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Die Vermessung der Welt.
Nürnberg, 1531: Als ihr Vater stirbt, setzt Katharina alles daran, sein Erbe antreten zu können. Doch nicht nur die Innung der Kompassmacher, sondern auch ihr eigener Onkel bemühen sich, dies zu verhindern. Sie fürchten die Konkurrenz – ausgerechnet von einer Frau. Dann plötzlich kommt Katharina ein Gerücht zu Ohren, das den Tod ihres geliebten Vaters in ein ganz neues Licht rückt. Mit einem Mal muss sie sich fragen, wer ihre wahren Feinde sind und ob sie überhaupt noch jemandem trauen kann ...
Authentisch und gut recherchiert: eine junge Frau, die für ihre Berufung kämpft und die Liebe findet.
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Seitenzahl: 430
Andrea Bottlinger wurde 1985 in Karlsruhe geboren. Sie hat in Mainz Buchwissenschaften, Komparatistik und Ägyptologie studiert und lebt und arbeitet inzwischen als freie Lektorin und Autorin in Heilbronn.
Die Vermessung der Welt.
Nürnberg, 1531: Als ihr Vater stirbt, setzt Katharina alles daran, sein Erbe antreten zu können. Doch nicht nur die Innung der Kompassmacher, sondern auch ihr eigener Onkel bemühen sich, dies zu verhindern. Sie fürchten die Konkurrenz – ausgerechnet von einer Frau. Dann plötzlich kommt Katharina ein Gerücht zu Ohren, das den Tod ihres geliebten Vaters in ein ganz neues Licht rückt. Mit einem Mal muss sie sich fragen, wer ihre wahren Feinde sind und ob sie überhaupt noch jemandem trauen kann.
Authentisch und gut recherchiert: eine junge Frau, die für ihre Berufung kämpft und die Liebe findet.
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Andrea Bottlinger
Die Kompassmacherin
Historischer Roman
Inhaltsübersicht
Über Andrea Bottlinger
Informationen zum Buch
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Prolog – 1529
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Danksagung
Impressum
Der volle Mond tauchte Jörg Tuchers Atem in silbernen Schein. Seit die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, hatten seine Füße ihre Geschwindigkeit stetig wie von selbst erhöht. Bei jedem Geräusch im Gestrüpp am Ufer des Rheins, mit jedem Mal, da er Schritte oder Stimmen auf der Straße hinter ihm zu hören geglaubt hatte.
Vielleicht hätte er sich doch im letzten Gasthof ein Zimmer für die Nacht nehmen sollen. Aber dann war der Mann mit der Pilgertätowierung am Handgelenk kurz nach ihm hereingekommen. Sein Gesicht war im Schatten des Huts kaum zu erkennen gewesen, aber die Tätowierung hatte Jörg in Mainz schon gesehen. Ein Kreuz, das Wort »Jerusalem« und eine Jahreszahl. So viele Männer mit einer derartigen Tätowierung liefen einem nicht zufällig über den Weg.
Das Knacken eines Astes hinter ihm. Jörg Tucher fuhr herum. Bewegte sich da nicht etwas hinter der letzten Biegung? Vielleicht war es besser, das nicht herauszufinden. Er packte sein Bündel fester, und nun rannte er richtig. Die Mauern Kölns ragten bereits dunkel vor ihm auf. Noch ein bisschen näher, und dann würde ihn vielleicht jemand hören, wenn er um Hilfe rief. Vielleicht würde sogar jemand kommen, um ihm beizustehen. Er wusste nicht, ob er auf so viel Glück hoffen durfte.
Das Pochen seines eigenen Herzens, sein schneller Atem, die eiligen Schritte auf dem Weg. Für eine Weile bestand seine Welt aus nichts anderem.
Dann hallte das Schnalzen einer Armbrustsehne durch die Nacht.
Ein Schlag gegen seinen Oberschenkel. Er stolperte, kämpfte um sein Gleichgewicht. Das rechte Bein gab unter ihm nach. Er fiel.
Jetzt, am Boden, hörte er die Schritte. Sie wurden langsamer, kamen gemächlich näher. Jörg versuchte sich wieder aufzurappeln, aber als er nun das Bein bewegte, fuhr ein stechender Schmerz hindurch. Mit einem Aufschrei umklammerte er den Oberschenkel, fühlte warme Nässe und dann den gefiederten Schaft eines Bolzens.
Nein! Nicht so kurz vor dem Ziel! Die Stadtmauern verschwammen hinter den Tränen in seinen Augen.
»Habe ich dich endlich.«
Als er sich zu der Stimme umdrehte, war das Gesicht der Gestalt hinter ihm immer noch im Schatten des Hutes verborgen.
»Bitte!«, flehte er. »Bring mich nicht zurück. Du weißt nicht, was …«
Sein Verfolger lachte. »Mach dir keine Sorgen, das habe ich nicht vor.«
Hatte er nicht? Aber …? Für einen Moment überlagerten Verwirrung und zarte Hoffnung den Schmerz in Jörg Tuchers Bein. Dann zog der Fremde sein Schwert, und eiskalte Gewissheit ersetzte alles andere.
»Bitte, ich habe eine Tochter!«
Weiße Zähne blitzten im Mondlicht auf, als der Fremde lächelte. »Ich weiß.« Er setzte die Spitze seines Schwertes an Jörg Tuchers Brust, und da war sie, dunkel auf weißer Haut, als der Ärmel ein wenig hochrutschte. Die Pilgertätowierung. Ein Kreuz, der Name einer Stadt, eine Jahreszahl. Ein gläubiger Mann.
»Bei der Gnade Gottes, ich flehe dich an!« Das Herz hämmerte Jörger Tucher bis zum Hals. So hatte es nicht enden sollen. Dafür hatte er Katharina nicht allein zurückgelassen. Sollte es das wirklich gewesen sein?
»Ich fürchte, Er hat keine Gnade mehr übrig für uns.« Damit stieß der Fremde zu.
Katharina drückte das Stück Elfenbein vorsichtig in sein Bett aus Leim. Die neue Sonnenuhr war fast fertig. Den kleinen Kompass darin hatte sie zuerst gebaut, damit man die Uhr richtig ausrichten konnte, bevor man die Zeit ablas. Dann hatte sie das Kästchen aus Holz gesägt, die Winkel berechnet und die Zahlen an den richtigen Stellen mit einem Silberstift vorgezeichnet. Nun war sie seit Tagen mit den Einlegearbeiten aus Metall und Elfenbein beschäftigt, darunter auch ihr eigener mit Gold geschriebener Name am Boden des Kastens. Mit einer Pinzette nahm sie das nächste winzige Stück Elfenbein und drückte es in den Hohlraum des letzten A. Genau genommen durfte sie ihre Arbeit noch nicht signieren, aber genau genommen hätte sie auch schon längst mit ihrer Meisterprüfung zum Kompassmacher fertig sein sollen. Wenn einem das Leben nicht gab, was man wollte, nahm man es sich eben selbst. Das sagte ihr Onkel Emil doch oft genug, nicht wahr?
Dennoch drehte sie die Sonnenuhr eilig um, als sie polternde Schritte vor der Tür zur Werkstatt hörte. Die Tür wurde eher unsanft aufgestoßen, und Emil Tuchers hagere Gestalt erschien im Rahmen. Er hielt eine weitere Sonnenuhr in die Höhe. Katharina erkannte sie sofort. Sie war letzten Monat fertig geworden.
