Aeternum - Andrea Bottlinger - E-Book

Aeternum E-Book

Andrea Bottlinger

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Beschreibung

Berlin, Alexanderplatz: Ohne jegliche Vorwarnung stürzt der große Platz eines Tages ein – zurück bleibt ein riesiger Krater, der bis in die tiefsten Katakomben der Hauptstadt reicht. Nicht nur die Stadtoberen stehen vor einem Rätsel – auch die seit langem verfeindeten Parteien der Dämonen und Engel können sich nicht erklären, wer für den Einsturz verantwortlich sein könnte. Um das herauszufinden, werden die junge Magierin Amanda, die im Dienst eines Dämons steht, und der gefallene Engel Jul in die Katakomben geschickt. Dabei kommen die beiden sich nicht nur näher, sie entdecken auch ein Geheimnis, das die Existenz unserer Welt bedroht …

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Seitenzahl: 733

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Aeternum

ANDREA BOTTLINGER

Aeternum

Andrea Bottlinger

Verbesserte Neuauflage 2022

© 2022 Calderan

Ein Imprint der Kraterleuchten GmbH,

Gartenstraße 3, 54550 Daun

Verlagsleitung: Sven Nieder

© 2013 Droemer/Knaur

Alle Rechte vorbehalten.

Titel- und Innenillustrationen: Marlene Wassermann

Gestaltung: Björn Pollmeyer

ISBN 978-3-98600-011-0

Auch als Klappenbroschur erhältlich:

ISBN 978-3-98600-010-3

www.calderan.de

Inhalt

Vorwort

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

Über Andrea Bottlinger

Vorwort

Dieser Roman wurde zwischen 2010 und 2011 geschrieben und ist 2013 zum ersten Mal erschienen. Damals war ich um die 25 Jahre alt, hatte gerade mein Studium beendet und habe davon geträumt, vom Schreiben leben zu können. Ich hatte außerdem hohe Ansprüche an mein Schreiben, denen mein Skilllevel nicht immer gerecht geworden ist. Ich wollte nicht einfach nur eine Geschichte erzählen, ich wollte etwas aussagen.

All die widerstreitenden Gefühle, die ich in Bezug auf Religion und Glauben hatte, sind in diesen Roman geflossen. Und ich bin noch immer nicht einfach nur Atheist, sondern der Überzeugung, dass ein höheres Wesen, das unsere grausame Welt geschaffen hat, keine Verehrung verdient hätte. Ich misstraue noch immer Autoritäten und Strukturen, die auf dem blinden Befolgen von Befehlen basieren. Aber ich bin inzwischen nicht mehr so sehr das edgy Goth-Kid, das ich damals war. Und ich denke, würde ich diesen Roman noch einmal neu schreiben, würde er etwas anders aussehen.

Ich habe für diese Neuauflage tatsächlich einige Stellen überarbeitet, die ich nicht so stehen lassen wollte, wie sie waren. Aber ich habe mich bemüht, meinem edgy Goth-Ich von damals bei den Änderungen treu zu bleiben. Die geneigten Lesenden dieses Romans erwartet also einiges an Pathos so wie ungefiltert und ohne Scham alles, was ich damals cool fand (und zugegebenermaßen immer noch in verschiedenen Abstufungen cool finde):

Tattoos, Anleihen an Vampirismus, übernatürliche Wesen mit spitzen Zähnen, glühenden Augen und Krallen (aber ganz ehrlich, alle diese Dinge sind nun mal irgendwie sexy), Angeberei in Bezug auf mein Wissen über Geschichte, Mythologie und Popkultur … und nicht zuletzt der Versuch, Gewalt so zu beschreiben, dass sie irgendwie ästhetisch ist.

Ich entschuldige mich für nichts.

Ich möchte mich hiermit außerdem bei all den Menschen bedanken, die diesen Roman seit seinem Erscheinen immer und immer wieder gelesen haben und mir hin und wieder davon erzählen. Ihr gebt mir das Gefühl, etwas Richtig gemacht zu haben, und es macht mich unglaublich glücklich, mir vorzustellen, dass ein Buch von mir jemandes Lieblingsbuch sein könnte.

Diese Neuauflage ist für euch.

Prolog

Noch fünfzehn Sekunden. Die Zentralstation der Alarmanlage lag offen vor Amanda, Drähte und Platinen ein wildes Durcheinander. Stumm zählte sie die Sekunden. Noch vierzehn, dann würde der Alarm losgehen, wenn sie nicht den richtigen Code eingab. Ihr Herz flatterte vor Aufregung, doch die beruhigende Präsenz ihres Bruders hinter ihr sorgte dafür, dass ihre Hände ruhig blieben.

» Ich kenn das Modell. Lampe höher.«

Roman folgte der Aufforderung. »Du zählst wieder mit, oder?«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr. »Wie oft hab ich dir gesagt, du solltest nicht die Sekunden zählen? Das macht dich nur nervös. Entweder du schaffst es, oder du …«

» Ruhe!«

Amanda biss sich auf die Unterlippe. Die Stromverbindung einfach zu kappen, würde nur einen anderen Alarm auslösen. Aber sie konnte den Stromkreis umleiten. Sie hielt den Atem an, als sie ein Stück Draht zurechtbog, die Enden an die richtigen Stellen schob. Sofort streckte Roman die Hand über ihre Schulter aus und befestigte den Draht mit einem Stück Klebeband an Ort und Stelle. Sie waren ein erprobtes Team.

Zwei Sekunden. Eine. Null. Amanda ließ die Hände sinken. Halb rechnete sie damit, dass eine Sirene losging, doch alles blieb ruhig. Erleichtert atmete sie aus. »Entweder es war ein stummer Alarm oder es hat funktioniert.«

Roman lachte leise und zerzauste ihr das Haar. »Wird schon funktioniert haben. Du machst dir zu viele Sorgen.«

Amanda drehte sich um und blickte hinauf zu dem Gesicht ihres Bruders, das im Schatten lag. Er hatte die kleine Taschenlampe bereits wieder ausgeschaltet. »Roman, wir sind auf dem Weg hier rein an zwei Wachleuten vorbeigekommen. Vorne am Tor des Grundstücks sitzen noch mal zwei. Der Besitzer dieser Villa legt offensichtlich verdammt großen Wert auf seine Kunstschätze. Und da wunderst du dich, dass ich mir Sorgen mache?«

» Wenn sie uns erwischen, hab ich dich zu allem angestiftet. Du musst keine Angst haben, kleine Schwester. Ich pass auf dich auf. Und jetzt komm weiter.«

Er und sein Bedürfnis, sie zu beschützen … Roman hatte nie begriffen, dass sie keine Angst davor hatte, hinter Gitter zu landen. Sie hatte Angst davor, von ihm getrennt zu werden. Seit ihre Mutter sich mit irgendeinem Kerl aus dem Staub gemacht hatte, war er alles, was ihr noch an Familie geblieben war.

Noch immer mit einem mulmigen Gefühl im Magen folgte Amanda seiner langen, schlaksigen Gestalt durch einen Eingangsbereich, in den problemlos ihre gesamte Wohnung hineingepasst hätte. Rechts von ihnen führte eine Treppe in den ersten Stock. In der Dunkelheit konnte Amanda ihre geschwungene Form nur erahnen. Roman schlich auf eine hohe Doppeltür am Ende der Eingangshalle zu.

Immerhin schien es im Haus keine Wachen zu geben. Nichts regte sich in den großen Räumen. Den Gärtner, die Putzfrau und den Koch hatten sie bei Anbruch der Nacht gehen sehen, und auch der Besitzer hatte seine Villa vor einer Viertelstunde verlassen. Hoffentlich verbrachte er den Abend in der Oper oder bei irgendeiner anderen zeitraubenden Aktivität.

Mit der Hand an der Klinke der Doppeltür blieb Roman stehen. »Das müsste es sein, oder?«

Amanda nickte. »Dahinter sollte die Bibliothek liegen. Dann müssen wir nur noch diese Statue finden, die der Japaner haben will.«

Sie hatte nie verstanden, warum manche Kunstsammler die Dinge stehlen ließen, die sie nicht kaufen konnten. Was machte man mit einer Statue, die man nicht mal seinen Gästen zeigen konnte, weil sie einen sofort eines Verbrechens überführen würde? Aber reiche Leute waren nun mal seltsam. Und sie und ihr Bruder lebten gut davon. Sie hatte also keinen Grund, sich zu beschweren.

Langsam öffnete Roman die Tür. Amanda lauschte angespannt. Vielleicht saß ja doch ein Wachmann auf der anderen Seite? Aber dann schlüpfte Roman durch den offenen Spalt und winkte ihr, ihm zu folgen.

Der Strahl der Taschenlampe glitt dicht am Boden entlang, und Roman achtete darauf, nicht in Richtung der Fenster zu leuchten. Das Licht riss Regalreihen voller Bücher aus der Dunkelheit, einige davon in Leder gebunden. Doch es fing sich auch in Glas. Vitrinen, die alte Steintafeln enthielten, kleine Bronzestatuetten. Hier und dort blitzte Gold.

» Das ist ja das reinste Museum hier!« Amanda wechselte einen Blick mit ihrem Bruder. Das Grinsen auf seinem Gesicht war ansteckend, ihre Nervosität schwand. Sie hatten einen Schatz gefunden!

