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Obwohl Erin Coffey eine sehr erfahrene Krankenschwester ist, fällt ihr ihr neuer Job schwerer als gedacht - körperlich und emotional. Nicht nur musste sie näher zu ihrer zerrütteten Familie ziehen, ihr Job in der psychiatrischen Klinik Larkhaven erweist sich auch noch als gefährlich - schnell wird klar, dass sie Schutz braucht. Schutz, den ihr neuer selbstbewusster Kollege Kelly ihr nur zu gern gewährt. Dabei ist Kelly Robak der Typ Mann, auf den Erin sich nie im Leben einlassen wollte. Am Beispiel ihrer Schwester hat sie gesehen, was für ein Chaos solche Kerle in das Leben einer Frau bringen können. Trotzdem fühlt sie sich von ihm angezogen, selbst, als er ihr an ihrer Wohnungstür Avancen macht und kein Nein als Antwort akzeptieren will. Aber was sie noch mehr erschüttert als seine ungebührlichen Annäherungsversuche, ist die Tatsache, dass es ihr gefällt, sich ihm zu unterwerfen ...
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Seitenzahl: 520
Veröffentlichungsjahr: 2016
CARA MCKENNA
After Hours
Roman
Ins Deutsche übertragen von Michael Krug
Obwohl Erin Coffey eine sehr erfahrene Krankenschwester ist, fällt ihr ihr neuer Job schwerer als gedacht – körperlich und emotional. Nicht nur musste sie näher zu ihrer zerrütteten Familie ziehen, ihr Job in der psychiatrischen Klinik Larkhaven erweist sich auch noch als gefährlich. Schnell wird klar, dass sie Schutz braucht. Schutz, den ihr neuer selbstbewusster Kollege Kelly ihr nur zu gern gewährt. Dabei ist Kelly Robak der Typ Mann, auf den Erin sich nie im Leben einlassen wollte. Trotzdem fühlt sie sich von ihm angezogen. Und, was sie noch mehr erschüttert als seine ungebührlichen Annäherungsversuche, ist die Tatsache, dass es ihr gefällt, sich ihm zu unterwerfen …
Ich hörte das Schild bereits, bevor ich es sah, denn das Klappern von verbogenem Metall wurde vom Wind zu mir getrieben, als mein Auto um eine Kurve bog.
Nimm keine Anhalter mit!
Der Hinweistext wurde von einem Band aus rötlichem Rost halbiert, das wirkte, als blute das Schild aus seiner Befestigungsschraube.
Du-du-dumm … du-du-dumm … Fehlte nur die obligatorische Horrorfilmmusik.
Aber abgesehen von dem etwas unheimlichen Schild präsentierte sich die Straße ruhig und hübsch. Ulmen, Eichen und Tannen ragten zu beiden Seiten auf. Wässriger frühmorgendlicher Sonnenschein zwinkerte im Osten zwischen grünen Blättern hindurch. Die Ränder der Straße waren weder von Limonadenflaschen noch von alten Fast-Food-Tüten vermüllt, jenen Symbolen urbaner Apathie, an die ich mich in meinem bisherigen Leben im südöstlichen Michigan so gewöhnt hatte.
Zu ruhig, zu hübsch, flüsterte meine paranoide innere Stimme.
Mit zusammengekniffenen Augen heftete ich den Blick auf einen betagten Mann, der auf einen Spazierstock gestützt den Seitenstreifen entlangschlurfte. Obwohl er eigentlich recht harmlos wirkte, war ich klug genug, einem solchen Gedanken nicht zu vertrauen. Allerdings nahm er keinerlei Notiz von mir, als ich mich näherte, geschweige denn, dass er versucht hätte, auf Anhalter zu machen. Ich entschied, dass er wohl tatsächlich nur ein alter Mann auf seinem frühen Spaziergang an einem Junimorgen war.
Andererseits fuhr ich in die falsche Richtung. Falls er doch aus einer psychiatrischen Anstalt ausgebrochen wäre, würde er durch eine Fahrt mit mir geradewegs wieder dort landen, wo er hergekommen war. Mein Herzschlag beruhigte sich, als er nach einer Kurve in der Straße aus meinem Rückspiegel verschwand.
Als Erstes sichtete ich das Tor – ein hohes imposantes, schmiedeeisernes Tor, das mit einer frischen Schicht schwarzer Lackierung glänzte. Obenauf, in einer Höhe von ungefähr viereinhalb Metern, prangte der Name Larkhaven, flankiert von Überwachungskameras. Ich konnte förmlich spüren, wie sie mich neugierig beäugten. Langsam manövrierte ich meine spleenige Limousine zu einem gemauerten Sockel und beugte mich hinaus, um auf einen Knopf unter einer dunklen, als Gegensprechanlage beschrifteten Blende zu drücken. Die Vision einer Hand, die mich am Gelenk packte, schoss mir durch den Kopf, und ich riss den Arm jäh zurück ins Auto, schlug mir dabei den Ellbogen an.
»Verfl…«
Ein Lautsprecher knisterte, dann ertönte eine gelangweilte weibliche Stimme. »Guten Morgen. Was führt Sie nach Larkhaven?« Mir war bewusst, dass ich mich am Besuchereingang befand und Mitarbeiter, Lieferanten, Einlieferungen und Abholungen normalerweise hintenrum auf das Gelände gelangten. Allerdings hatte ich noch keine Sicherheitsfreigabe.
»Mein Name ist Erin Coffey«, teilte ich dem Bildschirm mit, während ich mir den Ellbogen rieb. »Ich fange heute bei Dennis Frank an?« Ach ja? Die Worte drangen als Frage aus meinem Mund, beinah so, als könnte ich es selbst nicht richtig glauben.
»Einen Moment.« Stille, dann ein weiteres Knistern. »Alles klar, kommen Sie rein. Zum Mitarbeiterparkplatz geht es nach links, ganz nach hinten durch. Folgen Sie der Beschilderung zum Star-Gebäude und zum Personaleingang, und drücken Sie die Null auf der Gegensprechanlage.«
Die Tore schwangen bedächtig nach innen auf, trennten das Lark und das haven voneinander. Unsicher kurbelte ich das Fenster hoch, sperrte die süße Frühlingsluft aus und verriegelte die Tür.
Ich fuhr langsam, ließ das Gelände auf mich wirken, als ich ein kleines Kiefernwäldchen passierte. Ohne den imposanten schwarzen Zaun hätte es sich glatt um eine kleine Privathochschule handeln können: fünf oder sechs dreigeschossige, gelbe, durch gepflasterte Gehwege miteinander verbundene Ziegelsteinbauten, dazu grüne, von Sitzbänken gesprenkelte Rasenflächen. Insgesamt recht gepflegt, wenngleich vereinzelte Abnutzungserscheinungen durchschimmerten. Zugleich ein bisschen unheimlich, weil außer einer großen Frau in blauer Pflegermontur, die mit eiligen Schritten über das Gras lief, weit und breit niemand zu sehen war.
Das Hauptkrankenhaus, zu dem Larkhaven gehörte, befand sich einen knappen halben Kilometer entfernt. Die Einrichtung hier widmete sich ambulanten Behandlungsprogrammen für Patienten mit Entwicklungsstörungen, psychischen Erkrankungen, Suchtproblemen und dergleichen. Ferner betreute man stationäre Kurzzeitpatienten und unterhielt eine Altenbetreuungseinrichtung mit den Schwerpunkten Alzheimer und Demenz.
Lerche, verkündete das markante Schild eines Gebäudes. Schwirl, ein anderes und Seidenschwanz ein drittes. Der Mitarbeiterparkplatz lag unmittelbar hinter dem Gebäude mit der Beschilderung Star, beschränkter Zugang. Mein Gebäude. Es erschien mir durchaus sinnvoll, dass sich die geschlossene Station der Absetzzone am nächsten befand.
Als ich auf einem freien Platz einparkte, spähte ich zu den Fenstern, hielt Ausschau nach Anzeichen auf Gewalt und Chaos, auf die Bestätigung dafür, dass ich einen schweren Fehler begangen hatte … Aber ich sah nur dünne Gitterstäbe aus Metall. Der Anblick bot eine düstere Art von Trost, zumindest solange ich mich noch draußen befand. Immerhin sorgten die Gitter dafür, dass die beängstigenden Leute drinnenblieben. Sobald ich mich jedoch selbst drinnen befände, würde ich sie vielleicht nicht mehr als so beruhigend empfinden.
Aber ich meinte das auch nicht so mit den beängstigenden Leuten. Menschen mit psychischen Erkrankungen hatten genug Stigmata mit sich herumzuschleppen, auch ohne dass eine Krankenpflegerin für psychisch Kranke schlecht über sie redete.
Aber ich hatte schon Angst. Es fühlte sich an, als hätte mich jemand in ein Korsett gezwängt und es dann enger, enger, enger geschnürt, bis ich nicht mehr richtig Luft holen konnte, bis es meine Lunge und mein Herz einquetschte.
Vier Jahre lang hatte ich in Zeitlupe meine Pflegeausbildung absolviert und es mittlerweile zur zugelassenen Krankenpflegehelferin geschafft – noch einige Prüfungen und eine Menge Praxisausbildung von meinem Diplom entfernt. Ich arbeitete langsam auf den Abschluss als staatlich geprüfte Gesundheits- und Krankenpflegerin hin und hatte die letzten sechs Jahre als Pflegerin meiner Großmutter verbracht und auch bei ihr gewohnt. Im Winter war sie friedlich dahingeschieden; am Ende eine Erlösung für sie. Aber sie hatte den Mittelpunkt meines Lebens verkörpert, und nach ihrem Verlust trieb ich ziellos dahin. Meine Zulassung fühlte sich wie der einzige Anker an, den ich hatte, der einzige Pfeil, der mir irgendeine Richtung zu weisen vermochte. Zwar vermutete ich, dass ich das Zeug dazu hatte, Krankenpflege zu meinem Beruf zu machen, nur besaß ich so wenig tatsächliche Erfahrung, dass es ein Sprung ins kalte Wasser war, den ich ohne eine kräftige Dosis Unsicherheit nicht bewältigen konnte.