»Katharina, hättest du die Güte, mir das zu erklären?«
Katharina schluckte. Sie hatte sich ausgemalt, dass es leichter war, um Vergebung zu bitten, als um Erlaubnis zu fragen, aber mit einem Mal war sie sich nicht mehr so sicher. Dennoch setzte sie ihr strahlendstes Lächeln auf. »Was soll ich dir erklären, Onkel?«
»Das weißt du ganz genau!«, wetterte er und wedelte so heftig mit ihrem Werkstück, dass Katharina Angst hatte, es könne ihm entgleiten und zerbrechen. »Warum steht dein Name auf dieser Uhr?«
Katharina holte tief Luft. Jetzt klein beizugeben würde sie auch nicht mehr vor Ärger bewahren. »Weil ich sie gemacht habe, nicht du.«
Das ließ ihren Onkel innehalten. Für einen Moment starrte er sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Du bist immer noch mein Geselle.«
Sie war längst besser als er, das wussten sie beide. Emil Tucher hatte nie sonderlich viel Talent für das Familiengeschäft besessen. Als ihr Vater noch gelebt hatte, hatte er ihre Arbeit immer gelobt, hatte ihr versprochen, dass sie einen Weg finden würden, falls man ihr nicht erlauben würde, die Meisterprüfung zu machen, weil sie eine Frau war. Und zugegebenermaßen hatte er tatsächlich einen Weg gefunden, wie sie trotzdem Kompasse machen konnte. Aber noch wollte Katharina sich nicht mit dieser Notlösung abfinden. »Ich bin bereit für die Meisterprüfung«, beharrte sie.
Mit einem Mal wurden die Züge ihres Onkels weicher. Er ließ die Sonnenuhr sinken und trat in den Raum hinein. »Katharina, sie werden dich viel härter beurteilen als jeden Mann.«
Das wusste sie doch, aber das machte es nicht weniger frustrierend – eher im Gegenteil.
Vorsichtig stellt ihr Onkel die Sonnenuhr zwischen den ganzen Einzelteilen ihres aktuellen Werks auf dem Tisch ab. »Ich weiß, dein Vater hat geglaubt, dass du es schaffen kannst.« Seine Stimme klang nun viel sanfter. »Aber er ist nicht hier, nicht wahr?«
Daran erinnert zu werden schmerzte. Nein, ihr Vater war nicht hier. Er hatte sie im Stich gelassen.
»Seine Flucht hat es für dich nur schwerer gemacht«, fuhr ihr Onkel fort. »So wie die Dinge stehen, wird dein Meisterstück perfekt sein müssen.«
Katharina presste die Lippen aufeinander und nickte. Ihr Meisterstück würde gut werden. Das wusste sie. Aber vielleicht hatte ihr Onkel recht, und angesichts all der Vorurteile, mit denen man ihr entgegentreten würde, war gut noch nicht genug.
Aber auch das machte es nicht besser. Wenn sie doch zumindest verstehen würde, was ihr Vater sich dabei gedacht hatte. All die Jahre hatte er sie unterstützt und sich dafür eingesetzt, dass sie seinen Beruf lernte, obwohl er genauso gut einfach darauf hätte bestehen können, dass sie reich heiratete. Und dann, ein halbes Jahr vor dem Ende ihrer Lehrzeit, war er geflohen. Er hatte das Gebot gebrochen, dass ein Kompassmacher die Stadt Nürnberg nicht ohne gesonderte Erlaubnis verlassen durfte, weil der Rat und das Rugamt fürchteten, er könne das Geheimnis seines Berufs an andere Städte verkaufen. Man hatte versucht, ihn zurückzuholen. Er hatte sich gewehrt, hieß es, und er war gestorben.
»Ich denke immer noch«, fuhr Katharinas Onkel fort, »es wäre sogar besser, die Meisterprüfung nicht zu versuchen.«
Als Katharina den Mund öffnete, um zu protestieren, hob er eine Hand. »Ich meine ja nicht, dass du keine Kompasse bauen sollst. Ich sehe doch, wie gerne du das machst, und ich will auch nicht bestreiten, dass du Talent dazu hast. Aber wer wird schon Kompasse und Sonnenuhren von einer Frau haben wollen, deren Vater davongelaufen ist, um sein Berufsgeheimnis zu verkaufen? Verstehst du? Wir bieten einfach deine Werke unter meinem Namen an wie bisher. Ich habe zwar auch mit seinem schlechten Ruf zu kämpfen, aber immerhin nicht …« Er machte eine vage Geste. »… mit dem ganzen Rest.«
Wieder presste Katharina die Lippen zusammen. Früher hatte sie ihn für diesen Vorschlag geliebt. Früher hatte sie gedacht, dass es reichte, wenn sie einfach nur Kompasse bauen durfte. Es war immer ein gutes Gefühl gewesen, zu wissen, dass ihr Onkel ihr das ermöglichen konnte, selbst wenn es ihrem Vater nicht gelang, sie bis zur Meisterprüfung zu bringen. Aber inzwischen fühlte sie jedes Mal einen Stich, wenn ein Kunde ihre Kompasse lobte, aber dabei mit ihrem Onkel sprach. Jedes Mal, wenn ein Auftrag für eine Sonnenuhr hereinkam und alle ihre Vorschläge übergangen wurden, weil sie nicht nur eine Frau, sondern auch bloß der Geselle war, wollte sie schreien: »Ich will meine eigene Werkstatt.«
Emil Tucher seufzte. »Dann lass dir zumindest noch mehr Zeit, versprichst du mir das?«
Diesmal nickte Katharina langsam. Sie schob die Sonnenuhr beiseite, an der sie gearbeitet hatte. Alles in ihr sträubte sich dagegen, aber ihr Onkel war ihr Fürsprecher vor dem Rest ihrer Zunft und er hatte bereits gegen den Widerstand einiger Leute ihre Ausbildung übernommen, nachdem ihr Vater gestorben war. Wenn sie einfach noch ein wenig länger warten musste, bis sie bekam, was sie wollte, dann würde sie sich eben in Geduld üben.
»Hat er dich wieder versprechen lassen, zu warten?«, fragte Magda am Abend, während sie ihr das Haar ausbürstete.
Katharina nickte, was nur dazu führte, dass der nächste Bürstenstrich besonders ziepte. »Au!«, protestierte sie.
Magda lachte. »Nicht bewegen, dann tut es auch nicht weh!« Dann fuhr sie ernster fort: »Weißt du, wenn es so eine Schwierigkeit ist, dass du eine Frau bist, könntest du dich ja als Mann verkleiden, um Kompassmacher zu werden.«
Allein die Vorstellung war so absurd, dass Katharina lachen musste. Als Magda nicht mitlachte, wollte Katharina sich umdrehen, aber weiteres Ziepen hielt sie davon ab. »Meinst du das ernst?«, fragte sie dennoch.
Sie spürte eine Bewegung hinter sich und hörte das Rascheln von Stoff, vielleicht zuckte Magda die Schultern. »Ja, wahrscheinlich ist es eine dumme Idee.«
Katharina seufzte. Es tat gut, jemanden zu haben, der sich ebenfalls Gedanken um ihre Zukunft machte, auch wenn Magdas Ideen etwas seltsam waren. Bereits Madgas Mutter hatte im Haushalt der Familie Tucher ausgeholfen, und Magda war mehr als eine Magd, sie war eine Freundin. »Ich meinte nicht, dass die Idee wirklich dumm ist«, beschwichtigte sie. »Aber dann müsste ich mir ja ein ganz neues Leben aufbauen. Ich müsste als Mann die Bürgerrechte der Stadt erwerben und noch einmal die ganze Lehre und die Gesellenjahre machen, bevor ich die Meisterprüfung ablegen kann. Und dann müsste ich den Rest meines Lebens als Mann verbringen.« Der Gedanke ließ sie schaudern. Sie würde nie heiraten können, nie eine Familie gründen, weil ihr Geheimnis sonst herauskäme. »Es muss doch eine Möglichkeit geben, die Leute dazu zu bringen, einfach nur meine Arbeit zu sehen! Ich erwarte ja nicht, dass sie etwas gut finden, was ich schlecht mache. Ich möchte nur, dass sie sehen, dass ich nicht schlechter bin als irgendein Mann.« Langsam fühlte Katharina Zorn in sich aufsteigen, der die Niedergeschlagenheit des Tages vertrieb. »Ist das denn wirklich zu viel verlangt? Dass sie mich einfach so akzeptieren, wie ich bin?«
Für einen Moment hielt Magda im Bürsten inne. »Ich weiß nicht. Manchmal scheint es so, nicht wahr?«
Die Juwelen schimmerten im Schein der Nachmittagssonne, während Katharina sie auf der Werkbank hin und her schob. Damit sich eine Kompassnadel auch nach Jahren noch zuverlässig und leicht drehte, bettete man sie auf Rubin oder Saphir, denn die nutzten sich weniger schnell ab als Metall und rosteten auch nicht. Diese Steine hier waren bereits in die richtige Form geschliffen und mussten nur noch der Größe nach sortiert werden. Das Klopfen an der Tür des Hauses nahm Katharina über ihre Arbeit kaum wahr.