Romans Augen blitzten, als er ohne Zweifel überschlug, was für ein Vermögen in diesem Raum lagerte. »Wir hätten einen Lastwagen mitbringen sollen.«

Mit einem leisen Lachen knuffte sie ihn in die Rippen. »Nun komm mal wieder runter. Aber es spricht wohl nichts dagegen, wenn wir noch ein paar mehr Dinge einstecken.«

Aufgeregt schwärmten sie aus. Amanda zog ihre eigene kleine Lampe aus der Tasche und leuchtete in die Vitrinen. Das Zeug darin sah wirklich alt aus, bronzezeitlich, falls die wenigen Kenntnisse, die sie beim Stehlen alter Kunstschätze erworben hatte, zu irgendwas taugten. Sie entdeckte kleine Tafeln, auf denen Männer mit langen Bärten auf ihre unglücklichen Feinde einschlugen oder zwischen Kornähren standen. Viele der Statuetten hielten eine Keule in der Hand und trugen etwas auf dem Kopf, das aussah wie eine verunglückte Zipfelmütze. So in der Art hatte auch die Statue auf dem Foto ausgesehen, das der Japaner ihnen gezeigt hatte. Nur war sie aus Gold gewesen.

» Ich hab sie!« Romans leiser Ruf schreckte Amanda aus ihren Betrachtungen.

Sie eilte zu ihm hinüber. »Fass auf keinen Fall irgendwas an! Ich wette, die Vitrinen sind noch mal extra mit Alarmanlagen gesichert.«

Er grinste und salutierte nachlässig. »Jawohl, Frau Expertin!«

In diesem Moment flog die Doppeltür auf. »Keine Bewegung!«

Amanda erstarrte. »Fuck!«

Ganz langsam drehte sie sich zum Eingang der Bibliothek um. Es musste doch einen stummen Alarm gegeben haben. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Man hatte sie erwischt, und es war ihre Schuld.

Dann flammte das Deckenlicht auf, und sie blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit. Schließlich klärte sich ihr Blick, und sie starrte in die Mündungen mehrerer Sturmgewehre. Keine Pistolen. Gewehre. Und die Leute dahinter sahen auch nicht aus wie Polizisten. Sie trugen militärisch anmutende Uniformen, und ihre Mienen waren grimmig, als warteten sie nur darauf, dass Amanda oder ihr Bruder eine falsche Bewegung machten.

Unwillkürlich tastete sie an einer der Vitrinen nach Halt. Waren sie ohne es zu wissen in das Haus eines Mafiabosses eingestiegen? Amanda warf ihrem Bruder einen Blick zu. Vielleicht hatte er einen Plan, wie sie aus dieser Situation wieder herauskamen. Doch auch in seinen Augen stand die Angst.

» Mitkommen!«

Mit vorgehaltenen Gewehren führten die Männer sie in die Eingangshalle, trieben sie unter die geschwungene Treppe. Dort öffnete sich eine Tür auf Betonstufen, die so gar nicht zum protzigen Rest des Hauses passte. Je tiefer sie stiegen, desto kühler wurde es. Die Luft war feucht und es roch muffig.

Amanda schluckte schwer. Sie würden hier nicht mehr lebend rauskommen, oder?

Sie stolperte und Roman packte sie am Arm, stützte sie. »Wenn sich die Gelegenheit ergibt, lauf«, raunte er. »Schau dich nicht um, lauf einfach.«

» Könntest du bitte nicht so klingen, als wären wir in einem Film und du kurz davor, einen heldenhaften Tod zu sterben?« Ihre Stimme zitterte. Allein bei dem Gedanken, zu fliehen und ihren Bruder zurückzulassen, wurde ihr übel.

» Nicht quatschen. Weitergehen!« Ein Gewehrlauf traf sie im Rücken, stieß sie weiter, einen kurzen Gang hinunter und in einen kahlen Raum. Eine nackte Glühbirne beleuchtete schmucklose Betonwände. Und waren das alte Blutflecken auf dem Boden? Nein, jetzt nicht in Panik geraten. Es waren nur Wasserflecken oder Farbreste oder irgendetwas anderes. Aber so sehr sie auch versuchte, sich das einzureden, sie glaubte es selbst nicht.

Roman schob sich vor sie, während sie immer weiter in den Raum zurückwichen. Zum ersten Mal war Amanda froh über seinen Beschützerinstinkt, auch wenn sie wusste, dass er ihr nicht mehr als die Illusion von Sicherheit geben konnte. Dieser Raum besaß nicht mal Fenster. Sie saßen in der Falle.

» Durchsucht sie nach Tattoos.«

Tattoos? Was hatte das denn zu bedeuten? Die Mitglieder der japanischen Mafia trugen Tattoos, aber dass sie keine Japaner waren, lag doch auf der Hand. In was für einen Albtraum waren sie da bloß hineingeraten?

Während zwei der Männer Roman packten und von Amanda fortzerrten, näherte sich ihr der Kerl, der die ganze Zeit die Befehle gegeben hatte. Das Gewehr hing an einem Gurt über seiner Schulter, und als sich seine Lippen zu einem Lächeln verzerrten, vollführten die unzähligen kleinen Narben in seinem Gesicht einen abstoßenden Tanz.

Instinktiv wich sie zurück, doch der Mann packte sie fest am Oberarm und schob mit geübter Bewegung die Ärmel ihres Sweatshirts hoch. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen fand er nicht, was er suchte. Grob griff er nach ihrem Kinn, drehte ihr Gesicht von einer Seite zur anderen, strich ihr Haar beiseite und begutachtete ihren Nacken. Sie zuckte unter jeder seiner Berührungen zusammen, wagte aber nicht sich zu wehren. Wenn diese Kerle nicht fanden, was sie suchten, ließen sie sie ja vielleicht gehen oder übergaben sie zumindest nur der Polizei. Mit einem Mal erschienen ihr ein paar Jahre Gefängnis wie eine wunderbare Aussicht. Sicher saß man für Einbruch nicht mal sonderlich lang.

Unvermittelt griff der Typ mit dem Narbengesicht nach dem Saum ihres Sweatshirts und zog ihn mit einem Ruck nach oben. Amanda erstarrte. Kühl strich die feuchte Kellerluft über ihre nackte Haut, wie von fern hörte sie einen der Bewaffneten pfeifen. »Zieh sie am besten ganz aus. Um sicherzugehen. Du weißt schon.«

Der anzügliche Tonfall zerriss den Schleier der Angst, der sie umfing. Mit Sturmgewehren und dem drohenden Tod, damit konnte sie nicht umgehen. Aber übergriffige Kerle, das kannte sie. Zornig hob sie den Blick und fixierte einen der Männer, der sie breit grinsend musterte. Gleichzeitig zog sie ihr Sweatshirt wieder nach unten. Der Stoff knirschte, aber dann ließ Narbengesicht los.

Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, ergriff Roman das Wort. »Finger weg von meiner Schwester!«

Sie hörte einen dumpfen Aufprall, dann ersticktes Ächzen. Ihr Bruder hatte einem seiner Bewacher den Ellenbogen in den Magen gerammt. Dem zweiten trat er gegen das Knie und erntete einen schmerzerfüllten Schrei.

» Roman, nicht!« Er würde erschossen werden! Amanda warf sich nach vorn, doch der Kerl mit den Narben packte sie, wich lachend aus, als sie nach ihm trat.

Wenige Sekunden später sauste ein Gewehrkolben auf Romans Hinterkopf nieder. Wie eine Marionette mit durchschnittenen Fäden fiel er zu Boden.

Narbengesicht sagte irgendetwas, doch Amanda konnte nur die reglose Gestalt ihres Bruders anstarren. Hatte der Schlag ihn getötet? Atmete er noch? Da! Seine Brust hob sich, senkte sich und hob sich wieder. Er lebte!

» Was ist hier los?« Die Stimme peitschte mit absoluter Befehlsgewalt durch den Raum. Amanda zuckte zusammen und spürte zugleich, wie sich das Narbengesicht hinter ihr versteifte – ganz so, als hätte er Angst. Im Türrahmen stand ein Mann in Abendgarderobe. In dem Aufzug hätte er gut in ein Casino gepasst, in diesem Keller dagegen wirkte er deplatziert. Er trug das Haar lang, aber zurückgebunden, und zwischen seinen Brauen stand eine steile Falte.

» Nur zwei Einbrecher«, erwiderte Narbengesicht zackig. Es fehlte lediglich das »Sir« am Ende. »Sie hatten es auf die Sachen in der Bibliothek abgesehen. Wir haben keine Tattoos gefunden, sie scheinen keinem Dämon zu dienen.«

Dämon? War das ein Codewort für irgendwas? Doch noch ehe Amanda länger darüber nachdenken konnte, winkte der Mann im Anzug – vermutlich der Hausherr –gelangweilt ab.

» Ich ahne, wer sie geschickt hat. Dieser Japaner hat mir ziemlich penetrante Kaufangebote für die Goldstatuette gemacht.« Nachdenklich strich er sich über das Kinn. »Ich habe keine Lust, mich in ein paar Wochen mit einem neuen Einbruchsversuch herumzuschlagen. Erschießt sie. Und lasst ihn wissen, dass sie tot sind. Das sollte als Warnung ausreichen.«

Amanda wurde kalt. Wie beiläufig dieser Mann über ihren Tod entschied. Als wären sie und Roman nichts weiter als lästige Fliegen. Irgendwie musste sie ihn umstimmen, ihn davon überzeugen, dass sie ihm lebend mehr nützten als tot. Doch ihre Kehle war trocken, und sie brachte kein Wort heraus. Sie räusperte sich. »Sie müssen das nicht tun.« Ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren. »Wir können unseren Auftraggeber davon überzeugen, dass er Sie in Ruhe lässt. Wir sagen auch allen unseren Kollegen, dass Ihr Haus tabu ist. Kein Problem. Wir …«

Ohne auf ihre Worte zu achten, stieß Narbengesicht sie auf ihren noch immer reglos am Boden liegenden Bruder zu. Amanda stolperte und fing sich schließlich an der Wand ab. Die beiden Wachmänner, gegen die Roman gekämpft hatte, zogen sich zurück, und kurz darauf sah sie sich einem Wald von Gewehrläufen gegenüber.

