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Rob hat sich vor einigen Jahren in die Highlands zurückgezogen, um der eigenen Vergangenheit zu entfliehen. Von Schuldgefühlen geplagt, meidet er jeden Kontakt zu Menschen. Doch als die attraktive Backpackerin Merry verletzt bei ihm auftaucht, bringt er es nicht über sich, sie wegzuschicken. Und während er sie wieder gesundpflegt, erliegt er ihren reizenden Flirt-Versuchen. Die Leidenschaft, die zwischen ihnen entbrennt, weckt ein geheimes Verlangen in Rob, das er lange unterdrückt hat. Merry will Rob um jeden Preis dabei helfen, diesem Verlangen nachzugeben, und die Reise führt die beiden Liebenden auf den Weg in die dunkelste Leidenschaft ... (ca. 450 Seiten)
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Seitenzahl: 518
Veröffentlichungsjahr: 2016
Titel
Zu diesem Buch
Danksagung
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Die Autorin
Die Romane von Cara McKenna bei LYX
Impressum
CARA MCKENNA
Ins Deutsche übertragen von Michael Krug
Zu diesem Buch
Rob hat sich vor einigen Jahren in die Highlands zurückgezogen, um der eigenen Vergangenheit zu entfliehen. Von Schuldgefühlen geplagt, meidet er jeden Kontakt zu Menschen. Doch als die attraktive Backpackerin Merry verletzt bei ihm auftaucht, bringt er es nicht über sich, sie wegzuschicken. Und während er sie wieder gesundpflegt, erliegt er ihren reizenden Flirt-Versuchen. Die Leidenschaft, die zwischen ihnen entbrennt, weckt ein geheimes Verlangen in Rob, das er lange unterdrückt hat. Merry will Rob um jeden Preis dabei helfen, diesem Verlangen nachzugeben, und die Reise führt die beiden Liebenden auf den Weg in die dunkelste Begierde …
Für meine Lektorin Jesse – risikofreudige Retterin von Einsiedlern und Alchemistin mit der Macht, gemeine Krähen in inkontinente Hunde zu verwandeln.
Mit herzlichem Dank an meine Agentin Laura Bradford, die auf meine Sorte von Verrücktheit steht.
Außerdem Danke an meine spitzenmäßigen Freundinnen und Schriftstellerkolleginnen Ruthie Knox und Jill Sorenson, die dieses Buch als Erste gelesen und verbessert haben. Und ein extragroßes, lautes Dankeschön an Charlotte Stein – Wahnsinnsfreundin, unfassbar talentierte Schriftstellerin und ideale Leserin dieses Romans.
Von: Merry
An: Lauren, Kat
Betreff: Abschiedsdrinks?
Hey, Mädels! Jemand morgen Zeit für Vorurlaubdrinks? Kann ja durchaus sein, dass ich nächste Woche die Sexsklavin eines muskelbepackten, kilttragenden Highlanders werde und nie mehr zurückkomme. Versprecht mir, dass ihr mir San Fran in der Zwischenzeit warmhaltet.
Hab’ zwar bei der Arbeit noch ’ne Million Dinge zu erledigen, aber bis 19:30 sollte ich fertig sein. Irgendjemand dabei? Ich hoffe schwer, wir sehen uns noch mal, bevor ich losdüse.
Mer
Von: Lauren
An: Merry, Kat
Betreff: AW: Abschiedsdrinks?
Würde ich auf keinen Fall verpassen wollen … Ich könnte diese Woche einen Drink gebrauchen. Oder auch drei. Sag mir einfach, wo.
L
Von: Kat
An: Merry, Lauren
Betreff: AW: Abschiedsdrinks?
Scheiße, ja. Wir sehen uns!
Kat
Von: Lauren
An: Merry, Kat
Betreff: AW: Abschiedsdrinks?
Ist es total arschig von mir, wenn ich mich irgendwie darauf freue, dass Merry einen Monat weg sein wird? Wahrscheinlich. Aber ich schwöre, sie hat zusammen mit dem Gewicht ihre alte Persönlichkeit verloren. Als Nächstes fängt sie noch an, jedes Mal, wenn ihr jemand sagt, wie toll sie aussieht, die Haare zurückzuwerfen und albern zu kichern. Raubt mir den letzten Nerv. Bon voyage.
Na schön, ja. Das WAR jetzt arschig. Was soll’s? Wir sehen uns morgen!
Mit arschigen Grüßen
Lauren
Merry schaute noch auf das Display ihres Handys, als mit einem Ping eine weitere Nachricht eintraf.
Von: Kat
An: Merry
Betreff: AW: Abschiedsdrinks?
