.«

Felix starrte mich verblüfft an, während Tim krähte: »Was ist ein Zyklop?«

Aha, in dem Punkt hatte Zombie-Papi offenbar keine Aufklärungsarbeit geleistet. Oder er war der griechischen Mythologie nicht mächtig. »Ein Zyklop ist ein menschenfressender Riese mit nur einem Auge. Mitten auf der Stirn. Wer ihm begegnet, der wird mit Haut und Haaren von ihm verschluckt.«

Drei Sekunden Stille. »Geil«, sagte Felix dann ehrfürchtig und Tim hüpfte begierig auf und ab.

»Gib mir Teig, gib mir Teig! Ich mache das erste Zü-Klo-Auge«, schrie er ungeduldig.

»Aber mit viel Blut«, fügte sein Bruder hinzu und schielte begehrlich auf die rote Himbeermarmelade.

»Sowieso«, sagte ich lässig und kam mir vor wie im alten Rom. Die Menge verlangte nach Brot und Spielen.

Eine Stunde später glich die Küche einem Horrorkabinett. Überall klebte Marmelade. Felix hatte seine Technik perfektioniert und um den roten Klecks in der Mitte des ausgestochenen Plätzchenkreises herum kunstvolle Schlieren fabriziert. Zitat: »Dem Zyklopen läuft Blut aus’m Auge, während er Menschen frisst.«

Tim dagegen hatte darauf bestanden, aus einem Teil des Teiges Totenköpfe zu formen. »Die sind von denen, die der Menschenfresser schon totgemacht hat.«

Meine Versuche, die Teigknochen als harmlosen Ausdruck kindlicher Kreativität zu interpretieren, wurden von den beiden Mini-Kannibalen zunichtegemacht.

Ich ließ die Jungs sich austoben, denn die Alternative wäre gewesen, stundenlang in der Küche zu stehen und einsam Engelsaugen auszustechen oder öde Halbmonde zu formen.

Selbstredend, dass auch aus dem zweiten Teig, der verführerisch nach Vanille duftete, keine Kipferl wurden, sondern Teufelshörner. Jedenfalls was Tim anging. Felix zog es vor, kleine Teighäufchen zu nehmen und daraus mehr oder weniger kunstvoll Knochen zu formen, während er lauthals In der Weihnachtsbäckerei gibt es manche Leckerei mitsang, das im CD-Player lief. Meine Versuche, die Teigknochen als harmlosen Ausdruck kindlicher Kreativität zu interpretieren, wurden von den beiden Mini-Kannibalen zunichtegemacht.

»Los, ab ins Feuer mit dem Zyklopen«, schrie Felix und rammte das Blech mit den Marmeladenplätzchen in den vorgeheizten Backofen.

»Danach kommen die Leichenteile rein«, kreischte Tim und bepinselte einen der Vanilleknochen mit Himbeermarmelade. Kinder im Blutrausch.

Gerade als ich das zweite Blech in den Ofen schob, hörte ich das Geräusch eines Schlüssels im Haustürschloss und gleich darauf eine Frauenstimme: »Oh, das riecht ja wirklich wundervoll nach weihnachtlichen Köstlichkeiten!«

Ich erstarrte. Das war nicht Merles raues, von einigen Zigaretten pro Tag immer leicht heiser klingendes Organ. Dieser glockenreine Sopran gehörte …

»Oma!«, schrie Tim begeistert und schnappte sich eins der runden Himbeerplätzchen. Er hielt es vor seine Stirn und stürmte in den Flur. »Wir haben Zyklopenaugen gebacken! Guck mal – ganz blutig von der vielen Menschenfresserei!«

»Die Knochen sind gerade im Ofen«, überschrie Felix seinen kleinen Bruder und rannte ebenfalls in den Flur. Ich schloss die Augen und wünschte in diesem Moment, ich wäre Odysseus. Der Kampf gegen den einäugigen Riesen schien mir ein Klacks gegen das, was mir wahrscheinlich gleich von Merles Schwiegermutter Gisela drohte. Die Frau hatte mich damals schon nicht leiden können, als ich Merles Trauzeugin war. Bei der Hochzeit hatte ich den Fehler gemacht zu erzählen, dass mein dunkelrotes, geschlitztes Samtkleid aus einem Laden namens Lack ’n’ Roll stammte. Es war zwar mit dem Slipdress aus cremefarbener Seide darunter durchaus elegant, aber beim Namen des Ladens ließ Gisela den Schwiegertiger aus dem Tank – und ich war fortan Persona non grata.

