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Clare ist zufrieden mit ihrem Leben. Und doch fühlt sie eine Leere in sich, die sich durch ihre Arbeit als Fotografin nicht füllen lässt. Da trifft sie Mica. Er ist sexy, aufregend und alles, was Clare begehrt. Schon nach einer gemeinsamen Nacht kann sich Clare ein Leben ohne Mica nicht mehr vorstellen - bis sie dessen Mitbewohner Vaughn trifft. Eine unerklärliche Faszination herrscht zwischen den Dreien. Und während die sexuelle Spannung zwischen Clare, Mica und Vaughn immer stärker wird, macht Mica Clare ein sündiges Angebot, dem sie nicht widerstehen kann ...
Der 2. Band in der heißen Sins in the City-Serie von Cara McKenna
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Seitenzahl: 520
Veröffentlichungsjahr: 2017
CARA MCKENNA
Sins in the City
Downtown Devil
Ins Deutsche übertragenvon Michael Krug
Clare ist zufrieden mit ihrem Leben. Und doch fühlt sie eine Leere in sich, die sich durch ihre Arbeit als Fotografin nicht füllen lässt. Da trifft sie Mica. Er ist sexy, aufregend und alles, was Clare begehrt. Schon nach einer gemeinsamen Nacht kann sich Clare ein Leben ohne Mica nicht mehr vorstellen – bis sie dessen Mitbewohner Vaughn trifft. Eine unerklärliche Faszination herrscht zwischen den Dreien. Und während die sexuelle Spannung zwischen Clare, Mica und Vaughn immer stärker wird, macht Mica Clare ein sündiges Angebot, dem sie nicht widerstehen kann …
Laura, Claire, Christina und Jennifer –
ohne die Hilfe von euch hätte ich es nicht überlebt, im selben Sommer sowohl dieses Buch als auch ein Baby auf die Welt zu bringen. Danke für die Geburtshilfe.
»Was ich Ihnen anbieten kann«, sagte Clare in ihr Mikrofon, »ist ein Austausch der Schuhe gegen das gleiche Paar in Größe sechsunddreißig. Haben Sie den Rechnungsbeleg mit angefügtem Rückgabeformular?«
»Nein, habe ich nicht.« Der Monitor teilte Clare mit, dass die nasale männliche Stimme in ihrem Headset zu Anrufer 0 440 310 gehörte. »Der war nicht dabei.«
O doch, ganz bestimmt. »Na schön, das ist kein Problem. Könnten Sie mir dann bitte die Nummer Ihrer Bestellung geben? Sie steht in der Betreffzeile Ihrer Bestätigungs-E-Mail.«
»Einen Moment.«
Clare spähte zur Uhr auf ihrem Bildschirm. Der letzte Anruf, dachte sie bei sich. Der letzte Anruf, den sie vor der Mittagspause entgegennehmen wollte. Das waren immer die Anrufe, die sich schier ewig …
»Finde ich nicht«, meldete sich die Stimme. »Ich glaube, Sie haben mir keine solche E-Mail geschickt.«
Ja, klar. »Na schön, macht nichts. Sie können sich auch auf der Website bei Ihrem Konto anmelden, Ihren Bestellverlauf aufrufen und einen Umtausch anfordern, indem Sie …«
»Dafür habe ich keine Zeit.«
»In Ordnung. Dann könnte ich Ihre Bestellung mit Ihrem Namen aufrufen und Ihnen eine Kopie des Rechnungsbelegs per E-Mail schicken.«
»Fein.«
»Dann brauchen Sie nur das Formular auszudrucken«, fuhr Clare fort und wechselte den Bildschirm, »und den Umtauschabschnitt auszufüllen. Und sobald Ihr Artikel im Lager eingeht, wird umgehend der Ersatz ver…«
»Wie lange dauert das?«
»Kommt drauf an, wo Sie wohnen.«
»Connecticut.«
»Na ja, unser Lager ist in Kalifornien, also wahrscheinlich sieben bis zehn Werkta…«
»Was? So lange kann ich nicht warten. Meine Tochter braucht die Schuhe für eine Aufführung am Donnerstag.« Es war Montag.
»In diesem Fall schlage ich vor, Sie rufen die Website auf, bestellen die Schuhe in der Größe, die Sie brauchen, wählen Expressversand aus und schicken uns die ursprünglichen Schuhe gegen Rückerstattung dann zurück, wenn Sie Zeit dafür haben.«
»Sie meinen, ich soll zweimal dafür bezahlen?«
»Na ja, nicht wirklich, Sir. Sie bekommen ja das Geld für das ursprüngliche Paar zurück, sobald es …«
»Und ich nehme an, für diese Expresslieferung muss ich selbst bezahlen.«
»Bei der neuen Bestellung schon, ja. Aber wenn Sie das erste Paar zurückschicken, können Sie das bereitgestellte Etikett verwenden, um …«
»Also, das ist doch wirklich lächerlich.«
Ja. Ja, das ist es. Bitte verlang doch, mit meinem Vorgesetzten zu sprechen. Bitte, bitte, bitte. »Es tut mir leid, wenn das frustrierend für Sie ist. Aber bitte geben Sie mir zunächst Ihren Vor- und Zunamen, dann kann ich Ihnen per E-Mail den Rechnungsbeleg zuschicken.«
»Fein. Fein.« Ein Seufzen wie Stahlwolle. »Und das nennen Sie Kundendienst? Sie schicken mir die falsche Größe und lassen mich zweimal für den Versand bezahlen …«
»Oh, Sie haben nicht die Größe bekommen, die Sie bestellt haben? Dann ist das nämlich ein anderer …«
»Na ja, sie passen nicht, also würde ich schon sagen, dass es nicht die richtige Größe sein kann.«
»Aber es ist die Größe, die Sie bestellt haben? Wenn nicht, dann …«
»Ich möchte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.« Ein Engelschor erklang in Clares Kopf. »Wo sitzen Sie eigentlich? In Indien oder so?«
»Pittsburgh, Sir. Bitte bleiben Sie dran, ich verbinde Sie.« Clare drückte die Tastenkombination für die Weiterleitung des Anrufs und seufzte erleichtert, als die Wartemusik in ihrem Headset ertönte. Sie gab einen raschen Hinweis in das Anmerkungsfeld auf ihrem Bildschirm ein.
Code 29T38. Im Callcenter-Jargon stand das für Zicke oder Stänkerer. Wurde häufig verwendet. Braucht bis Donnerstag andere Größe.Habe Neubestellung und Rücksendung vorgeschlagen, aber das will er nicht.Tut mir leid, Brady.Ich bring dir einen Keks mit. Clare klickte auf ANRUFWARTESCHLANGE, warf das Headset beiseite, rief ihre digitale Stempelkarte auf und meldete sich für die Mittagspause ab.
Rings um sie herum in den Arbeitsnischen sprachen Leute in beruhigendem, nachsichtigem Ton, um Kunden zu beschwichtigen, die wahrscheinlich ungefähr so bezaubernd waren wie Anrufer 0 440 310.
Sie schlang ihre Handtasche über die Schulter. Lieber Gott, schaff mich raus aus diesem Irrenhaus.
Ja, genau. Sie bekam Sozialleistungen und verdiente hier wesentlich mehr, als sie im Einzelhandel oder als Kellnerin bekommen würde. Und wenn man bedachte, dass Clare ihren Abschluss in Bildender Kunst gemacht hatte, konnte sie sich glücklich schätzen, nicht bettelarm zu sein.
Abgesehen davon hatte sie nun Mittagspause. Sie würde sich einen großen Kaffee und ein überteuertes Truthahn-Sandwich holen und sich für eine Stunde in ihr Projekt flüchten. Na ja, eigentlich eher für vierzig Minuten, wenn man die Gehzeit und das Anstellen in der Warteschlange abzog. Trotzdem war es im Augenblick wie die Aussicht auf Urlaub.
Sie schlüpfte in ihre Jacke und nahm die Treppe die drei Stockwerke hinunter. Auf dem Weg durch die versnobte, moderne Eingangshalle des ehemaligen Fabrikgebäudes lächelte sie dem Sicherheitsmitarbeiter zu, bevor sie hinausging.
Es war ein herrlicher Tag. Blendend hell und warm, aber nicht stickig-schwül, und die Innenstadt roch nach Frühling. Der Winter war lang und unangenehm gewesen, und selbst jetzt noch, Anfang Mai, knospten einige Blüten an den dürren Bäumen entlang der geschäftigen Straße – buchstäbliche Spätentwickler. An so einem Tag konnte man nicht lange sauer sein … auf einen anonymen Arsch aus Connecticut.
Auch nicht, wenn der dreißigste Geburtstag in vier Tagen vor der Tür stand und nichts von dem erreicht war, was man sich auf dem College bis zu diesem Datum vorgenommen hatte.
Stimmt nicht ganz. Meine Eröffnung bekomme ich vielleicht doch noch, wenn auch ein bisschen nach der Frist.
Ihre erste richtige, größere Ausstellung in einer Galerie, wo man sich sogar die Mühe machte, den Namen der Künstlerin in schicken, mattierten Buchstaben ans Schaufenster zu kleben … Clare bezirzte die Besitzerin der Galerie – die Freundin einer Bekannten aus dem College – mittlerweile seit einer gefühlten Ewigkeit, besuchte jede Vernissage, kommunizierte in sozialen Netzwerken mit ihr, kroch ihr in den Hintern und erinnerte die Frau bei jeder Gelegenheit dezent daran, dass sie Fotografin war. Über zwei Jahre hatte es gedauert, aber am vergangenen Freitag hatte sich endlich eine Chance für Clare eröffnet. Eine Collage-Künstlerin, die Ende August eine Ausstellung erhalten sollte, hatte einen Rückzieher gemacht. Ob die Galeriebesitzerin wohl einen Blick in Clares Portfolio werfen dürfte? Verdammt, ja, durfte sie. Und das hatte sie getan. Und war beeindruckt gewesen – beeindruckt genug, um Clare das dreiwöchige Zeitfenster zu reservieren, sofern sie formell eine schlüssige Ausstellung anbieten könnte.