Äh … o_O Ich schätze mal, Lauren wollte die Antwort eigentlich gar nicht senden. Und ich denke, sie weiß nicht, dass sie’s getan hat. Sollen wir sie in dem Glauben lassen oder …??? Wie auch immer, kann’s kaum erwarten, dich morgen zu sehen!
Fremdschämende Grüße
Kat
Merry runzelte die Stirn, während sie über ihre Antwort nachdachte.
Sie war nicht verletzt.
Na ja, doch, war sie. Aber nicht überrascht. Laurens Grundhaltung war nun mal bissig. Dennoch tat es Merry weh, dass sich ihre Vermutung bestätigte. Sie hatte zweiundvierzig Kilo abgenommen, die Pfunde jedoch gegen etwas anderes eingetauscht … die Rückkehr zu den fragwürdigen Freuden alter Highschool-Zickigkeit! Es ging doch nichts über ein versehentliches »Allen antworten«, damit man sich mit einunddreißig schlagartig wieder wie fünfzehn fühlte.
Sie quetschte den Teppich zwischen ihren nackten Zehen und wischte mit dem Ärmel über das verschmierte Display. Konfrontation oder keine Konfrontation?
Lauren hatte einmal zu ihr gemeint: »Du kannst fett oder eine Zicke sein. Aber du kannst keine fette Zicke sein. Zickig sein ist ein Luxus, den sich nur heiße Frauen leisten können.«
Merry hasste dieses Motto, doch selbst fünf oder mehr Jahre, nachdem Lauren es geprägt hatte, erinnerte sie sich Wort für Wort daran. Als könnte eine Frau nicht üppig und eine Zicke sein – und heiß dazu, was das anging. Obwohl es traurigerweise so zu sein schien, dass man nicht Laurens beste Freundin sein konnte, wenn man nicht fett blieb.
Was Merry als ziemlich tussige Grundeinstellung empfand. Fast genauso tussig wie jene E-Mail.
War sie denn wirklich nerviger geworden? Hatte sie bisher eigentlich nicht gedacht.
Als wäre irgendwer auf der Welt nicht von Zeit zu Zeit nervig …
Und falls sie sich vergnügt gab und die Leute anlächelte, wenn sie ihr Komplimente machten, so lag das daran, dass ihre Mutter sie dazu erzogen hatte, Lob dankend anzunehmen, ohne es je abzuwehren oder sich zu entschuldigen. Heb dir das Abwehren für die Beleidigungen auf … davon wird es zur Genüge geben. Lass die freundlichen Worte ruhig runtergehen wie Öl.
Merry seufzte. Sie konnte die Anspannung physisch spüren. Doch sie zwang den Druck aus ihrem Körper statt ihn mit Essen zu dämpfen, so, wie sie es sich durch Training angewöhnt hatte.
Sollte Lauren ruhig schmollen. Sollte sie Dampf ablassen. Sollte sie ruhig denken, Merry sei zur Verräterin geworden, indem sie von einem herrlich bequemen Kollisionskurs Richtung Diabetes, Gelenkbeschwerden und was immer sonst abgebogen war, den sie bis zum vergangenen Jahr ignoriert hatte.
Vielleicht würde sich Lauren mit der Zeit wieder einkriegen. Und wenn dem nicht so sein sollte, würde sich Merry vielleicht damit abfinden müssen, dass Lauren weitere neunzig Kilo verkörperte, die sie froh sein konnte, losgeworden zu sein.
Trotzdem fand sie es scheiße. Zehn Jahre der Freundschaft, und ihr war nie aufgefallen, wie abhängig sie gegenseitig voneinander gewesen waren. Es war so ähnlich an ihr vorbeigegangen wie der Umstand, dass sie so viel Gewicht zugelegt hatte – ungeachtet der stetig wachsenden Jeansgrößen und der Anzeige auf der Waage, die ihr das eigentlich jeden Tag unübersehbar präsentiert hatten. Menschen konnten wirklich ungemein selektiv in ihrer Wahrnehmung der Realität sein.
Sie tippte auf »Antworten«.
Von: Merry
An: Lauren, Kat
Betreff: AW: Abschiedsdrinks?
Spitze! Im Americano um 19:30. Die erste Runde geht auf mich.
Mer
Ja, spitze. Merry konnte als Mensch ruhig Größe beweisen … auch wenn sie als Frau mittlerweile die Zierlichere der beiden war. Offenbar hatte sie einen unausgesprochenen Solidaritätspakt dicker junger Frauen gebrochen, den sie unterbewusst mit Lauren eingegangen war. Sie konnte es Lauren nachsehen, dass sie sich jetzt verraten oder im Stich gelassen fühlte.
Obwohl: Ihre Mail war schon wirklich echt arschig gewesen.