Beim zweiten Klopfen runzelte sie die Stirn. »Magda?«
War die Magd vielleicht hinten im Hof und hörte das Klopfen nicht? Vielleicht hängte sie gerade Wäsche auf. Und Katharinas Onkel war außer Haus. Beim dritten Klopfen seufzte sie und stand selbst auf. Früher hatten sie noch die alte Henrietta gehabt, die Magda in ihrer Arbeit angeleitet und über alles den Überblick behalten hatte. Früher, als sie mit den Kompassen ihres Vaters noch genügend Geld verdient hatten. Aber dann war Henrietta zu ihrer kranken Schwester nach Fürth gezogen, um sie zu pflegen, und kurz darauf war Katharinas Vater verschwunden und das Geld war knapper geworden. Also hatten sie nie einen Ersatz für Henrietta gesucht. Und es war nicht so, dass es schlimm gewesen wäre, selbst die Tür zu öffnen. Es war nur eine Erinnerung daran, wie viel sich in kurzer Zeit verändert hatte.
Auf dem Weg zur Tür strich Katharina ihre Röcke glatt und überprüfte, ob ihr Zopf ordentlich aussah. Wahrscheinlich hatten sich ein paar Strähnen daraus gelöst, aber das ließ sich auf die Schnelle nicht ändern. Eilig öffnete sie die Tür.
Der Mann war bereits im Begriff, sich abzuwenden. Er war vielleicht Mitte zwanzig, und unter seinem Barett lugten braune, ungezähmte Locken hervor. Sein Überrock war staubig, aber aus gutem, festem Stoff, und als er Katharina bemerkte, lächelte er strahlend.
»Verzeihung«, sagte er. »Bin ich hier richtig beim Haus von Kompassmacher Tucher?«
Katharina nickte. »Mein Onkel ist im Moment allerdings nicht im Haus.«
Wieder dieses Lächeln. »Oh, das macht überhaupt nichts. Ich suche Jörg Tuchers Tochter. Katharina.«
Oh? Überrascht blinzelte Katharina den Besucher an. Warum sollte irgendjemand sie suchen? Noch dazu jemand, der von weit her kam, wenn sie den Staub auf seinem Mantel richtig deutete. Ihr Onkel hatte doch nicht etwa sein ständiges Drängen, dass sie noch vor Abschluss ihrer Lehre heiraten solle, weitergetrieben, und lud nun junge Männer ein, sie zu besuchen?
Nein, das konnte Katharina sich bei Onkel Emil nicht vorstellen. Er mochte manchmal ein wenig zu besorgt darüber sein, was die Leute darüber dachten, dass Katharina erst einen Beruf erlernen wollte, bevor sie heiratete, aber er respektierte ihre Wünsche.
Es dauerte einen Moment, bis sie sich daran erinnerte, dass sie antworten sollte. »Die bin ich. Aber wer seid ihr? Hat Euch jemand geschickt, den ich kenne?«
Nicht, dass sie außerhalb von Nürnberg überhaupt jemanden kannte. Sie hatte die Stadt noch nie verlassen, und nun da sie das Geheimnis der Kompassmacherei kannte, durfte sie das auch nicht mehr, wenn sie nicht genauso enden wollte wie ihr Vater.
»In der Tat«, bestätigte ihr Besucher trotzdem. »Mein Name ist Ludwig Benneke, Hansekapitän aus Köln. Mein Vater schickt mich, um nach Euch zu sehen.«
Katharina blinzelte noch einmal. Dieser Tag versprach seltsam zu werden.
Katharina hatte Ludwig Benneke hereingebeten und sich gerade auf die Suche nach einer Erfrischung begeben, die sie ihm anbieten konnte, als Magda zum Glück wieder auftauchte. Sie brachte einen leichten Geruch nach Pferd mit sich, und Katharina nahm sich vor, sie später zu fragen, wo sie gewesen war. Sie hatte doch nicht etwa eine Liebschaft mit einem der Knechte des nahen Mietstalls?
Wenig später saß Katharina bei einem Becher verdünnten Weins mit Ludwig Benneke in der Stube des Hauses.
»Euer Vater hat meinen wirklich nie erwähnt?«, fragte er.
»Nein, tut mir leid«, gestand Katharina. Wie kam es überhaupt, dass ihr Vater Freunde in Köln hatte? Auch in seiner Jugend, als er noch hatte reisen dürfen, hatte er Nürnberg ihres Wissens nach nie verlassen. Mit einem Mal kam ihr der Gedanke, dass dieser Ludwig Benneke seine Geschichte vielleicht nur erfunden haben könnte, um sich Zugang zu ihrem Haus zu verschaffen. Unwillkürlich packte sie ihren Becher fester, plötzlich umso mehr froh, dass Magda nun wieder hier war.
»Nun, sie müssen sich vor unserer beider Geburt zuletzt gesehen haben, also ist das wohl nicht weiter verwunderlich«, erklärte ihr Gegenüber leichthin.
Umso verwunderlicher war, dass der Sohn dieses alten Freundes ihres Vaters nun plötzlich vor der Tür stand. Vor allem da Hanseschiffe Nürnberg immer seltener anfuhren, seit sich der Handel mehr und mehr auf den Landweg verlagerte. »Warum schickt er Euch dann, um nach mir zu sehen?«, fragte Katharina. So ganz ergab diese Geschichte noch keinen Sinn.
»Nun …« Kapitän Benneke drehte seinen Becher in den Händen und schien für einen Moment nach Worten zu suchen. »Wir haben vor Kurzem erst vom Tod Eures Vaters gehört«, sagte er schließlich. »Mein herzliches Beileid.«
Oh, also wollte vielleicht einfach ein alter Geschäftspartner ein Gerücht überprüfen, das er gehört hatte? Katharina nickte nur und stellte sich auf die übliche Frage nach den genaueren Umständen ein. Die kam immer. Meist wurde sie mit einer kaum verhohlenen Sensationsgier gestellt.
Ludwig Benneke allerdings holte nur tief Luft. »Ich muss ehrlich gestehen, dass ich die dringliche Sorge meines Vaters um Euch nicht ganz nachvollziehen kann. Aber kaum hatte er die Neuigkeiten gehört, drängte er mich, nach Nürnberg zu reisen und mich davon zu überzeugen, dass es Euch gut gehe.«
Katharina runzelte die Stirn. »Warum sollte es mir nicht gut gehen?« Und warum sorgte sich jemand um ihr Wohlergeben, den ihr Vater nie auch nur erwähnt hatte?
Etwas verlegen hob der Hansekapitän die Schultern. »Wie gesagt, er hat sich mir nicht genauer erklärt. Das Einzige, was er mehrmals wiederholte, war, dass er nicht glauben könne, dass Euer Vater Euch grundlos im Stich gelassen habe.«
Katharina hatte es selbst lange nicht glauben können. Dennoch hatte sie sich irgendwann den schmerzhaften Tatsachen stellen müssen. »Oh, er hatte durchaus seine Gründe«, konnte sie sich nicht verkneifen. »Ich weiß nicht, was Ihr gehört habt, aber da Ihr den weiten Weg auf Euch genommen habt, um es zu erfahren, richtet Eurem Vater doch Folgendes aus: Alles deutet darauf hin, dass mein Vater versucht hat, das Kompassgeheimnis an den Meistbietenden zu verkaufen.«
Sie rechnete mit einem erschrockenen Atemholen, vielleicht nun dem ersten Aufblitzen von Sensationsgier. Stattdessen lächelte Ludwig Benneke nur nachsichtig. »Ja, genau das haben wir gehört. Aber würdet Ihr sagen, das passt zu seinem Charakter?«
Katharina hob die Schultern. »Ich habe ihn offensichtlich schlechter gekannt, als ich dachte.«
Nun wirkte der Hansekapitän betroffen. Für eine Weile schien er wieder nach Worten zu suchen. Bevor er sie allerdings gefunden hatte, hallte das Geräusch der Haustür zu ihnen herüber. Schritte erklangen in der Diele und dann Magdas Stimme. Die von Katharinas Onkel antwortete.