Clare hatte bereits eine Idee ausgebrütet und sogar schon einige Aufnahmen dafür. Der Galeriebesitzerin gefielen das Konzept und die Muster, aber sie brauchte mehr – einen Beweis, dass Clare genug Motive hatte, um eine Ausstellung mit achtzehn Werken zusammenstellen zu können. Dafür hatte sie noch zwei Wochen – zwei Wochen, um bereitwillige und für die Ausstellung geeignete Models zu finden und abzulichten, damit sie anschließend ihr Angebot abgeben konnte. Anspruchsvoll, aber nicht unmöglich.
Nichts ist unmöglich, wenn man in seinen Zwanzigern ist.Oder in den ersten paar Wochen der Dreißiger.
Es war ihre bisher größte Chance, und die wollte sie sich nicht entgehen lassen. Als Clare verkündet hatte, sie strebe einen Abschluss in Kunst an, hatte sich ihre Mutter als vehemente Skeptikerin erwiesen. Desiree Fowler war ein harter Knochen, eine starke, eigenwillige Schwarze, die ihren Master der Betriebswirtschaftslehre nach sieben Jahren Abendschule erlangt und sich im Alter von fünfundvierzig Jahren die Position einer Vizepräsidentin bei einem renommierten örtlichen Unternehmen für Medizintechnik erkämpft hatte. Clare bewunderte ihre Mutter und hatte allergrößten Respekt vor ihr. In mancher Hinsicht vergötterte Clare sie sogar, obwohl sie die Vorstellung, als Geschäftsfrau in der Wirtschaft zu arbeiten, selbst entsetzlich fand. Und sie wusste, dass ihre Mutter sich mehr für sie erhoffte, auch wenn sie es nie aussprach. Mehr als einen halbwegs anständigen Lohn für vierzig Stunden Plackerei die Woche. Clare wollte ihrer Mutter beweisen, dass die vier Jahre für den Abschluss in Fotografie nicht vergeudet gewesen waren. Eine Ausstellung in einer angesehenen Galerie wie der Feurhy war zumindest ein Anfang. Sie schmeckte schon den Wein auf der Zunge, der am Eröffnungsabend ausgeschenkt werden würde.
Schmeckt nach Rechtfertigung.
Das Café lag ein Stück weiter vorn an der Straßenecke, und vor dem Eingang manövrierte gerade eine Frau einen überdimensionierten Kinderwagen den Bordstein hinauf. Clare lief die letzten Schritte, damit sie ihr die Tür weit aufhalten konnte. Die Mutter dankte mit einem erschöpften Lächeln. Clare brauchte selbst ein Stärkungsmittel, aber diese Frau sah aus, als könnte sie jeden Moment zusammenklappen.
Es war erst kurz nach eins, aber die Schlange schon so lang wie zur Stoßzeit. Spielte keine Rolle. Clare mochte Menschenschlangen. Sie beobachtete gern Leute, genoss es, irgendetwas anderes zu tun, als in ihrer Arbeitsnische zu hocken und angezickt zu werden, vor allem, wenn der Geruch von frisch gemahlenem Kaff…
Ihr Blick fiel auf einen der drei Baristas, die hinter der Theke hin und her eilten. Schlagartig verwandelte sich das Leutebeobachten ins Begaffen des einen Mannes.
Er war umwerfend. Er war sagenhaft. Der bestaussehende Typ, den sie seit Ewigkeiten gesehen hatte, sei es in natura oder in einem Film – oder in ihren dreckigsten und aufregendsten Tagträumen, wenn sie schon dabei war.
Der junge Mann war einigermaßen groß, vielleicht eins achtzig, mit einem langen, schlanken Körperbau. Seine Bewegungen wirkten auf unbefangene Weise anmutig und passten ausgezeichnet zu den glatten, tätowierten Armen und zierlichen Fingern, die flink an einer Bestellung hantierten. Er war zumindest zur Hälfte Asiate, vermutete Clare aufgrund seiner Augen und Wangenknochen, wenngleich die Haut ziemlich dunkel war und seine Haarpracht aus einem Bündel dicker brauner Rastalocken bestand, die er zu einem stacheligen Dutt hoch am Hinterkopf zusammengedreht hatte. Schwarz und Asiate, mutmaßte sie, oder vielleicht Pazifikinsulaner? Sie kam nicht ganz dahinter, und das faszinierte sie. Und ließ sie in ihre Handtasche fassen, wo sie an ihrer Kamera vorbeitastete, bis die Finger glatten Karton berührten.
Als sich die Schlange vorwärtsbewegte, schlug ihr Herz schneller. Eigentlich war Clare nicht besonders schüchtern, aber ein heißer Typ war ein heißer Typ, und dieser Mann war ein sagenhaft heißer Typ.
Mit heftig pochendem Herzen wartete sie, bis er sich mit einer schaumigen Tasse in jeder Hand von der zischenden Espressomaschine abwandte.
»Entschuldigung.« Clare bemühte sich, ihr gewinnendstes Lächeln aufzusetzen.
Seine dunklen Augen begegneten ihrem Blick, und er zog die Brauen hoch.
»Das klingt vielleicht etwas schräg, aber ich bin Fotografin, und ich suche Leute als Model, weil ich demnächst eine Ausstellung in der Galerie Feurhy habe. Es geht dabei um Identität und Erbe«, erklärte sie und schwenkte ein wenig die Postkarte, die sie aus ihrer Tasche gefischt hatte. »Ich will dich nicht belästigen, aber wenn du mal einen Blick drauf werfen könntest …« Sie streckte ihm die Karte über die Vitrine mit Backwaren hinweg entgegen. »Meine E-Mail-Adresse steht auf der Rückseite.«
Er stellte eine Tasse ab, nahm die Karte und blickte sie höflich-verwirrt an. »Okay.«
»Danke.« Zum Glück bewegte sich die Schlange in diesem Moment weiter – Clare spürte, dass ihre Wangen loderten. Die Attraktivität des Baristas strahlte wie eine Nova, und hätte sie noch weitere fünf Sekunden damit verbracht, ihn direkt anzustarren, wäre sie zweifellos erblindet.
Bitte, schreib mir eine E-Mail. Bitte, schreib mir eine E-Mail, leierte sie in Gedanken ein Mantra herunter, während sie sich der Kasse näherte. Der Gedanke kühlte sie kurzzeitig ab, wie er es immer tat, wenn sie wegen ihres Projekts an jemanden herangetreten war, und dann änderte sich das Mantra. Bitte, sei nicht beleidigt. Bitte, sei nicht beleidigt.
Der Titel der Ausstellung, den sie vorgeschlagen hatte, sollte lauten: Und was bist du?
Es war eine Frage, die Clare schon ihr gesamtes Leben lang zu hören bekam. Ihre äußere Erscheinung verwirrte die Menschen erst einmal. Sie war groß und schlank, abgesehen von kleinen Polstern am Hintern und an den Hüften. Den schottisch-irischen Wurzeln ihres Vaters verdankte sie eine helle Haut, dunkle Sommersprossen und dauerhaft gerötete Wangen, ihrer afroamerikanischen Mutter eine kräftige Kieferpartie, eine markante Nase, volle Lippen und einen Schopf krauser Locken. Ihre Haare waren messingblond, an den Schläfen am hellsten, ihre Augen nahezu schwarz. Es war, als hätte sich jedes ihrer Merkmale auf die Seite eines Elternteils stellen müssen, allerdings ohne sich untereinander abzusprechen.
Es war für Clare zwar nicht ganz leicht gewesen, mit einem solchen Aussehen aufzuwachsen, aber mittlerweile verschwendete sie kaum noch einen Gedanken daran. Jedenfalls bis vor sechs Wochen nicht, als ihr jemand aus ihrem Yogakurs die alte Frage gestellt hatte. Wodurch ihr die Idee für die Ausstellung gekommen war.
Und Mann, was für eine spitzenmäßige Ergänzung für ihr Musterportfolio wäre dieser Barista, der schärfste der Welt.
Die Mutter mit dem Kinderwagen rollte von der Kasse weg, und Clare bestellte ihr Getränk und ihr Sandwich sowie einen tellergroßen Erdnussbutterkeks für ihren Vorgesetzten. Sie wartete an der Abholtheke, während Sandwich und Kaffee zubereitet wurden. Dabei gab sie sich alle Mühe, den Barista nicht anzuglotzen, konnte es sich aber nicht verkneifen, einen verstohlenen Blick auf seinen aufblitzenden Trizeps zu werfen, als er an der Espressomaschine arbeitete. Dieser scharf konturierte Muskel flehte geradezu um die richtige Beleuchtung. Spätnachmittägliche Sonne, keine Lampen. Und den Winkel genau so, dass sie die Schatten seiner Schulterblätter durch das eng anliegende T-Shirt einfangen könnte …
Er drehte sich so jäh um, dass sie erschrak. »Americano für hier?« Der scharfe Barista platzierte den Kaffee vor ihr auf der Theke und blickte ihr für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen, als er bemerkte, dass sie es war, die Spinnerin, die ihm eine Postkarte untergejubelt hatte.
»Für mich.« Clare hob zum Dank die Tasse an, doch er drehte sich bereits wieder der Maschine zu. Sie konnte die Postkarte sehen, die zusammengefaltet aus der Gesäßtasche seiner dunkelgrauen Jeans hervorlugte. Sie betrachtete seine Arme und die glatte Haut, die deutlich erkennbaren Sehnen seines sonnengebräunten Halses, während er arbeitete, bis ihr Sandwich kam.