Merry wandte sich der Katastrophe ihres Wohnzimmers zu, in dem die Ausrüstung für drei Wochen Wanderurlaub verstreut lag, die darauf wartete, auf magische Weise in nur einen Rucksack gezwängt zu werden. Sie ordnete die Gegenstände nach Notwendigkeit … Zelt, Schlafsack, Wasserfilter in der ersten Reihe. Danach unerlässliche Kleidung, gefolgt von Kleidung, die nur mitkommen würde, wenn genug Platz dafür bliebe …
Freundinnen lieben sich gegenseitig, dachte sie, als sie die Verschlüsse ihrer Reiseflaschen überprüfte. Freundinnen verletzen sich gegenseitig. Freundinnen kamen und gingen; nur hatte Merry in den vergangenen anderthalb Jahren bereits eine Menge verloren. Ihre Mutter, über ein Drittel ihres Körpergewichts, dann ihren … Nun ja, nicht wirklich ihren festen Freund. Eher ihren Fickfreund. Jason hatte vor einigen Monaten aufgehört, ihr SMS zu schreiben. Etwa um die Zeit, als Merry in der Umkleidekabine eines Kaufhauses vor Freude im Kreis gehüpft war, nachdem sich der Reißverschluss hatte schließen lassen. Mit einem Anflug von berauschendem Selbstvertrauen war sie damals in ihrem ersten Kleid in Größe 42 praktisch auf die Straße hinausgetanzt.
Wie durch ein Wunder hatte sie das Kleid schon wenige Wochen später zu einem Kommissionsladen bringen müssen – es war ihr zu groß geworden. Nach diesem Urlaub würde sie vielleicht dasselbe mit ihren Kleidern in Größe 40 tun müssen. Heilige Scheiße. Größe 38. Auf der Traumseite der magischen 40. Eines Tages würde sie vielleicht tatsächlich noch in die Mustergrößen passen, die sie bei der Arbeit gestaltete. Paradiesisch.
Komisch war, dass sie sich innerlich noch ganz wie die alte Merry fühlte … warmherzig, kompetent, witzig, loyal. Dennoch reagierten die Menschen mittlerweile anders auf das Gesamtpaket, das diese Eigenschaften umschloss. Leute von der Arbeit, die früher nie mehr zu ihr gesagt hatten als »Wie wechselt man bei diesem Ding den Toner?«, erkundigten sich auf einmal nach ihrem Wochenende, ihrem Urlaub und ihrer Meinung zum neuesten Reality-TV-Skandal.
Und während sich ein Teil von ihr darüber freute – immerhin war männliche Aufmerksamkeit schon ein Nebeneffekt des Gewichtsverlusts, auf den sie gehofft hatte –, fragte sich ein anderer Teil unwillkürlich: Warmherzig, witzig und loyal zählt eigentlich nicht sehr viel, oder? Nicht, wenn diese Charakterzüge nicht in einer attraktiven weiblichen Form steckten. Nicht, wenn man bei einem Kerl an der sprichwörtlichen Rezeptionistin vorbeiwollte. Was irgendwie beschissen war.
Und andererseits … wollte sie genau das. Einunddreißig, und sie war noch nie verliebt gewesen. Klar, verknallt, das kannte sie natürlich. Sie hatte sich in den einen oder anderen verguckt, hatte aber noch nie gespürt, dass dieses bestimmte Licht und diese Hitze zu ihr zurückgeworfen wurden. Ihre eigene Unsicherheit hatte sie immer zu dicht umhüllt, um dazu einzuladen. Manche Frauen trugen ihre Kurven voller Stolz … sie rockten sogar richtig damit. Aber das war bei Merry nie der Fall gewesen. Ihr Übergewicht hatte sie immer in die Defensive gedrängt, hatte als Wall fungiert, hinter dem sie sich versteckt hatte, nicht als etwas, das sie mit offenen Armen begrüßt hätte.
Mittlerweile war die Panzerung verschwunden. Sie fühlte sich nun zwar ungeschützt, fand das Gefühl jedoch ebenso aufregend wie beängstigend. Und wenn sie sich je in den Fangarmen leidenschaftlicher, überwältigender, den Verstand raubender, erwiderter wahrer Liebe winden wollte, würde sie ihren Frieden mit diesem Gefühl von Nacktheit schließen müssen.
Vielleicht war Lauren genau wie Jason die alte Merry lieber gewesen, jene Merry, die sich ein Bein ausgerissen hatte, um es allen Leuten recht zu machen, die sie mochte. Jene Merry, die sich selbst immer hintangestellt hatte.
Die könnt ihr gern behalten, ging ihr durch den Kopf, als sie ihren Schlafsack in seine Hülle stopfte.
Die neue Merry bricht jetzt auf, um durch Schottland zu wandern.
Und sie wird nicht zurückkommen, bis sie verdammt noch mal zu sich selbst gefunden hat.