Jedes Gefühl wich aus ihrem Körper. Dies war ihr Erschießungskommando. Die Erkenntnis, dass sie tatsächlich sterben würde, lähmte sie. Ob es wehtat, wenn man von Kugeln durchsiebt wurde?

Es war Narbengesicht selbst, der schließlich seine Waffe hob und auf Roman anlegte. Sein kaltes Lächeln ließ die weißen und roten Linien in seinem Gesicht tanzen. Da war kein Bedauern in seinem Gesicht, kein Zögern, kein Mitleid.

Instinktiv trat Amanda vor und schob sich zwischen die Mündungen der Waffen und die reglose Gestalt ihres Bruders. Verzweifelt suchte sie den Blick des Hausherrn. »Bitte, es gibt sicher irgendetwas, das wir für Sie tun können …«

Doch der Mann im Smoking blickte nicht einmal zu ihr hinüber. »Lasst ihre Gesichter intakt«, sagte er nur. »Damit ihr Auftraggeber sie erkennt.«

Sollte es das wirklich sein? Aus dem Weg geräumt wie ein Bauer in einem Schachspiel? Plötzliche Wut packte Amanda. »Hey Arschloch! Schau mich zumindest an, wenn du über mich redest!«

War das ein leichtes Schmunzeln auf den Lippen des reichen Bonzen? Zumindest schaute er sie nun an. Erwartungsvoll irgendwie.

Und da waren die leisen Geräusche, mit denen die Männer die Abzüge der Gewehre zurückzogen. Zu der Wut mischte sich wieder Angst. Nicht nur um sie, sondern auch um ihren Bruder. Ihr ganzer Körper spannte sich in Erwartung der einschlagenden Kugeln.

Der Strudel der Gefühle formte sich in ihrem Inneren zu einem glühenden Ball, wuchs mit jedem Atemzug und gewann an Helligkeit und Kraft.

» Nein«, murmelte sie. »Nein.«

» Nein!«

Ein Schrei, dann ein zweiter, eine Kakophonie aus Schreien. Mit schmerzerfüllten Gesichtern ließen die Männer ihre Gewehre fallen. Grimmige Befriedigung erfüllte Amanda. Sie wusste nicht was sie tat und wie, aber sie würde den Teufel tun, damit aufzuhören.

Entsetzt starrten die Wachleute auf ihre verbrannten Handflächen. Gewehrläufe verbogen sich, als wären sie aus Gummi. Plastik bildete schimmernde Lachen auf dem Boden, und ein stechender Gestank stieg Amanda in die Nase. Sie lächelte grimmig. Niemand würde Roman mit diesen Waffen noch etwas antun.

Doch so schnell, wie die Kraft gekommen war, verschwand sie auch wieder. Ihre Knie gaben nach, und sie fiel neben ihrem Bruder auf den Boden.

Eine Weile lauschte sie einfach nur ihren eigenen Atemzügen und wartete darauf, dass das Pochen in ihrem Schädel nachließ. Was hatte sie gerade getan? Wie hatte sie es getan? Und vor allem: Konnte sie es wieder tun? Sie horchte in sich hinein, doch das Gefühl der Macht, das sie so unvermittelt erfüllt hatte, war verschwunden.

Erst als sich Schritte näherten, sah sie auf.

Der Hausherr blickte auf sie hinab. Die Gleichgültigkeit in seinem Blick war Interesse gewichen. »Ich korrigiere mich. Es gibt doch etwas, das du für mich tun kannst.« Ein Lächeln umspielte seine Züge wie das Zähnefletschen eines hungrigen Raubtiers. »Mein Name ist Balthasar, und von nun an gehörst du mir.«

1. Kapitel

Staub tanzte im Licht von Juls Taschenlampe. Es riss einen schmalen Streifen des schotterbedeckten Gleisbetts aus der Dunkelheit des U-Bahn-Tunnels, glitt über rostige Schienen, Schutt, eine alte Cola-Dose …

Wo war das Biest? Jul lauschte angestrengt, versenkte sich ganz in den Augenblick, bis es nichts anderes mehr gab. Für einen Moment war es wie früher, nichts als angespannte Konzentration und die Sicherheit, das Richtige zu tun.

Da! Blitzende Zähne, Krallen und dreckig-gelbe Schuppen. Fauchend stieß sich der Dämon ab, flog auf ihn zu. Kalt floss das blaue Feuer durch Juls Körper, tanzte über den Lauf der Pistole.

Der Schuss knallte. Die Kugel zog eine blaue Flammenspur durch die Dunkelheit, schlug in den Leib des Dämons. Jul roch versengtes Fleisch, als das Wesen dicht vor seinen Füßen auf den schuttübersäten Boden klatschte. Noch einmal zuckte der lange Schwanz mit der sichelförmigen Klinge. Dann blieb das Biest reglos liegen. Ein rattengroßer Haufen Schuppen mit einem tiefen Brandloch im Kopf.

Instinktiv sah sich Jul nach den anderen Mitgliedern der Schar um, wollte den Tod eines weiteren Dämons melden.

Im nächsten Augenblick hielt er inne. Die Ruhe der Jagd wich schmerzhafter Leere. Keiner der anderen begleitete ihn mehr auf seinen Streifzügen. Er war allein.

» Gute Arbeit.« Die Stimme erklang so dicht hinter ihm, dass Jul herumfuhr. Seine Rückenmuskulatur zuckte, als er automatisch versuchte die Schwingen auszubreiten. Doch da war nichts mehr, das er hätte ausbreiten können. Er biss die Zähne zusammen. War es nicht schlimm genug, dass sie fort waren? Mussten seine eigenen Reflexe ihn immer wieder daran erinnern?

Mühsam schob er das Gefühl des Verlusts beiseite und wandte sich seinem Auftraggeber zu. Ein seltsamer Mensch, dieser Mann vom Senat. Stieg in Anzug mit Bügelfalte in die Berliner Unterwelt hinab, um zuzusehen, wie jemand Ungeziefer tötete.

Der Senator blinzelte gegen das Licht der Taschenlampe und setzte ein geschäftsmännisches Lächeln auf. »Ich denke, hiermit können Sie sich als Angestellter der Stadt betrachten. Sorgen Sie dafür, dass diese Plage unter Kontrolle bleibt. Und vor allem schweigen Sie darüber. Wir würden es sehr begrüßen, wenn Berichte über Monster in der Berliner Unterwelt weiterhin nur in den Schundblättern stünden.«

Jul nickte, ohne das Lächeln zu erwidern. Er brauchte Geld, wenn er sich nicht weiterhin von Karin durchfüttern lassen wollte. Aber er mochte den Mann nicht. Er war zwar ohne Zweifel ein Mensch, aber er stank nach Dämon – nach den großen, die es nicht nötig hatten, sich im Schutt zu verstecken.

Sein Auftraggeber ließ sich nicht beirren. »Aber ich wollte mich auch aus privaten Gründen von Ihrer Effizienz überzeugen.« In einer routinierten Bewegung zog er eine Visitenkarte aus der Innentasche seines Jacketts. »Sie wissen ja, offizielle Stellen zahlen nie so gut. Was halten Sie davon, nebenher auch noch für jemand anderen zu arbeiten?«

» Wenig.« Jul beäugte das Kärtchen skeptisch, machte keine Anstalten, danach zu greifen. Für die Stadt Ungeziefer zu beseitigen, das war eine Sache, aber er hatte keine Lust, an die falsche Sorte Auftraggeber zu geraten. »Ich bin …«

Jul sah die Bewegung nur aus dem Augenwinkel. Sofort übernahmen seine Reflexe die Kontrolle. Mit einer Warnung auf den Lippen sprang er zurück. Der Dämon war doch tot gewesen!

Aber es war gar nicht der Kadaver, der sich bewegte. Der Schotter unter dem Dämon flimmerte, schlug Wellen als wollten die Steine schmelzen.

» Was …?«

Nun ging ein Zucken durch den schuppigen Kadaver. Jul zielte sofort, schoss. Im selben Moment zischte der Schwanz des Wesens durch die Luft. Der Senator schrie, während sich eine weitere von blauen Flammen umhüllte Kugel in den Kopf des Dämons grub.

Als Jul sich umwandte, glänzte Blut im Schein der Taschenlampe, sickerte in den dunklen Stoff der teuren Hose. Der Senator kniete am Boden, starrte fassungslos auf das sichelförmige Ende des Dämonenschwanzes hinab, das in seinem Oberschenkel steckte.

Wie hatte das passieren können? Der Dämon war tot gewesen! Das blaue Feuer brannte bei seinesgleichen Wunden, die keine Macht der Welt heilen konnte. Doch nun prangte nur ein Loch im Schädel des Wesens. Jenes, das Jul soeben erst geschossen hatte. Als hätte es die erste tödliche Verletzung nie gegeben.