Ihm die Postkarte zu geben, war wie ein Schuss ins Blaue, aber sie hätte es bereut, wenn sie gekniffen hätte. Schon lange war ihr kein so umwerfender Mann – oder Mensch – mehr unter die Augen gekommen.
Unterwegs zu einem freien Tisch in der Nähe der Fenster sprach sie in Gedanken ein kleines Gebet, dass er sie wenigstens halb ernst nehmen würde. Unfassbar heißen Typen wurde wahrscheinlich andauernd irgendetwas zugesteckt, Flyer für Shows, Partys und Eröffnungen. Womöglich hatte er es schon wieder vergessen. Vielleicht würde die Postkarte direkt in den Müll wandern, heute Abend oder morgen früh oder wann immer er sie fand, vielleicht hätte sie auch ein würdeloses Ende in der Waschmaschine.
Andererseits hatte sie ihn gefragt, ob er als Model für sie posieren würde. Die meisten Menschen reagierten mit Neugier. Menschen waren von Natur aus eitel, und das meinte Clare durchaus nicht kritisch. Sie hoffte, dass er zumindest den Link aufrufen würde. Und sei es nur, um herauszufinden, ob es um Aktfotografie geht, dachte sie und malte sich aus, was sie von jemandem halten würde, der mit einem ähnlichen Vorschlag auf sie zukäme.
Sie hatte für die geplante Ausstellung eine spezielle Seite auf ihrer Portfolio-Website eingerichtet, mit den drei Musterfotos, die sie bisher hatte – darunter ein Selbstporträt, bei dem sie auf dem Wohnzimmerboden saß und ein Passepartout für einen Bilderrahmen ausschnitt. Ein weiteres zeigte ihre Yogalehrerin, Dannica, eine bestechend gut aussehende ältere Frau, wie sie in einem Lichtstrahl mitten im Yogastudio eine Brücke machte. Dannicas Abstammung glich einem »Flickwerk«, hatte sie selbst einmal während des Unterrichts gesagt, als das Thema »Verschmelzung« gelautet hatte. Clare hatte der Begriff gut gefallen; er inspirierte das gesamte Projekt. Dannica verkörperte »den ganzen Schmelztiegel«, hatte sie gemeint. Skandinavisch, karibisch, jüdisch, hispanisch »und vielleicht noch das eine oder andere Einsprengsel – ich kann mich nicht erinnern. Ich bin wie die UNO, in eine Frau gepackt.« Das dritte Foto auf der Projektseite zeigte einen Bekannten, der als Koch arbeitete, aufgenommen in einer betriebsamen Küche, während er mit einem beeindruckend großen, schimmernden Messer ein Hühnchen zerteilte. Sein Vater war Amerikaner mexikanischer Abstammung, seine Mutter kam von den Fidschi-Inseln.
Clare kramte ihren Laptop aus der Tasche, klappte ihn vor sich auf und wartete darauf, dass die WLAN-Verbindung hergestellt wurde.
»Ist das nicht irgendwie beleidigend?«, hatte ihre Mitbewohnerin Bree gefragt, als Clare ihr vom Leitmotiv der Ausstellung erzählt hatte. Bree selbst war weiß wie ein Marshmallow. »Ich meine, was, wenn sich jemand beleidigt fühlt?«
»Wieso sollte sich jemand beleidigt fühlen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht wegen der Frage: Und was bist du? Klingt ja schon irgendwie zudringlich. Unhöflich geradezu. Ich meine, wer bist du, dass du von den Leuten verlangst, sich einen Stempel aufzudrücken?«
»Der Titel ist ironisch gemeint, nicht politisch oder so – es geht nur um Gesichter. Interessante, ungewöhnliche Gesichter, die man nicht eindeutig zuordnen oder bei denen man sich kein spontanes Urteil über die Besitzer bilden kann.« Clare hatte die Bedenken ihrer Mitbewohnerin mit einem Schulterzucken abgetan … oder es sich vielleicht auch nur eingeredet. Denn jedes Mal, wenn sie eine weitere Person fragte, ob sie als Model posieren wolle, nagten diese Fragen an ihr. Aber bisher hatte sich noch niemand angegriffen gefühlt.
Ein Schatten bewegte sich über die Tastatur und die Tischfläche, wohl ein anderer Gast, der vorbeiging.
Oder auch nicht. Clare setzte sich aufrechter hin, als sich der scharfe Barista einen Weg zwischen den Tischen hindurch bahnte und ihr gegenüber einen Stuhl herauszog. Sie klappte den Laptop zu, verschränkte die Arme auf dem Holztisch und teilte ihm mit ihrem Lächeln mit, dass sie neugierig war, was ihn zu ihr führte. Er stellte eine Tasse ab, dann nahm er wie ein Spiegelbild ihre Pose ein – nur sein Lächeln wirkte nicht ausschließlich freundlich wie das ihre, es lag noch etwas anderes darin. Etwas Eindringliches. Die Sonne erfasste eine Seite seines faszinierenden Gesichts – Clare sehnte sich geradezu danach, ihre Kamera zu zücken und damit anzufangen, Aufnahmen zu machen.
»Hallo noch mal«, sagte sie.
»Ich hab gerade Pause.« Seine Stimme klang weich und nicht zu tief, trotzdem maskulin. Eine Stimme, wie man sie direkt am Ohr haben wollte, wo sie einem Dinge zuflüsterte, die einen erröten ließen. »Also, erzähl mir davon. Von deiner Veranstaltung.«
Ich schätze, dann kommen wir wohl gleich auf den Punkt. »Es geht um eine Ausstellung mit Porträtfotos, die ich einer örtlichen Galerie vorgeschlagen habe. Bilder von Menschen, die mir in Pittsburgh begegnet sind.«
Er zog die der Länge nach zusammengefaltete Postkarte aus seiner Gesäßtasche hervor. Er strich sie glatt, hielt sie hoch und las vor: »Und was bist du?« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich dabei, das Lächeln verpuffte. »Was genau soll das heißen? Dass dir Menschen eine Erklärung darüber schulden, wie sie aussehen?«
O Kacke. Irgendwann musste das ja mal passieren. Zu schade, dass es ausgerechnet dieser superheiße Typ war, den Clare mit dem Titel beleidigte. Beklommenheit nistete sich mit einem säuerlichen, leeren Gefühl in ihrer Magengrube ein, trotzdem lächelte sie weiter und sprach in sanftem Ton.
»Ja und nein. Es ist eine Frage, die ich selbst irgendwann nicht mehr hören konnte. Wenn ich zum Beispiel jemanden bei einer Party kennenlerne, und nach zwei Minuten heißt es: ›Okay, also erklär mir mal, was genau ich da vor mir sehe …‹«
»Und du siehst mich und denkst dir gleich: ›Oh, ich wette, der bekommt dieselbe dumme Frage schon sein Leben lang zu hören, also will er wahrscheinlich bei meinem kleinen Kunstprojekt-Ratespiel mitmachen.‹ Ungefähr so?«
Clare zuckte zusammen, wahrscheinlich sichtlich. »Hör mal«, sagte sie und achtete auf einen ruhigen, vernünftigen Tonfall – ihre Arbeitsstimme. »Ich wollte dich nicht beleidigen, ehrlich nicht. Tut mir leid, falls ich’s getan hab. Ich wollte nur …« Sie verstummte, als er ein breites Grinsen aufsetzte. »Ich wollte …«
»Ich verarsche dich doch bloß«, verriet er, und um seine Augen bildeten sich Lachfältchen. Ein unvergleichliches Lächeln, schlitzohrig und unbeschwert, verschmitzt. Es trug wenig dazu bei, Clares Nerven oder ihr rasendes Herz zu beruhigen.
Sie erschlaffte auf ihrem Stuhl. »Herrgott noch mal. Das war fies.«
Er lachte. »Tut mir leid. Und ganz im Ernst, ich bin interessiert. Erzähl mir mehr darüber.«
Sie ergriff ihre Tasse, um sich daran festzuhalten, denn sie fühlte sich von diesem Mann völlig aus dem Konzept gebracht. Und keineswegs auf unangenehme Weise. »Wie ich schon sagte, ich kriege diese Frage schon mein Leben lang zu hören.«
»Und was bist du?«, hakte er nach.
»Meine Ma ist Afroamerikanerin, mein Vater weiß.« So weiß, dass man sie nach einer Grafschaft in Irland benannt hatte. »Aber zuerst haben die Leute keine Ahnung, und ich glaube, irgendwie stresst es sie, wenn sie mich nicht einordnen können. Als könnten sie mich nicht kennenlernen, bevor sie das wissen.«
»Bis sie ihr Kürzel für dich haben«, schlug er vor.
Clare nickte. »Genau. Ich finde das nicht mal beleidigend – jedenfalls normalerweise nicht. Außer, man bekommt diese Schwingungen mit, als würden sie meinen, man schulde ihnen eine Erklärung. In der Regel finde ich es harmlos, weil die Leute einfach neugierig sind oder weil sie einen verstehen wollen. Weil sie versuchen wollen, einen Draht zu einem herzustellen. Oder vielleicht wollen es manche auch wissen, damit sie einen nicht irgendwie beleidigen. Was ich dann doch ein bisschen beunruhigend finde«, fügte sie mit einem Stirnrunzeln hinzu, »weil es impliziert, dass sie einen je nachdem, wie die Antwort ausfällt, vielleicht anders behandeln würden.«
»Ich versteh dich.«
»Ich kann dir meine Website zeigen«, sagte Clare und klappte ihren Computer wieder auf. »Bisher sind es nur wenige Aufnahmen, aber sie können dir ein Gefühl für das Projekt vermitteln.« Sie klickte auf das Projekt und drehte den Laptop zu ihm herum.