Die Demenz meiner Großmutter mochte so einige Leute verstört haben, aber im Allgemeinen war sie eine herzensgute Seele gewesen. Geschrien hatte sie, wenn überhaupt, nur aus Angst und Verwirrung, nie aus Wut. Hier hingegen stand ich vor den Türen einer Hochsicherheitsstation, speziell für Männer vorgesehen, die chronisch an disruptiven psychotischen Schüben litten. Ein Dutzend unberechenbarer, gelegentlich gewalttätiger Männer. Und dazu ich kleines Persönchen, die Krankenpflegerin, die in ihrer bisherigen sogenannten »Laufbahn« noch keinen einzigen richtigen Patienten gehabt hatte.
Obendrein war ich wirklich klein. Drei bis fünf Zentimeter kleiner als der Durchschnitt. Hinzu kam, dass ich nach mehreren Jahren dessen, was ich die »Sozialhilfediät« nannte – reichlich Bohnen und Toastbrot und Suppe, um möglichst lange mit dem jämmerlichen Betrag über die Runden zu kommen, den die Regierung als ausreichend erachtete, um damit Heizkosten, Lebensmittel und Kleidung für meine Großmutter und mich abzudecken –, keine sonderlich Respekt einflößende Statur aufwies. Ich hatte ein Kleinmädchengesicht mit dazu passenden runden blauen Augen und zu dünne hellbraune Haare, die allen Bemühungen von Shampoos trotzten, die ein größeres Volumen versprachen. Auf der Station würde das Einschüchterndste an mir zweifellos die Spritze in meiner Hand sein.
All meine Sorgen bestürmten mich in einem dichten Gedränge und setzten die Ellbogen ein, um sich meiner Aufmerksamkeit zu versichern. Du wirst mit einer Plastikgabel erstochen werden. Du wirst die Medikation irgendeines armen Teufels vermasseln und ihm einen Schlaganfall bescheren. Deine Kollegen werden die Patienten grausam behandeln, und du wirst zu feig sein, um sie zu melden. Ambers Proletenfreund wird sich ausgerechnet heute aussuchen, um aufzukreuzen und ein Drama zu veranstalten, und du wirst nicht da sein, um sie zu retten.
Verflixte Amber. Meine verflixte kleine Schwester, die ich verflixt noch mal liebte.
Ich hatte sie schon von dem Moment an geliebt, als ich sie als Baby das erste Mal gehalten hatte. Damals war ich fünf gewesen. Wäre es nicht um sie gegangen, wäre ich jetzt nicht hier, um in diesem abgelegenen Winkel des Staates einen Job anzunehmen, der mir Angst einjagte. Das tat ich für sie und meinen Neffen Jack in diesem versifften kleinen Haus in dem versifften kleinen Häuserblock, der mit dem Auto dreißig Minuten von Larkhaven entfernt lag. Wäre ich nicht hergekommen, um nach ihnen zu sehen, würde es auch niemand anders tun. Niemand außer Ambers grauenhaftem Freund oder Exfreund oder Exverlobten oder wie auch immer sie ihn diese Woche bezeichnete.
Jacks Vater, da war sie sich zu siebzig Prozent sicher. Wenn sie gerade wütend auf ihn war, sank die Wahrscheinlichkeit auf zehn Prozent, wann immer sie sich wieder mal versöhnt hatten, schnellte sie auf neunzig hoch. Amber hatte sich in eine Kopie unserer Mutter verwandelt. Das gleiche Temperament, der gleiche lausige Geschmack, was Männer anging. Eine zu junge Mutter mit einem Hang zu impulsiven, dramatischen Fehlern. Unsere Mutter hatte in zwei Jobs gearbeitet und Dates mit Männern wie ein Lottospiel gehandhabt, immer mit der Vorstellung: Diesmal ist es der Kerl, der mich aus diesem Drecksloch rausholen wird. Einen Glückstreffer hatte sie nie gelandet, aber man konnte ihr auch keine mangelnde Entschlossenheit vorwerfen, wenn man die unzähligen Stunden betrachtete, die sie in Bars für Singles verbracht hatte, um ihre Chancen zu verbessern.
Im Wesentlichen hatte ich Amber großgezogen, seit ich ungefähr zehn gewesen war. Ich war diejenige gewesen, die sie für die Schule aufgeweckt und die Peitsche geschwungen hatte, damit sie ihre Hausaufgaben machte. Nicht dass ich dabei besonders großartige Arbeit geleistet hätte, wenn man berücksichtigte, dass sie die Schule mit sechzehn hinschmiss. Ich konnte nur beten, dass sie sich nicht noch etwas von unserer Mutter abschauen und mich bitten würde, auch ihr Kind großzuziehen … Auch wenn ich das hauptsächlich hoffte, weil ich wusste, dass ich mein Leben ohne Frage umkrempeln und zusagen würde, weil ich den kleinen Jack geradezu vergötterte.
Nachdem ich den Motor abgestellt hatte, umklammerte ich weiter das Lenkrad und zählte meine Atemzüge, wartete darauf, dass sich mein Herzschlag verlangsamte und dass sich die Schnüre des Korsetts ein wenig lockerten. Taten sie bloß nicht. Ich steckte die Schlüssel in die Tasche und stieg in die kühle, feuchte Morgenluft aus. Ringsum zwitscherten Vögel, und auf dem Gelände roch es nach Frühling oder nach den letzten Schulwochen vor der Freiheit der Sommerferien. Ich ließ es auf mich wirken und nahm es in mich auf. Ich wusste, dass mein erster Tag arbeitsreich werden und ich bis zum Ende meiner Zwölfstundenschicht vielleicht keine Gelegenheit mehr bekommen würde, noch einmal nach draußen zu gehen.
Meine flachen Schuhe knirschten über den Schotterparkplatz, als mich die Füße zu der als Personaleingang gekennzeichneten Tür trugen. Ich drückte unter einer Reihe von Tasten jene mit einer Null daneben.
»Ja?«
»Hier ist Erin Coffey für Dennis Frank.«
»Einen Moment.«
Schweigend wartete ich eine volle Minute oder mehr, dann schwang die Metalltür nach innen auf, und ein Mann lächelte mir entgegen.
»Kommen Sie rein«, forderte er mich auf. »Willkommen in Larkhaven.«
Ich stand in einem kleinen fensterlosen Foyer, während der Mann, den ich für Dennis hielt, die schwere Tür mit einem Zischen zufallen ließ, bevor er mit seiner Schlüsselkarte eine andere öffnete. Er führte mich einen kurzen Gang hinab zu einem beengten Pausenraum mit einer Küchennische, aufgeräumt zwar, aber von Neonröhren in ein unangenehmes Licht getaucht.
Dennis mochte vielleicht fünfzig Jahre alt sein, trug eine Brille mit Goldrand, einen Akademikerkinnbart und die grau melierten Haare zu lang. Er war in einen hellblauen Krankenhauskittel gekleidet, seine Füße steckten in Bootsschuhen. Mir kam er zugleich freundlich und erschöpft, niedergeschlagen und entschlossen vor, dazu hatte er eines jener ausdrucksstarken, arglosen Gesichter, die einem alles verrieten, was der Besitzer empfand.
»Caffe?«, fragte er.
»Nein«, antwortete ich. »Coffey, Erin Coffey.«
»Oh, tut mir leid, ich meinte, ob Sie Kaffee möchten?« Zur Veranschaulichung füllte er einen Pappbecher aus einer Kanne auf der Arbeitsfläche. Als ich abwinkte, fügte er dem Becher ein Päckchen Zucker hinzu und trank einen Schluck. Er lächelte. »Sechs Uhr dreißig morgens an Ihrem ersten Tag – und kein Koffein? Wir haben gehofft, einen Übermenschen für die Tagesschicht zu finden.«
»Ich hatte auf der Fahrt hierher einen Becher.« Und ich war allein wegen meiner Anwesenheit hier draußen dermaßen zittrig und nervös, dass mich weiterer Kaffee zweifellos kopfüber in einen eigenen psychotischen Schub gestürzt hätte, sodass ich selbst als Patientin in Larkhaven gelandet wäre.
»Tja, Erin Coffey, ich bin Dennis Frank.« Wir schüttelten einander die Hände. Kurz nahm er sich die Zeit, einen Dienstplan zu überprüfen, eine Liste von Namen auf einem großen Whiteboard neben der Tür. »Heute Vormittag zeige ich Ihnen, wie es hier läuft, bevor ich Sie jemandem vom dienstälteren Pflegepersonal übergebe. Im Grunde leiten die Pflegerinnen und Pfleger diese Station. Natürlich werden Sie auch Ärzte für Gruppen- und Einzeltherapiesitzungen sehen. Aber die haben ihre Büros alle hier in Star eins – S1. Oben in den gesicherten Etagen S2 und S3, wo Sie die meiste Zeit verbringen werden, schmeißt das Pflegepersonal den Laden.« Bei der Äußerung schlich sich ein klein wenig schlecht verhohlener Hochmut in seinen Tonfall.
Dennis und ich hatten bereits ein paar Mal am Telefon miteinander gesprochen. Ich hatte die Bewerbungsgespräche in einem Partnerkrankenhaus bei mir zu Hause absolviert, nachdem ich bei einer Jobbörse angesprochen worden war. Dennis war dabei gewesen, wenn auch nur als freundliche Stimme einer Konferenzschaltung. Er war selbst ein altgedienter Pfleger, der erst zum Schichtleiter und dann zum Verwaltungsleiter aufgestiegen war, und arbeitete bereits seit fünfzehn Jahren in Larkhaven, den Großteil davon in der geschlossenen Abteilung, in der man die gefährlichsten Patienten unterbrachte. Was für schockierende Dinge mochte er in all der Zeit zu sehen bekommen haben? Was für schockierende Dinge mochten mich erwarten? Mein unsichtbares Korsett piesackte mich mit einem fiesen Zwicken.