Aber er hatte den Dämon beim ersten Mal getroffen! Er hatte ihn getötet, dessen war er sich hundertprozentig sicher. Juls Blick huschte zu der Stelle, an der er das Flimmern gesehen hatte, aber da war nun nichts als normaler Schotter.

Hinter ihm wimmerte der Senator leise. Jul schüttelte irritiert den Kopf, schob die Pistole in das Halfter unter seiner Jeansjacke zurück und ging neben dem Menschen in die Hocke. Die Taschenlampe rammte er mit dem hinteren Ende in den Schotteruntergrund, so dass ihr Lichtkegel an die Decke strahlte.

» Stillhalten.« Er packte die knöcherne Sichel mit Daumen und Zeigefinger und zog. Der Mann wandte den Blick ab, sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Juls Bewegungen wurden behutsamer, vorsichtiger, während er das scharfkantige Knochenstück aus dem Fleisch des Senators entfernte. Mitleid, fuhr es ihm durch den Kopf. Er hatte nicht gewusst, dass man Mitleid auch mit Wesen empfinden konnte, die man nicht mochte. Aber er begann auch gerade erst, all diese Konzepte zu verstehen. Seit er Karin kannte, ging es leichter. Aber es war noch immer schwer. Trotz der Jahre ohne seine Schwingen.

Mit leisem Klappern fiel das Schwanzende des Dämons zu Boden. Jul legte zwei Finger neben die Wunde und konzentrierte sich. Ein blauer Schein flackerte auf, spülte warm durch seine Finger. Doch dann runzelte Jul die Stirn, und das Schimmern erlosch. Irgendetwas stimmte nicht. Verärgert schnalzte er mit der Zunge.

» Ich kann dich nicht heilen. Deine Seele gehört nicht mehr dir.« Misstrauisch musterte er den Senator, der nun, da der erste Schock vorüber war, erstaunlich gefasst wirkte. Nur eine Andeutung von Schmerz zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Diesem Mann war Gewalt nicht fremd …

Mit schnellem Griff packte Jul den linken Arm des Senators und schob den Ärmel von Jackett und Hemd ein Stück hoch. Dort prangte blutrot eine Tätowierung, der Leib einer Schlange, deren Kopf auf der Innenseite des Handgelenkes ruhte. Sie wirkte grob, als wäre sie ohne Talent und mit einfachsten Mitteln gestochen worden. Umso mehr ein Beweis, dass sie echt war. Jul seufzte. Er hatte sich also nicht geirrt.

» Du …«

Ein Zittern lief durch den Beton unter ihm. Jul erstarrte. Der Senator sah sich erschrocken um.

Das Zittern wurde stärker, rollte als dumpfes Grollen durch den alten U-Bahnschacht. Kleine Steine und Sand lösten sich aus der Decke und rieselten auf Jul herab. Er fuhr herum, griff nach der Taschenlampe und leuchtete die Decke ab. Feine Risse zogen sich durch das Gestein. Plötzlich war sich Jul der vielen Tonnen Beton deutlich bewusst, die zwischen ihm und dem freien Himmel lagen. Mit spürbarem Gewicht drückten sie auf seine Brust.

Noch hielt die Decke. Aber für wie lange?

Jul verlor den Halt auf dem schlingernden Boden und fiel neben dem Senator in die Hocke. Einem Impuls folgend legte er sich den Arm des Mannes um die Schultern, während seine andere Hand weiterhin die Lampe umfasst hielt. Der Senator klammerte sich an ihn wie an einen Rettungsanker.

Stolpernd und humpelnd hasteten sie die alten Gleise entlang, den fernen Lichtern des Bahnhofs Klosterstraße entgegen. Das Beben wurde zusehends stärker, das Rumpeln und Knirschen lauter. Als sie sich dem Bahnhof näherten, empfingen sie panische Schreie und das Weinen von Kindern. Irgendetwas fiel mit einem lauten Knall zu Boden und zerbrach. Die Lichter am Ende des Tunnels flackerten, und mit einem Mal war der Strahl der Taschenlampe der hellste Punkt in der unterirdischen Dunkelheit.

Jul zwang sich, gleichmäßig zu atmen, konzentrierte sich auf jeden Schritt. Der Impuls, zu rennen, den Senator zurückzulassen, der sich schwer auf seine Schultern stützte, wurde immer stärker. Er würde den Tod des Mannes nicht bedauern. Dennoch beharrte etwas in Jul darauf, an seiner Seite zu bleiben. War das schon wieder Mitleid?

Als er den ersten Fuß auf den Bahnsteig setzte, beruhigte sich die Erde. Langsam verebbten auch die Schreie. Was blieb, waren leises Weinen, Schluchzen und unsichere Rufe.

» Was war das? Was ist passiert?«

» Hat jemand Licht?«

» Wir sind doch nicht eingeschlossen, oder? Es ist nichts eingestürzt?«

Hier und dort leuchtete das fahle Licht eines Handydisplays auf, und schattenhafte Gestalten schlurften vom Schock betäubt über die Bahnsteige in Richtung Ausgang.

Jul zuckte zusammen, als ihn eine Hand am Arm berührte. Er fuhr herum und brachte dabei beinahe den Senator aus dem Gleichgewicht. Eine alte Frau blinzelte in das Licht seiner Taschenlampe, das graue Haar zerzaust, die Augen voller Furcht. Jul hielt inne. Es fiel ihm schwer, sich ihrem Blick zu entziehen.

» Junger Mann …« Ihre Stimme zitterte. Doch noch ehe sie mehr sagen konnte, schob der Senator sie ungeduldig beiseite. »Nun gehen Sie schon weiter.«

Ü berrascht wandte sich Jul zu dem Mann um. Er war ein Mensch. Musste die Not der Frau nicht in ihm dieselben Gefühle wecken wie in Jul? Doch falls der Senator Mitleid empfand, war er offensichtlich gut darin, es zu ignorieren. Dämonendiener eben.

Jul ignorierte das Drängen des Senators. »Kommen Sie mit. Hier entlang.« Er versuchte ein aufmunterndes Lächeln, und die alte Frau erwiderte es zittrig. Die Geste schuf eine flüchtige Verbindung zwischen ihnen, eine seltsame Art der Zugehörigkeit. In diesem Augenblick teilten sie dieselben Ängste.

Der Senator schnaubte, schwieg aber.

Sie folgten dem Strom der Flüchtenden die Treppe hinauf und fanden sich schließlich inmitten einer Gruppe staubiger, verängstigter Menschen zwischen den alten Sandsteinhäusern der Klosterstraße wieder. Überall waren Menschen auf den Gehsteigen, liefen suchend umher, starrten ins Leere oder unterhielten sich aufgeregt.

»… Erdbeben … hier …«

» Wie konnte …?«

» Keine Ahnung …«

In der Ferne heulten Sirenen.

Jul hob den Blick gen Himmel und atmete erleichtert auf, genoss die Weite über ihm. Langsam löste sich die Anspannung der letzten Minuten.

» Der Fernsehturm!« Der Ruf fuhr wie eine Woge in die Menge, und die Köpfe der Menschen wandten sich in einer stummen Choreographie gen Norden. Dort ragte die Spitze des Turmes über den Dächern Berlins auf, die silberne Kugel mit dem Restaurant darin glänzte in der Sonne.

Im ersten Moment wusste Jul nicht, was ihn an dem sonst so vertrauten Anblick des Turms irritierte, doch dann verstand er.

Der Fernsehturm stand schief.

» Oh mein Gott.« Die alte Frau schlug die Hand vor den Mund. »Zum Glück ist er nicht umgefallen. Stellen Sie sich nur vor, was hätte passieren können!«

Jul nickte, aber die Furcht der Frau teilte er nicht. Er hatte bereits zu viele Bauwerke fallen sehen. Er betrachtete die alte Dame, ihre weit aufgerissenen Augen. Nun war sie wieder nichts als eine Fremde. Die durch die gemeinsam erlebte Gefahr geschaffene Verbindung riss.

» Bringen Sie mich zu meinem Wagen.« Die Stimme des Senators riss ihn aus seinen Gedanken. Der Mann zeigte auf eine Limousine, die nicht weit entfernt im Halteverbot stand. Auch der Chauffeur starrte gebannt auf den schiefen Turm, riss sich aber zusammen, als er den Senator kommen sah. Schnell sprang er heraus und öffnete die Beifahrertür.

Ä chzend ließ sich der Senator in die Polster sinken. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog er das verletzte Bein ins Auto. Als er sich Jul noch einmal zuwandte, wirkte sein sonst so glattes Lächeln verzerrt. »Vermutlich werden die Auswirkungen des Bebens mich eine Zeitlang in Anspruch nehmen. Aber Sie hören von mir. Denken Sie bis dahin über mein Angebot nach.«

Ä rger stieg in Jul auf. War das das Einzige, woran der Mann in diesem Moment dachte? Entschieden schüttelte er den Kopf. »Darüber muss ich nicht nachdenken. Sag deinem Meister, dass ich keine Aufträge von Dämonen annehme. Ich bin kein Söldner, und ich lasse mich nicht in ihre Machtkämpfe hineinziehen.«

Es war eine Sache, in Kellern, U-Bahn Schächten und der Kanalisation mit den Wesen aufzuräumen, die sonst vielleicht unschuldige Menschen anfallen würden. Es war eine ganz andere, in einen der Kämpfe zwischen höheren Dämonen verwickelt zu werden. Jene Kämpfe, die im Verborgenen geführt wurden, damit die Menschen nichts davon mitbekamen.