Er schützte den Schirm mit seinen Händen vor der Sonne und ließ den Blick über die Bilder wandern. »Die sind super. Vor allem das mit dem Yogamotiv. Mann …«
»Danke. Ich brauche noch fünf Aufnahmen, um mir die Ausstellung zu sichern. Dann weitere zehn bis zum Ende des Sommers, um die endgültige Sammlung fertigzustellen. Wenn ich die Ausstellung bekomme, wird sie am letzten Freitag im August eröffnet.«
Er drehte den Computer wieder ihr zu und stützte die Arme verschränkt auf den Tisch. Verdammt, der eindringliche Blick dieses Kerls hätte Blei zum Schmelzen gebracht. Seine Tätowierungen bestanden aus ethnischen Motiven, allerdings nicht der Art, wie weiße Schwachköpfe sie bevorzugten. Verschlungen und gitterartig, fast blumig. An dem einen Arm prangte nur ein Band um den Bizeps, am anderen hingegen erstreckte sich dichtes Geflecht über den halben Arm. Beide bestanden nur aus schwarzer Tinte. Sie erinnerten Clare an buddhistische Mandalas. Bilder aus ihren Kunstgeschichtekursen blitzten in ihrem Gedächtnis auf.
»Also …«, sagte sie und drehte die Tasse zwischen den Händen. Sie fühlte sich zugleich erhitzt, verwirrt, hoffnungsvoll und verlegen. »Darf ich dich fragen, was du bist? Außer einem Witzbold, der mir gerade fast einen Herzinfarkt beschert hat?«
Wieder sein berauschendes Lächeln. »Mein Vater war schwarz, meine Mutter aus Malaysia.«
Malaysia. Das erklärte wohl die Muster auf seinen Armen. Und er hatte beide Eltern in der Vergangenheitsform erwähnt, doch noch war es zu früh, um nachzuhaken. Entschieden zu früh – sie kannten sich ja noch nicht mal beim Namen.
»Da ich jetzt weiß, durch welches Raster ich dich pressen muss«, zog sie ihn auf, »sollte ich dir wohl verraten, dass ich Clare heiße.«
»Weiß ich schon. Steht auf der Postkarte.«
»Tja, deiner steht leider nicht auf deinem Shirt.«
»Ich bin Mica.« Sein Händedruck erwies sich als fest, seine Finger waren trocken, schlank und rau. An zweien trug er dicke Silberringe, das Metall war warm. Durchaus zögerlich ließ Clare seine Hand wieder los.
»Ich bin nicht aus der Gegend«, fügte er hinzu, »falls das eine Rolle spielt. Falls die Ausstellung über Einheimische sein soll oder so. Ich bin nur bis September hier.«
Jammerschade. »Kein Problem. Und was hat dich hierher geführt?«
Mica nippte an seinem Getränk. »Mein bester Freund kommt von hier. Sein Mitbewohner ist aus ihrem Mietvertrag abgesprungen, und zu Hause hab ich mich ohnehin mit Couchsurfing durchgeschlagen, also dachte ich mir, warum nicht über den Sommer in den Osten?«
»In den Osten von wo?«
»Los Angeles.«
»Wow – viel weiter geht’s ja kaum. Muss ein ganz schöner Tapetenwechsel für dich sein.«
Er zuckte mit den Schultern. »Hier regnet es viel mehr.«
»So viel steht fest. Und? Was meinst du? Würdest du dich von mir fotografieren lassen?«
»Du fragst das wesentlich höflicher, als es in Los Angeles üblich ist.« Er lächelte. »Hast du ein Studio oder so?«
»Nein, ich möchte die Menschen sozusagen in ihrer natürlichen Umgebung zeigen. Wie auf den Aufnahmen, die du gesehen hast.«
»Also Menschen bei der Arbeit? Willst du mich hier fotografieren?«, fragte er und nickte in Richtung der Theke.
»Könnte ich. Oder falls du ein Hobby hast, könnte ich dich auch dabei knipsen.« Oder einfach nur nackt in meinem Bett … »Ich möchte Menschen bei den Dingen aufnehmen, die sie am stärksten ausmachen. Oder vielleicht, die sie am meisten erfüllen – das ist ein besseres Wort.«
»Na ja, Espresso zu kochen ist nicht unbedingt mein Lebensziel, und mein Hobby spielt sich außerhalb von Pittsburgh ab.«
»Ach ja?«
»Ich mache Freeclimbing. Normalerweise draußen im Südwesten.«
»Wow.«
»So hab ich meinen besten Freund kennengelernt«, verriet Mica. »Als Teenager haben wir beide an diesem Programm teilgenommen, bei dem Jungs aus schlechten Gegenden in die Natur hineingeworfen wurden und so.«
»Wirklich? Klingt irgendwie toll.«
Er nickte. »Rucksacktouren, Überlebensstrategien, Rafting, Klettern. Absoluter Kulturschock, wenn man von dort ist, wo ich herkomme. Die Luft ist zu sauber, der Himmel zu groß, die Nacht zu still. Aber genau das ist eben der Grundgedanke dahinter. Ist ein tolles Programm. Mich hat’s gepackt. Drei Jahre lang war ich jeden Sommer für drei Wochen im Juli dabei. Dann war ich zu alt dafür, aber mein Freund und ich treffen uns immer noch jedes Jahr zu einem Kletterausflug.«
»Ich wünschte, das könnte ich fotografieren.« Und wie. Clare fragte sich, was für Schultern sein Hemd verbergen mochte. »Aber ich versuche eigentlich, die Dinge in der Stadt zu behalten. Also könnte ich dich hier fotografieren oder bei dir zu Hause. Oder auch irgendwo draußen, in der Stadt, auf der Straße – wo immer du dich wohl in deiner Haut fühlst, würde ich sagen. Oh, oder vielleicht in einer Kletterhalle? In Pittsburgh gibt es doch bestimmt eine.« Clare stellte sich die Felswandkulisse vor und wie sie ihn von unten mit geringer Schärfentiefe aufnahm, sodass die Haltegriffe im Vordergrund verschwommen wären, während sich seine Finger, sein Gesicht und seine zweifellos aufregenden Arme scharf und intensiv abzeichnen würden.
»In Kletterhallen gehe ich nicht.«
Mist. »Also – wenn du wirklich interessiert bist, lass es dir durch den Kopf gehen. Im Wesentlichen bin ich hinter deinem Gesicht her. Was die Umgebung angeht, bin ich flexibel, solange das Licht brauchbar ist.«
Er nickte auf eine Weise, die für sie typisch Westküste war – eine langsame, lässige Neigung des Kopfes.
»Viel zahlen kann ich dir nicht«, fügte sie hinzu. »Ich würde zwei bis drei Stunden deiner Zeit brauchen, und mehr als fünfzig Dollar kann ich dir dafür nicht anbieten.«
Er zuckte mit den Schultern. »Geld ist mir gar nicht in den Sinn gekommen. Aber das klingt ganz okay.«
»Hast du regelmäßige freie Tage?«
»Ich habe hier gerade erst angefangen, es könnte sich also noch ändern, aber diese Woche hab ich am Mittwoch und Donnerstag frei und mache am Sonntag um eins Schluss.«
Der Mittwoch kam nicht infrage – da arbeitete Clare von sieben Uhr morgens bis sechs Uhr abends und hatte gleich anschließend Yoga. Ihr Wochenende bestand aus drei Tagen, aus Donnerstag, Freitag und Samstag – als Bonus dafür, dass sie vier Zehnstundenschichten arbeitete. Am kommenden Donnerstag hatte sie zwar Geburtstag, doch das spielte eigentlich keine Rolle. Mit Freunden würde sie erst am Wochenende feiern. Außerdem würde es keine wirkliche Entbehrung bedeuten, ihren dreißigsten Geburtstag damit zu verbringen, Mica zu fotografieren. Tatsächlich fiel ihr gar kein besseres Geschenk ein, als ein stundenlanger Vorwand dafür, das faszinierende Gesicht dieses Mannes anzustarren.
Sie fragte sich, wie alt er sein mochte. Vielleicht in ihrem Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger. Ebenso fragte sie sich, wie seine Haare und seine Haut riechen mochten und wie er wohl schmecken würde.
Nach Kaffee, ist doch wohl logisch. Verdammt, was hatte er eben zu ihr gesagt? Ach ja, richtig, die Zeitplanung. »Am Donnerstag habe ich auch frei«, sagte sie. »Und soweit es mich betrifft: je früher, desto besser.«
»Geht für mich in Ordnung.«
»Gut, dann denk mal über Orte nach, an denen du dich am wohlsten fühlst, und über Dinge, die du gern tust. Und wenn wir draußen arbeiten, wäre es am Nachmittag oder am frühen Morgen am besten.«
»Ich bin kein Morgenmensch. Aber den Donnerstagnachmittag halte ich mir frei. Willst du meine Nummer?«
»Gern.« Clare erstellte einen neuen Kontakt auf ihrem Smartphone, und er sagte ihr die Ziffern an, bevor er sich umgekehrt ihre Nummer geben ließ. Wenngleich ein Teil von ihr am liebsten auf den Tisch gesprungen wäre, um darauf zu tanzen, mahnte ein anderer Teil sie dazu, sich einzukriegen. Dieser Kerl hatte irgendetwas an sich. Vielleicht war es bloß etwas für Los Angeles Typisches, aber sie nahm eine gewisse Trägheit an ihm wahr, etwas Hyperlässiges. Jemand, der so heiß war, schlenderte wahrscheinlich gemächlich von einem Bett und einem Job zum anderen, wenn sich die nächste Gelegenheit bot. Sicherlich hätte er diese zufällige Begegnung bis Donnerstag völlig vergessen. Er würde andere Pläne haben und keine Ahnung, wer sie war und wovon sie redete, wenn sie ihn anriefe, um sich mit ihm zu treffen.