»Benneke?«, schallte es so laut durch das Haus, dass Katharina zusammenzuckte. Alarmiert blickte sie ihren Gast an, der seinerseits eher verwirrt als beunruhigt wirkte. Dennoch, dass ihr Onkel so wütend auf den Namen reagierte, bedeutete vielleicht, dass dieser Hansekapitän wirklich nicht mit lauteren Absichten hier war?
Im nächsten Moment flog die Tür zur Stube auf. Emil Tucher war hager und nicht besonders groß, deshalb gab er keine sonderlich beeindruckende Erscheinung ab. Aber wie er nun vor Zorn bebend in der Tür stand, hätte er dem einen oder anderen durchaus Angst einjagen können.
Ludwig Benneke allerdings erhob sich lediglich von seinem Stuhl.
»Einen Benneke dulden wir nicht in diesem Haus!«, wetterte Katharinas Onkel.
Überrascht zog der Hansekapitän die Brauen in die Höhe. »Ich bin nur hier, um …«, hob er an.
»Deine Gründe interessieren mich nicht im Geringsten! Verlasse sofort mein Haus! Und ich verbiete dir, je wieder in die Nähe meiner Nichte zu kommen!«
Nun erhob sich auch Katharina von ihrem Stuhl. Sie mochte auch ihre Zweifel an Ludwig Benneke haben, aber er hatte bisher nichts getan. »Onkel, er hat sich anständig verhalten. Du musst nicht …«
»Ja, das tun die Bennekes am Anfang immer! Aber dem Pack darf man nicht trauen!« Damit wandte er sich wieder Ludwig Benneke zu. »Raus aus meinem Haus! Sofort!«
Der Hansekapitän hob beide Hände. Dann wandte er sich Katharina zu. »Es freut mich zu sehen, dass Ihr wohlauf seid. Verzeiht die Störung.«
Ohne ihren zeternden Onkel weiter zu beachten, steuerte er auf den Ausgang zu. Katharina beobachtete das Geschehen verwirrt. Was war nur in Onkel Emil gefahren? Sie kannte ihn normalerweise als beherrschten Mann.
Sie folgte den beiden zur Haustür, von der Angst getrieben, dass sie ansonsten vielleicht noch ernstlich aneinandergeraten könnten. In der Diele tauschte sie fragende Blicke mit Magda, die aber nur die Schultern zucken konnte.
Schließlich, als die Tür hinter dem Besucher zugefallen war, sackte ihr Onkel sichtlich in sich zusammen. »Halte dich bloß von dem fern, Katharina«, murmelte er.
»Was hat er denn getan?« Konnte Katharina nun vielleicht endlich eine Erklärung für diese Situation bekommen? »Er hat gesagt sein Vater und mein Vater seien alte Freunde gewesen.«
Emil Tucher schnaubte. »Alte Freunde? So hat er das genannt, ja? Glaub mir einfach, die Bennekes bedeuten nichts als Ärger.«
Katharina öffnete den Mund, aber Onkel Emil gebot ihr mit einer Geste Einhalt. »Ich möchte nicht, dass diese Familie in diesem Haus weiter diskutiert wird. Kein Wort mehr davon! Halte dich einfach von ihnen fern. Das ist alles, was du wissen musst.«
Damit stampfte er in Richtung Werkstatt davon.
Verwirrt blieb Katharina mit Madga in der Diele zurück. Es kam selten vor, dass ihr Onkel laut wurde. Oh, er konnte wütend werden und er war nachtragend, aber nur sehr selten erhob er dabei seine Stimme. Was war nur vor ihrer Geburt vorgefallen, was ihn so sehr aufbrachte? Und warum wollte er nicht darüber reden?
Magda warf einen Blick in die Richtung, in die Katharinas Onkel verschwunden war, dann senkte sie die Stimme. »Ich kann dem jungen Benneke nachlaufen und ihn weiter ausfragen«, bot sie an.
Katharina lächelte. Magda mochte manchmal verschwinden, aber wenn es wirklich zählte, dann war auf sie Verlass. »Das wird nicht viel nützen. Er hat behauptet, sein Vater habe ihn geschickt, um nach mir zu sehen, aber warum konnte oder wollte er nicht sagen.«
Magda runzelte die Stirn. »Um nach dir zu sehen?«
Katharina nickte. »Weil er gerade erst vom Tod meines Vaters erfahren hat.«
»Er hat …?« Magda bemerkte, dass sie ihre Stimme etwas zu weit erhoben hatte, und unterbrach sich eilig. Dann trat sie noch etwas näher. »Und dann hat er seinen Sohn von Köln nach Nürnberg geschickt, nur um zu erfahren, ob es dir gut geht? Nachdem sie vorher wer weiß wie lange nicht mehr miteinander geredet haben? Also, ich habe den Namen Benneke auf jeden Fall noch nie vorher gehört, also muss es lange her sein.«
So zusammengefasst klang die ganze Geschichte sogar noch seltsamer. Wer tat so etwas um einer alten Freundschaft willen? »Er sagt, sie haben sich zuletzt vor meiner Geburt gesehen«, sagte Katharina.
Magda runzelte die Stirn. »Woher wusste er dann, dass dein Vater überhaupt eine Tochter hat?«
Oh, das war eine sehr gute Frage. »Vielleicht haben sie einander Briefe geschrieben?«, vermutete Katharina. Falls Ludwig Benneke nicht gelogen hatte, war das die einzige Erklärung. Die Geburt eines Kindes war durchaus ein Anlass, zu dem man einem alten Freund schreiben würde.
Wenn ihr Vater und der alte Benneke sich allerdings auch nach ihrem letzten Treffen noch so gut verstanden hatten, dass sie einander Briefe schrieben, warum war Onkel Emil dann so wütend auf ihn? Katharina musste zugeben, dass diese ganze Geschichte sie neugierig machte.
»Wenn sie einander Briefe geschrieben haben, hat dein Vater auch Briefe bekommen.« Offensichtlich war Magda genauso neugierig wie sie.
Katharina musste lächeln. Bis ihr wieder einfiel, dass ihr Onkel all die alten Sachen ihres Vaters hatte vernichten lassen. Sie erinnerte sich an die Mischung aus Trauer und Wut, mit der sie zugesehen hatte, wie seine alten Dokumente und Besitztümer im Hinterhof verbrannten. Als könnte das die Erinnerungen an ihn und an seinen Verrat auslöschen.
Magda allerdings grinste Katharina an. »Wir könnten nachsehen. Also, falls du mehr wissen willst.«
Katharina seufzte. »Es hat doch keinen Zweck. Alles, wo wir hätten suchen können, ist fort. Bis auf sein Tagebuch vielleicht. Das habe ich nie gefunden.« Nachdem die erste Wut verflogen war, hatte sie es gesucht, in der Hoffnung auf Antworten. Aber ihr Vater musste es bei seiner Flucht mitgenommen haben.
Doch Magdas Grinsen wurde nur breiter. »Komm mit.«
Katharinas steife Röcke waren eindeutig nicht dazu gemacht, Leitern hinaufzuklettern. Sie beneidete Magda, die in ihrer leichteren Dienertracht zügig die Sprossen erklomm. Oben angekommen, verschwand sie im staubig-trüben Licht des Dachbodens, während sich Katharina noch abmühte, ihr zu folgen.
Schließlich zwängte sich auch Katharina durch die Luke in die abgestandene Luft unter dem Dach ihres Elternhauses. Sie hockte sich neben die Luke auf die Holzbohlen und brauchte erst mal einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen. Dabei spähte sie nach unten und lauschte.