»Wir stehen gerade im wichtigsten Raum des Gebäudes«, erklärte mir Dennis mit einer ausladenden Geste seiner ausgestreckten Arme, »dem Kaffeezimmer. Manche meinen, der Raucherhof wäre noch wichtiger, aber der Fairness halber muss man sagen, dass das kein Raum im eigentlichen Sinn ist. Rauchen Sie?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Warten Sie mal die erste Woche ab«, meinte er, aber der Scherz kam verspielt rüber, nicht zynisch. »Eigentlich nennen wir den Raum hier das Anmeldezimmer. Jeder kommt rein und schreibt seinen Namen an die entsprechende Stelle, damit wir wissen, welchen Dienst derjenige an dem Tag hat. Sie tragen sich als allgemeine Pflegerin ein, und zack – schon weiß jeder, dass man Sie während Ihrer Schicht an den üblichen Plätzen findet. Aber unsere Krankenwärter beispielsweise können sich für allgemeinen Dienst oder für die strenge Beobachtung eines schwierigen Patienten eintragen, damit jeder sieht, dass sie beschäftigt und einer bestimmten Person zugeteilt sind.«
Er ergriff für mich einen Stift und tippte auf das Whiteboard. Sorgfältig schrieb ich meinen Vornamen an eine freie Stelle im Abschnitt für Pflegepersonal, dazu die Zeiten für Dienstantritt und Dienstende, zweimal denselben Wert – von sieben bis sieben. Dennis forderte mich auf, »Schattenpflegerin« in die Aufgabenspalte zu schreiben, also tat ich es und stellte mir dabei vor, ich sei eine geheimnisvolle, an Batman erinnernde Gestalt in dunkelgrauem Catsuit mit schwarzem Umhang und einem im Mondlicht funkelnden Stethoskop. Schattenpflegerin. Eine nützliche Vision, die mir zumindest die Illusion untadeliger Kompetenz verlieh, bis ich sie irgendwann einmal wirklich empfinden würde.
Dennis führte mich zu einem Lagerraum, musterte mich und meinte: »Definitiv Größe S.« Er zog einen Behälter aus einem Regal und reichte mir eine buttergelbe Krankenpflegerkluft.
»Die Damenumkleide ist da drüben«, erklärte er mir und zeigte auf eine Tür. »Dadrin finden Sie auch einen Korb für Schmutzwäsche. Von hier können Sie sich jeden Morgen eine frische Montur holen. Gelb für das Pflegepersonal und technische Mitarbeiter, grün für die Krankenwärter, blau für Führungskräfte und leitendes Gesocks wie mich. Dazu noch die klassischen weißen Kittel für die Ärzte und Therapeuten. Die Patienten auf dieser Station haben graue Sachen an. In anderen Programmen dürfen die Patienten ihre eigene Kleidung tragen, aber hier in Star behalten wir die ursprüngliche Kleiderordnung bei. Manche meinen, das sei deprimierend – und man käme sich vor wie in einem Gefängnis. Aber unsere Patienten benehmen sich dann am besten, wenn alles vorhersehbar ist – egalitär, wenn man so will –, und wir haben festgestellt, dass die einheitliche äußere Aufmachung dabei hilft.«
»Verstehe.«
»Bringen Sie ein eigenes Vorhängeschloss mit, falls Sie Wertgegenstände bei sich tragen. Aber keine Sorge, falls Sie heute keines dabeihaben. Wir sind alle zu müde, um groß was zu klauen.«
Ich besaß ohnehin nichts von Wert. Mein Handy war sechs Jahre alt, praktisch ein Ziegelstein, und ich trug keinen Schmuck. Sollte mir jemand den Autoschlüssel stehlen, würde derjenige damit einen Ford Tempo Baujahr 1993 erbeuten, der sich mittlerweile vor lauter Rost mehr orange als in seinem originalen Blaugrün präsentierte. Das Ding hatte schon Macken, als ich es in meinem vorletzten Jahr an der Highschool von meinem Onkel geerbt hatte, und die einzige Kraft, die den Wagen inzwischen noch zusammenhielt, war ein störrischer, freudloser Stolz der Marke made in Michigan. Die Rostlaube konnte der Dieb gerne haben.
Rasch zog ich mich um und kehrte zu Dennis in den Flur zurück.
»Jeden Morgen um zehn vor sieben haben wir im Aufenthaltsraum eine Übergabebesprechung«, fuhr Dennis mit seiner Unterweisung fort, als er mich nach einem weiteren Einsatz seiner Schlüsselkarte in ein Treppenhaus führte. Wir stiegen zwei Treppenfluchten nach oben, dann bogen wir nach links in einen Korridor, der unsere Schritte widerhallen ließ. »Das Personal der Nachtschicht klärt dabei die Tagesmannschaft über alles auf, was sich so getan hat. Am Abend läuft das gleiche Spiel andersrum. Dauert in der Regel höchstens um die fünf Minuten. Danach, um sieben, fangen wir an, die Patienten zu wecken.«
Mit einer Kombination aus neuerlicher Verwendung der Schlüsselkarte an einem Scanner und fingerfertiger Eingabe eines Codes an einem Tastenfeld ging Dennis in einen freundlicheren Flur voraus, auf beiden Seiten von hohen Fenstern gesäumt, durch die das noch schwache Licht der Morgensonne einfiel und den sauberen Linoleumboden zum Funkeln brachte. Noch einmal die Schlüsselkarte, ein weiterer Code, und wir befanden uns in einer Pflegepersonalstation mit einer Ladentheke und einem Fenster aus Drahtglas zur Ausgabe von Medikamenten, jeder Menge Regalen, die ordentliche Reihen von Kisten und Ausrüstung beherbergten, einem Spülbecken zum gründlichen Händewaschen und einem halben Dutzend Aktenschränken.
Die Kabine wies hinaus in einen schlichten Raum mit beigen Couchen und Stühlen sowie zwei großen Fenstern. Er wies eine hohe Decke auf und war gleichermaßen von Glühbirnen und Sonnenschein erhellt: ein Raum so quadratisch, zweckdienlich und unaufdringlich wie ein Salzcracker.
In diesem Aufenthaltsraum befand sich ein Patient im vorgeschriebenen Grau und lehnte mit einer Hüfte an einem tiefen Fensterbrett, die beeindruckenden Arme vor der genauso mächtigen Brust verschränkt. Er starrte über die Schulter durch das Glas in den Hof hinunter. Bei dem friedlichen Ausdruck in seinem Gesicht konnte man beinah meinen, er würde die weißen Gitter gar nicht bemerken, die seine Sicht durchkreuzten. An seinem kurz geschorenen Kopf prangten nur braune Stoppeln, und sogar aus gut sechs Metern Entfernung konnte ich die Narbe erkennen, die von hinter seinem Ohr bis hinunter zum Hals verlief. Mir kam er eher wie ein Häftling und nicht wie ein Patient vor; ein Gefängnisinsasse frisch zurückgekehrt von einer tüchtigen Schlägerei beim Hofgang. Nervös betrachtete ich das Glas des Fensters der Kabine für das Pflegepersonal. Plötzlich kamen mir Zweifel daran, wie unzerbrechlich es wirklich war. Himmel, wieso um alles in der Welt hatte ich bloß hier angeheuert?
Gehalt, erinnerte ich mich. Sozialversicherung. Leistungspunkte und Ausbildungszuschuss. Und eine kleine Miete,solange ich es aushielt, in der tristen kleinen Wohnung zu hausen, die man mir in der Übergangsunterkunft gleich auf der anderen Straßenseite angeboten hatte. Vorwiegend wurden dort Erwachsene untergebracht, die für Behandlungsprogramme in Larkhaven eingeschrieben waren oder gerade welche beendet hatten; ein erster Schritt hin zu einem wirklich unabhängigen Leben. Man hatte mir Fotos geschickt. Die Wände bestanden aus gestrichenem Waschbeton, der Platz war winzig, und ich würde mir ein Gemeinschaftsbadezimmer und eine Gemeinschaftsküche mit den anderen Bewohnern teilen müssen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde es sich viel zu sehr danach anfühlen, als würde ich nach Dienstschluss in dieser Station nach Hause in eine andere gehen.
»Sollte der nicht beaufsichtigt werden?«, raunte ich Dennis zu, starrte dabei auf den einsamen Patienten und versuchte zu erahnen, wie seine Diagnose lauten mochte.
Dennis lachte und ergriff ein Klemmbrett von einem Haken an der Wand. »Das ist kein Patient. Das ist Kelly.«
Ein Stirnrunzeln schlich sich in meine Züge, als ich die verschachtelten Fakten verarbeitete – er war also kein Patient, und er hatte einen Frauennamen.
»Kelly Robak. Wir nennen ihn den Krankenbändiger«, fuhr Dennis fort, während er sein Klemmbrett überflog. »Er kann einen Irren niederringen wie kein anderer. Natürlich haben wir für die Aufgabe lieber drei Männer zur Hand, aber zur Not schafft er es auch locker allein.«
»Zur Sedierung?«
Kelly nickte. »Deeskalation ist zwar immer am besten, aber wenn die nicht fruchtet, haben wir Kelly. Sie und er werden viel zusammenarbeiten.«
Ich beäugte meinen neuen Kollegen mit verhaltener Neugier, als mir klar wurde, dass irgendwann in der unbestimmten Zukunft Kelly Robak mit seinen muskulösen Armen und seinem rasierten Schädel vielleicht das Einzige sein würde, was zwischen mir und einem ausgewachsenen Mann in den Klauen eines gewalttätigen psychotischen Schubs stehen würde.