Aber unter keinen Umständen würde sie es nicht versuchen.
Mica stand auf. »Ich muss zurück zur Arbeit.«
Clare tat dasselbe und streckte ihm erneut die Hand entgegen. »Danke für deine Zeit, wirklich. Ich hoffe, wir sehen uns am Donnerstag.« Oder schon morgen, wenn sie wieder in der Mittagspause herkäme. Was sie wohl tun würde, zumal sie nun wusste, um wie viel interessanter die Aussichten hinter der Theke gerade geworden waren.
Er schenkte ihr eine letzte Kostprobe jenes teuflischen Lächelns – sowohl herzlich offen als auch charmant geschmacklos –, dann kehrte er zurück an die Arbeitsfront. Mit kribbelnden Nervenenden schaute Clare ihm nach.
Wenn du da bist, Gott, erhöre meinen Geburtstagswunsch: Gib mir nur drei Stunden allein mit diesem Mann, und ich sterbe als dankbare Frau.
Am Dienstagmittag kniff Clare.
Sie befand sich nur noch wenige Schritte vom Café entfernt – wenige Schritte von dort, wo der anbetungswürdige Mica arbeitete –, als ihr die Nerven einen Streich spielten und den Beinen die Anweisung erteilten, umzudrehen und stattdessen den Feinkostladen ein Stück den Häuserblock hinunter anzusteuern.
Wovor zum Teufel habe ich solche Angst?, fragte sie sich. Dass sich ihre Blicke über die Theke hinweg begegneten? Dass er sich nicht an sie erinnerte? Unwahrscheinlich – ein Gesicht wie ihres sah man nicht jeden Tag. Dass sie wie eine Stalkerin wirkte? Das kam der Wahrheit schon etwas näher. Wie auch immer, mit einem trockenen Hühnchen-Sandwich und ohne eine frische Dosis Verknalltheit kehrte Clare in ihre Arbeitsnische zurück.
Am Mittwoch nahm sie allen Mut zusammen und ging wieder ins Café, wild entschlossen, sich cool zu geben. Sollten sich ihre Blicke begegnen, toll – sie würde einfach lächeln und es dabei bewenden lassen. Sollte ruhig er eine Unterhaltung beginnen, wenn ihm danach war. Sie jedenfalls würde so tun, als wäre es für sie etwas Alltägliches, umwerfend aussehende Fremde einzuladen, als Model für sie zu posieren. Keine große Sache. War ja nicht so, als hätte sie zur Ermutigung ihre hübscheste arbeitstaugliche Kleidung angezogen. Bloß ein gewöhnlicher Mittwoch. Nichts Aufregendes zu sehen.
Bedauerlicherweise gab es tatsächlich nichts zu sehen. Clare bekam einen Kaffee und ein Sandwich, erhaschte aber keinen Blick auf Mica, während der gesamten Mittagspause nicht. Hatte er gesagt, dass er mittwochs arbeitete? Sie konnte sich nicht erinnern.
Mist. Das bedeutete, dass sie sich drei ganze Tage nicht gesehen haben würden, wenn sie morgen allen Mut zusammenkratzte, um ihn anzurufen. Würde er überhaupt noch wissen, dass er versprochen hatte, sich den Nachmittag für das Shooting frei zu halten? Sie hatten schließlich gerade mal zehn Minuten miteinander gesprochen.
Und so empfing sie dank Mica als erstes Geschenk ein Kribbeln im Bauch, als am Donnerstag die Sonne zu ihrem Geburtstag aufging.
Clare schaute zu ihrer Mitbewohnerin, die am Küchentisch ihre Handtasche durchwühlte. »Wie früh kann man einen Mann anrufen, den man kaum kennt und der eingewilligt hat, einem einen Gefallen zu tun?«
»Wie alt?«, fragte Bree nach. Sie hatte ihr Telefon gefunden und tippte darauf.
»Bin nicht sicher. Wahrscheinlich Mitte, Ende zwanzig.«
Grinsend schaute Bree vom Display auf. »Gute Arbeit, Geburtstagskind! Seit fünf Sekunden dreißig und stürzt dich schon auf jüngere Typen.«
»Im Ernst jetzt, wie früh ist das gesellschaftlich akzeptabel?«
»Nicht vor elf«, erklärte Bree und griff nach ihrem Kaffee. Es klang wohltuend überzeugt.
»Meinst du?«
»Klar. Früher wäre zu früh. Später könnte er schon andere Pläne haben.«
Clare nickte. »Du bist clever.«
»Ich ziehe unzuverlässige Kerle magisch an«, erwiderte Bree, deren Gesicht ein Vorhang roter Haare verhüllte. Sie wischte sie zurück, zog den Reißverschluss ihrer Handtasche zu und trank ihren Kaffee aus. »Oder ich werde von ihnen angezogen. Egal, es ist eine Wissenschaft für sich. Jedenfalls gilt für mich die Regel, dass, wenn ich um elf anrufe und der Typ so klingt, als wäre er gerade erst aufgewacht, ich dann ohnehin nicht mit ihm gehen will. Dann ist er nämlich entweder faul oder verkatert. Inzwischen habe ich einen Doktortitel darin«, fügte Bree hinzu und warf sich ihre Handtasche über die Schulter. »Ich kann mit Typen nichts anfangen, die wie Studenten in den Tag hineinleben.«
Clare lachte. »Ist einfach, Standards zu haben, wenn man keine Durstrecke durchleiden muss wie ich.«
Es lag Monate zurück, seit Clare zuletzt Action erlebt hatte. Vor Weihnachten war das gewesen, um Himmels willen, und selbst das hatte nicht viel hergegeben – ihr letztes Mal mit ihrem Ex, mit dem sie fast drei Jahre lang zusammen gewesen war. Das Liebesleben hatte sich, ziemlich ähnlich wie der Rest ihrer Verbindung, im Sand verlaufen. Clares Mutter war über die Trennung aufgebrachter gewesen als Clare selbst oder ihr Exfreund. Sie hatte Davis wegen der Eigenschaften gemocht, die Clare letzten Endes als erdrückend empfunden hatte. Er war ein Arbeitstier gewesen, übertrieben ernst und fleißig, genau die Dinge, die ihre Mutter an sich selbst und an anderen am meisten schätzte. All die Dinge, die sie sich auch für Clare wünschte. Eigentlich hatte er toll ausgesehen und sie auch gut behandelt. Aber am Ende war Clare unzufrieden, geradezu gelangweilt gewesen, und er hatte immer schlechter verbergen können, dass er ihre Motivation mangelhaft fand. Nicht besonders aufreizend, mit jemandem zusammen zu sein, der dasselbe an einem auszusetzen hatte wie die eigene Mutter.
»Nach Davis«, meinte sie zu Bree, »klingt eine Portion Unreife alles andere als reizlos. Eine schmutzige Affäre mit einem scharfen Barista? Dafür wär ich sofort zu haben.« Vermutlich war sie älter als Mica, und sie hätte zu wetten gewagt, dass er keine Krankenversicherung hatte. Auch wie jemand mit einem Collegeabschluss kam er ihr nicht vor. Im Vergleich zu ihm sah sie aus wie diejenige, die ihr Leben fest im Griff hatte.
»Moment mal – wer hat denn etwas von einer Affäre gesagt?«, fragte Bree nüchtern und zog die Augenbrauen hoch. »Das ist doch eine rein berufliche Sache, oder?«
»Wenn du die Bilder siehst, wirst du es verstehen.« Das hieß, wenn und falls. Und hing ganz von dem gefürchteten Anruf ab.
Bree brach zur Arbeit auf, und Clare blieb zurück mit fast drei Stunden, die sie totschlagen musste, bevor sie ins kalte Wasser springen und zum Telefon greifen könnte. Sie nutzte die Zeit effektiv, indem sie E-Mails beantwortete, die Wohnung aufräumte und so viel Kaffee trank, dass ihr schwindlig wurde, als sie sich mit einem Staubwedel zu schnell aus kauernder Haltung aufrichtete.
Clare stützte sich an der Armlehne des Sofas ab. »Oha. Okay, jetzt mal langsam. Die kritische Masse ist erreicht.« Sie leerte den Rest der Tasse ins Spülbecken und spähte zur Uhr. Das Herz rutschte ihr fast bis zu den Espadrilles hinunter. Zehn Uhr siebenundfünfzig.
Jetzt oder nie. Clare griff sich ihr Handy von der Anrichte.
Sie fand Mica in ihrer Kontaktliste, und in einem Zustand gespenstischer Ruhe tippte sie auf WÄHLEN.
Der Klingelton tutete. O verdammt. Was soll ich sa…
»Ja?« Es war ein freundliches Ja, kein barsches. Und er klang hellwach.
»Hi, Mica. Hier ist Clare. Die Fotografin, die dir im Café auf den Wecker gegangen ist.«
»Ach ja, richtig.«
Ach ja, richtig wie in Ach ja, richtig, hatte völlig vergessen, dass es dich überhaupt gibt?
»Bist du immer noch bereit, dich von mir fotografieren zu lassen?«, fragte sie. Sie hatte das Gefühl, eine Zitrone stecke quer in ihrer Kehle. »Ich hab den Nachmittag frei.«
»Ja, klar. Wann?«
Erleichtert lehnte sich Clare gegen die Anrichte. »Um halb drei?« Wenn sie draußen wären, würde das Licht gegen vier am besten sein.