Der Senator lächelte dünn. »Zu schade.«

Mit diesen Worten schlug er Jul die Autotür vor der Nase zu.

2. Kapitel

Amandas Knie schmerzten vom langen Hocken auf dem Boden. Ächzend erhob sie sich und trat einen Schritt zurück. Sie strich sich eine lockige Strähne aus der Stirn und begutachtete ihr Werk kritisch.

Das Pentagramm wirkte auf dem glatten Parkettboden und im hellen Licht der Halogenlampen seltsam fehl am Platz. Als Balthasar das erste Mal von einer Beschwörung gesprochen hatte, hatte sie an tropfende Kerzen in einer alten Dachkammer mit unebenen Dielen gedacht. Mittlerweile wusste sie, dass sie sich eindeutig sicherer damit fühlte, ein Pentagramm bei guter Beleuchtung und auf einem glatten Untergrund zu zeichnen. Immerhin konnte jede Unterbrechung in dem durchgehenden Kreidestrich ihr Verhängnis bedeuten. Aber darüber wollte sie lieber gar nicht erst nachdenken.

Mit kreideverschmierten Fingern strich sie eine Eselsohr aus dem Papier in ihrer Hand und verglich die Zeichnung auf dem Boden mit dem Entwurf, den sie auf dem Zettel angefertigt hatte. Zum Glück verlangte der Zauber keine Notizen auf Pergament oder ähnliche Extravaganzen. Das stinknormale karierte Blatt hatte etwas Beruhigendes.

Noch einmal ging Amanda in die Knie, begradigte die Kreidelinien eines der Zeichen, die an den Spitzen der Zacken saßen.

» Langsam bekomme ich den Eindruck, du zögerst es absichtlich hinaus.« Die Ungeduld in Balthasars Stimme war nicht zu überhören. »Du hast doch nicht etwa Angst?«

Amanda wandte sich um und sah zu ihrem selbsternannten Herrn. Er lehnte an der Rückseite des Sofas. Das weiße Hemd und die schwarze Anzugshose vermittelten wie so oft den Eindruck, als sei er ein Geschäftsmann, der gerade von einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause gekommen war. Nur das lange Haar passte nicht ins Bild. Es fiel ihm offen über die Schultern und vor das Gesicht, als er sich ein Stück vorbeugte.

Sie verstärkte den Griff um ihren Zettel, zerknitterte ihn erneut. Er hatte gut reden. »Ich kann es entweder schnell oder richtig machen, beides gleichzeitig geht nicht. Wäre es dir lieber, wenn ich einen Fehler einbaue?«

Ein Prickeln in ihrem linken Arm warnte Amanda, dass sie sich im Tonfall vergriffen hatte. Verdammtes Tattoo! Sie senkte den Blick auf die blutrote Schlange, die sich von ihrer bloßen Schulter bis zum Handrücken wand. Was hätte sie nicht alles gegeben, um dieses Ding loszuwerden.

Das Rot der Schuppen gewann an Intensität, begleitet von einem Gefühl, als stächen tausend winzige Nadeln in ihr Fleisch. Noch war es eher unangenehm als schmerzhaft.

Amanda wusste, dass es klug gewesen wäre, die Warnung ernst zu nehmen und zu schweigen. Doch Balthasar hatte recht, ihre Nerven lagen blank. Viel zu oft hatte sie sich ausgemalt, was alles schiefgehen konnte, wenn sie das Ritual tatsächlich durchzog. Die Vorstellung, irgendeines grausamen Todes zu sterben, machte sie gereizt und unvorsichtig und ließ die Buckelei vor ihrem selbsternannten Herrn noch unerträglicher erscheinen als sonst.

Trotzig begegnete sie Balthasars Blick. »Wenn der Kreis ihn nicht halten kann, wird dich das wahrscheinlich nicht umbringen. Mich schon.«

Er rührte nicht einen Muskel, doch das musste er auch nicht. Es war sein Blut, das unter ihrer Haut die Konturen der Schlange formte. Während sie einander anstarrten, löste Schmerz das Prickeln ab. Amanda biss die Zähne zusammen, ballte die Hand zur Faust. Balthasar beobachtete sie, schwieg und wartete.

Er mochte es nicht, wenn man ihm Widerworte gab. Er erwartete, dass sie in Demut den Kopf senkte, ihm zu verstehen gab, dass sie wusste wo ihr Platz war. Doch dies war ihre Art der Rebellion. Wenn sie schon gezwungen war, ihm zu dienen, wollte sie zumindest gelegentlich klarstellen, dass sie dies nur sehr widerwillig tat.

Mittlerweile fühlte es sich an, als würden Flammen über ihren Arm lecken, und Amanda keuchte vor Schmerz. Schließlich gab sie nach und senkte den Blick. Wie sie es immer tat. Sofort klang der Schmerz ab, wich erneut jenem leichten Prickeln, und erlosch schließlich ganz. Obwohl sie sich bemühte, gelang es ihr nicht, einen erleichterten Seufzer zu unterdrücken. Wie jämmerlich. Es gab ganz sicher keine armseligere Rebellin auf der Welt als sie.

Sie hörte das Rascheln seiner Kleidung, als Balthasar sich vom Sofa abstieß. Schritte näherten sich. Der Geruch von heißem Schiefer wehte ihr entgegen, als er ihr den Zettel mit dem Entwurf aus der Hand nahm. Sie verharrte an Ort und Stelle, wollte ihm zumindest nicht den Gefallen tun, vor ihm zurückzuweichen.

» Keine Sorge. Es wäre mehr als lästig, wenn ich mir einen neuen Haus- und Hofmagier suchen müsste. Sollte der Kreis ihn nicht halten können, werde ich dich beschützen.« Er beugte sich vor, so weit, dass sein Haar über ihre Wange strich. »Du hättest danach nur die übliche Strafe für deine Fehler zu befürchten.«

Mit einem trockenen Lachen auf den Lippen sah Amanda auf, obwohl sich ihr Magen bei der Erwähnung einer Strafe verkrampfte. »Wie beruhigend.«

Diesmal überging Balthasar die respektlose Bemerkung. Stattdessen betrachtete er mit kritischer Miene den Entwurf, verglich ihn wie sie zuvor mit der Zeichnung auf dem Parkett.

» Sieht soweit ganz brauchbar aus. Fang an.« Er zerknüllte den Zettel und warf ihn zielsicher über das Sofa hinweg in den Kamin, in dem aufgrund der sommerlichen Temperaturen kein Feuer brannte.

Ein Grinsen voller Vorfreude spielte um seine Lippen, als er einige Schritte zurücktrat. Auf diesen Moment hatte er vermutlich gewartet, seit er ihr Talent erkannt hatte. Menschen mit magischer Begabung waren selten, und Dämonen konnten nun einmal keine Dämonen beschwören.

Dabei klang es zumindest in der Theorie ziemlich einfach, nun, da die langwierigen Vorbereitungen hinter ihr lagen.

Mit laut klopfendem Herzen wandte Amanda sich erneut dem Pentagramm zu. Sie versuchte sich auf die Mitte der Zeichnung zu konzentrieren, doch immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Überdeutlich hörte sie jede Bewegung Balthasars in ihrem Rücken. Am liebsten hätte sie ihn angeblafft, er solle endlich stillstehen. Doch der brennende Schmerz war ihr noch zu frisch im Gedächtnis.

Sie atmete tief durch. Es würde schon schiefgehen. Ganz langsam, mit jedem Atemzug, wich ihre Nervosität. Sie blendete ihre Umgebung aus, wie sie es so mühsam gelernt hatte, bis es nur noch das Pentagramm vor ihr gab.

Ihre magische Kraft ruhte als sanftes Glühen in ihrem Inneren, genau wie an dem ersten verfluchten Tag, als sie sie entdeckt hatte. Doch diesmal griff sie bewusst danach, beschwor in Gedanken das Bild eines Bandes herauf, das zwischen ihr und der Mitte des Pentagramms entstand. Ihre Stimme schien tiefer, als sie den wahren Namen desjenigen aussprach, den zu rufen Balthasar ihr befohlen hatte. Dreimal kamen die Silben über ihre Lippen. Dann hielt sie erwartungsvoll den Atem an.

Sie hatte eine Stichflamme erwartet, Schwefelgeruch, irgendetwas Beeindruckendes. Doch nur ein leichter Wind verwirbelte ihr Haar. Von einem Moment auf den anderen stand der Dämon im Inneren des Kreises. Überraschung spiegelte sich in seinen Zügen, dann Wut.

Der Zauber zwang den Beschworenen in seine wahre Gestalt, und so sah Amanda spitze Zähne, als er die Lippen verzog, um ein Knurren auszustoßen. Ledrige Flügel ragten über seinen Schultern auf. Selbst die Hörner fehlten nicht, ebenso die glühenden Augen. Krallen an seinen Füßen zogen Furchen ins Parkett.

Amanda spürte ein hysterisches Kichern in ihrer Kehle aufsteigen und schluckte es eilig herunter. Sie hatte kein solches Klischee erwartet, kein Bild, das genau dem entsprach, was so gut wie jeder beschreiben würde, den man fragte, wie er sich einen Dämon vorstellte. Doch irgendwo mussten diese Vorstellungen wohl ihren Ursprung haben.