Kein Geräusch deutete darauf hin, dass ihr Onkel irgendetwas bemerkt hatte. Dennoch, wenn er hinaufkam und die Leiter und die offene Luke bemerkte, würde es Ärger geben.
»Ich ziehe die Leiter hoch«, flüsterte Katharina.
»Gute Idee«, drang Magdas Stimme zwischen Bündeln und Kisten hervor. Hier oben lagerten sie auch die schweren Winterdecken, wenn man sie im Sommer nicht brauchte, und einige Meisterstücke ihrer Vorfahren.
Für eine Weile mühte Katharina sich mit der Leiter ab, bis diese schließlich neben der Luke auf dem Boden lag. Vorsichtig schloss sich dann auch die Klappe. Als sie sich umdrehte, kam Magda gerade zwischen zwei Stoffbündeln wieder zum Vorschein. Staub lag auf ihrem Haar und Spinnweben hingen in ihrem Kleid, aber sie hielt triumphierend einen hölzernen Kasten in den Händen.
Für einen Moment fragte Katharina sich, ob ihr Vater sein Tagebuch vielleicht doch nicht mitgenommen, ob Magda es vielleicht all die Monate lang hier oben versteckt hatte. Aber warum sollte sie das tun, ohne etwas darüber zu sagen?
»Ich kann nicht lesen«, sagte Magda, »aber ich kann einen Brief von einer Rechnung unterscheiden. Ich weiß, wie Zahlen aussehen.«
Das erklärte noch nicht, was sie dort in der Hand hatte. Neugierig betrachtete Katharina den Kasten. »Ja?«
Plötzlich etwas verlegen hob Magda die Schultern. »Na ja, ich dachte mir, irgendwann werdet ihr es vielleicht bereuen, keine Erinnerungsstücke an deinen Vater mehr zu haben. Ich meine, ich wusste ja, dass ihr wütend wart, aber ich weiß auch, dass ich die Eheringe meiner Eltern nicht verlieren wollen würde.« Nervös spielten ihre Finger an dem Kasten herum.
Katharina verstand. Magdas Vater war im Krieg gefallen, Magdas Mutter früh verstorben.
»Also«, fuhr Magda fort, »habe ich Dinge in diese Kiste gepackt, die in irgendeiner Art persönlich aussahen. Es sind auch ein paar Bündel Briefe dabei.«
Mit einem Mal musste Katharina gegen Tränen anblinzeln. Ja, sie war noch immer wütend auf ihren Vater, weil er sie im Stich gelassen hatte. Andererseits wollte ein Teil von ihr immer noch glauben, dass Ludwig Benneke recht und ihr Vater andere Gründe für ihre Flucht gehabt hatte.
Allerdings, welche sollten das sein? Immer wieder bewegten sich ihre Gedanken bei dieser Frage im selben Kreis. In was für eine Bedrängnis konnte ihr Vater geraten sein, dass ihm die Flucht als einziger Ausweg erschien? Warum hatte er nicht mit ihr darüber gesprochen, ihr zumindest gesagt, was er vorhatte? Nein, allein dass der Hansekapitän mit seinen Worten wieder diese alte Hoffnung in ihr geweckt hatte, war grausam von ihm gewesen. Und im schlimmsten Fall würden die alten Dokumente endlich bestätigen, was sie schon immer vermutet hatten und gar keinen Raum für Hoffnung mehr lassen.
Dennoch griff Katharina eifrig nach der Kiste, als Magda sie ihr hinhielt.
Nach und nach nahm Katharina die Dinge aus der Kiste und legte sie neben sich auf den Boden. Da war das kleine Gebetsbuch, das ihre Eltern zur Hochzeit bekommen hatten, mit den handgemalten Initialen und den Verzierungen am Rand. Tatsächlich fühlte sie sich ein wenig leichter zu wissen, dass das nicht den Flammen überantwortet worden war. Sie fand auch ein Taschentuch mit den eingestickten Initialen ihres Vaters, das er immer bei sich getragen hatte. Und schließlich kam sie zu mehreren Bündeln an Briefen.
Vorsichtig löste sie das Band des ersten und ging die Texte durch. »Das hier ist geschäftlich.« Enttäuscht faltete sie die Briefe wieder zusammen und legte sie beiseite.
»Oh, das tut mir leid!« Magda wirkte ehrlich zerknirscht. »Ich habe nur viel Text gesehen und dachte, er erzählt vielleicht was Interessantes.«
»Du kannst es ja nicht wissen«, beruhigt Katharina sie. Dass Magda sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, Dinge aufzubewahren, die ihr Onkel in seiner Wut hatte zerstören und die Katharina selbst nicht als Erinnerung an ihren Schmerz hatte behalten wollen, berührte Katharina tief. Das würde sie ihr so schnell nicht vergelten können.
Sie wandte sich dem nächsten Bündel zu. Wie beim ersten überprüfte sie zuerst den Absender. Als sie den Namen »Benneke« las, schlug ihr Herz schneller.
»Das ist es! Die Briefe sind unterschrieben mit Ferdinand Benneke! Und schau, wie viele er geschrieben hat!« Sie hielt den Stapel hoch, der ebenfalls mit einem Band zusammengehalten worden war, damit Magda sehen konnte, wie dick er war. Ludwig Benneke hatte also zumindest in dieser Hinsicht nicht gelogen.
Magda strahlte. »Dann lies schon! Los! Lass uns sehen, ob wir irgendetwas herausfinden können!«
Das ließ Katharina sich nicht zweimal sagen.
Der älteste Brief war dem Datum nach zehn Jahre alt. Falls es davor bereits einen Briefwechsel gegeben hatte, musste ihr Vater die alten Briefe irgendwann verloren oder weggeworfen haben. Außerdem fehlten natürlich all die Briefe, die ihr Vater an Ferdinand Benneke geschrieben hatte, und sie hatte nur Bennekes Antworten. Aber auch so ergab sich ein gutes Bild.
Ferdinand Benneke sprach viel und mit Stolz über seinen Sohn. Ludwig hatte zudem noch zwei jüngere Schwestern, und es fühlte sich ein wenig seltsam an, über das Leben eines Menschen zu lesen, den Katharina gerade erst getroffen hatte. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, die Nase in Angelegenheiten zu stecken, die sie nichts angingen. Andererseits, wie sollte sie sonst Antworten bekommen? Onkel Emil würde ihr sicher nichts verraten.
Entschlossen nahm sich Katharina den nächsten Brief vor und dann den nächsten. Der Ton der Texte war vertraut und warm, manchmal auch ein wenig traurig, wenn er von alten Zeiten sprach. Hin und wieder eröffneten Ferdinand Bennekes Worte kurze Einblicke auf das, was ihr Vater geschrieben haben könnte. Fragmente der Gedanken eines Mannes, von dem sie sich nicht mehr sicher war, ob sie ihn je gekannt hatte.
Mein lieber Jörg, ich möchte Dir und Deiner Katharina ganz herzlich zum Beginn ihrer Lehre gratulieren. Ich weiß, dass Du hart dafür gekämpft hast, und dass es Dir viel bedeutet, sie ihre Wünsche erfüllen zu sehen…
Erst als ein Tropfen auf das Papier fiel und Magda ihre Hand ergriff, wurde Katharina bewusst, dass sie weinte. Sie ließ den Brief sinken, schniefte und wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleides die Tränen aus den Augen. Wenn das wirklich stimmte, was hatte sich zwischen damals und seinem Tod verändert?
Magda drückte ihre Hand und wartete stumm ab, bis Katharina sich wieder beruhigt hatte. Nach einem Moment legte Katharina den Brief wütend zur Seite. So viel konnte es ihm letztendlich doch nicht bedeutet haben.