»In Ordnung. Wo treffen wir uns?«
»Hast du schon ein Lieblingsplätzchen in der Stadt?«
»Nicht wirklich. Ich bin erst letztes Wochenende hergekommen.«
»Okay, dann …« Mist. »Ähm, da eine Kletterhalle flachfällt, worauf stehst du sonst noch? Kann alles Mögliche sein – irgendein Sport wie Laufen, Basketball oder so.« Ja, bitte. Eine feine, verschwitzte Aufnahme jenes Gesichts in erschöpftem Zustand wäre reines Gold. »Oder vielleicht spielst du ein Instrument oder kochst in deiner Freizeit …« Irgendetwas mit seinen Händen, diesen herrlichen, starken, rauen Händen. »Irgendetwas, das du gerne tust, das etwas über dich aussagt.«
»Kann ich darüber nachdenken und dir später Bescheid geben?«
»Ähm, sicher. Ruf mich bis zwei an. Dann habe ich noch Zeit, mir je nach Kulisse die richtige Ausrüstung einzupacken, bevor wir uns wo auch immer treffen.«
»Cool. Also, bis gleich.«
»Bye«, verabschiedete sie sich, als an seinem Ende der Leitung ein leises Piepen ertönte und aufgelegt wurde.
»O-kayyy …«, murmelte Clare und starrte auf das Display, das seinen Namen, seine Nummer und die Dauer des Anrufs anzeigte: sechsundfünfzig Sekunden. Es war noch nicht mal elf. »Okay, das passt schon.« Weitere drei Stunden des Wartens und der Unsicherheit, in denen sie nur beten konnte, dass er sie wirklich zurückrufen würde.
Fein. Kein Problem. Der beste Geburtstag aller Zeiten.
»Eine Party?«, wiederholte Clare. Es war fünf nach vier – zwei Stunden und fünf Minuten nach dem Zeitpunkt, zu dem Mica eigentlich hatte anrufen wollen, aber wen juckte das schon? Clare hatte die Wohnung gar nicht verlassen, so beschäftigt war sie damit gewesen, auf das Klingeln des Telefons zu warten. Sie hatte die Hoffnung schon so gut wie aufgegeben, doch nun, da es tatsächlich geklingelt hatte, erwartete sie eine Überraschung. Mica schlug ihr vor, statt des nachmittäglichen Treffens am Abend mit ihm zu einer Party zu gehen.
»Zu Hause beim Freund meines Mitbewohners«, ergänzte er. Mica klang abgelenkt, als täte er gerade etwas anderes, während er mit ihr sprach. »Fängt um neun an. Mir ist kein guter Ort für das Shooting eingefallen – du weißt schon, nichts, was geradezu nach mir schreit oder so, aber dann dachte ich an die Party. Das wäre eine gute Kulisse für mich. Ich bin sehr gesellig.«
»Ist es so was wie eine Besäufnisparty, eine Cocktailparty oder …«
»Bin mir nicht sicher. Ich dachte mir, ich schlag einfach mal dort auf und find’s raus.«
Clare runzelte die Stirn, als sie es in Gedanken durchspielte. Die Beleuchtung würde suboptimal sein – vielleicht sogar völlig nutzlos, viel zu dunkel, obwohl sich darin möglicherweise die Gelegenheit verbarg. Aber da es ohnehin bereits nach vier war und das Tageslicht schwand, was hatte sie schon für eine Wahl? Wenn es darum ging, diesen Mann entweder in einer nicht idealen Situation im übertragenen Sinn auf Film zu bannen oder gar nicht, fiel ihr die Entscheidung nicht schwer.
»Klar. Klingt nach Spaß.« Außerdem hatte sie Geburtstag, und mit den Mädels würde sie erst am Samstagabend feiern. Sie konnte also ruhig auf eine Party gehen, und dazu noch mit einem verflucht gut aussehenden Typen.
»Treffen wir uns gleich dort?«
»Ich weiß nicht genau, wo es ist. Komm lieber zu mir, dann können wir mit meinem Kumpel mitfahren. Ich schick dir eine SMS mit der Adresse.«
»Alles klar. Wann?«
»Um neun, würde ich sagen.«
»Prima. Also, bis dann.«
Mica sagte: »Bis später«, dann legte er auf.
Mit einem mulmigen Gefühl starrte Clare auf das Handy.
Komm schon! Bin ich hinter Pünktlichkeit und Professionalität her oder will ich den heißesten Typen fotografieren, der mir je untergekommen ist?
Zu ihrer Verwunderung traf seine SMS nur eine Minute später ein.
Also doch nicht total unzuverlässig.
Die Adresse, die er ihr geschickt hatte, lag nicht weit entfernt, also brach sie um Viertel vor neun zu Fuß auf, nachdem sie eine Jacke gegen die zunehmende nächtliche Kälte übergezogen hatte. Ihre Nervenanspannung ließ die Stadt um sie herum vibrieren; die Straßenbeleuchtung wirkte besonders grell. Der Geruch des Frühlings stieg ihr eindringlich und feucht in die Nase. Sie hatte Bree von ihren Plänen erzählt und versprochen, gegen elf in einer SMS zu schreiben, wie sich die Dinge entwickelten. Aber ihr Nervenflattern hatte nichts damit zu tun, dass sie demnächst mit einem fast Fremden und einem vollkommen Fremden in ein Auto steigen würde. Nein, es fühlte sich vielmehr wie der Bammel vor einem ersten Date an.
Jetzt bleib gefälligst cool. Gut möglich, dass er sich in der Sekunde, in der wir dort eintreffen, mit einer anderen Frau verzieht.
Das Gebäude, in dem Mica wohnte, erwies sich als unscheinbares zweigeschossiges Ziegelsteinhaus im Gebiet von Hill mit einem Friseurladen im Erdgeschoss. Clare fand den Klingelknopf für Wohnung C an der Tafel in einem schmalen Eingangsbereich und drückte darauf. Es gab eine Gegensprechanlage, und sie stand mit über der Sprechtaste schwebendem Daumen da, dann jedoch summte die Tür, wurde entriegelt, und Clare zog sie auf.
Die Wohnung lag im ersten Stock am Ende eines kurzen, mit abgewetzten, aber unlängst gesaugten Läufern ausgelegten Flurs. Unmittelbar unter dem Messingbuchstaben C klopfte sie an die Tür, und durch das Holz hörte sie eine Stimme, die rief: »Es ist offen.«
Sie trat in eine Küche. Nichts Außergewöhnliches, aber – abgesehen von einem überfrachteten Esstisch – ziemlich ordentlich. Clare schloss die Tür hinter sich, als Mica aus dem Nebenzimmer auftauchte. Irgendwo dröhnte ein Fernseher, es klang wie Nachrichten.
»Hi, du«, begrüßte er sie, und sein Lächeln überraschte sie, es kam unerwartet, wirkte so herzlich und vertraut, als hätten sie gerade miteinander geschlafen. Clare musste sich bemühen, mit ihrem Lächeln nicht zu verraten, wie sehr sie sich über seine Geste der Vertraulichkeit freute.
»Hi.« Sie akzeptierte seine weitere Begrüßung – eine flüchtige Umarmung mit einem Arm, gerade genug Berührung, um neugierig zu machen und ihr mitzuteilen, dass er leicht nach irgendeinem angenehmen, erdigen Aroma roch. Dann wandte sie die Aufmerksamkeit dem Raum zu und hoffte, er würde nicht mitbekommen, wie sie errötete. »Also hier wohnst du.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ist die Bude von meinem Freund. Ich penne hier nur bis August.«
Dem Apartment haftete dieser unverkennbare Geruch an, den auch jede ihrer Mietwohnungen in Pittsburgh gehabt hatte, bis auf die derzeitige – Bree und sie lebten im ersten Stock eines in die Jahre gekommenen Dreifamilienhauses, und dort gab es dieses Aroma nicht. Es war kein schlechter Geruch, nur ausgeprägt, so wie alle Grundschulen gleich zu riechen schienen. Nostalgisch.
Mica präsentierte sich genauso heiß, wie Clare ihn in Erinnerung hatte. Er hatte eine Jeans an und ein hellgraues Henley-Shirt, bei dem die Knöpfe offen standen. Es brachte die tiefe Sonnenbräune seiner Haut gut zur Geltung. Die Rastalocken trug er offen, die längsten streiften seine Schultern. Um den Hals eine dicke Kordel. Die drei üppigen Silberperlen daran ruhten im V des Ausschnitts. Eine abgewetzte Ledermanschette zierte ein Handgelenk, an den Fingern steckten diese dicken Silberringe. Er gehörte an irgendeinen dämmerigen Sandstrand, barfuß und unbekümmert, den Geruch der salzigen Gischt auf der Haut. Halb rechnete sie damit, dass sie den Ozean schmecken würde, sollte sie seinen Hals küssen.
»Wo findet die Party statt?«, erkundigte sie sich und löste die Aufmerksamkeit mühsam von jenem Hals.
»Weiß nicht genau.« Er drehte sich dem angrenzenden Gang zu und rief: »Yo.«
Als Antwort kam ein entferntes »Ja?«
»Wo ist die Party?«
Stille, dann ertönten Schritte, und ein Mann tauchte auf. »Auf dieser Seite der Uni.«
»Das ist mein Freund«, stellte Mica vor. »Er kennt die Gastgeber.«
»Vaughn«, bestätigte sein Mitbewohner und trat vor, um Clare die Hand entgegenzustrecken.
Vaughn war durchaus attraktiv – nicht sagenhaft, unfassbar hyperattraktiv wie Mica, eher eine gewöhnliche Nuance von gut aussehend. Ungefähr eins achtzig groß, dunkle Haut, kurzes Haar, ein schöner, solider Körperbau unter dem engen T-Shirt und der Jeans. Und irre weiße Zähne, fiel Clare auf. Der Kerl hatte ein umwerfendes Lächeln. Entwaffnend, aber anders als das von Mica. Den fand sie auf eine Weise entwaffnend, der man schwer trauen konnte. Als wäre man in der dritten Runde von einem starken Getränk, obwohl man längst zu Wasser hätte wechseln sollen.