»Ich hoffe, er ist gut. Warum trägt er keine Krankenwärteraufmachung?«
»Er ist der Beste. So gut, dass wir ihn tragen lassen, was er will. Und er zieht das Grau vor, um auf gleicher Stufe mit den Patienten zu stehen. Ich wünschte, er würde sich endlich die Zulassung als Psychiatriehelfer besorgen, aber er scheint es zu bevorzugen, seine Rolle so minimalistisch wie möglich zu halten. Ich stelle Sie ihm vor.«
Dennis legte sein Klemmbrett auf den Schreibtisch und entriegelte mit einem Tippen seiner Schlüsselkarte die robuste Tür, die den Bereich des Pflegepersonals vom Aufenthaltsraum trennte. Hinter uns schloss er wieder ab. Das Geräusch, das die Tür dabei verursachte, klang solide, hart und souverän. Ein näherer Blick auf Kelly Robaks Körper ließ mich unwillkürlich an so ziemlich dieselben Eigenschaften denken.
»Kelly.«
Beim Klang seines Namens drehte er sich um, richtete sich auf und kam uns auf halbem Weg entgegen.
Aus der Nähe erkannte ich, dass es sich nicht um eine der grauen Uniformen handelte, sondern um persönliche Kleidung – dicke Leinenhose und T-Shirt. Letzteres ziemlich eng anliegend, wenngleich, wie ich vermutete, nicht aus modischen Gründen, sondern um seinen Schutzbefohlenen möglichst wenig zu bieten, woran sie Halt finden konnten. Dieselbe Strategie verfolgte er wohl mit seiner Frisur. Ich sah Narben auf seinem Kopf, kleine Striemen weißer Haut, wo das braune Haar nicht so dicht nachgewachsen war. Stammen die von Fingernägeln?, fragte ich mich. Oder waren das Hinterlassenschaften zerbrochener Flaschen bei Kneipenschlägereien in seiner Freizeit? Er sah mir nach dem Typ dafür aus, obwohl Aussehen natürlich gelegentlich trog.
»Kelly Robak, das ist Erin … tut mir leid, Erin. Mit Namen bin ich ein hoffnungsloser Fall.«
»Erin Coffey«, half ich ihm aus, und Dennis klatschte sich auf die Stirn, als wolle er sagen: Ach, ich Trottel.
Ich ergriff die Hand, die Kelly mir entgegenstreckte. Sein Arm glich einem mächtigen Python, seine gewaltige Pranke verschluckte meine kleinen zierlichen Finger geradezu. Zweimal schüttelte er sie fest und kollegial, und seine Wärme hielt noch lange an, nachdem er mich wieder losgelassen hatte. Ich rieb müßig über meine Knöchel und bemerkte blaue Flecke, die Kellys Arme zierten wie Farbtupfer, gelb, olivgrün und dunkelviolett.
»Unsere neue Krankenpflegerin«, fügte Dennis hinzu.
Kelly nickte. »Willkommen an Bord.« Seine Stimme passte zu einem Mann seiner Größe. Die Worte grollten tief und dunkel aus einer breiten Brust hervor. Neben ihm fühlte ich mich noch kleiner und verwundbarer, auf Hilfe angewiesen. Das waren keine Empfindungen, die mir gefielen, aber in Anbetracht unserer Beziehung schienen sie irgendwie unerlässlich. Immerhin würde mich dieser Mann vor körperlichem – wenn auch nicht vor emotionalem – Schaden bewahren, sollte diese Arbeit tatsächlich versuchen, mich zu brechen. Es behagte mir zwar gar nicht, mich auf Männer verlassen zu müssen, doch angesichts des Umfelds konnte ich mich mit Zugeständnissen abfinden.
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich.
Eine Krankenpflegerin traf ein, gefolgt von zwei Krankenwärtern in minzgrünen Kitteln, beide mit Pappbechern voll Kaffee.
Für mich sah alles wie eine Waffe aus – Stifte zum Zustechen, heiße Getränke zum Verbrühen, Schnüre zum Erdrosseln, und so gut wie alles Sonstige stellte brauchbare Wurfgeschosse dar. Die Neuankömmlinge jedoch wirkten bestenfalls gelangweilt. Ich wurde ihnen vorgestellt und umgekehrt. Ihre Namen gingen mir zu einem Ohr rein und beim anderen sofort wieder raus, so beschäftigt war ich damit, über den gewaltigen Fehler nachzugrübeln, den ich zweifellos gerade beging.
Nein. Kein Fehler. Bloß eine Herausforderung. Mit Schulung und Geduld konnte ich es schaffen.
Eine weitere Krankenpflegerin, der es irgendwie gelang, zugleich gestresst und müde auszusehen, kam in Begleitung eines Arztes in einem weißen Kittel an, dann folgten zunächst noch ein Arzt und zwei frischer wirkende Gesichter, die wohl erst zum Dienst antraten, beide Krankenwärter. Auch ihre Namen vergaß ich allesamt sofort wieder.
Der ältere der beiden Ärzte leitete die kurze Besprechung, die im Stehen stattfand. Die meisten Anwesenden hielten sich dabei an Klemmbrettern und Kaffee fest. Mir fielen die festgeschraubten Halterungen auf, die sowohl die Lehnsessel als auch die Sofas am Boden fixierten und verhinderten, dass man sie zu einem behaglichen Sitzkreis zusammenschieben konnte. Die Ärzte gingen ihre Notizen über die letzten Einzel- und Gruppentherapiesitzungen durch, anschließend steuerten die leitenden Krankenpflegerinnen ihr Scherflein bei, und schließlich durften das Hilfspersonal und die Krankenwärter um Klarstellung ersuchen oder ihre eigenen Gedanken über die Patienten preisgeben.
Kelly Robak hatte kein Klemmbrett und schrieb nichts mit – bei seiner Tätigkeit schienen Dosierungen und exakte Zeiten eine weniger bedeutende Rolle zu spielen als bei den meisten anderen. Schließlich klärten die Nachtschichtler Kelly, die anderen Tagschichtler und mich über »Zwischenfälle« auf, die sich während ihrer Schicht ereignet hatten. Die Namen der Patienten sagten mir natürlich nichts, und mein ungebärdiges Gehirn filterte wenig hilfreich nur die Worte heraus, die meine Ängste bestätigten. Anfall, aggressiv, Schub, aufgewühlt. Und dabei wurde von Männern geredet, in deren Hinterteile ich Beruhigungsmittel injizieren würde. Keine Aufgabe, die das Potenzial erwarten ließ, mich bei ihnen beliebt zu machen.
»Wie war’s mit Don?«, fragte Kelly die Leute von der Nachtschicht.
Eine fleischige Psychiatriehelferin mit Augenbrauen, die zu zierlichen Strichen gezupft waren und dauerhafte Verärgerung auszudrücken schienen, zuckte mit den Schultern. »Ruhig. Aber er hat um neun eine Dosis bekommen. Davor war er sein übliches überschäumendes Ich. Bestimmt spart er sich seine Energien eigens für dich auf, Kel.«
Kelly nickte mit vollkommen neutralem Gesichtsausdruck. Im Verlauf der Besprechung schaute ich ihn immer wieder verstohlen an.
Seine hellen Regenbogenhäute wiesen einen dunklen Ring auf, grau wie seine selbst gewählte Uniform – beinah so, als hielte er sich vorsätzlich mit Farben zurück, um diesen Ort nicht in etwas anderes zu verwandeln als die triste Festung, die er war. Klare Augen, hübsch und kalt wie Eis. Hübsche Augen, hübscher Name, hässliche Narben und hässliche blaue Flecke an den Armen, die er wieder vor der Brust verschränkte.
Und ein goldener Ehering an der linken Hand.
Müßig überlegte ich, wie Mrs Robak wohl sein mochte – und ob es ihr gefiel, sich gelegentlich von ihrem hünenhaften Ehemann niederringen zu lassen, bis sie sich ihm unterwarf.
Schließlich endete die Besprechung, und urplötzlich begann mein Tagewerk. Dennis stellte mich noch einmal einer leitenden Pflegerin namens Jenny vor – eine kräftige Dame beginnenden mittleren Alters mit strengen blonden Zöpfen wie eine Milchmagd und Wangen, die durch Rosazea den Eindruck vermittelten, als wäre sie dauerhaft verlegen. Sie sprach ziemlich schnell. Ich merkte auf Anhieb, dass ihre Geduld enge Grenzen hatte, und ich verspürte keine Lust, jemals genug Mist zu bauen, um sie auszuloten. Die ersten paar Tage sollte ich ihr wie ein Schatten folgen, um mich an die Routinen der Station zu gewöhnen. Routinen waren in dieser Art der Pflege das Ein und Alles, das hatte ich in der Schule immer und immer wieder zu hören bekommen.
»Routinen sind ein Versprechen, das wir halten müssen«, klärte mich auch Jenny auf, während sie Dosierbecher an der Ausgabe der Pflegerinnenkabine vorbereitete. Und da Ärzte, Pflegepersonal, Psychiatriehelfer und Krankenwärter alle in gestaffelten Schichten arbeiteten, kam es einer Einladung zu blankem Chaos gleich, vom Rhythmus der Station abzuweichen. »In der Sekunde, in der wir die Versprechen brechen, die unsere Stationsregeln den Patienten geben, stehen wir wieder ganz am Anfang. Vor allem bei den paranoiden Fällen.«
Die Patienten mussten baden – oder gebadet werden, je nachdem, wie klar ihr Verstand am jeweiligen Morgen war –, sich mit Einzelklingenrasierern unter außerordentlich strenger Aufsicht der jeweils diensthabenden Krankenbändiger rasieren und anziehen, bevor sie ein Stockwerk tiefer in den Speisesaal geführt wurden.
In der geschlossenen Einheit S3 hatten wir fünfzehn männliche Insassen, hinzu kamen eine Handvoll Frauen im zweiten Stock des Star-Gebäudes. Die meisten trafen mitten in einem schweren psychotischen Schub oder einer Suchtkrise – oder einer Kombination von beidem – ein, und man ging nicht davon aus, dass sie lange bleiben mussten, bevor man sie in weniger strikte Behandlungsprogramme, andere Einrichtungen oder zurück nach Hause zu ihren Familien entlassen konnte.