Der Dämon spreizte leicht die Schwingen und trat einen Schritt auf Amanda zu. Unwillkürlich zuckte sie zurück. Doch es war, als pralle das beschworene Wesen gegen eine unsichtbare Wand, noch bevor es einen der Kreidestriche übertreten konnte. Erleichterung durchflutete sie, und nun erst merkte Amanda, dass ihre Knie zitterten.

Hinter ihr lachte Balthasar. »Es hat funktioniert!«

Mit schnellen Schritten näherte er sich dem Pentagramm und umrundete es, um den gefangenen Dämon von allen Seiten zu betrachten. Dessen Augen weiteten sich bei seinem Anblick. »Du! Also ist an den Gerüchten doch etwas dran.«

Balthasar verhielt mitten im Schritt. Alle Freude über das gelungene Experiment wich mit einem Schlag aus seiner Miene. »Was für Gerüchte?«

Auch Amandas Erleichterung war wie weggeblasen. Die Beschwörung dieses Dämons hatte ein erster Test sein sollen. Balthasar hatte sie nicht in seine Pläne eingeweiht, doch sie ahnte, dass er als Nächstes die wahren Namen derjenigen herausfinden wollte, die in der Rangordnung über ihm standen. Es gab wahrscheinlich kaum einen einfacheren Weg, Konkurrenten loszuwerden, als sie zu beschwören und zu binden. Doch wenn irgendeiner dieser Konkurrenten erfuhr, wozu Amanda in der Lage war, würde er ohne Zweifel sicherstellen wollen, dass sie ihm nicht mehr gefährlich werden konnte. Sie würde einen tragischen Unfall erleiden. Irgendetwas Unauffälliges, das dem Rest der Menschheit die Anwesenheit von Dämonen auf der Erde nicht verriet.

Mehr als je zuvor wünschte sich Amanda, einfach kündigen und verschwinden zu können.

Der Dämon schenkte ihr ein spitzzahniges Grinsen, als wisse er genau, was in ihr vorging. »Du ahnst es, nicht wahr?«

Amanda öffnete den Mund, doch Balthasar fuhr wütend dazwischen. »Wer verbreitet diese Gerüchte?«

Der Dämon verschränkte die Arme vor der Brust. »Wieso sollte ich Namen nennen, Balthasar?«

» Um deinen verdammten Arsch zu retten. Sie kennt Möglichkeiten, dich bis in alle Ewigkeiten leiden zu lassen.« Balthasar nickte in ihre Richtung, und Amanda hätte beinahe gelacht, als ihr klar wurde, dass er bluffte. Balthasar besaß nur theoretisches Wissen über Magie, und es war mühsam genug für ihn gewesen, ihr das Wenige beizubringen, das sie inzwischen beherrschte. Sie wurde immer besser darin, instinktiv zu erahnen, wie etwas funktionierte, doch von allzu ausgefeilten Zaubern war sie noch weit entfernt.

Dennoch ging sie auf sein Spiel ein, schob das Kinn vor und hoffte, selbstsicher genug zu wirken, damit der andere Dämon Balthasar seine Lüge abnahm. Zumindest dieses eine Mal zogen sie am selben Strang. Das Grinsen des Beschworenen war mit einem Mal wie fortgewischt, auch wenn er sich bemühte, seinen Schreck hinter einem abfälligen Schnauben zu verbergen. »Ich habe es von einem meiner Diener erfahren. Einer der deinen wird geplaudert haben.«

» Gut zu wissen.« Balthasars Stimme klang mühsam beherrscht und Amanda verspürte Mitleid mit demjenigen, der sich als das Informationsleck erweisen würde. »Glückwunsch, du wirst die Ewigkeit lediglich in Langeweile verbringen müssen. Bann ihn in den Ring, Amanda.«

Mit einem Mal ging ein Vibrieren durch Amandas Füße, erfasste ihren ganzen Körper. An der Wand klirrten alte phönizische und syrische Kunstschätze unisono mit dem Glas der Fensterscheiben. Putz rieselte von der Decke.

Im ersten Augenblick bildeten ihre Gedanken einen erschrockenen Knoten. Dann erst verstand sie, was geschah. Ein Erdbeben! Wie war das möglich? Balthasars Villa stand schließlich in Berlin, nicht in San Francisco.

Doch diese Frage verlor für sie schlagartig an Bedeutung, als sich der gefangene Dämon zum Sprung duckte. Gebannt beobachtete er die Kreidelinien, die ihn gefangen hielten. Nur ein feiner Riss im Parkett, und er wäre frei. Frei, die Nachricht von der Magierin in Balthasars Haus in die Welt zu tragen.

Nein. Das durfte nicht geschehen. Ohne nachzudenken wirbelte sie herum. Der Ring lag etwas abseits neben der Kreide auf dem Boden, denn sie hatte nicht damit gerechnet, so schnell danach greifen zu müssen. Eilig klaubte sie den goldenen Reif vom Parkett, sprintete zum Pentagramm zurück. Dort war der Kreidekreis, in den er gehörte. Ihre Hände zitterten, als sie den Ring hineinlegte, und beinahe hätte sie die Linien verwischt. Sie musste das Schmuckstück festhalten, damit es nicht verrutschte. Sie atmete tief durch. Dann griff sie erneut nach dem magischen Glühen in ihrem Inneren. Die Furcht um ihr Leben war der beste Konzentrationsfokus, den sie sich wünschen konnte. Dreimal sprach sie den wahren Namen des Dämons.

Die Kreatur heulte auf. Winzige Stücke lösten sich von ihrer Haut wie Ascheflocken von verbranntem Holz. Darunter kamen die Knochen des Dämons zum Vorschein und zerstoben binnen Sekunden zu Staub. In einem Strudel, als würden sie in ein schwarzes Loch gesogen, wirbelten die feinen Teilchen auf den Ring zu. Das Heulen wurde immer dünner. War schließlich nicht mehr laut genug, das Klirren der Fensterscheiben zu übertönen. Verstummte.

Das Beben hielt noch eine Weile an. Scheppern. Irgendwo im Haus aufgeregte Stimmen. Dann beruhigte sich die Erde wieder.

Amanda kniete vor dem nun leeren Pentagramm auf dem Boden, hustete, als Gipsstaub den Weg in ihre Lungen fand. »Was zur Hölle war das?«

Balthasar trat neben sie und bückte sich, um den Ring aufzuheben. »Fest steht, dass das Beben nichts mit unserem Gast zu tun hatte.« Er wog den goldenen Reif in der Hand und steckte ihn dann achtlos in die Hosentasche. Seine Stirn lag in nachdenklichen Falten. »Viel mehr Gedanken mache ich mir über die Gerüchte, die er erwähnt hat. Ich werde dir einen Schutzzauber beibringen, mit dem du dein Zimmer versiegeln kannst. Und du brauchst einen Vorkoster. Soweit es geht wirst du ab jetzt in meiner Nähe bleiben, wenn ich das Haus verlasse.«

Amanda nickte schwach. Sie rappelte sich auf und klopfte sich den Staub von Jeans und Oberteil. Es war eine seltsame Erfahrung, dass Balthasar sich um sie sorgte. Möglicherweise hätte ihn das in ihren Augen ein wenig sympathischer gemacht, hätte sie nicht gewusst, dass seine Sorge nicht ihr als Person galt. Sein Interesse an ihr war mit dem eines Menschen vergleichbar, der sich auf die Sicherheit seiner Geldanlagen bedacht war. Nicht mehr, dachte Amanda. Aber immerhin auch nicht weniger.

3. Kapitel

Es fiel Jul noch immer schwer, die einfache, weiß gestrichene Wohnungstür mit dem Gefühl von zu Hause zu verbinden. Zu Hause war kein Ort, sondern die Schar. Die Schar, zu der er nicht mehr gehörte.

Die Geräusche des Fernsehers drangen durch das Holz, während er den Schlüssel ins Schloss schob. Die elektronischen Stimmen bedeuteten, dass Karin da war und mal wieder ihr gemeinsames Wohnzimmer besetzte. Doch obwohl das Erdbeben inzwischen über eine Stunde zurücklag, bedeckten noch immer weiße Krümel und einige größere Stücke Putz den Teppich des Flurs. Sie knirschten unter Juls Sohlen, als er die Wohnung betrat und sich dabei aus der Jeansjacke schälte.

Es sah Karin ähnlich, die Auswirkungen des Erdbebens nicht wegzuräumen. Andererseits … Sein Blick fiel auf ein besonders großes Stück Putz und wanderte dann hoch zur Flurlampe, die ein wenig schiefer hing, als er sie in Erinnerung hatte. Während des Bebens war sicher einiges von der Decke gefallen …

» Karin?« Sorge war ein einfaches Gefühl und eines, das ihm weniger fremd erschien als Mitleid oder ein schlechtes Gewissen. Dennoch überraschte es ihn. Die Menschheit als Ganzes war ohne Zweifel schützenswert, aber einzelne Menschen starben so unglaublich schnell. Einen davon ins Herz zu schließen, konnte auf Dauer nur den Schmerz des Verlustes bedeuten.

Im nächsten Moment verstummte das Geräusch des Fernsehers hinter der Wohnzimmertür. »Hey, Jul? Bist du das?«

Erleichtert atmete er auf, aber ehe er antworten konnte, erklang die Stimme seiner Mitbewohnerin erneut.