Meine Plätzchenback-Aktion würde die Sache nicht besser machen, das hatte ich im Gefühl. Kurz darauf tauchte Gisela in der Küche auf und musterte fassungslos unser Werk, während Rolf Zuckowski in Dauerschleife aus dem CD-Player schepperte.

Ich versuchte zu retten, was zu retten war. »Hallo, Frau Peters, schön, Sie zu sehen. Wie geht’s Ihrem Mann im Krankenhaus?«

Doch meine Mühe war vergeblich.

»Zyklopen-Plätzchen, also wirklich! Und was sind das da für Gebilde?«, fragte Gisela, während Merle, die hinter ihrer Schwiegermutter aufgetaucht war, eine Grimasse schnitt und die Schultern zuckte.

»Na, Totenschädel! Die von den aufgegessenen Menschen«, plärrte Tim, noch ehe ich eine kreative Ausrede fand.

»Boah! Voll Foodporn, ey!«

»Ich muss mich sehr wundern. Welche Folgen das für ein kindliches Gemüt hat, will ich mir gar nicht ausmalen!« Giselas Blick erinnerte mich an den des Polizisten aus M – eine Stadt sucht einen Mörder: Die reinste Verachtung in Gestalt einer Frau im blaugrauen Twinset mit Perlenkette, während ich mit mehlbestäubten Jeans und klebrigen Marmeladenfingern dastand.

Zu allem Überfluss kam just in dem Moment Lucca, der Älteste, nach Hause und fasste die vorweihnachtliche Veranstaltung in drei Worte: »Boah! Voll Foodporn, ey!«

Mir kam eine Idee. »Gehen Sie doch mal zu Patrick rein, Frau Peters. Er hat vorhin schon von Ihnen gesprochen«, sagte ich scheinheilig.

»Das mache ich. Merle, ich rate dir dringend, die Küche aufzuräumen, damit nicht noch mehr … Schaden bei deinen Kindern angerichtet wird«, schnaubte die Schwiegermutter meiner besten Freundin und gleich darauf hörte ich die Absätze ihrer Stiefeletten auf dem Flurboden klackern.

»Drei, zwei, eins …«, zählte ich und tatsächlich hörte man nach einem kurzen Klopfen das Öffnen einer Tür und gleich darauf drangen knurrende Laute und schrille Schreie an unsere Ohren. »Ich tippe auf Staffel drei von The Walking Dead«, sagte ich.

Merle legte den Kopf schief. »Oder … Die Nacht der lebenden Toten. Das hat Patrick erst neulich gestreamt.« Wir blickten uns an und prusteten los.

»Hier stinkt’s nach verbranntem Zyklop«, ertönte es auf einmal vorwurfsvoll von Tim.

»Oh, Sch…«, rief Merle und riss die Ofentür auf. Auf dem Backblech lagen nur mehr schwarze Brocken.

»Unsere Teufelshörner! Jetzt haben sie die richtige Farbe«, jubelte Felix.

Obwohl Gisela konsterniert das Haus verlassen hatte, war Merle am Ende des Tages ziemlich zufrieden, denn Patrick hatte versprochen, darüber nachzudenken, ob er nicht sein Netflix-Abo zum Jahresende kündigte.