Von den fünfzehn Männern auf meiner Station litten neun unter potenziell gefährlichen Störungen und waren anfällig für verbale und physische Gewaltausbrüche. Im Gegensatz zum verbreiteten allgemeinen Glauben verkörperten die meisten Menschen, die an schweren psychischen Störungen litten, nur eine Gefahr für sich selbst, wenn überhaupt für jemanden. Unsere Einrichtung jedoch hatte sich auf die Minderheit von Patienten spezialisiert, die Anflügen von schwerer Paranoia und den damit einhergehenden Wutausbrüchen unterlagen. Wenn sie durchdrehten, dann mit der Inbrunst von jemandem, dessen Leben in Gefahr schwebt, denn in ihrer geistigen Vorstellung tat es das auch.
Der Morgen verlief ruhig, was Jenny zufolge die Regel war. Die Patienten hatten eine halbe Stunde, um zu frühstücken und sich an der Ausgabestation des Pflegepersonals anzustellen, um sich ihre kleinen Plastikbecher mit Tabletten zu holen. Einige zeigten sich mürrisch, ein paar freundlich, andere schienen vollkommen apathisch. Mindestens fünf verlangten in unterschiedlich argwöhnischem Tonfall zu erfahren, wer ich sei, und irgendwie merkte ich mir ihre Namen wesentlich leichter als die meiner Kollegen.
Carl. Sechsunddreißig Jahre alt. »Paranoide Schizophrenie«, teilte mir das Klemmbrett mit, auf das ich schaute, während ich Jenny mit den Medikamenten half. Er wirkte fröhlich, besaß einen scharfen Blick und ein irgendwie allzu beflissenes Lächeln.
John B. Dreiundvierzig, sah aber aus, als ginge er bereits hart auf die sechzig zu, mit einer kratzigen Kettenraucherstimme. Er litt unter einem posttraumatischen Belastungstrauma, gepaart mit einer bipolaren Störung, und nachdem er gegangen war, verriet mir Jenny, dass er oft um sich schlagend aufwachte, wobei er dann den Namen seines Bruders brüllte.
Lonnie. Einundsechzig, ein weiterer Schizophreniepatient. Lonnie war ein Plappermaul und bewegte sich mit schnellen, abgehackten, vogelähnlichen Zuckungen, die jede Geste betonten; ein Effekt, der so gar nicht zu seiner teigigen Gestalt passte. Er trug eine dicke Brille, die am Kopf mit einem Sportriemen befestigt war, der seine krausen ergrauenden Haare in zwei Wuschel teilte.
Der Mann, nach dem sich Kelly bei der morgendlichen Besprechung erkundigt hatte – Don –, erwies sich als mollig, blass und so putzmunter, wie man es von einem Mann mittleren Alters um sieben Uhr dreißig in der Früh erwarten konnte. Ich wollte von Jenny wissen, weshalb Kelly ausgerechnet nach ihm gefragt hatte.
»Don und Kelly haben eine … spezielle Beziehung. Wenn Don einen psychotischen Schub hat, ist Kelly der Einzige, der je in der Lage zu sein scheint, ihn zu beruhigen, ohne ihm einen Kinnhaken zu verpassen.«
»Was macht er denn?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nichts Außergewöhnliches. Nichts, was nicht jeder Krankenwärter tun würde. Aber Kelly strahlt eine ganz bestimmte Ruhe aus. Wie eine Mauer. Gegen einen Mann kann man kämpfen und vielleicht auch gewinnen, gegen eine Mauer nicht.«
»Wie oft treten Dons Schübe auf?«
»Einen heftigen hat er zweimal, vielleicht dreimal die Woche, fast immer am frühen Nachmittag. Kelly weicht ihm zwischen dem Mittagessen und ungefähr vier Uhr nachmittags nicht von der Seite, und allein das Wissen, dass er da ist, scheint Don unter Kontrolle zu halten. Ich glaube, Kelly ist so eine Art Trost für ihn. Manche Menschen haben gern eine Mauer neben sich, vor allem paranoide Menschen. Das ist etwas, woran sie sich anlehnen können. Es gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit im Rücken.«
Die Schichten von gewöhnlichen Krankenpflegerinnen, Psychiatriehelfern und Krankenwärtern waren lang und unregelmäßig. Meine Schichten dauerten immer von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends, zwei Tage hintereinander Dienst, dann dazwischen einen oder zwei Tage frei. In der einen Woche sollte ich am Montag, Dienstag, Donnerstag, Freitag und Samstag arbeiten, in der nächsten nur am Dienstag, Mittwoch und Samstag. Dazu noch Sonntage nach einem wechselnden Monatsplan.
Nach sechs Jahren mit einer außerordentlich starren täglichen Routine fand ich das alles zugleich verwirrend und geradezu luxuriös. Wochenenden?Was ist das?, hatte es früher geheißen. Und plötzlich würde ich in manchen Wochen vier ganze Tage für mich allein haben? Da würde ich mir glatt so etwas wie ein Sozialleben zulegen müssen. Was immer das sein mochte.
»Wie geht es Don an den Tagen, an denen Kelly freihat?«
»Schlechter«, antwortete Jenny mit Melancholie in der Stimme. »Aber was soll man machen?«
Einige der Patienten blieben im Aufenthaltsraum, nachdem sie ihre Medikamente eingenommen hatten, und plauschten in kleinen Gruppen oder starrten durch die Fenster hinaus, die meisten jedoch verschwanden letztlich den Flur hinunter – zu einem Freizeitraum, wie mir erklärt wurde.
Im Freizeitraum gab es einen unter der Decke in einer Ecke montierten Fernseher. Es lief gerade eine Gameshow, als Jenny mich dorthin führte, nachdem wir den Papierkram nach der Medikamentenverteilung erledigt hatten. Unter dem Fernseher stand ein Regal mit Büchern und einer überschaubaren Auswahl von Brettspielen. Kein Monopoly, kein Cribbage-Brett. Nichts mit scharfkantigen Metallteilen – und im Wesentlichen auch nichts, das einen Stift erforderte, um den Punktestand zu notieren. Da blieb nicht viel übrig.
»Aber ein Mangel an Auswahl ist besser als ein winziges Metallmesser ins Auge davonzutragen«, meinte Jenny zu mir, womit sie mich zweifellos dazu verurteilte, künftig jedes Mal tränende Augen zu bekommen, wenn ich mit dem Gedanken liebäugelte, wieder einmal Cluedo zu spielen.
Kelly war unterwegs gewesen, um im Unterkunftstrakt der Patienten seine Wärterrunden zu drehen, aber gegen Ende der Frühstückszeit tauchte er im Speisesaal auf und begleitete einen älteren Mann, der sich langsam bewegte und den ich bei der morgendlichen Medikamentenausgabe nicht kennengelernt hatte. Wieder verwechselte ich Kelly auf den ersten Blick wegen seines hellgrauen T-Shirts und der gleichfarbigen Hose mit einem Patienten.
Die beiden hätten Vater und Sohn bei einem freundschaftlichen Gespräch sein können, abgesehen davon, wie die Hände und Ellbogen des Mannes durch die Luft zuckten, während er sprach. Das war ein wenig … abseits der Norm. Nur eine Winzigkeit manisch, wenn man wusste, worauf man achten musste. Kelly führte ihn zu einem Tisch, dann fing er an, am Rand des Raums zu patrouillieren, indem er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen auf und ab lief. Ich fand, es war mehr als diese Geste von Zurückhaltung nötig, um einen Schlägertyp wie ihn nicht bedrohlich erscheinen zu lassen, aber er wirkte genauso ruhig wie wachsam.
Wir befanden uns in einer kurzen Ruhezeit vor dem Beginn der verschiedenen vormittäglichen Therapiesitzungen und Beratungsgruppen, eine von wenigen unstrukturierten Phasen, die dem »sozialen« Umgang dienten und sich über den Tag verteilt ergaben. Kelly drehte seine Runden wie ein umherstreifendes Raubtier – flüssige Bewegungen, lautlos, aufmerksam. Seinem scharfen, alles erfassenden Blick schien nichts zu entgehen, ohne dass er das geringste Zeichen von Hektik ausstrahlte. Da waren keinerlei plötzliche Bewegungen, und ich konnte allmählich nachvollziehen, was Jenny gemeint hatte: Er glich tatsächlich einer undurchdringlichen, unüberwindbaren Gegenwart, grau und riesig und unverrückbar. Beruhigend für alle im Raum. Insbesondere für mich selbst.
Zwischen zeitweiligen Verwaltungstätigkeiten und der nächsten Medikamentenausgabe gab es reichlich langweilige Phasen, und ich verbrachte viel von dieser Zeit – zu viel – damit, Kelly Robak zu beobachten. Er versah allgemeinen Dienst und spielte während der Pause vor dem Mittagessen Uno mit zwei Patienten, bis einer von ihnen unruhig wurde. Eine ganz und gar normale Szene schlug unvermittelt in eine Krise um.
»Jetzt geht’s wieder los«, sagte Jenny und erhob sich neben mir. Ich folgte ihr in die kleine Pflegepersonalkabine im Freizeitraum, wo sie mit verblüffender Geschwindigkeit eine Beruhigungsspritze vorbereitete.
Jenseits der Scheiben der Kabine war der wütende Patient mittlerweile auf den Beinen, genau wie Kelly. Der Krankenwärter lauschte geduldig dem zornigen Schwall von Gift und Galle, der plötzlich aus dem älteren Mann hervorsprudelte, und nickte dazu, die muskulösen Arme zurückhaltend vor der Brust verschränkt. Während mein Körper vor Adrenalin geradezu vibrierte, wirkte der seine entschieden ruhig.