Sie war eine Wassernymphe. Eine schwerelose, ätherische Göttin des Sees.
Unter ihrem Rücken eine Matratze wogender Kühle, warmer Sonnenschein auf ihren Brüsten, dem Bauch und ihrem Gesicht. Mit untergetauchten Ohren wurde ihr Puls zum Herzschlag der Erde selbst. Ihr wallendes Haar tänzelte in den sanften Wellen. Sie war mehr Geist als Fleisch, eine Gestalt reiner Energie, die von der Brise überallhin verweht werden konnte …
Doch schließlich holte die Kälte sie ein. Ihre Füße ertasteten die glatten Steine und den matschigen Untergrund. Die Herbstluft, die ihren Körper umhüllte, sorgte dafür, dass sich ihre Rückenmuskeln unwillkürlich zusammenzogen. Die Schwerelosigkeit schwand, schwand, war verschwunden, als sie ans Ufer watete.
Die Wassernymphe war nicht mehr, und zurück blieb bloß Merry. Dieselbe alte Merry, die weiterhin das Benutzerhandbuch für diesen Körper durchblätterte, den sie immer noch nicht vollends als ihren eigenen betrachten konnte.
Die Brise bescherte ihr am ganzen Leib eine Gänsehaut, als sie sich auf Zehenspitzen zwischen den scharfkantigeren Steinen einen Weg zu ihrem Handtuch bahnte … einem Handtuch, das nach über zwei Wochen des Wanderns dringend in die Waschmaschine gehörte.
Während sie sich abtrocknete, ließ sie die Landschaft auf sich wirken. Dabei ging ihr durch den Kopf, dass sie sich noch nie so klein gefühlt hatte … und das Gefühl hatte nichts mit ihrer neuen Kleidergröße oder ihrem Body-Mass-Index zu tun. Diese Werte empfand sie mittlerweile als so abstrakt.
Die Täler im nordwestlichen Schottland waren weitläufig, die zerklüfteten schwarzen Berge zugleich beeindruckend und bedrohlich. Der See präsentierte sich lang und breit und waberte wie altes Glas unter einem schier endlosen blauen Himmel. Merry befand sich ein gutes Stück abseits des beliebten Wanderwegs, der als Great Glen Way bekannt war, und das einzige Anzeichen für die Anwesenheit von Menschen, das sie in den vergangenen Tagen erspäht hatte, war weißer Rauch gewesen, der aus dem Schornstein einer Ferienhütte aufgestiegen war, die sie an diesem Morgen passiert hatte.
Nachdem sie in ihre Wanderhose und eine Reißverschlussjacke geschlüpft war, kauerte sie sich auf einen Felsbrocken, um dicke Wollsocken anzuziehen. Der Stein pikte sie unsanft in den Hintern, und beinah hätte sie ihre alte Polsterung vermisst. Die zweiwöchige Wanderung hatte ihren Gesamtgewichtsverlust seit dem vorigen Sommer vermutlich auf stattliche fünfzig Kilo aufgerundet.
Sie hatte sich schon oft Fantasien über den Tag hingegeben, an dem sie diese berauschende, runde Summe erreichen würde. Fünfzig verfluchte Kilo.
In ihrer Vorstellung hatte sie sich ausgemalt, an diesem Tag zu einer unchristlichen Zeit kurz nach Sonnenaufgang aufzustehen, auf die Waage zu steigen, voller Entzücken und Freude die Hände zu falten und anschließend den Flur hinabzutänzeln, um die große Leistung mit exakt einem Dreiviertelbecher ballaststoffreichen Müslis und einer penibel abgemessenen halben Tasse Sojamilch zu feiern; ein Frühstück, von dem sie sich – in ihrer Fantasie – angewöhnt hatte, es als zugleich schmackhaft und befriedigend zu empfinden. 220 Kalorien. Aufschreiben. 220 … das entsprach sechzehn Minuten auf dem Laufband mit einer Geschwindigkeit von zehn Kilometern pro Stunde. Oder einundzwanzig Minuten auf dem Crosstrainer mit 115 Schritten pro Minute bei einem Widerstand von 7,5 – ohne Aufwärmen.
Verdammte Zahlen.
In ihrer Vorstellung war sie nach besagtem Frühstück immer zur Arbeit gegangen. An diesem Tag würde sie sich eine ausgiebige Mittagspause gönnen, und im schmeichelhaften Licht der Umkleidekabine bei J. Crew würde sie feststellen, dass sie tatsächlich in eine Jeans der Größe 38 passte. Eine Jeans, für die sie neunzig Dollar hinblättern würde …
Weitere Zahlen, immer wieder Zahlen.
Doch egal. Mit einem Lächeln würde sie dann die Kreditkartenquittung unterschreiben und dabei tunlichst nicht über die Arbeitsbedingungen kambodschanischer Kinder nachdenken.