»Aber weißt du, was das Beste ist?«, sagte Merle. »Jetzt kann ich jedes Jahr Plätzchen vom Bäcker kaufen – und meine Schwiegermutter wird keinen Ton mehr darüber verlieren!«

Hoher Besuch

Eine Ente muss nicht immer Pech haben, dachte ich, ohne es zu wollen, während ich mich ins Waschbecken erbrach. Vielleicht lag es an meinen hämmernden Kopfschmerzen, vielleicht aber auch an den lauten Entrüstungsäußerungen meiner besseren Hälfte, bei der ich seit meiner frühmorgendlichen Heimkehr zugegebenermaßen einen schlechten Stand hatte, dass ich das Klingeln zunächst nicht realisierte. Ich hatte einen großartigen Abend gehabt, beste Gesellschaft, herausragende Geistesblitze, und es ernüchterte mich zutiefst, dass die Weltformel, die die Kneipenrunde zu spätester Stunde aus dem alkoholgetränkten Nichts heraus gebar, am nächsten Tag so gar keinen Sinn mehr ergeben wollte – »eine Ente muss nicht immer Pech haben ...« Ein erneuter Schwall Erbrochenes ergoss sich in die weihnachtlich gewienerte Keramikschüssel.

Ja, es war Heiligabend, wahrscheinlich schon gar nicht mehr so früh, die Kinder würden in Kürze auf den Plan treten und ihr Recht fordern, die Laune meiner Lebensgefährtin musste wiederhergestellt werden – wohl eine unlösbare Aufgabe – und ich befand mich in einem derart jämmerlichen Zustand, dass selbst mein Bett kein geeigneter Ort für mich gewesen wäre. Da klingelte es und erst Evas barsche Frage, ob ich nicht endlich einmal aufmachen wolle, ließ in mir den Gedanken herandämmern, dass es wohl schon öfter geklingelt haben musste. Bleiern schleppte ich mich zur Tür und öffnete.

Krampfhaft überlegte ich, ob es womöglich der Alkohol war, der mir ein sinnvolles Kommunizieren erschwerte.

Das Gesicht, das mir, umweht von dünnen Schneeflocken, aus dem schalen Winterlicht entgegenblickte, aktivierte in mir den Wunsch, mich zu erinnern, woher ich es wohl kannte. Ein Mann, zweifellos, und offenbar keiner, der Small Talk liebte: »Ihr Gartenteich ist zugefroren«, schmetterte er mir grußlos entgegen und sah mich herausfordernd an. Tatsächlich sprach der Mann die Wahrheit aus, kein Wunder, bei den knackigen minus zehn Grad, die unsere Gegend seit Tagen im Griff hatten und den Gedanken an Klimawandel und grüne Weihnachten so fern erscheinen ließen wie die Logik hinter den ersten Worten des unerwarteten Besuchers. Krampfhaft überlegte ich, ob es womöglich der Alkohol war, der mir ein sinnvolles Kommunizieren erschwerte, hörte aus dumpfer Ferne Eva fragen, wer da wohl gekommen sei, und beschloss, die Tür ohne weitere Erläuterungen zu schließen. Gedacht, getan.

Ein Fuß verhinderte das Einrasten des Schlosses und zu meinem Erschrecken musste ich feststellen, dass der Fuß keine Schuhe trug. »Ihr Teich ist zugefroren, verdammte Hacke, wie soll ich darauf wandeln?« Der Mann hatte sich vor mir aufgebaut und obschon er nicht besonders groß war, ging doch eine gewisse Autorität von ihm aus. Er trug einen seltsamen Mantel, eher ein Hemd, das seine besten Jahre wohl hinter sich hatte, und funkelte mich zornig an. Auf einmal wusste ich, woher ich das Gesicht kannte: Es gehörte zweifellos zu dem Schauspieler Jürgen Vogel.

»Herr Vogel?«, hörte ich mich fragen, doch der Mann öffnete die Tür nun ganz und trat über die Schwelle.