»Rote Karten!«, brüllte der Mann. »Sechs rote Karten hintereinander! Sechs, sechs, sechs! Rot wie der Teufel! Er verführt mich zur Sünde!« Damit zeigte er auf den anderen Patienten, mit dem er gespielt hatte. Der solchermaßen Beschuldigte wirkte dermaßen apathisch, dass er aussah, als könne er jeden Moment wegdösen, was seinen Mitpatienten nur noch mehr in Rage versetzte. Er wollte ihn gerade angreifen, da drehte ihm Kelly blitzschnell die Arme auf den Rücken und hielt ihn fest, während zwei weitere Krankenwärter angerannt kamen. Der Patient trat aus, versetzte dem Tisch einen Stoß, und ein Stapel von Karten verteilte sich fächerförmig über die Holzplatte. Innerhalb von Sekunden hatten die Wärter den Mann mit dem Bauch voraus auf dem Boden. Je ein Mann sicherte seine Arme, ein weiterer fixierte die Beine. Ich eilte mit pochendem Herzen hinter Jenny her aus der Kabine.
»Hose«, befahl sie mir, und ich zog benommen, ohne zu denken und mechanisch wie ein Roboter, die Gummibänder der Hose und Unterhose des Patienten runter, damit Jenny ihm eine Injektion in die Pobacke verabreichen konnte.
Und einfach so hatte ich an meiner ersten Sicherung und Sedierung mitgewirkt.
Es war alles so schnell gegangen hatte, dass mir keine Zeit geblieben war, meine Angst als etwas anderes als ein jähes Durcheinander der Körperchemie wahrzunehmen. Danach fühlte ich mich ein wenig benommen, aber zu wissen, dass ich ein Grundgerüst an Instinkten besaß, empfand ich als unvorstellbare Erleichterung. Zittrig, aber stolz rappelte ich mich auf die Beine. Ich fühlte mich als Bestandteil des Teams.
»Gut gemacht«, lobte mich Jenny, sobald sich der Patient wieder beruhigt hatte.
»Danke.«
Zurück in der Kabine schrieb sie eine Anmerkung auf ein Klemmbrett. »Dennis hat gesagt, das ist Ihre erste Erfahrung mit Psychiatriepatienten.«
»In gewisser Weise. Ich habe sechs Jahre lang bei meiner Großmutter gewohnt und sie gepflegt. Sie hatte Demenz. Aber ich habe keine praktische Erfahrung mit … Sie wissen schon. Mit nichts so Intensivem.« Nichts so Gefährlichem.
»Ehrgeizig«, befand sie und kritzelte weiter.
»Ehrgeizig« war nicht ganz das richtige Wort. Diese Stelle war vielmehr die einzige gewesen, die ich im Umkreis einer Autostunde von Amber hatte finden können. Eigentlich hätte ich viel lieber in einem Pflegeheim gearbeitet, aber ich glaubte nicht, dass ich mir einen Gefallen damit täte, Jenny anzuvertrauen, dass ich aus reiner Verzweiflung hier gelandet war.
»Ich habe im Dienstplan gesehen, dass Sie die nächsten drei Tage Sicherungsschulung haben«, sagte sie.
»Ja.« Und ich konnte ums Verrecken nicht entscheiden, ob ich mich darüber freuen sollte oder nicht. Hier ging es beim Begriff »Sichern« darum, einen Patienten niederzuringen, um ihm ein Beruhigungsmittel zu verabreichen, nicht um ein Sichern in dem Sinn, dass man ihn am Bett festzurrte. Natürlich war es unerlässlich, den Ablauf für den Fall eines Gewaltausbruchs zu beherrschen, doch mir bereitete Sorgen, dass sich die Gefahr für mich nach Abschluss des Kurses umso akuter anfühlen würde. Außerdem würde die Schulung einiges von meinen freien Tagen – Mittwoch und Donnerstag – beanspruchen, Zeit, die ich gut hätte gebrauchen können, um all die Veränderungen zu verarbeiten, meine Sachen auszupacken und die neue Ortschaft zu erkunden.
»Die Schulungen finden normalerweise im Turnsaal im Schwirl-Gebäude statt. Sie sind die einzige neue Angestellte von unserer Station, die daran teilnimmt, aber Kelly hilft bei der Schulung, also werden Sie dort wenigstens ein vertrautes Gesicht sehen.«
Als ob ich irgendjemandes Gesicht schon als vertraut bezeichnen konnte. Und als ob ich mich würde entspannen können, während ich die Stunden zu dem Moment herunterzählte, in dem der weit über eins achtzig große Kelly Robak höchstwahrscheinlich so tun würde, als griffe er mich an. Bei der Vorstellung seiner muskulösen, um meinen Hals geschlungenen Arme regte sich unverhofft etwas im südlichen Teil meiner Weiblichkeit.
Oh, du meine Güte. Das fühlte sich aber nicht richtig an.
Kelly Robak entsprach so überhauptnicht meinem Typ. Er war zu groß, zu übersät von blauen Flecken und viel zu verheiratet – einfach zu viel von allem. Am beunruhigendsten fand ich, dass er schrecklich nach Ambers Typ aussah, was bedeutete, dass ich bereits Jahre damit verbracht hatte, einen Groll gegen seinesgleichen aufzubauen.
Und dennoch zog er meinen Blick wie magisch quer durch den Freizeitraum an, indem er den einen oder anderen geradezu unanständig ausgeprägten Muskel in seinem Unterarm anspannte, als er nach oben griff, um am Fernseher den Kanal umzuschalten. Wie ich mein Glück kannte, würde ich in seinem veranschaulichenden Würgegriff bei der Schulung einen Krampfanfall bekommen, ohnmächtig werden und mich damit als der Neuling outen, der ich war. Obwohl ich mir vielleicht eher darüber Sorgen machen sollte, dass bei der Schulung irgendein sexueller Schraubenschlüssel meine Vernunft abdrehte und sich mein Körper danach weigern könnte, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Auf jeden Fall entschieden alle logischen nördlichen Regionen meines Wesens, dass die Sicherungsschulung etwas darstellte, das es zu fürchten galt.
***
Nach dem vormittäglichen Durchhänger kam Schwung in den Tagesablauf. Zur Mittagszeit musste die Ausgabe weiterer Medikamente organisiert werden, danach ging Jenny in den verschiedenen Pflegerinnenstationen das Inventar mit mir durch, eine ziemlich langatmige Geschichte. Nach dem Uno-Debakel gab es keine weiteren Zwischenfälle, und bis zum späten Nachmittag hatte ich mir die meisten Patienten sowie deren Diagnosen und Behandlungspläne auf einem mentalen Spickzettel notiert, nachdem ich mehrere Stunden lang ihre Akten studiert hatte.
Die Krankheitsverläufe und Dosierungen ihrer Medikamente herunterleiern zu können, bedeutete jedoch nicht einmal annähernd, dass ich eine Beziehung zu ihnen aufbaute, und als das Abendessen begann, schlug mir Jenny vor, zusammen mit ihr und den Patienten im Speisesaal zu essen. Zu Mittag hatte ich lediglich eine Banane gemümmelt, weil ich so mit Bürokram beschäftigt gewesen war, und so genügte allein das Versprechen einer Mahlzeit im Sitzen, um mich restlos zu überzeugen.
Schon seit dem Frühstück hatte ich mehrmals murmeln gehört, dass »Pizza-Tag« sei, und mittlerweile konnte ich die Bestätigung riechen. Ambrosia. Ich folgte Jenny, und wir stellten uns zusammen mit Patienten und anderem Personal an der Ausgabetheke in der S3-Cafeteria an. Ich nahm mir zwei Stück Käse-Pizza und ein Wurzelbier, bevor ich Jenny zu einem von mehreren großen, runden Tischen folgte. Nicht weit entfernt erblickte ich Kelly Robak, der mit einer anderen Gruppe von Patienten aß, eine Runde von grau in grau. Er hatte sich einen Sitz ausgesucht, von dem aus er den gesamten Raum im Blickfeld hatte, und ich wäre bereit gewesen, zu wetten, dass es sich dabei nicht um Zufall handelte.
»Haben schon alle unsere neue Krankenpflegerin Erin kennengelernt?«, fragte Jenny vergnügt und ließ den Blick an unserem Tisch über die Runde wandern.
Die bestand aus drei Patienten sowie einem Psychiatriehelfer, und ich prüfte mich selbst, indem ich aus dem Gedächtnis ihre Namen und ihre Verfassung abrief. Lonnie und Carl, beide schizophren, und Les, ein trügerisch fröhlicher Soziopath, der schon drei Gefängnisaufenthalte wegen Brandstiftung hinter sich hatte. An ihn erinnerte ich mich am leichtesten, weil ich für ihn auf die vollkommen unprofessionelle Eselsbrücke »Bei Les ist es gesünder, man gibt ihm keine Zünder!« gekommen war, als ich mein Patientenwissen zuvor selbst überprüft hatte.
Die drei Männer murmelten eine Begrüßung, und Jenny nickte in Richtung eines Sitzes zwischen Lonnie und Les, während sie ihr eigenes Tablett zur anderen Seite des Tisches trug.
Die Unterhaltung setzte wieder ein, was bedeutete, dass Lonnie und Carl ihr Streitgespräch fortsetzten. Menschen, die unter paranoider Schizophrenie leiden, neigen mitunter zu so etwas, und beide Männer kamen ziemlich selbstgerecht rüber. Soweit ich es mir zusammenreimen konnte, beharrte Lonnie darauf, das Militär hätte ihn in die Station eingeschleust und könnte jeden Tag kommen, um sich die von ihm gewonnenen Erkenntnisse zu holen. Jenny hatte mir zuvor erzählt, dass er das verkörperte, was das Personal im Star-Gebäude gerne als »Durchbrecher« bezeichnete, was bedeutete, dass seine Krankheit besonders ausgeprägt war und häufig die von seinen Medikamenten geschaffene Blase zivilisierten Verhaltens »durchbrach«. Carl schien von der Vorstellung, dass sie einen Regierungsagenten in ihrer Mitte hatten, und von Lonnies aufgeblasenem Gebaren gleichermaßen genervt zu sein. Er schnitt schon seit einer Weile abwesend mit einem Plastikmesser an seinem Pizzastück herum, so lange schon, dass er den Anschein erweckte, sich durch das Tablett sägen zu wollen. Ich warf verstohlen einen Blick in Kellys Richtung und wünschte plötzlich, er säße an meinem Tisch.