Die Realität sah völlig anders aus als ihre Erwartungen. Die Reise der vergangenen zwei Wochen hatte ihre gesamte Wahrnehmung verschoben und ihr endlich einen authentischen Bezug zu den durchgemachten Veränderungen beschert. Dutzende Kilometer, die sie mit ihrem alten Körper nie zu wandern vermocht hätte. Steile Hänge, die sie nie hätte erklimmen können, von den Gipfeln dann Aussichten, die sie nie zu sehen bekommen hätte. Das Gefühl des Windes oder der schwachen Herbstsonne auf ihrer nackten Haut. Die Erfahrung perfekter Einsamkeit. Die Spiegellosigkeit ohne irgendjemandes Blicke auf ihrem Leib, sogar ohne ihre eigenen. Das Erleben ihrer Körperlichkeit von innen heraus, durch das, was sie nunmehr tun konnte, nicht dadurch, wie sie aussah.
Die Zahlen spielten keine Rolle. Die Zahlen bildeten bloße Kennwerte, die Menschen benutzten, um sich davon zu überzeugen, um wie viel besser oder schlechter sie im Verhältnis zu anderen waren – um ihren relativen menschlichen Wert zu berechnen.
Diese Reise würde im Nu vorüber sein, und Merry spürte, dass sie in Gefahr war, sofort wieder darauf zurückverfallen, einen Scheißdreck auf die Zahlen zu geben. Die Rituale, die sie sich angeeignet hatte, mochten ihren Körper um die Masse einer Siebtklässlerin verringert haben, nur war diese zwanghafte Wachsamkeit nicht nachhaltig. Außerdem kannte Merry den Geschmack von Jakobsmuscheln im Speckmantel, von panierten Gurken mit Ranch-Dressing, von Brownie-Teig, der nie in einem Backofen gewesen war. Sie war vor zu vielen Jahren aus dem Garten geworfen worden, in dem nur Möhrenstifte und Brezelpackungen à einhundert Kalorien wuchsen, und man ließ sie dort nicht mehr hinein. Ihr Mund hatte mit zu vielen Reuben-Sandwiches gesündigt.
Vorläufig jedoch verzichtete sie auf ein Ernährungstagebuch. Oder auf das Protokollieren ihres täglichen Herzkreislauftrainings. Solange sie hier draußen unterwegs war, durften ihr die Zahlen gerne den Buckel runterrutschen.
Zu Hause besagten die Tabellen, dass Merrys tägliches Kalorienbudget bei 1450 lag. Sie lächelte, als sie eine Tüte mit Cashewnüssen aufriss, von denen sie eine Handvoll nach der anderen aß, während sie beobachtete, wie der leichte Wind Wellen auf den See zauberte. Allein damit würde sie innerhalb von fünf Minuten die Marke von 1450 sprengen. Doch bis zum Mittag würde sie alles wieder verbrannt haben, indem sie ihren knapp zwanzig Kilo schweren Rucksack über Hügel und durch Täler schleppte, während sie dabei regelmäßig ihre zu große Wanderhose hochzog, wenn diese zu tief nach unten rutschte und an ihren erst unlängst freigelegten Hüftknochen rieb.
Hier draußen stellte ihr Körper keine Ansammlung von wünschenswerten und beschämenden Teilen dar, nichts, was sich durch Willenskraft täuschen, bestrafen und überlisten ließ. Er war lediglich ein Gefäß für Nahrung, Wasser und Sonnenschein; ein Gebilde aus Muskeln und Knochen, leistungsfähig und bereit. Eine für diese Reise getunte Maschine … 270 Kilometer zu Fuß, fast drei Wochen, um all diese natürliche Schönheit auf sich wirken zu lassen und ihren Erfolg zu genießen. Zahlen, die ihren Bemühungen eine Berechtigung verliehen, statt ihren Wert als Frau zu beziffern.
Sie wickelte die Haare in das Handtuch und legte sich auf einen weichen Grasstreifen, gab sich dem Gefühl der Zierlichkeit hin. Als sie die Augen schloss und die Wärme der Sonne begrüßte, ließ sie ihren Körper hinter sich.
Zwei Stunden später fingen die Krämpfe an.
***
Es begann mit stechenden Schmerzen knapp unterhalb der Rippen und einem Brodeln in ihrem Bauch. Merry musste die für den Tag vorgesehenen Kilometer abschreiben und schleppte sich mit unsteten Schritten zurück zum See, um nicht zu weit von einer Wasserquelle entfernt zu stranden. Auf die Schmerzen folgte eine lange Nacht, in der sie in einem geradezu höhnischen Halbschlaf beunruhigende, sich wiederholende Träume heimsuchten, begleitet von wachsender Übelkeit.