»Quatsch, ich bin der Messias.« Mit wenigen Sätzen stand er im Wohnzimmer und machte sich an unserem Weihnachtsbaum zu schaffen. »Was soll denn der Scheiß?« Provozierend hielt er mir eine Christbaumkugel unter die Nase. »Dafür tötet ihr Bäume?«

Erneut klingelte es. Eva öffnete. Es war Ruth, die die Kinder brachte. Ruth wollte über die Feiertage mit ihrem Freund in Skiurlaub fahren. An Weihnachten hatte sie noch nie etwas gehabt. Und da sie jedes Jahr einen neuen Freund hatte, konnte sie immer wieder an denselben Urlaubsort verreisen, ohne langweilig zu wirken. Ruth schien immer ein wenig verlegen, wenn sie zu uns nach Hause kam. In erster Linie wohl deshalb, weil sie wusste, dass ich sie ihrer Oberflächlichkeit wegen verlassen hätte, hätte sie es nicht vorher meiner eigenen Charakterfehler wegen getan. Und natürlich wusste sie auch, dass ich wusste, wie egoistisch glücklich sie sich schätzte, wenn sie unsere Kinder mal wieder für die Dauer eines Urlaubs bei mir parken konnte.

»Komm rein, Ruth«, hörte ich Eva sagen – Nicolas und Mathieu waren es längst – und wunderte mich, wie so oft schon, über Evas Fähigkeit, ihren gerade noch auflodernden Zorn in Freundlichkeit denen gegenüber umzuwandeln, die sie doch viel weniger verdient gehabt hätten als ich.

Momente später standen wir zu fünft um den Tannenbaum und sahen Jürgen Vogel dabei zu, wie er ihn gewissenhaft abschmückte.

Momente später standen wir zu fünft um den Tannenbaum und sahen Jürgen Vogel dabei zu, wie er ihn gewissenhaft abschmückte.

Geschlagene sieben Sekunden dauerte es, bis Nicolas als Erster das Wort ergriff: »Wer bist du?«, und damit zum Ausdruck brachte, was alle anderen ebenfalls dachten.

Jürgen Vogel drehte sich um. »Hat dir das dein Vater, die alte Saufnase, noch nicht erklärt?«

Nicolas schaute mich fragend an. Gewiss wäre nun der richtige Moment gekommen, um sich als Vater zu beweisen, indem man den ungebetenen Besucher freundlich, aber bestimmt zur Tür brachte. Doch irgendetwas hielt mich davon ab. Ich setzte mich auf unsere sündhaft teure Wohnlandschaft und hieß die anderen, es mir gleichzutun.

»Na ja, ich geh dann mal«, meinte Ruth. Draußen wartete der Skiurlaub, wahrscheinlich saß sogar der Freund im Auto, verständlich, dass es sie nicht lange im Hause ihres Ex-Lebensgefährten hielt. Auch den Kindern schien klar zu sein, dass lange Abschiedsprozeduren nicht gefragt waren, so sagten sie nur ein paar matte Floskeln zu ihrer immer noch viel zu jungen Mutter. Bevor diese aber ihren Fuß auf die Straße setzen konnte, hatte Jürgen Vogel sie am Handgelenk gepackt.

»Komm herein, Weib, auch du bist mir willkommen, gerade du, und wir werden speisen im Angesicht unserer selbst bei Kerzenschein und der Herr wird uns bewirten mit einer Freundlichkeit, die du noch nicht gekannt.«

»Wer, ich?«, fragte ich.

»Der Herr, du Penner!«

Langsam verfestigte sich in mir der Eindruck, Jürgen Vogel könne mich nicht leiden.

Langsam verfestigte sich in mir der Eindruck, Jürgen Vogel könne mich nicht leiden.

»Lass nur«, meinte Eva und verschwand, eine Wolke aus Güte aufwirbelnd, in der Küche.

»Na also, geht doch.« Jürgen Vogel wandte sich wieder dem Weihnachtsbaum zu. Offenbar war ihm das gewissenhafte Abschmücken nun doch nicht mehr wichtig, denn er riss den Baum aus dem Ständer und warf ihn durch das geschlossene Wohnzimmerfenster.

»Ich ruf mal eben den Glaser an«, erbot sich Mathieu, mit seinen 15 Jahren schon zu außerordentlicher Vernunft gekommen, doch das war nicht nötig, denn der Glaser musste schon da gewesen sein und eine neue Scheibe eingesetzt haben, während ich kurz weggenickt war. Ich würde in der nächsten Zeit keinen Alkohol mehr trinken.

Unter normalen Umständen wäre ich wütend geworden, hätte spätestens jetzt den Vollidioten vor die Tür gezerrt, ihn mit einem Arschtritt versehen und in die Nacht gejagt.