» Komm mal her, Mann! Ich muss dir was zeigen.«

Jul warf sich die Jacke über die Schulter und steuerte auf die Wohnzimmertür zu. Was Karin wohl gefunden hatte? Es konnte genauso gut etwas Wichtiges wie irgendeiner der Internet-Witze sein, die Jul nie verstand, egal ob es dabei um Technik ging oder, was erstaunlich oft der Fall war, um Katzen. Bei Karin wusste man nie, was einen erwartete.

Die Wohnzimmertür stieß beim Öffnen gegen einen leeren Pizzakarton und schob ihn beiseite. Auch in diesem Raum bedeckten weiße Krümel jede freie Oberfläche, nur das Sofa hatte jemand notdürftig freigeklopft. Karin saß im Schneidersitz zwischen den Kissen. Ihre nackten Zehen lugten aus den zerfetzt Hosenbeinen einer Jeans, Staub hing in ihrem zerwühlten, rot gefärbten Haar und das heutige T-Shirt trug den Aufdruck: »Loading …« Auf einem Knie balancierte sie ihren Laptop und als sie sich mit ernster Miene nach Jul umsah, spiegelten sich die stummen Bilder des Fernsehers in ihren Brillengläsern. Gerade diskutierten ein Mann und eine Frau in einem Studio über irgendetwas.

» Was weißt du über das Erdbeben von vor zwei Stunden?«

Mit plötzlich erwachter Neugier trat Jul näher. Wenn Karin ihm etwas Besonderes zu aktuellen Ereignissen zeigen wollte, war es sicher mehr als das, was in den Nachrichten rauf und runter lief. In der Zeit, die sie nun schon zusammenlebten, hatte er schnell bemerkt, dass sie ein Talent dafür besaß, Geheimnisse auszugraben.

» Ich weiß nur, dass der Fernsehturm schief steht und keine einzige S-Bahn mehr fährt. Ich bin heimgelaufen.«

Karin warf ihm einen ungläubigen Blick zu und schüttelte dann den Kopf. »Hättest du angerufen, hätt’ ich dich abgeholt.«

Mit einem Achselzucken warf Jul seine Jacke über das Sofa und stützte sich von hinten auf die Lehne, um seiner Mitbewohnerin über die Schulter sehen zu können. »Handy vergessen.«

Es war eines, sich der Nützlichkeit von Technik bewusst zu sein, aber etwas ganz anderes, sie zu mögen. Etwas in Jul sträubte sich dagegen, ein Gerät ständig mit sich herumzutragen, dessen Funktionsweise er im Gegensatz zu der einer Pistole nicht vollständig verstand und an dessen Entwicklung höchstwahrscheinlich ein Dämon finanziell beteiligt gewesen war. Deshalb blieb das kleine Telefon, zu dessen Kauf Karin ihn überredet hatte, meist zu Hause liegen. Aber wie sollte er ihr das erklären, ohne zu verraten, was er war?

» Was willst du mir zeigen?«

Seine Mitbewohnerin tastete zwischen den Kissen nach der Fernbedienung und schaltete um. Die beiden ernst dreinblickenden Moderatoren wichen einer Luftaufnahme, noch immer ohne Ton. Unwillkürlich gruben sich Juls Finger fester in die Sofalehne. Er erkannte die glänzende Kugel des Berliner Fernsehturms, der sich beinahe so weit zur Seite neigte wie der schiefe Turm von Pisa. Im ersten Moment schien es, als fiele er gerade.

Doch das war nicht der Grund für Juls Entsetzen.

Am Fuß des Turmes, wo der S-Bahnhof Alexanderplatz gestanden hatte, führten nur noch verbogene Schienen ins Nichts. Der Kaufhof war fort, ebenso die Weltzeituhr und alle Gebäude, die rings um den Alexanderplatz gestanden hatten. Anstelle des Platzes selbst klaffte ein Krater im Boden, wahrscheinlich mehr als hundert Meter breit. Die Luft darüber schien zu flimmern, verzerrte die Konturen der Trümmerstücke. Jul hielt den Atem an. Was auch immer in Berlin vorging war größer, als er bisher angenommen hatte.

» In den Nachrichten heißt es, die U-Bahn Tunnel und der Bunker unter dem Platz wären eingestürzt.« Karins Stimme war heiser vor Aufregung. »Kam mir gleich seltsam vor. Ich mein, es war ein ziemlich ekliges Erdbeben, aber wir reden hier von einem verdammten Bunker. Da sollte man Bomben draufschmeißen können, ohne dass was passiert. Also hab ich gegoogelt und das Video hier gefunden.«

Sie fuhr über das Touchpad ihres Laptops, und der bisher dunkle Bildschirm leuchtete auf. Jul riss den Blick vom Fernseher los und senkte ihn auf den kleinen Computer in Karins Schoß. Ein Klick startete ein bereits geladenes Video.

Die Qualität war schlecht, doch man sah eindeutig einen U-Bahnsteig. Die Kamera schwenkte zur Wand, zeigte hässlich grüne Kacheln und ein Werbeplakat, von dem eine Frau mit unnatürlich weißen Zähnen auf die Gleise herablächelte. In einer Ecke hing das Papier in Fetzen herab. »Alexanderplatz« stand auf einem altertümlich anmutenden Schild daneben.

Jul beugte sich weiter vor. Erst nach einem Moment erkannte er, dass die Kacheln und auch das Plakat zitterten, Wellen schlugen, als bestünden sie aus Wasser, das aus irgendeinem Grund beschlossen hatte, die Gesetze der Schwerkraft zu ignorieren. Der Anblick erinnerte ihn an das Flimmern, das er erst vor kurzer Zeit unter dem niederen Dämon im Tunnel gesehen hatte.

Dann, mit einem Mal, reparierte sich das Plakat wie von Geisterhand selbst. Die zerfetzte Ecke fügte sich wieder zusammen, bis sie wirkte wie neu. Die Farben strahlten immer kräftiger, als würde der darauf abgelagerte Dreck einfach verschwinden. Erneut musste Jul daran denken, wie der totgeglaubte Dämon wieder aufgestanden war. Als hätte auch ihn irgendetwas … repariert. Karins Aufregung sprang auf ihn über. Wenn das stimmte … falls so etwas wirklich möglich war … erklärte es einiges.

Doch dann stutze Jul, denn im nächsten Moment hing an derselben Stelle, an der gerade noch die Zahnpasta-Frau gelächelt hatte, ein anderes Plakat. Jul blinzelte. Warum dieser Wechsel? Noch ehe er eine Antwort darauf finden konnte, geschah es schon wieder. Und wieder. Immer schneller folgte Plakat auf Plakat. Kurz erhaschte er einen Blick auf die Zeichnung einer Frau in einer Tracht, die, soweit er wusste, schon seit ein paar Jahrzehnten nicht mehr in Mode war. Dann wurde die Abfolge zu schnell, um ihr noch folgen zu können.

Im nächsten Moment war das Plakat ganz verschwunden, ebenso wie die Kacheln, als hätte beides nie existiert. Ein kreisrunder Fleck Beton kam dahinter zum Vorschein, der vom Durchmesser genau der Stelle entsprach, an der die Wellen über die Wand gerollt waren. Das Bild zitterte, der Mensch, der die Kamera hielt, schien zurückzuweichen.

Ein Grollen drang scheppernd aus den Lautsprechern des Laptops. Für eine Weile waren nur noch verwischte, grüne Schemen zu sehen. Ein Mann fluchte, irgendjemand schrie, lang und schrill. Die Kamera filmte ein Paar Turnschuhe, Füße, die eilig eine Treppe hinaufliefen.

» Weg hier!« Die Stimme klang panisch. Dann Sonnenlicht. Für einen Moment zeigte das Bild die Planeten der Weltzeituhr. Sie schwankten an ihren Drahtaufhängungen. Die Kamera schwenkte weiter zu dem Brunnen in der Mitte des Alexanderplatzes. Im Pflaster darum bildete sich eine Delle, langsam, als hätte sie alle Zeit der Welt. Dann endete das Video abrupt.

Für einen Moment verharrte Jul reglos. Vor seinem inneren Auge erschienen wieder die verängstigten Gesichter der Menschen im U-Bahnhof in der Klosterstraße. Sie hatten es erst nach dem Ende des Bebens an die Oberfläche geschafft. Nur ein paar Stationen weiter hätte das Beben für viele dieser Menschen den Tod bedeutet.

Er schluckte, glaubte wieder den Druck des Betons auf seiner Brust zu spüren. Mit einem Mal ahnte er, was es bedeuten musste, sterblich zu sein. Es war kein schönes Gefühl.

Mit der Erkenntnis kam auch das Mitleid zurück. Sicher hatten nicht alle Leute unter dem Alexanderplatz so viel Glück gehabt wie der Mann, der dieses Video aufgenommen hatte. Wie viele Menschen mochten in dem Krater, den die Nachrichten zeigten, unter den Trümmern liegen?

Karin drehte den Kopf, um zu ihm hochzusehen, und nun erst bemerkte Jul, wie weit er sich über die Sofalehne gebeugt hatte. Eilig richtete er sich wieder auf.

Seine Mitbewohnerin bedachte ihn mit einem ungewohnt durchdringenden Blick. »Du weißt etwas darüber, oder?«

»Ü ber diese Wellen?« Sein Gesichtsausdruck war offensichtlich leicht zu lesen gewesen. »Nicht viel, aber ich habe etwas Ähnliches heute in der Klosterstraße gesehen. Allerdings kleiner.«

» Das kann nicht alles sein.« Karin sah ihn vorwurfsvoll an. »Ich bin nicht blöd, weißt du? Hier ist seit einer Weile irgendwas faul. Erst tauchen diese abartigen Horror-Monsterratten auf.« Sie zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »Dann kommst du aus dem Nichts und weißt erstaunlicherweise ganz genau, wie man die Viecher umbringen muss. Und dann bricht der Alex ein und ich finde dieses Video.«

Jul spannte sich unwillkürlich an. Es gefiel ihm gar nicht, in einer Aufzählung mit Dämonen und unerklärlichen Katastrophen genannt zu werden. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Karin hob die Hand.