Clare schüttelte Vaughn die Hand, und der Händedruck fiel genauso aus, wie sie es erwartet hatte – kurz, herzlich und bestimmt. Sie fragte sich, womit er sein Geld verdiente, dass er diese Aura ruhigen Selbstvertrauens ausstrahlte.
»Ich bin Clare. Freut mich. Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich mitkomme.«
»Voll und ganz. Ist eine Wohnungseinweihungsfeier. Ganz entspannt.«
Das war gut, denn sie war nicht wirklich für eine gehobene Soiree gekleidet – Jeansrock und ärmelloses, gemustertes T-Shirt. »Ich hab gar nichts mitgebracht«, klagte sie, als es ihr bewusst wurde.
»Ist schon okay – die Getränke haben die selber besorgt, und ich habe unten eine ganze Wagenladung voll Snacks und so. Wir werden nicht mit leeren Händen dastehen. Übrigens fahre ich.«
»Er ist kein besonderer Trinker«, warf Mica ergänzend ein.
»Nicht, wenn ich am nächsten Morgen arbeiten muss. Ich bin so weit, wenn ihr es seid.«
»Lass mich noch eben mein Zeug holen«, sagte Mica und verschwand den Gang hinunter.
Nach einer kleinen Pause wollte Clare von Vaughn wissen: »Und wofür stehst du morgen auf? Was machst du so?«
»Ich fahre einen Krankenwagen. Ich bin Rettungssanitäter.«
»Oh, verstehe. Da braucht man wirklich einen klaren Kopf.« Und es erklärte den fitten Körper und die ruhige, gelassene Ausstrahlung.
Vaughn nickte. »Keine Ahnung, wie ich das geschafft hab, als ich jünger war – da bin ich auch mal verkatert zur Arbeit.«
»Das kenne ich selbst. Ich hab das Gefühl, dass, als ich achtundzwanzig geworden bin, meine Zeit zum Schlafengehen schlagartig von zwei Uhr morgens auf halb elf gesunken ist.«
»Genau.«
Mica tauchte wieder auf, steckte eine Geldbörse in die Gesäßtasche und zog sich eine grüne Kapuzenjacke an. »Bereit.«
Vaughn schaltete den Fernseher und die Lichter aus, dann ging er voraus hinunter auf die Straße, wo sein Auto parkte – eine schwarze, vielleicht fünf Jahre alte Mittelklasse-Limousine mit ein paar kleinen Dellen. Mica bot Clare den Beifahrersitz an, aber sie lehnte ab.
»Hinten ist es besser für mich. Da hab ich Platz für meinen ganzen Krempel.« Sie nahm die Kameratasche und den Zubehörbeutel von der Schulter.
»Also«, meinte Vaughn, als sie vom Randstein rollten, »Mica hat mir erzählt, dass du eine Fotoausstellung gestaltest. Irgendetwas mit Abstammung?«
»Ja. Ich versuche, für die Aufnahmen Personen zu finden, die wie ich sind – Mischlinge. Einen Großteil meines Lebens bin ich gefragt worden: ›Und was genau bist du?‹ Und das ist jetzt das Motto der Ausstellung.«
»Ist das nervig? Dass es die Leute immer wissen wollen?«
»Als ich jünger war, hat es mir schon zu schaffen gemacht, aber inzwischen vertraue ich darauf, dass die meisten Menschen einfach neugierig sind. Taktlos, aber bloß neugierig.«
»Ist nicht gerade der höflichste Weg, es zu formulieren, oder?«
Clare lachte. »Nein, nicht wirklich.«
»Passiert dir das auch oft?«, fragte Vaughn und wandte sich damit an Mica.
»Zu Hause in Los Angeles? Ständig.«
»Stört es dich?«
»Verdammt, ja, und ob’s mich stört. Ich bin in einem Gangviertel aufgewachsen. Da tut man sich keinen Gefallen damit, aus der Masse hervorzustechen.«
»Wofür halten die Leute dich denn?«
»Alles Mögliche. Indianer, Koreaner, Brasilianer. Die haben echt überhaupt keinen Plan. Und wenn man ihnen dann Halb-Malaysier hinwirft, sagt es ihnen ohnehin nichts.«
Eine Pause von Vaughn. »Hab ich dich je gefragt?«
»Wahrscheinlich.« Mica zuckte mit den Schultern. »Aber da waren wir Teenager.«
Als sie durch die ruhigen Wohnstraßen fuhren, kamen sie an einem dreigeschossigen Haus vorbei, wo ein Mann auf der Veranda saß und im Licht, das durch ein Fenster fiel, eine Zeitung las. Vaughn drückte kurz auf die Hupe und hob die Hand. Der Mann erwiderte den Gruß.
»Mein Vater«, klärte er Clare auf und bog um eine Ecke.
»Oh, cool. Bist du hier aufgewachsen?«
»Bin ich. Und ich sehe ihn oft. Sonntags zum Abendessen und in der Regel zum Mittagessen an den Wochentagen, an denen ich nicht arbeite.«
»Ihr müsst euch nahestehen.«
»Ja. Sehr sogar.«
»Er ist ein anständiger Kerl«, warf Mica ein. »Hab ihn erst am Wochenende kennengelernt. Logisch, dass du ein solcher Stützpfeiler der Gemeinde geworden bist.«
Vaughn gab einen skeptischen Laut von sich, aber Clare hätte gewettet, dass ihn sein Freund damit ziemlich richtig beschrieb. Man konnte Bodenständigkeit und Zuverlässigkeit bei einem Menschen genauso spüren wie Hinterhältigkeit. Außerdem fiel es ihr viel leichter, mit Vaughn zu reden als mit Mica … wenngleich das bestimmt daran lag, dass ihr jeder Blickkontakt mit Mica den Atem verschlug.
»Bist du aus der Gegend?«, wollte Vaughn seinerseits von Clare wissen.
»Ja. Arlington.«
»Leben deine Eltern noch dort?«
»Meine Mutter. Sie haben sich getrennt, als ich fünf war. Mein Vater ist für einen Job nach Steubenville gezogen, dann haben die Stahlwerke alle dichtgemacht. Aber er lebt immer noch dort, verwaltet jetzt ein Lagerhaus.«
»Siehst du die beiden oft?«
»Meine Ma fast jede Woche, und mein Vater kommt vielleicht einmal im Monat her und trifft sich zum Essen mit uns. Er hat vor ungefähr zehn Jahren wieder geheiratet und drei Stiefkinder, also hat er reichlich zu tun, aber ich sehe ihn noch.«
»Schön, dass sich deine Leute noch gut genug verstehen, um Zeit miteinander zu verbringen«, fand Vaughn.
»Sie sind immer miteinander ausgekommen. Ich glaube, sie wissen selber nicht, warum sie je dachten, sie sollten heiraten, aber es ist unübersehbar, dass sie sich mögen. Sie bringen sich gegenseitig zum Lachen. Sie sind bloß nicht damit klargekommen, zusammenzuleben.« Clares Eltern hatten ihr beigebracht, wie Freundschaft zwischen ehemaligen Paaren aussehen konnte, aber ihr nicht gerade als Musterbeispiel für eine Ehe gedient, in der sie sich eines Tages wiederfinden wollte. Als sie klein gewesen war, hatten die beiden viel gestritten, und der Lärm und das Chaos hatten ihr Angst eingejagt. Deshalb hatte sie, kaum dass sie erwachsen war, einen stoischen, verantwortungsbewussten Mann kennengelernt und sich die größte Mühe gegeben, mit ihm glücklich zu sein. Respekt war wichtig, genau wie Stabilität. Davis hatte beides in Hülle und Fülle geboten, und sie hatten nicht ein einziges Mal miteinander gestritten. Allerdings gab es noch andere Dinge, die sie brauchte und die er ihr letztlich nicht geben konnte. Zum einen Spontaneität. Aufregung und Verlangen – einen Funken Glut im Blick ihres Lovers, wenn er sie ansah. Klar, sie wollte wie eine Lady behandelt werden, aber gelegentlich eben auch nicht.
Clare konnte es kaum erwarten, den Ball der Unterhaltung Mica zuzuspielen, um herauszufinden, was es mit seiner Familie auf sich hatte und warum er in der Vergangenheitsform von seinen Eltern gesprochen hatte. Sie hatte gerade den Mumm dafür zusammengekratzt, als Vaughn den Wagen in einer belebten Straße vor einem viergeschossigen gelben Ziegelsteingebäude anhielt. Clare öffnete ihre Tür. Musik und das Geplapper von Unterhaltungen drangen durch die offenen Fenster einer Wohnung im zweiten Stock heraus.
»Ich wette, ich kann erraten, welche Wohnung die deiner Freunde ist«, meinte sie zu Vaughn, schulterte ihre Taschen und warf die Tür zu.
Er öffnete den Kofferraum und holte einige Einkaufstüten daraus hervor. In einer knisterte es, in einer anderen klirrte es. Mit dem Ellbogen drückte er den Kofferraumdeckel wieder zu.
»Auf wessen Party genau gehe ich eigentlich?«, erkundigte sich Clare, als sie die Treppe hinaufstiegen. Es war ein hübsches Gebäude, unlängst umgestaltet, ein Lebensraum für junge Erwerbstätige.
»Auf die meiner Freundin Linnea und ihres Verlobten James«, antwortete Vaughn.
»Schönes Haus.«
»Schon, oder? Allmählich fange ich an, mich zu fragen, ob ich nicht doch hätte studieren sollen.«
»Nicht unbedingt«, gab sie zurück. »Mein Abschluss trägt momentan nicht wirklich dazu bei, die Rechnungen zu bezahlen.«
Vaughn klopfte an die Wohnungstür. Eine hübsche, kurvige Frau öffnete und zog ihn in eine Umarmung. Es handelte sich um Linnea, wie Clare erfuhr, als sie einander vorgestellt wurden. Linnea hieß sie alle herzlich willkommen, bat sie, einzutreten und lud sie ein, sich nach Belieben zu bedienen.