Merry sehnte sich danach, sich übergeben zu können – das hätte bestimmt dieses heimtückische Schwindelgefühl vertrieben –, doch diese Gnade blieb ihr verwehrt. Bis zum Morgengrauen hatte sich die Krise auf ihre Eingeweide ausgeweitet, und immer noch wollte die Übelkeit nicht weichen.
Die Krämpfe wurden heftiger, Kopfschmerzen gesellten sich dazu, und ganz gleich, wie viel Wasser sie auch trank, sie blieb ständig durstig. Als ihre Flaschen leer waren, brachte selbst die geringe Anstrengung, sich hinzukauern und die Filterpumpe zu betätigen, ihre Muskeln zum Schmerzen und ihre Glieder zum Zittern.
Irgendetwas ganz und gar nicht stimmte mit ihr, und wahrscheinlich lag es nicht bloß an einer zu großen Menge Dörraprikosen, die sie am Vortag zu Mittag gegessen hatte.
Die kleine Crofter-Hütte, die sie im vergangenen Morgengrauen passiert hatte, konnte nicht weit entfernt liegen … höchstens dreieinhalb Kilometer. Bedauerlicherweise verlief der Weg dorthin bergauf, und ihr Rucksack fühlte sich an, als wäre er mit Waschbetonblöcken gefüllt. An den Riemen schmerzte das Gewicht so stark, dass sie überzeugt davon war, blaue Flecke an diesen Stellen zu bekommen. Der Wassermangel ließ sie schwindlig werden, ihr Mund fühlte sich an, als wäre er mit Baumwolle ausgekleidet, und ihre Lippen waren ganz spröde geworden. Merry konzentrierte sich auf jeden Schritt und versuchte, ihren Geist vom körperlichen Unbehagen abzulenken. Rechts, links. Rechts, links. Sie summte fröhliche Popsongs, deren Melodien aber immer wieder von einem leisen Stöhnen unterbrochen wurden, wenn ein weiterer Krampf ihr die Eingeweide verknotete.
»Beschissene Scheiße.«Sie hielt sich den Bauch und knirschte während des neuesten Anflugs von Schmerzen mit den Zähnen.
Vielleicht anderthalb Kilometer den Hang hinauf sank sie auf die Knie, zu Fall gebracht vom Gewicht des Rucksacks. Ihre Muskeln hatten zu wenig Kraft, um es zu verhindern. Sie riss sich die Handfläche an einem scharfkantigen Stein auf, allerdings hatte der Aufprall kaum geschmerzt. Und das fühlte sich ganz und gar nicht richtig an.
Schwankend rappelte sie sich auf die Beine.
Keine hundert Meter weiter fiel sie erneut, weil sie über einen aus der Erde ragenden Felsbrocken stolperte, den das wilde Gras verdeckt hatte. Diesmal war es ihr Kopf, der auf einem Stein landete.
Weiß blitzte es in ihrem Kopf auf. Die Schmerzen setzten erst ein paar Sekunden später ein, aber als sie es taten, schrie Merry auf. Während sie die vor ihren Augen tänzelnden Pünktchen wegblinzelte, rollte sie sich auf die Seite und versuchte mit zittrigen Fingern, die Schnallen um ihre Mitte und an ihrer Brust zu öffnen. Der Rucksack, der sich wie eine halbe Tonne totes Gewicht angefühlt hatte, fiel von ihr ab. Sie berührte ihre Schläfe. Als sie die Finger zurückzog, waren sie rot und klebrig.
Das ist nicht gut.
Ich werde hier draußen sterben. Und ich bin noch nie verliebt gewesen.
Gott, das war so erbärmlich. Zu erbärmlich, um sich damit abzufinden.
Eine Zeit lang – eine Minute, eine Stunde, einen Tag, sie wusste es nicht – starrte sie an den klaren blauen Himmel und lauschte dem Strömen des Flusses, wartete darauf, dass ihre Glieder wieder zum Leben erwachten, sich ihr Gehirn beruhigte, ihre Panik sich verzog. Als es schließlich soweit war, mühte sie sich auf die Knie, löste den Pfeifenanhänger aus Plastik von ihrem Rucksack und kramte eine Wasserflasche sowie ihren Kompass heraus. Bevor sie von Glasgow aus aufgebrochen war, hatte sie sich einen GPS-Tracker gekauft, ein Ansteckgerät, das sie nun von ihrem Rucksack zu ihrer Hosentasche verlagerte. Viel würde es nicht bewirken, außer ihr das vage Gefühl zu geben, dass sie noch lose mit irgendwelchen Menschen irgendwo verbunden war. Und sollte sie hier draußen sterben, tja, dann würde man sie vielleicht zumindest vor den Krähen finden.