» Außerdem gibt sich irgendwer große Mühe, dieses ganze Zeug zu vertuschen. Kein Wort über Monsterratten in irgendeiner Zeitung, obwohl der Senat offensichtlich bestens darüber informiert ist. Immerhin haben sie dich angeheuert, um sie zu beseitigen. Und weißt du, was mit diesem Video hier passiert ist?« Aufgebracht gestikulierte sie in Richtung des Laptopbildschirms. »Es ist im Internet komplett verschwunden! Ein Glück, dass ich’s gespeichert hab. Selbst der YouTube-Account von dem Typ, der es online gestellt hat, existiert nicht mehr.«

Karins Blick bohrte sich förmlich in Juls. »Weißt du, du bist echt in Ordnung, Jul. Du hast mich vor so einem Rattenvieh gerettet, und ich glaub nicht, dass du in dieser Vertuschungsaktion mit drinhängst. Aber ich bin ziemlich sicher, dass du mehr weißt, als du mir verrätst. Also bitte, sag mir, was hier los ist!«

Für einen Moment hielt Jul dem Blick seiner Mitbewohnerin stand. Wie viel sollte er ihr erzählen? Sie wohnten erst seit ein paar Monaten zusammen, dennoch hatte er sich einem Menschen noch nie so nahe gefühlt wie ihr. Er empfand … Freundschaft. Ohne wirklich einen Entschluss gefasst zu haben, ging er um das Sofa herum und setzte sich neben sie. »Wie kommst du auf die Idee, dass ich mehr weiß?«

» Na ja.« Karin zuckte mit den Schultern. »Deine Verbindung zu den Monsterratten ist eindeutig. Anscheinend hast, du bevor wir uns kennengelernt haben dein ganzes Leben darauf verwendet, sie zu jagen. Hattest kein Dach überm Kopf, aber dafür diese Wumme, die Plasmageschosse oder irgendwas in der Richtung verschießen kann.«

Was hatte sie sich da nur zusammengereimt? »Es sind ganz normale Kugeln, Karin. Ich schwöre es.«

» Aber sie haben geleuchtet!« Sie raufte sich die Haare. »Ich weiß doch, was ich gesehen hab.«

Eine Welle komplizierter Gefühle überrollte Jul. Er wusste sie kaum zu deuten, doch mit einem Mal war ihm klar, dass er Karin nicht belügen wollte. Das hatte er bisher nie getan. Er hatte nur Dinge verschwiegen und darauf gebaut, dass sie nie fragen würde. Nun aber fragte sie.

Einem Impuls folgend streckte er die Hand aus und legte sie auf Karins Schulter. Sofort wurde sie ruhiger. »Es waren keine Plasmageschosse.« Er gab seiner Stimme einen sanften, beschwörenden Ton. »Aber sie haben geleuchtet, da hast du recht. Doch wie bringt mich das deiner Ansicht nach mit dem in Verbindung, was auf dem Alexanderplatz geschehen ist?«

» Wenn ich das wüsste.« Karin stieß einen frustrierten Seufzer aus. »Du gehörst halt mit zu den seltsamen Dingen, über die ich in letzter Zeit gestolpert bin. Es sind ja nicht nur die Leuchtgeschosse, oder was auch immer. Ich hab …« Mit einem Mal wirkte sie verlegen. »Na ja. Als ich letztens in dein Zimmer geplatzt bin, als du dich umgezogen hast, hab ich die Narben auf deinem Rücken gesehen. Sehen nicht gerade aus wie normale Narben. Irgendwie haben sie einen … seltsamen Schimmer oder so.«

Jul ließ die Hand wieder sinken. Karin war offensichtlich sehr viel mehr Dingen auf der Spur, als er geahnt hatte. Einen Moment lang starrte er in Richtung des Fernsehers, der noch immer Bilder der Katastrophe zeigte. Doch die Entscheidung war längst gefallen.

» Was würdest du sagen, wenn ich dir erzähle, dass ich ein Engel bin? Oder besser gesagt war.« Er sprach leise, sah sie nicht an. Seltsam, dass er nun fürchtete, sie könnte ihm nicht glauben.

Karin schnappte nach Luft, doch als er sich ihr wieder zuwandte, lag kein Unglauben in ihrem Gesicht. Eher den Ausdruck eines Menschen, der gerade das passende Puzzleteil für die passende Lücke gefunden hatte. »Deine Narben …«

Noch ehe sie den Satz beenden konnte, nickte Jul. »Darüber würde ich ungern sprechen.«

War das Mitleid in ihrer Miene, als sie ebenfalls nickte? Doch der Ausdruck verschwand so schnell, wie er gekommen war. In Karins Gesicht arbeitete es. Er konnte sich vorstellen, dass sie versuchte, die Existenz von Engeln in ihr Weltbild einzufügen. Sicher keine leichte Aufgabe, denn bislang hatte sie auf ihn nicht sonderlich religiös gewirkt.

» Das ist …« Sie stockte, räusperte sich. »Irgendwie hatte ich bisher eher an Genexperimente und Superkräfte und so gedacht. Engel sind ein bisschen … metaphysischer, als ich erwartet hatte. Das wirft eine Menge Fragen auf. Ich meine so ganz allgemein …«

Jul hob eine Hand, ehe sie fortfahren konnte. »Können wir vorerst bei dieser Sache bleiben?« Er deutete Richtung Fernseher, der gerade wieder den schiefen Fernsehturm zeigte. Der Tag war bereits anstrengend genug gewesen. Er wollte es vermeiden, nun auch noch im wahrsten Sinne der Worte Fragen zu Gott und der Welt beantworten zu müssen. Vor allem, da das unvermeidlich zu einem Eiertanz um ungeliebte Erinnerungen ausarten würde.

» Okay.« Karin wirkte enttäuscht, doch im nächsten Moment atmete sie bereits tief durch und versuchte offensichtlich, sich zu sammeln. Während sie ihn aufmerksam von der Seite musterte, zupfte die Andeutung eines Grinsens an ihren Mundwinkeln. Jul legte den Kopf schief, erwiderte den Blick fragend. Was sah sie? Das Einzige, was an ihm zumindest halbwegs den menschlichen Vorstellungen von Engeln entsprach, war sein weißblondes Haar, und das trug er eindeutig zu struppig. Seine zerschlissene Jeans passte ganz sicher nicht ins Bild, ebenso wenig wie die Pistole in seinem Schulterhalfter.

Karins Grinsen wurde breiter, dann schüttelte sie den Kopf. »Sorry, ich werd ne Weile brauchen, um über die Erkenntnis hinwegzukommen, dass mein Mitbewohner ein Engel ist. Oder war. Oder was auch immer. Ich bin mir auch noch nicht sicher, ob ich das so im Großen und Ganzen cool oder unheimlich finden sollte, aber im Moment tendiere ich zu cool.«

Jul lächelte. »Mit cool könnte ich auf jeden Fall besser leben als mit unheimlich.«

Unvermittelt lachte sie auf. »Na, dann …«

Als ihr Blick erneut auf den Fernseher fiel, wurde ihre Miene wieder ernst. Erneut atmete sie tief durch. »Okay, reden wir mal über diesen … Welleneffekt. Was weißt du darüber?«

» Nicht mehr als du, das musst du mir glauben.«

Nachdenklich strich sie sich über das Kinn, und Jul sah ihr an, wie das Problem sie erneut in Beschlag nahm. Erstaunlich, wie leicht sie alles um sich herum vergessen konnte, sobald es ein Rätsel zu lösen gab. »Aber irgendwer weiß etwas und will, dass es geheim bleibt. Sonst hätte sich niemand die Mühe gemacht, das Video verschwinden zu lassen. Wer könnte das sein?«

» Der Senator, mit dem ich heute gesprochen habe, sagte, er wolle nicht, dass Nachrichten über irgendetwas Übernatürliches in die Medien gelangen.«

» Hm. Angeblich vertuscht die Regierung ja eh immer ziemlich viel Zeug. Aber dann wäre sie darin erstaunlich gut.«

Jul ging nicht auf diese Bemerkung ein. Seine Gedanken wanderten bereits weiter, zu der Tatsache, dass der Senator vom Nachmittag eben nicht nur ein Senator gewesen war. »Dann wären da noch die Dämonen«, sagte er schließlich.

Karins Lippen formten ein O. »Okay … Ich schätze, es ist logisch, dass es Dämonen gibt, wenn es Engel gibt.« Dennoch rutschte sie unbehaglich in den Kissen hin und her. »Wie sind die denn so drauf?«

» Den niederen bist du schon begegnet, das sind deine Rattenmonster. Aber die mächtigen lassen sich kaum von den Menschen unterscheiden, wenn sie nicht erkannt werden wollen. Und genau das wollen sie nicht. Die Jagd nach Seelen ist sehr viel einfacher für sie geworden, seit viele Leute nicht mehr daran glauben, eine zu besitzen. Ich schätze, auch die Dämonen würden übernatürliche Vorkommnisse eher geheim halten wollen.«