Jenny versuchte es mit einem Themawechsel. »Ich frage mich, welchen Film sie heute Abend im Freizeitraum wohl zeigen.«
Carl ließ sein Messer fallen und warf ihr einen herablassenden Blick zu. »Wir haben Montag. An Montagen sehen wir uns die Musikshow an. Wir sehen uns an Montagen immer die Musikshow an.«
Lonnie hörte nicht zu. Er musterte mich eindringlich, als ich meinen Strohhalm aus der Verpackung befreite. Dicke Linsen vergrößerten seine haselnussbraunen zusammengekniffenen Augen, deren Blick über meine Hände und mein Gesicht zu dem glänzenden neuen Lichtbildausweis an meiner Montur wanderte.
»Gefällt Ihnen die Musikshow?«, wollte Carl in ernstem Tonfall von mir wissen.
»Ich glaube, die kenne ich nicht. Vielleicht sehe ich sie mir später an.« In meiner Wohnung gab es einen Fernseher. Was immer das für eine Sendung sein mochte, ich konnte sie mir ansehen und würde am nächsten Tag etwas haben, worüber ich mich mit ihm unterhalten konnte.
»Ich weiß, was ihr gefällt«, murmelte Lonnie in trägem, abfälligem, unheimlichem Tonfall, laut genug, dass es die meisten am Tisch hörten.
Ich biss ein Stück von meiner Pizza ab und ignorierte seinen Versuch, mich aus der Fassung zu bringen. Er wollte bloß die Neue auf die Probe stellen. Schluck den Köder bloß nicht. »Gefällt Ihnen denn die Musikshow?«, fragte ich ihn höflich.
Lonnie stand so schnell auf, dass sein Stuhl umkippte. Er packte eine Pizzakruste, stieß sie in Richtung meines Gesichts und brüllte: »Dir wird das hier gefallen, sobald ich’s dir in die Fotze ramme!«
Schlagartig wurde der Raum zweidimensional. Panik drosselte alles um mich herum auf geräuschlose Zeitlupe. Als befände ich mich plötzlich unter Wasser. Ich hechtete zur Seite und ruderte eine Sekunde lang mit den Armen, was sich für mich anfühlte, als schwimme ich eine geschlagene Stunde. Meine Handflächen landeten auf glatten kalten Bodenfliesen, und über mir stürmten raschelnd Beine vorbei – Krankenwärter, die auf Lonnie zueilten, um ihn zu sichern.
Die Geräusche setzten wieder ein. Jemand half mir auf die Beine. Lonnie lag auf dem Boden, das Gesicht in meine Richtung gedrückt, den wirren Blick auf meine Augen geheftet. Ein Wärter hielt seine Fußgelenke fest, während Kelly Robak rittlings auf seiner Hüfte kauerte und ihm die Arme niederdrückte.
»Sie ist eine Spionin!«, brüllte Lonnie. »Vertraut ihr nicht!«
Jenny musste zur nächstgelegenen Pflegerinnenstation gerannt sein und eine Spritze aufgezogen haben, denn sie kehrte im Laufschritt zurück, um ihm die Nadel ins Hinterteil zu jagen. »Das wird dich beruhigen, Lon.«
»Spionin!«, kreischte er, und seine Augen schleuderten mir durch die verrutschte Brille blanken Hass entgegen. »Miststück von einer Spionin! Der Rat hat sie geschickt!«
Die Spritze zeigte innerhalb weniger Atemzüge Wirkung, und der Blick von Lonnies wilden Augen wurde unter schweren Lidern trüb. Ich beobachtete, wie er benommen blinzelte. Mir erschien immer noch alles zweidimensional, als würde es sich auf einem Fernsehbildschirm abspielen, glasig und surreal.
Eine Psychiatriehelferin massierte mir den Rücken und sagte etwas Beruhigendes. Ebenso gut hätte sie mit einem Kleiderständer reden können.
Langsam hob sich die Taubheit von mir, und ich fühlte meinen Körper auf eine beängstigende Weise. Mein Herz hatte noch nie so wild geschlagen, und ein Pulsieren ging durch meinen Schädel, durch meine Augen, ja sogar durch meine Knochen. Ich wusste, dass sich meine Brust so heftig heben und senken musste, dass es wahrscheinlich aussah, als bearbeite mich jemand mit einem unsichtbaren Defibrillator, aber dieser Gedanke war theoretischer Natur. Der gesamte Raum kam mir wie eine Theorie vor, denn ich konnte nur zu Boden starren, während das Blut und meine Atmung in Schüben durch mich hindurch rauschten.
Jennys Hand auf meinem Arm. Sie sagte etwas zu mir. Ich wurde zur Pflegerinnenstation geführt und auf einen Stuhl gesetzt. Meine Hand wurde um eine weiße Papiertüte gelegt, die jemand an meinem Mund hob. Ich schnaufte hinein. Bald hatte ich wieder genug Kontrolle über meine Augen, um zu blinzeln und den Blick durch den Raum wandern zu lassen. Ich spürte meine Finger und die Zehen, meine kribbelnden Wangen, die Polsterung des Stuhls unter meinem Hintern.
»Na also, es wird wieder«, sagte Jenny. »Machen Sie weiter so.«
Nach einer weiteren Minute beruhigte sich mein Keuchen, und die Gedanken wurden klarer. Als sich der Nebel in meinem Verstand lichtete, enthüllte er dabei heftige Kopfschmerzen. »Tut mir leid«, stieß ich hervor. Es ertönte dünn und zu hoch.
»Hyperventilation zu behandeln ist im Vergleich zu dem, woran ich gewöhnt bin, geradezu ein Vergnügen.« Sie stand auf und gab mir einen leichten beiläufigen Klaps auf den Rücken. »Bleiben Sie noch ein bisschen sitzen. Oder eigentlich …« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Ihre Schicht ist in zwanzig Minuten vorbei. Warum gehen Sie nicht mit Ihren Unterlagen runter ins Anmeldezimmer, genehmigen sich eine Cola und lassen sich Zeit mit den Formularen? Machen Sie sich keine Gedanken wegen der abendlichen Übergabe. Ich denke, für Ihren ersten Tag hatten Sie genug Aufregung.«
So erleichternd ich ihr Angebot fand, ich fühlte mich, als hätte ich versagt, und kam mir wie ein Feigling vor, als ich mein Klemmbrett ergriff. Ich glaubte, jedermanns Blick im Rücken zu spüren, als ich mich auf die Treppe zuschleppte, und ich konnte förmlich hören, wie die Anwesenden dachten: Tja, die ist fertig. Und wieder eine weniger. Tränen brannten mir in den Augen, und ich konnte spüren, dass ich rot anlief … sofern ich nicht ohnehin infolge der Panikattacke rot wie ein Puter war.
Ich besorgte mir eine Limonade vom Verkaufsautomaten, setzte mich an den Tisch und drückte mir das kalte Aluminium gegen die lodernden Wangen, bevor ich die Dose aufriss.
So niedergeschlagen und nutzlos hatte ich mich schon ewig nicht mehr gefühlt; nicht seit den frühen Hürden bei der Pflege meiner Großmutter. Noch nicht einmal physisch von einem Patienten berührt, war ich trotzdem zusammengebrochen. Ich schüttelte den Kopf, und eine einsame Träne löste sich. Seufzend wischte ich sie mit dem Handgelenk weg.
Mein Leben lang war ich diejenige gewesen, die alles zusammengehalten hatte. Wie Grace aus der gleichnamigen Fernsehserie. Ich konnte mich nicht erinnern, mich je zuvor so verloren gefühlt zu haben, so nackt, der Fassade jeglicher Kompetenz beraubt.
Der Papierkram half ein wenig. Für das Ausfüllen der Formulare musste ich in klinischen Einzelheiten schildern, was sich zugetragen hatte. Ich musste Lonnies Anfall in unpersönliche Begriffe kleiden und gewann dadurch Abstand zum Geschehen. Obwohl mir der Vergleich gefühllos erschien, sagte ich mir, dass dieser Vorfall nicht persönlicher war, als wenn ein wütender Hund nach mir geschnappt hätte. Ich war lediglich das am wenigsten vertraute Gesicht im Raum für ihn gewesen. Vielleicht hatte er auch meine Angst gewittert.
Es wäre wohl am besten, wenn ich aufhörte, über Patienten so zu denken, als gehörten sie einer anderen Spezies an. Ich hatte mir ja auch nie gestattet, so über meine Großmutter zu denken, und diese Männer verkörperten allesamt ebenfalls irgendjemandes Angehörige, waren jemandes Sohn oder Vater oder Bruder oder Geliebter. Bei der Vorstellung fühlte ich mich erschöpfter denn je zuvor.
Obwohl ich mittlerweile nicht mehr zitterte, war meine Handschrift kaum leserlich, und es bereitete mir erhebliche Mühe, sinnvolle Worte aneinanderzureihen. Ein frustriertes Schluchzen stieg in mir auf. Ich drängte es zurück, weil ich wusste, dass jeden Moment andere Mitarbeiter auftauchen konnten, um sich ein- oder auszutragen. Bei dem Gedanken setzte ich mich aufrechter hin und versuchte, fleißig auszusehen. Sieh einer an – die hat sich aber richtig schnell von dem Schrecken erholt. Es schien mir den Versuch wert zu sein, diesen Eindruck zu erwecken.