Die restlichen Briefe ging sie nur noch oberflächlich durch. Die Abstände der Briefe wurden größer, je weiter die Zeit fortschritt, aber sie rissen nie ganz ab. Der letzte war nur ein paar Monate vor dem Tod von Katharinas Vater gekommen. Den las sie besonders sorgfältig, aber nichts deutete darauf hin, dass Ferdinand Benneke irgendetwas von der Flucht seines alten Freundes gewusst hatte. Stattdessen berichtete er von denselben Dingen, über die er schon die ganze Zeit zuvor geschrieben hatte. Ludwig Benneke war damals gerade Kapitän auf seinem eigenen Schiff geworden. Seine Schwester Julia hatte einen Mann gefunden. Ferdinand Benneks Frau war zum damaligen Zeitpunkt schon seit fünf Jahren tot. Typhus. Sie war offenbar nicht seine große Liebe gewesen, aber manchmal vermisste er sie.
Und dann hielt Katharina plötzlich nur noch ein Blatt Papier in der Hand, auf dem eine eilig hingekritzelte Nachricht in der Handschrift ihres Vaters stand:
Mein lieber Ferdinand,
im Moment habe ich nicht viel Ruhe zum Schreiben, aber Emil bereitet mir Sorgen und ich möchte Dir zumindest so weit davon erzählen, wie ich es kann. Wir haben schon wieder gestritten. Ich wünschte, wir könnten uns sehen und ich könnte Dir alles im Detail erzählen und mein Herz ausschütten.
Im Moment bin ich mir nicht sicher, was ich tun soll. Falls Du bald länger nichts mehr von mir hörst, habe ich keine gute Lösung gefunden. Wohnt unser gemeinsamer Freund Martin Spengler eigentlich immer noch in Mainz? Eventuell könnte ich seine Dienste benötigen.
Ich
Damit brach der Brief einfach ab. Es gab noch einen Klecks auf dem Papier, als wäre der Federkiel etwas zu heftig bewegt worden. Katharina drehte das Blatt um, aber auch auf der Rückseite gab es nichts zu finden.
Dass er vage blieb, überraschte sie nicht weiter. Das Rugamt überprüfte den Briefverkehr eines jeden Kompassmachermeisters, um sicherzustellen, dass er das Geheimnis nicht auf diese Weise weitergab. Zu Persönliches wollte man die Beamten dort nicht sehen lassen.
Dann jedoch fiel Katharinas Blick auf das Datum, mit dem ihr Vater seine Nachricht versehen hatte. Sie schnappte nach Luft. Aufgeregt hielt sie das Papier Magda hin. »Das hat mein Vater geschrieben! Sieh nur, wann!«
Sofort hellte sich Magdas Miene auf. »Oh, das ist gut! Aber ich kann die großen Zahlen nicht so gut lesen. Von wann ist das?«
»Zehnter Juni 1529!«
Nun schnappte auch Magda nach Luft. »Das ist nur Tage vor seinem Verschwinden, oder nicht? Sag, was schreibt er?«
Eilig las Katharina ihrer Freundin die Nachricht vor. Als sie fertig war, runzelte Magda die Stirn. »Er hatte Streit mit dem Herrn Emil? Worüber?«
Das war die große Frage. Langsam ließ Katharina den Brief sinken. »Ich hatte gehofft, du wüsstest dazu vielleicht etwas.«
Bedauernd schüttelte Magda den Kopf. »Sie haben immer mal gestritten, das weißt du ja auch, nicht wahr?«
»Ja, aber nur darüber, wie man den Betrieb zu führen hat und solche Dinge.« Wieder starrte Katharina auf den Brief hinab. »Irgendwie haben sie sich immer geeinigt. Das war doch normal. Das hier muss etwas anderes gewesen sein.« Frustriert stieß sie den Atem durch die Nase aus. »Wenn ich nur wüsste, was.«
Und hatte es überhaupt etwas mit der Flucht ihres Vaters zu tun? Was könnte so sehr zwischen den beiden gestanden haben, dass sie es nicht mehr beide in derselben Stadt ausgehalten hatten?
»Und da dachte ich, die wilden Zeiten liegen hinter dir.« Ludwig hatte seinen Freund Theo lange nicht so erheitert gesehen. Die dunklen Augen des Zahlmeisters von Ludwigs Schiff, der Flussnixe, blitzten hinter den Brillengläsern.
»Ich habe überhaupt nichts getan!«, protestierte Ludwig. Er bereute es inzwischen fast, Theo von dem Zusammentreffen mit Katharina Tucher und ihrem Onkel erzählt zu haben.
»Das macht es umso lustiger«, behauptete Theo. »Jetzt wirst du schon aus den Häusern der Damen geworfen, bevor du irgendetwas tun konntest.«
Ludwig stieß seinen Freund mit der Schulter an. Sie waren vom Hafen durch die Gassen Nürnbergs unterwegs zum Handelskontor Hirschvogel, und die Straßen waren voll mit Karren, die Waren transportierten. Nürnberg mochte schon länger kein wichtiger Umschlagsplatz mehr für Hansekaufleute sein, seit die Stadt den Großteil ihres Warentransports über die Landwege abwickelte, aber ganz tot war der Handel über den Fluss eindeutig noch nicht. Ludwig fragte sich, warum sein Vater irgendwann aufgehört hatte, die Stadt anzufahren.
»Ich bin noch nie aus dem Haus einer Dame geworfen worden«, stellte er richtig. In gewisser Weise hatte er das Gefühl, seine Ehre verteidigen zu müssen.
Theo schnaubte. »Aber auch nur, weil du rechtzeitig durch das Fenster von Rosalinde Hardevust geflohen bist.«
»Ich war sechzehn, sehr verliebt, und ich habe ihr nur einen Kuss gestohlen!« Inzwischen hatte Rosalinde einen Mann geheiratet, der ihrem Status als Patriziertochter angemessen war. Ludwig bedauerte es schon längst nicht mehr, dass er nie offiziell um ihre Hand angehalten hatte. Sie hatte gut geküsst, aber die Gespräche mit ihr hatten größtenteils aus bewundernden Seufzern bestanden, wenn er ihr erzählt hatte, wo er später mit seinem eigenen Schiff hinreisen würde. Dem Ego eines Sechzehnjährigen mochte das schmeicheln, aber sein Vater hatte gewiss recht, wenn er sagte, dass man sich auf lange Sicht jemanden mit einem wacheren Verstand suchen sollte.
»Tu außerdem nicht so, als wäre das öfter passiert!«, fügte Ludwig hinzu, nur um sicherzugehen, dass sein Freund sich nicht noch weiter über ihn lustig machte. »Das war einmal!«
Darüber lachte Theo nur. »Immerhin wissen wir jetzt, dass dein Vater in seiner Jugend nicht besser war. Warum sonst hätte dieser Emil Tucher so wütend auf den Namen Benneke reagieren sollen?«
Warum Emil Tucher überhaupt wütend geworden war, beschäftigte Ludwig, seit er sich von seinem kurzen Besuch dort auf den Rückweg zum Hafen gemacht hatte. »Das würde ja Sinn ergeben«, sagte er nun, »wenn Emil Tucher eine Schwester gehabt hätte, die Vater verführt haben könnte. Aber soweit ich weiß, waren es nur Emil Tucher und sein Bruder Jörg.«
Theo strich sich nachdenklich über das glatt rasierte Kinn. »Vielleicht hat dein Vater Jörg Tucher zu irgendetwas angestiftet, das ihn in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht hat.«
Ludwig nickte, während er langsamer wurde. Irgendwo hier musste das Kontor sein, wenn seine Wegbeschreibung stimmte. »Das würde einiges erklären.« Dann blieb er ganz stehen und deutete auf ein Haus mit einem steilen Giebel und einem Tor, das breit genug war, dass auch ein Wagen hindurchfahren konnte. »Das muss das Kontor sein.«
Ludwig hatte nicht damit gerechnet, mit jemandem aus der Familie Hirschvogel persönlich sprechen zu können, dennoch war der Schreiberling, der ihn über das Pult in einem kleinen Nebenraum im Kontor Hirschvogel anstarrte, eine herbe Enttäuschung. Er blickte immer wieder auf die Papiere vor ihm und legte die Schreibfeder nicht aus der Hand, mit der er zuvor etwas in eine Liste eingetragen hatte. Entweder er war noch begeisterter von Buchführung als Theo das manchmal schien, oder er hätte beinahe alles lieber getan, als mit ihnen zu reden.