Erst als das Abendessen schon in vollem Gange war, kam ich wieder richtig zu mir. Erstaunt bemerkte ich, dass Ruth am Tisch saß, direkt gegenüber von Jürgen Vogel, wie Eva und die beiden Jungs, gebannt den Reden des Messias lauschend. Unter normalen Umständen wäre ich wütend geworden, hätte spätestens jetzt den Vollidioten vor die Tür gezerrt, ihn mit einem Arschtritt versehen und in die Nacht gejagt, aber eine sanfte Wohligkeit hatte sich in mir breitgemacht. Fasziniert beobachtete ich, wie Vogel mit einem Glas Rotwein in der Hand weit ausholend referierte:

»Seht dies Weinglas – blutrot ist der Lebenssaft, den es zu unserer Erquickung bereithält, und schon ...«, er leerte es in einem Zug, »... ist da nichts mehr, außer einer gläsernen Leere. Dennoch wirkt der Saft des Lebens in mir fort, rauscht mir durch die Venen und bereichert meinen Geist, der, beseelt von der Magie des Weines, nach neuerlichem Weinblut Ausschau hält.« Vogel streckte den Arm mit dem Glas nach vorn und bekam wie selbstverständlich von Ruth, die ihn auf unangenehme Weise anhimmelte, nachgeschenkt. Er wandte sich nun direkt an sie: »Wenn ein Schaf sich von der Herde entfernt und in Gefahr gerät – was würdest du von einem Schäfer halten, der sich nicht darum schert? Wäre das ein guter Hirte?«

»Wer bist du?«, fragte Nicolas aufs Neue.

»Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«, entgegnete der Fremde, der auf einmal so gar keine Ähnlichkeit mit Jürgen Vogel mehr aufzuweisen schien. »Und wenn ich euch einen guten Rat geben darf: Interessiert euch füreinander! Öffnet eure Herzen! Bleibt Menschen und hört auf, permanent um euch selbst zu kreisen! Meinem Vater ist nicht wichtig, dass ihr ihn anbetet. Aber er bekommt Depressionen, wenn er sieht, wie ihr eure Smartphones, eure Tablets und eure Instagramprofile anbetet.«

»Ich besitze überhaupt kein Smartphone«, entrüstete sich Eva, aber der Mann legte ihr beschwichtigend seine Hand auf die Schulter:

»Ich spreche nicht zu dir allein, sondern zu der gesamten Menschheit. Zu der gesamten kaputten Menschheit, die nicht einmal in der Lage ist zu erkennen, dass ihre Probleme nur gemeinsam zu lösen sind.«

»Probleme gemeinsam lösen« – da hatte der Messias ein wahres Wort gesprochen. Wie oft schon waren mir die großen Fragen der Menschheit durch das Hirn gewabert und hatten dann doch ihren Platz für sinnlose Alltagsdinge geräumt. Als ob es wichtiger wäre, ein Auto zu polieren, als Kriege zu vermeiden.

Eine Ente muss nicht immer Pech haben. Merk dir das.

Plötzlich spürte ich Vogels stechenden Blick: »Und dir möchte ich auch etwas auf den Weg geben: Eine Ente muss nicht immer Pech haben. Merk dir das. Nicht immer. Aber eben doch fast immer ...«

Ich erwachte. Sonnenlicht brach durch die Ritzen im Rollladen. Ruth schlief neben mir. Wie immer. Ich grübelte, wer genau Eva gewesen sein könnte, aber ich hatte kein Bild mehr vor Augen. Aus den unteren Stockwerken hörte ich, dass Nils und Maren schon spielten. Schön, dass sie noch so klein waren und auf das Christkind warteten. Viel zu schnell würde sich alles ändern. Ruth schnarchte. Sie hatte gestern wohl zu lange mit ihrer Freundin geklönt. Für mich war es nun Zeit, aufzustehen. Ich überlegte, mit den Kindern gemeinsam den Baum aufzustellen. Bäume gehörten einfach dazu. Oder doch nicht? An der Haustür klingelte es.