Komischerweise lief Clare nach kaum drei Metern einem Bekannten über den Weg – einem alten Studienkollegen vom College. Ungefähr zwanzig Minuten lang plauderten sie, bis sie darauf kamen, warum Clare hier aufgekreuzt war. Da wurde ihr klar, dass sie wohl besser Ausschau nach ihrem Motiv für das Shooting halten sollte. Wer wusste, was für ein Partytiger Mica sein mochte? Es wäre klug, möglichst früh einige Fotos zu schießen, falls ihm in den Sinn käme, sich zu betrinken oder mit einer Frau zu verschwinden. Schon die Vorstellung versetzte Clare einen heftigeren Stich, als sie sich eingestehen wollte.
Zuerst fand sie Vaughn, der sich gerade im Wohnzimmer mit einer kleinen Gruppe unterhielt. »Hast du Mica gesehen?«
»Draußen bei der Feuerleiter, glaube ich. Durch die Küche.« Er nickte in die Richtung. »Ich begleite dich. Ich könnte ohnehin etwas frische Luft vertragen.«
Die Luft war nicht unbedingt von bester Qualität. Die Plattform an der Feuerleiter erwies sich als lang und breit, und man erreichte sie durch eine offen stehende Tür hinter dem Kühlschrank. Clare konnte die Raucher schon riechen, noch bevor Vaughn und sie hinaustraten.
Ein halbes Dutzend Partygäste plauderte und scherzte in der kühlen Nachtluft. Mica saß an der Ecke des Geländers und unterhielt sich mit einem schlanken weißen Mann. Jemand hatte eine Weihnachtslichterkette am Metallrost über der Plattform angebracht, und der Schein der Lichter verlieh der Szene in Kombination mit dem Rauch eine eigenartige Stimmung.
Clare hätte wohl einen Herzinfarkt bekommen, wenn jemand sie aufgefordert hätte, sich so hinzusetzen wie Mica. Der aber wirkte völlig unbekümmert auf seiner gefährlichen Sitzgelegenheit. Er entdeckte Vaughn und sie und winkte sie zu sich.
Sein Lächeln schlug Clare in den Bann, während sein Blick ihren Körper hinunter und wieder hinauf wanderte. Über die Schulter blies er Rauch aus, dann sagte er: »Ich hab mich schon gefragt, ob du vielleicht ein besseres Angebot gefunden hast.«
»Der Kerl in der Küche? Nein, wir waren bloß zusammen am College. Die Welt ist klein.« Sie sah sich um. »Die Beleuchtung hier ist echt toll. Wäre es dir recht, wenn ich hier draußen ein paar Aufnahmen mache?«
»Tob dich ruhig aus.«
Als Clare in Position ging, malte sie sich aus, wie beeindruckend der Kontrast sein würde – pechschwarzer Hintergrund, weiches, atmosphärisches Licht, weiße Punkte von den Glühbirnen, der stimmungsvolle Rauchschleier. Sowohl die Aufnahmen aus dem Yogastudio als auch jene aus ihrem Wohnzimmer, die sie bereits hatte, wurden von grellem Licht beherrscht, und diese Fotos würden all das Weiß wunderbar aufbrechen.
Ihr Auslöser klickte und klickte, als sie Mica fotografierte. Sein Gesicht und sein Körper pulsierten vor Energie. Seine Augen waren ständig in Bewegung, seine Hände rastlos. Sein Gesichtsausdruck wechselte von verträumt über fasziniert zu etwas, das sie nur verführerisch nennen konnte. Obwohl sie im Takt eines Maschinengewehrs Fotos schoss, würde jedes Bild einzigartig sein.
Mit abgewandtem Blick und der Zigarette zwischen den Lippen, wirkte er charismatisch. Als er sich der Äußerung eines anderen Partygasts zudrehte und ihr dadurch sein Profil und ein breites Grinsen zeigte, wirkte er einnehmend. Aber als sich der Blick jener Augen direkt auf sie richtete, sich geradewegs ins Objektiv bohrte und der Rauch seinen ausgeblasenen Atem milchig-weiß färbte … Herrgott, da verkörperte er reinen Sex. Personifizierten Sex in einer Kapuzenjacke.
Durch den Sucher fragte er: »Und kriegst du, was du willst?«
Ich bin noch nicht mit dir im Bett, also nicht ganz.
»Ich kann zwar nicht behaupten, dich zu kennen«, erwiderte Clare und passte die Einstellungen an, während sie weiterknipste, »aber aussehen tut es voll und ganz nach dir. Fühlst du dich auf Feuertreppen zu Hause?«
Er lächelte, zuckte mit den Schultern. »Ich mag Höhe.«
»Ach was.« Das kam von Vaughn, der sich hinter Clare aufhielt.
Schließlich ließ sie die Kamera sinken. Sie hatte hier draußen mehr als genug Aufnahmen geschossen. Viele würden wegen des geringen Lichts verschwommen sein, trotzdem würden sich Dutzende fantastischer Bilder finden, unter denen sie wählen könnte. Halb wünschte Clare, sie könnte sofort nach Hause hasten, sich an den Computer setzen und anfangen, die Fotos auszuwählen.
Mica drückte seine Zigarette am Geländer aus, schnippte den Stummel in die Gasse unten. »Ich glaub, ich hol mir was zu trinken.«
»Gute Idee«, befand Clare.
Ein Blick über die Schulter verriet ihr, dass Vaughn in einen anderen Orbit gezogen worden war. Sie folgte Mica in die dicht gedrängte Küche, wo sie sich ein Glas Rotwein einschenkte. Mica ergriff die Flasche, als sie damit fertig war, betrachtete den Rest und setzte sie an die Lippen.
»Bleib so«, forderte sie ihn lachend auf und stellte das Glas beiseite. Sein Blick begegnete durch das Objektiv dem ihren, und sie machte einige weitere Aufnahmen, wie er aus der Flasche trank und seine Ringe dabei funkelten, seine Kehle arbeitete.
»Laster passen zu dir«, teilte sie ihm mit, dann fotografierte sie das Lächeln, das sie erntete. Gleichzeitig durchlief ihren Körper ein warmer Schauder der Neugier. Sie ließ die Kamera sinken, als er dasselbe mit der Flasche tat.
»Bekommst du die Bilder, die du brauchst?«, erkundigte er sich.
Clare nickte, obwohl sich ihr Magen bei den Worten leicht zusammenkrampfte. Wurde er es leid, dass sie ihn fotografierte? Stand er kurz davor, sie zu entlassen?
Mica wusste es zwar nicht, aber es war ihr dreißigster Geburtstag, und sie verbrachte ihn mit dem, was sie am liebsten tat, noch dazu in Gesellschaft eines umwerfenden Mannes. Sollte er den Abend nun beenden, müsste sie lügen, um zu behaupten, es täte nicht weh.
»Soll ich dir die endgültigen Aufnahmen zeigen, bevor ich ein Foto für die Ausstellung auswähle?« Normalerweise wäre sie nicht so zuversichtlich, nach nur einem Shooting und lediglich dreihundert Bildern einen Gewinner zu haben, diesmal jedoch wusste sie es. Diesmal würde die Herausforderung darin bestehen, die Auswahl einzugrenzen und sich für nur eine Aufnahme zu entscheiden. Der Junge glich einem Diamanten – aufsehenerregend aus jedem Winkel.
»Es ist deine Ausstellung«, gab er zurück.
»Schick mir trotzdem eine SMS mit deiner E-Mail-Adresse, dann maile ich dir die Bilder, die in die engere Wahl kommen.«
»Ist unsere professionelle Beziehung damit beendet?«, fragte Mica mit heißem, eindringlichem Blick.
Clare schluckte. »Schätze schon.«
Seine Aufmerksamkeit senkte sich auf ihre Mitte, und langsam streckte er einen langen, wohlgeformten, tätowierten Arm aus, um zwei Finger in die Gürtelschlaufe an ihrer Hüfte zu fädeln. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
»Dann kann ich dich ja jetzt etwas fragen, was ich dich schon den ganzen Abend fragen will«, meinte er und zog spielerisch an ihr.
»Denke schon.«
Allerdings fragte er nichts. Er verstärkte nur den Griff an ihrer Gürtelschlaufe und schlug vor: »Komm mit mir nach Hause.«
Auf einmal pumpte ihr Herz noch heftiger, jagte ihr rauschendes Blut mit Hitze, einem Kribbeln und dem unterschwelligen Flimmern von Alkohol in die Fingerspitzen, die Wangen, zwischen die Beine. Verdammt, wann hatte ein Mann sie zuletzt so angesehen? Sie hatte völlig vergessen, wie es sich anfühlte, von jemandem auf diese Weise ins Visier genommen zu werden.
Es war schon eine verwegene Aufforderung, wenn man bedachte, dass sie sich noch nicht einmal geküsst hatten – oder auch nur eindeutig miteinander geflirtet. Aber Mica spürte wohl, dass sie ihn wollte. Trotz der Kamera zwischen ihnen musste er die Hitze ihres Starrens auf sein Gesicht und seinen Körper wahrgenommen haben. Und ihre Antwort wusste sie ohnehin schon. Geschenke zum Dreißigsten wie dieses bekam man nicht jeden Tag.
Clare nickte. »Okay.«
Er lächelte dieses teuflische Lächeln, das Fältchen um seine Augen entstehen ließ, dann stellte er die Flasche hinter sich.
Clares Körper fühlte sich so heiß und kribbelnd an, als hätte sie jene Flasche allein geleert. Ein so schamloser Vorschlag war ihr noch nie zuvor von einem Mann gemacht worden. Sicher, ein paar unaufgeforderte Nachrichten à la Sex?