Ludwig hielt sich gerade, nahm seinen Hut ab und bemühte sich um ein freundliches Lächeln. »Ich bin Kapitän Ludwig Benneke von der Flussnixe«, stellte er sich vor. »Wir sind hier, um neue Handelsbeziehungen zu knüpfen. Falls Ihr Waren habt, die über die Pegnitz, den Main oder den Rhein transportiert werden müssen, dann …«
»Wenn ich kostbare Zeit beim Warentransport verlieren möchte, seid Ihr der richtige Mann, wie ich sehe«, unterbrach der Schreiberling ihn gelangweilt.
Hinter Ludwig schnappte Theo empört nach Luft, und auch Ludwig packte seinen Hut ein wenig fester als nötig. Heute war ganz eindeutig kein guter Tag. Ja, der Main machte viele Schlenker auf dem Weg von hier nach Frankfurt, aber das war kein Grund, unhöflich zu werden. »Mir ist bewusst, dass der Landweg ein wenig schneller ist, aber wenn es darum geht, die Waren wirklich sicher nach …«
Der Schreiberling lehnte sich vor. »Mein lieber Kapitän … Wie war der Name noch mal?«
»Benneke«, sagte Ludwig ohne große Hoffnung.
Erstaunlicherweise riss das den Schreiberling aus der Rede, die er ganz offensichtlich vorgehabt hatte zu halten. Er lehnte sich zurück und starrte Ludwig aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich dachte doch vorhin schon, dass der Name mir bekannt vorkommt. Irgendeine Verwandtschaft mit Kapitän … Wie hieß er noch gleich? Begann mit einem F, glaube ich. Auch Benneke auf jeden Fall.«
Kurz zögerte Ludwig. Wenn Emil Tucher so schlecht auf seinen Familiennamen reagiert hatte, galt das vielleicht auch noch für andere Leute in der Stadt. Andererseits kam es Ludwig falsch vor, seinen Vater zu verleugnen. »Ferdinand Benneke?«, fragte Ludwig. »Das ist mein Vater.« Vielleicht hatte sein Vater aber auch den einen oder anderen Freund in der Stadt gehabt.
Im nächsten Moment wurde diese Hoffnung zerschlagen. Die Miene seines Gegenüber wurde noch säuerlicher. »In dem Fall erübrigen sich ohnehin alle weiteren Erklärungen. Wir handeln nicht mit Leuten Eures Schlags. Guten Tag.«
Das war harsch. Was zur Hölle hatte sein Vater bloß getan? »Könntet Ihr mir bitte erklären, was …«, begann Ludwig.
»Ich sagte«, widerholte der Mann scharf. »Guten Tag.«
Unwillkürlich öffnete Ludwig den Mund, um noch einmal zu protestieren, aber Theo packte ihn und zog ihn aus dem Raum. Für einen Moment stemmte Ludwig sich gegen den Zug, aber dann gab er schließlich nach. Hier würde er ohnehin nicht mehr erfahren. Er ließ sich von Theo zwischen den gestapelten Waren hindurch zum Ausgang des Kontors ziehen, bis sie schließlich wieder zwischen Straßenhändlern, Lastentransporten und Bettlern auf der Straße standen.
Theo brach als Erster das Schweigen. »Ich habe das Gefühl, dein Vater hatte eine deutlich wildere Jugend als du.«
Dem konnte Ludwig nur zustimmen. »Er hätte mich warnen können.«
»Ich glaube«, merkte Theo an, »er hat gesagt, dass in Nürnberg keine guten Geschäfte zu machen sind.«
Ludwig sparte sich, darauf hinzuweisen, dass es einen himmelweiten Unterschied zwischen keinen guten Geschäften und der Behandlung gab, die er bisher erfahren hatte. Außerdem hatte sein Vater selbst ihn ja hierhergeschickt. Es hatte Sinn ergeben, die Reise mit etwas Geschäftlichem zu verbinden.
»Ich bin versucht, zu diesem Emil Tucher zurückzugehen und ein paar Antworten zu verlangen«, murmelte Ludwig.
»Weil der ja beim letzten Besuch schon so versessen darauf war, mit dir zu reden«, merkte Theo trocken an. »Eher solltest du deinen Vater damit konfrontieren, wenn wir zurück in Köln sind.«
Ja, vielleicht sollte er das tun. Allerdings war sich Ludwig nicht sicher, dass er so mehr erfahren würde. Offensichtlich teilte er mit Katharina Tucher eine Gemeinsamkeit – auch er kannte seinen Vater schlechter, als er bisher geglaubt hatte.
»Lass uns noch ein paar weitere Anlaufstellen versuchen«, entschied er schließlich. »Wenn wir da auch kein Glück haben, fahren wir morgen wieder ab.«
»Du bist der Käpt’n, Käpt’n.«
Immerhin, darauf, dass sein Zahlmeister Ludwig in seinen Entscheidungen unterstützte, war Verlass.
Mit dem Bündel Briefe in ihrer Rocktasche mühte Katharina sich die Leiter vom Dachboden herunter. Unten angekommen lauschte sie mit angehaltenem Atem auf Geräusche, die ihr verraten mochten, wo ihr Onkel sich aufhielt, aber sie hörte nichts. Vielleicht hatte er sich in die Werkstatt zurückgezogen.
»Du hast Staub im Kleid«, sagte Magda. »Halt kurz still.«
In Gedanken versunken tat Katharina wie geheißen. Wenn Onkel Emil erfuhr, dass sie die alten Briefe gelesen hatte, würde Magda womöglich Ärger dafür bekommen, sie aufgehoben zu haben. Direkt darauf ansprechen konnte sie ihn also nicht, obwohl sie ihn zu gerne gefragt hätte, worüber er und ihr Vater gestritten hatten.
»Denkst du, er fühlt sich vielleicht schuldig?«, holte Magdas Stimme sie in die Gegenwart zurück.
»Wer fühlt sich schuldig?« Katharina hatte das Gefühl, einen Gedankensprung ihrer Freundin verpasst zu haben.
»Dein Onkel«, erklärte Madga, während sie sich bückte, um Katharinas Röcke abzuklopfen. »Er und dein Vater haben gestritten und dann ist dein Vater kurz darauf fortgegangen und umgekommen. Das kann der Herr Emil ja nicht gewollt haben. Dein Onkel muss sich schrecklich fühlen!«
Oh. Das hatte Katharina noch gar nicht bedacht. »Das könnte natürlich erklären, warum er nicht darüber reden möchte.«
Magda nickte eifrig. Dann machte sie sich daran, ihre eigene Kleidung von Staub und Spinnweben zu befreien. Katharina beeilte sich, ihr zu helfen.
»Ich könnte behaupten, Ludwig Benneke habe etwas von einem Streit erzählt, und Onkel Emil fragen, worum es ging.« So musste sie ihren Ausflug auf den Dachboden nicht erwähnen.
Nachdenklich wiegte Magda den Kopf. »Vielleicht wird er dann nur noch mal wütend.«
Katharina hob die Schultern. »Wenn ich alles vermeiden würde, was ihn wütend machen könnte, würde ich für den Rest meines Lebens in seinem Namen Kompasse machen.«
Eine äußerst deprimierende Aussicht …
Bemerkenswerterweise war es Katharinas Onkel selbst, der das Thema beim Abendessen zur Sprache brachte.
»Ich möchte mich für mein Verhalten heute Nachmittag entschuldigen«, sagte er über einen Löffel Hirse hinweg. »Ich bin wütender geworden, als der Situation angemessen war.«
Überrascht blickte Katharina auf. Dass ihr Onkel sich entschuldigte, kam nicht oft vor.
»Du wirst sicher deine Gründe gehabt haben«, sagte sie diplomatisch. Insgeheim hielt sie allerdings den Atem an und hoffte darauf, endlich eine Erklärung zu erhalten.