Schließlich wurde ich mit meinem Zwischenfallbericht fertig; drei Seiten, angesichts derer ich mich verausgabt wie nach einem Triathlon fühlte. Ich stand auf, um meine leere Dose in den Recyclingeimer zu werfen, dann entfuhr mir ein kurzer spitzer Aufschrei, als ich mich umdrehte und ein riesiger Körper an der Schwelle auftauchte. Aber es war nicht der klingenschwingende Irre, den mein Gehirn anscheinend erwartet hatte, sondern nur Kelly Robak. Durch seine Größe und allgemeine Anrüchigkeit wirkte er genauso beängstigend, war in Wirklichkeit aber unbewaffnet und so gelassen wie immer.
Unwillkürlich hatte ich die Hand an die Brust hochgerissen wie eine alte Dame, der von Tunichtguten aufgelauert wird. Hastig ließ ich sie sinken. So viel zu meinem Versuch, cool und gefasst zu wirken.
»Hey«, sagte Kelly. Er wischte seinen Namen mit einem geradezu unmöglich großen Daumen vom Whiteboard.
Es war nutzlos, so zu tun, als wäre ich nicht erschrocken, also ließ ich es ihn merken, als ich mir mit zittrigen Fingern durch die Haare fuhr. »Hi.«
Er lehnte sich an den Türrahmen. »Lonnie hat Ihnen einen ziemlichen Schrecken eingejagt, was?«
»Ja. Aber mir geht’s gut. Nur … Sie wissen schon. Mein erster Tag und so.« Ich rieb mir das Brustbein in dem Versuch, mein panisch schlagendes Herz zu beruhigen. »Es ist meine erste Stelle in einer Klinik. Mein erster richtiger Psychiatrie-Job.«
Eine seiner Augenbrauen hob sich leicht. »Da haben Sie sich aber ganz schön kaltes Wasser zum Reinspringen ausgesucht.«
Ich nickte. Sicher, es wäre angenehmer gewesen, mit einem Sprung in zumindest lauwarmes Wasser anzufangen, nicht in Eiswasser. »Sonst gab es keine freien Stellen.«
»Ziehen Sie sich um, dann lade ich Sie zu einem Drink ein.«
»Ach herrje. Lieber nicht. Ich bin wirklich müde und muss morgen früh um sechs wieder aus den Federn.« Ich hatte noch nicht einmal das Auto ausgeladen oder einen Fuß in meine neue Wohnung gesetzt. Ich wollte in meinen gemütlichen Pyjama schlüpfen und mir ein paar Kapitel über paranoide Schizophrenie aus dem Lehrbuch für Pflegepersonal noch einmal durchlesen, um zu versuchen, herauszufinden, wie ich die Situation mit Lonnie besser hätte bewältigen können.
Kelly schüttelte den Kopf. »Ziehen Sie sich um, wir treffen uns auf dem Parkplatz. Sie können mir nachfahren. Wohnen Sie im Ort?«
»Ich wohne hier. In den Übergangsunterkünften.«
Er bedachte mich mit einem skeptischen Blick – der wertendste Gesichtsausdruck, den ich bisher an ihm gesehen hatte.
»Nur vorübergehend«, fügte ich hinzu.
»Dann fahren Sie mit mir. Sie können Ihr Auto hierlassen.« Und damit verschwand er, ließ mich mit dem entschiedenen Eindruck zurück, dass seine Einladung so verhandelbar wie eine Geiselnahme war.
Ich war fix und fertig. Ich löschte meinen Namen von der Diensttafel, gab meine Unterlagen ab, zog mich um und warf meine Montur in den Schmutzwäschekorb. Der Tag hatte mit mir das Gleiche gemacht – mich praktisch ausgelöscht und zu einem zerknitterten Haufen zusammengeknüllt.
Obwohl Kelly auf seine herrische Art bestimmt nur hilfreich sein wollte, widerstrebte es mir, mich herumkommandieren zu lassen, erst recht von einem Mann. Als müsste ich gerettet werden. Ich wollte nicht gerettet werden – in meiner Familie war ich diejenige, die das Retten übernahm.
Wenn ich plötzlich selbst Unterstützung brauchte, wer zum Teufel war ich dann noch?
Letztlich beschloss ich aber, dass es schon ganz okay so war, und knöpfte meinen Sweater zu. Also, warum nicht eine Einladung auf einen schnellen Drink mit Kelly? Ich war tatsächlich überfordert, und er würde sicherlich Ratschläge haben, die mir helfen konnten, mich über Wasser zu halten. Irgendwann hatte er auch einmal seinen ersten Tag gehabt. Wir würden uns unterhalten, und ich würde den Zwischenfall in meinem Kopf ein wenig weiter nach hinten drängen, damit er meine Gedanken nicht völlig beherrschte, wenn ich später versuchen würde, in einem fremden Zimmer einzuschlafen. Diese Stimme, diese Worte, diese unmögliche anklagende Pizzakruste, die wie ein Springmesser auf mein Gesicht gerichtet war.
Als ich den Umkleideraum verließ und den Gang hinuntermarschierte, erfasste mich wieder dieses Korsettgefühl. Nur diesmal nicht aus Angst. Mit jedem Schritt, den ich mich dem Ausgang – und Kelly – näherte, wurde es enger und enger um meine Brust. Schon komisch, dass mein Körper auf ihn genauso wie auf die Vorstellung reagierte, ich könnte von einem Patienten angegriffen werden.
Als ich im Foyer den Türcode eingab, fragte ich mich müßig, wie wohl seine Frau aussehen mochte. Und was sie davon halten würde, dass ein unterernährtes, rundgesichtiges Mauerblümchen von einer glücklosen Krankenpflegeschülerin mit ihrem überdimensionierten Ehemann auf einen Drink ausging.
Wahrscheinlich würde sie sich gar nichts dabei denken, hielt ich mir vor Augen, weil es ja auch nicht das Geringste zu bedeuten hat. Es ist bloß ein Drink aus Mitleid, den dein verheirateter Kollege dir spendiert.
Und dennoch, als meine Finger die letzte Ziffer des Codes eingaben, zogen sich die Schnüre des Korsetts enger, enger, enger. Sollte ich das Bewusstsein verlieren, würde Kelly wenigstens stark genug sein, um mein armes Ich nach Hause zu tragen.
Er wartete draußen unter dem zunehmend dunkleren Himmel in seiner Zivilaufmachung – Jeans und ein schwarzes Sweatshirt mit Reißverschluss. Dadurch sah er zwar noch mehr nach Schlägertyp aus, trotzdem folgte ich ihm. Ein Schlägertyp, der auf meiner Seite stand, fühlte sich im Augenblick wie ein kostbares Gut an.
Kelly führte mich in den hintersten Winkel des Mitarbeiterparkplatzes zu einem GM-Pick-up älteren Baujahrs, wahrscheinlich genauso alt wie mein Wagen, nur wesentlich besser gewartet. Er kam mir nahe, um meine Seite aufzuschließen, und erschien mir dabei größer als je zuvor, riesig und hoch aufragend, dabei auf eigenartige Weise beruhigend. Wie ein Wellenbrecher, der verhinderte, dass mich ein Sturm von Stress aufs Meer hinausspülte, wo ich nie gefunden werden würde. Vielleicht könnte ich mir ein paar Ziegel der Mauer stibitzen, die er verkörperte, um mich damit zu stärken, auf dass mich der nächste Zusammenstoß mit irgendjemandes Psychose nicht ganz so schlimm erschüttern würde.
Schließlich startete er den Motor, und die Scheibenwischer fegten die letzten Tropfen eines nachmittäglichen Schauers von der Windschutzscheibe. Die Scheinwerfer erhellten das Schild, das am vorderen Ende jedes Abstellplatzes stand und eindringlich warnte: Niemals die Schlüssel im Fahrzeug lassen!
»Jeder auf dieser Station hatte mal seinen ersten Tag«, meinte Kelly zu mir, als er die erste von zwei Sicherheitsabsperrungen ansteuerte, durch die wir das Gelände verlassen konnten. Er gab einen Code ein, fuhr hindurch und wartete, bis sich das erste automatische Tor schloss, bevor er die Hand nach dem zweiten Tastenfeld ausstreckte.
»Ich weiß.«
Kelly lenkte uns auf eine schmale Zufahrtsstraße, die ich zuvor noch nicht bemerkt gehabt hatte.
»Ich will nicht, dass Sie sich jetzt noch schlechter fühlen, aber eigentlich war das gar kein so schrecklicher Tag zum Anfangen.«
»Auch das weiß ich. Und ich will mich über das, was Lonnie gesagt hat, auch gar nicht so aufregen, wie ich es leider tue. Ist ja nicht so, als hätte er auf mich eingestochen oder etwas in der Art. Es war bloß eine verflixte Pizzakruste.«
»Aber was er gesagt hat, war für Sie wie ein Schlag ins Gesicht«, erwiderte Kelly. »Also ist es in Ordnung, den Schmerz zuzulassen. Nächstes Mal wird es nicht mehr so wehtun, und schon bald werden Ihnen solche Worte gar nichts mehr ausmachen.«
»Das hoffe ich.«
»Sie müssen sich nur vor Augen halten, dass nichts, was irgendjemand dadrin zu Ihnen sagt, während er einen Anfall hat, persönlich gemeint ist. Man stellt in dem Fall einfach das Gesicht dar, das den Patienten am nächsten ist, wenn der Schub einsetzt. Als wenn man zufällig vorbeigeht, wenn jemand schwungvoll eine Tür aufstößt, und man von ihr am Kopf getroffen wird.«
Ich nickte und fand sogar ein wenig Trost in seinen Worten.
»Derjenige hat nicht gewusst, wer hinter der Tür war. Er musste sie einfach aufstoßen. Aber denjenigen dann sehen zu lassen, wie man dabei zusammenzuckt, ist, als ob man ihm eine Waffe überreicht – und die benutzt er, sobald er erkennt, dass es sie gibt.«