Mit diesem motivierenden Gedanken setzte sie den Weg den Hang hinauf fort.
Am Vortag hatte sie den Eindruck gehabt, die Hütte läge vielleicht fünfundvierzig Minuten Fußmarsch entfernt. Mittlerweile hätte sie bestimmt dort eintreffen müssen. Oder fühlte sich durch ihre Panik Schneckentempo wie ein Sprint an?
Schließlich jedoch, nach gefühlten Stunden … Steinmauern, eine rote Tür. Ein winziges Gebäude, nicht größer als ihr Apartment, tauchte hinter der Kuppe auf.
»Danke, danke, danke …«
Ein heftiger Anflug von Übelkeit durchlief ihren Körper und sie krümmte sich zusammen. Merry stöhnte, bis sich das Gefühl legte, und sog verzweifelte Atemzüge zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch ein. Ihr Arm schmerzte, als sie die Pfeife aus der Tasche hervorkramte und an staubtrockene Lippen setzte. Sie blies hinein. Zuerst drang kaum ein Laut heraus, aber sie schnaufte bei jedem Schritt weiter hinein, während die Hütte näher und näher rückte. Sie würde es schaffen. Vielleicht würde sie das letzte Stück kriechen müssen, aber sie würde es schaffen.
In die Pfeife hineinzublasen löste ein Schwindelgefühl aus, und rund hundert Schritte von der kleinen Behausung entfernt fiel Merry erneut auf die Knie. Ihre Schläfe heulte gequält auf, als sie sich wieder auf die Beine kämpfte, doch etwas anderes überlagerte den Schmerz bei Weitem. Wut. Panik. Frustration darüber, dass niemand sie gehört und die Tür geöffnet hatte. Oder hatte sie sich den Rauch nur eingebildet?
Nein, irgendjemand hielt diesen Ort in Schuss. Das Stroh auf dem Dach wirkte gepflegt, am Türrahmen lehnte ein Besen, der nicht verwittert genug war, um vor längerer Zeit zurückgelassen worden zu sein. Es musste sich um eine Ferienhütte handeln. Bitte lass die Mieter nicht ausgerechnet gestern nach Hause abgereist sein …
»Hallo?«, rief sie und wankte die letzten paar Meter vorwärts. Ihre Faust hämmerte pochend gegen die schwere Holztür und verschlimmerte die Schmerzen in ihrem Arm. Sie hieb darauf ein und brüllte, doch die Wirkung blieb so schwach wie ihre Stimme. »Hallo! Bitte! Ich bin verletzt.«
Zu ihrer Linken hing eines jener Aluminiumschilder, wie man sie in Eisenwarenläden kaufen konnte. Betteln und Hausieren verboten. Zu erschöpft, um die Botschaft zu verstehen, setzte sie die Pfeife an den Lippen an und sammelte genug Luft für einen kräftigen Atemstoß, als die Tür letztlich nach innen aufschwang.
Der Mann zuckte zusammen und schlug sich die Hände über die Ohren. Merry erschrak so heftig, dass die Pfeife ihr aus dem Mund fiel. Blaue Augen weiteten sich, richteten den Blick auf Merrys blutenden Kopf.
»Hallo«, brachte sie benommen hervor und fühlte sich wie betrunken. Krämpfe durchzuckten in willkürlichen Intervallen ihre Eingeweide, während ihre Schläfe von der Platzwunde pulsierte. »Ich sterbe womöglich gerade. Ich bin nicht sicher.«
Die Tür öffnete sich weiter. Ein dunkelhaariger Mann scheuchte sie hinein und um eine Ecke. Etwas Hartes krachte gegen ihren Hintern und ihre Beine … ein Stuhl, der aus dem Boden aufzusteigen schien, um mit ihrem Körper zusammenzustoßen. Sie packte den Sitz an den Seiten mit beiden Händen, überzeugt davon, dass er schwebte und sie gleich kippen und zu Boden stürzen würde, wenn sie sich nicht festhielte. Sie hätte sich am liebsten einfach hingelegt. Auf den angenehmen, festen Boden, wo die Welt vielleicht aufhören würde, so wild zu schaukeln. Sie versuchte mit dem Hintern vom Sitz zu rutschen, doch der Fremde hielt sie davon ab, drückte ihre Schultern nieder.