Als Onkel Emil nickte, hätte sie am liebsten vor Frustration geschrien. »Die hatte ich in der Tat. Ich bin froh, dass du das so siehst. Ich hatte schon gefürchtet, du könntest diesem Benneke aus Neugierde weiter zuhören wollen. Aber ich versichere dir, er hätte dir nichts weiter als Lügen erzählt. So ist dieses Pack.«
Auch wenn seine Stimme ruhig blieb, war seine Wut auf die Bennekes noch immer deutlich spürbar. Katharinas Neugier stieg ins Unermessliche. Ludwig Benneke hatte nicht wie jemand gewirkt, der Lügen erzählen wollte. Dafür hatte er viel zu offen zugegeben, dass er selbst nichts Genaues über die Beweggründe seines Vaters wusste. Das allerdings behielt sie für sich.
»Vielleicht möchtest du mir die Umstände genauer erklären«, hakte sie stattdessen nach. »Dann weiß ich genauer, wovor ich mich in Acht zu nehmen habe.«
Das klang nach einem guten Argument, oder nicht? Ihr Onkel schien für einen Moment darüber nachzudenken. Dann lehnte er sich mit einem Seufzer in seinem Stuhl zurück. »Lass mich einfach sagen, Ferdinand Benneke hat es mit der Moral nicht allzu genau genommen. Ich kann dir sogar sagen, wieso er seinen Sohn hergeschickt hat, anstatt selbst zu erscheinen.«
Katharina setzte sich ein wenig gerader auf. »Ich dachte, er sei vielleicht inzwischen etwas zu alt für lange Reisen.«
Ihr Onkel schnaubte. »Ich würde wetten, er ist noch lange nicht zu alt für alle möglichen verderblichen Vorhaben. Nein, es hat einen viel verwerflicheren Grund.«
Katharina wünschte, ihr Onkel möge endlich zum Punkt kommen, aber nun wagte sie es nicht, ihn noch einmal zu unterbrechen.
»Das letzte Mal, als Kapitän Ferdinand Benneke mit seinem Schiff in dieser Stadt war, hätte man ihn wegen Verstößen gegen Moral und Sittlichkeit beinahe vor Gericht gestellt, wenn er nicht rechtzeitig entwischt wäre!« Onkel Emil unterstrich diese Eröffnung mit einer heftigen Geste mit seinem Löffel. »Und ich hoffe, das genügt dir als Erklärung, denn ich habe nicht vor, die unappetitlichen Einzelheiten beim Essen ausbreiten!«
Katharina öffnete den Mund, um eine weitere Frage zu stellen, aber dann schloss sie ihn wieder. Sie war sich nicht sicher, was sie überhaupt als Nächstes fragen wollte. Onkel Emils Wut auf Ferdinand Benneke klang berechtigt, auch wenn sie die Details nicht kannte. Aber wie passte das, was sie gerade erfahren hatte, zu den Briefen, die sie noch immer in ihrer Rocktasche versteckte? Hatte ihr Vater seinen Freund in einem zu guten Licht gesehen? Hatte Ferdinand Benneke ihn belogen?
»Vater schien ihm deswegen nicht böse gewesen zu sein«, merkte sie schließlich an. Dann fiel ihr ein, dass sie vielleicht eine Erklärung liefern sollte, woher sie das wusste. »Ludwig Benneke sagte, sie haben sich noch lange Briefe geschrieben.«
Katharinas Onkel verengte die Augen zu Schlitzen und zog ein Gesicht, als habe er in einen sauren Apfel gebissen. »Haben sie das, ja? Nun, dein Vater hat sich schon immer zu sehr von Ferdinands Charme einwickeln lassen. Dabei ist er damals beinahe selbst vor Gericht gelandet. Ich habe ihn nur ganz knapp davor bewahren können.«
All diese Andeutungen steigerten Katharinas Neugier nur umso mehr an. Was genau war damals vorgefallen? Sie wollte außerdem noch immer nach dem Streit fragen, den ihr Vater in seinem Brief erwähnt hatte. Aber ihr Onkel sah schon wieder so verstimmt aus, dass sie alle ihre Fragen hinunterschluckte. Sie würde überhaupt nichts erfahren, wenn sie zu sehr drängte. Vielleicht ergab sich dazu später noch eine Gelegenheit.
»Da konnte Vater wohl froh sein, dass er dich hatte«, sagte sie. Ihr Onkel allerdings schnaubte nur schon wieder. »Ja, das hätte er eigentlich sein müssen.«
Vielleicht hätte sie es damit einfach auf sich beruhen lassen sollen. Wem nützte es schon, dass sie in alten Wunden bohrte? Dennoch fand Katharina sich am Abend bei Kerzenschein bei der Lektüre der Briefe von Ferdinand Benneke.
War sie tatsächlich so schlecht darin, den Charakter anderer Menschen zu beurteilen? Zuerst ihr eigener Vater und nun der von Ludwig. Wo ging sie in ihrer Beurteilung fehl? Warum erschienen ihr die verwerflichsten Leute immer so warmherzig und freundlich? Katharina starrte auf die mit schneller Feder geschriebenen Worte, bis sie vor ihren Augen verschwammen. Doch inzwischen hatten sie sich längst in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Mein lieber Jörg,
ich wünschte, ich könnte Katharinas ersten Kompass sehen. Doch auch wenn ich Deine Freude nur aus der Ferne teilen kann, sei gewiss, dass ich diese Worte mit einem Lächeln auf den Lippen schreibe. Du musst so stolz auf Deine Tochter sein! Es gibt doch nichts Schöneres.
Katharina erinnerte sich noch gut an diesen Tag in der Werkstatt. Sie hatte all die Berechnungen angestellt, die Nadel austariert, das Zeigerblatt bemalt. Es war dennoch ein grobes Werkstück geworden, aber ihr Vater hatte gestrahlt, als sie es ihm gezeigt hatte. Er hatte es neben einen seiner Kompasse gehalten und die Nadeln hatten beide gemeinsam nach Norden gezeigt. »Siehst du. Er funktioniert.«
Er war oft genug ein strenger Lehrmeister gewesen, aber wenn sie etwas richtig gemacht hatte, hatte er mit seinem Stolz nie hinterm Berg gehalten.
Eilig faltete Katharina den Brief wieder zusammen, als sie spürte, wie ihr wieder die Tränen in die Augen stiegen.
Im nächsten Moment ließ ein Klopfen an der Tür sie zusammenzucken. In aller Hast raffte sie die Briefe zusammen und schob sie unter einen Plan für ihre nächste Sonnenuhr, der auf dem Schreibtisch lag. »Herein!«
Es war Magda, die eine Kerze in einem tönernen Halter trug. Die Flamme flackerte heftig in dem Luftzug, der durch das Öffnen der Tür entstand, und warf wilde Schatten an die Wände. »Ich wollte nur fragen, ob du noch etwas für die Nacht brauchst. Sonst würde ich nun schlafen gehen.«
Dann fiel ihr Blick auf Katharinas Gesicht und von dort weiter auf die Papiere auf dem Schreibtisch, wo die zusammengefalteten Briefe eine Beule unter dem Bogen mit dem Plan bildeten. Sofort schlüpfte sie ganz in den Raum hinein und schloss die Tür hinter sich. »Oh, ich bereue es fast, diese Briefe aufgehoben zu haben. Sie machen dich traurig.«
Eilig schüttelte Katharina den Kopf. »Ich bin froh, dass du sie aufgehoben hast. Ich frage mich nur, wieso ich mich immer so sehr in den Menschen irre.«
»Wie meinst du das?« Magda trat näher und stellte ihre Kerze auf Katharinas Schreibtisch ab, möglichst weit weg von allen Papieren. Dabei fiel Katharina auf, dass sie schon wieder einen leichten Geruch nach Stall verströmte. Hatte sie sich etwa noch einmal in die Ställe geschlichen?
Katharina schob diese Frage beiseite und erzählte stattdessen, was sie heute noch über Ferdinand Benneke erfahren hatte.
»Aber du dachtest, er sei ein netter Mensch nach allem, was du in seinen Briefen gelesen hast?«, fragte Madga, nachdem Katharina geendet hatte.
Katharina nickte.