»Nein, nicht. Bleiben Sie sitzen.«
»Ich muss mich hinlegen.«
»Das geht nicht. Sie haben einen garstigen Schlag gegen den Kopf erlitten.« Er kauerte sich vor sie, die Hand nach wie vor fest um ihre Schulter geklammert. Behutsam zog er die Haut über und unter ihren Lidern zurück, um ihr in die Augen blicken zu können. »Sie sehen doch nicht etwa doppelt, oder?«
»Nein, ich hab bloß entsetzliche Kopfschmerzen. Und mir dreht sich alles. Und mir ist schlecht.«
Er untersuchte weiter mit seinen blauen Augen die ihren. Graublau wie die Seen und der Herbsthimmel kurz vor Einbruch der Dämmerung, dachte Merry, die sich immer noch wie betrunken fühlte. Kalt wie Schiefer, hart und stechend. Sein zu langes Haar wirkte ungebändigt wie wildes Heidekraut. Oha, stark.
Der Mann bedeckte kurz ihre Augen mit seinen warmen Händen, dann entfernte er sie wieder. »Ihre Pupillen sehen in Ordnung aus.« Der Duft von Tee süßte seinen Atem. Gott allein wusste, wonach ihr eigener riechen mochte.
Er ist heiß, ging Merry beiläufig durch den Kopf, ein angesichts der Umstände dermaßen unangebrachter Gedanke, dass sie ihn der Verletzung an ihrer Schläfe zuschrieb.
Als sie wieder zu Atem gelangte, kehrte ein wenig Klarheit zurück, und der Raum hörte allmählich damit auf, sich um sie zu drehen. Es gelang ihr sogar, eine Tasse mit kaltem Wasser entgegenzunehmen und halb leer zu trinken. Das schien den Dampf zu lichten, der ihr Gehirn vernebelte, wenngleich die Übelkeit und die stechenden Kopfschmerzen blieben.
Der Mann nahm ihr die Tasse ab, stellte sie auf einen kleinen Tisch neben ihr und kauerte sich wieder hin.
»Halten Sie still.« Er schob ihr Haar zurück, um den Schaden zu begutachten, den der Sturz angerichtet hatte. Während er die Verletzung besah, musterte Merry sein Gesicht und versuchte, nach all den Tagen vollkommener Abgeschiedenheit schlau aus ihm zu werden.
Seine Stoppeln grenzten an einen vollwertigen Bart und waren schwarz, abgesehen von einem silbrigen Fleck unter den Lippen. Sie schätzte ihn auf um die vierzig. Zwischen seinen Brauen verliefen zwei tiefe Furchen, zwei weitere umrahmten seinen Mund … sie wirkten streng und ehern. Außer attraktiven Schlieren an den Schläfen wies sein dunkles Haar weniger Grau auf. Seine Miene war hart, doch es ließ sich nicht beurteilen, ob der Ausdruck typisch für ihn war oder ob er ihn sich lediglich für hysterische, blutende Wanderinnen vorbehielt, die wirr brabbelnd seine Hütte stürmten …
Ganz gleich, wie streng oder mürrisch er erscheinen mochte, und ganz gleich, ob Merry eine Gehirnerschütterung hatte oder nicht, beides änderte nichts an ihrer ursprünglichen Einschätzung: Er war heiß. Ausdrucksstarke Nase, misstrauische blaue Augen. Eine irgendwie abgerissene, kantige Attraktivität. Wie ein verzweifelter Flüchtiger mit Sexappeal. Was im Übrigen auch erklären würde, weshalb er ganz allein mitten im Nirgendwo lebte. Jedenfalls sah er nicht wie ein Mann auf Urlaub aus.
Aber definitiv heiß.
Vielleicht reißt er ja sein Hemd in Streifen, um Verbände für meinen Kopf anzufertigen.
Oh Scheiße, ich bin ja so was von notgeil.
»Bleiben Sie hier.« Der Mann stand auf und verschwand im Nebenzimmer.
Merry sah sich um. Sie befand sich in einer Kombination aus Küche und Wohnzimmer mit einem Holzofen in der Mitte, Regalen mit Töpfen, Pfannen und Geschirr an einem Ende und einem Schaukelstuhl am anderen. Der Raum wurde von dem kühlen Licht erhellt, das durch ein einziges Fenster einfiel.
Ihr geheimnisvoller Gastgeber kehrte mit einem Erste-Hilfe-Kasten aus Metall und einem nassen Waschlappen zurück. Er krempelte die Ärmel seines Thermo-Shirts bis zu den Ellbogen hoch. »Drehen Sie den Kopf.«
Sie ließ ihn ihre Schläfe abtupfen, zuerst mit Wasser, dann mit einem Tuch. Es brannte. »Au, au, au.«
»Ist ’ne üppige Beule, die Sie da haben.« Sein Daumen umkreiste die Stelle.
»Aua … ja.«
»Aber wenigstens müssen Sie nicht genäht werden.« Er schmierte eine Salbe auf die Platzwunde und strich ein breites Pflaster darüber glatt. Dann kauerte er sich auf die Fersen zurück, und sein Gesichtsausdruck wurde eine Spur milder. »Ich hab mit dem Pflaster Ihre Haare erwischt. Tut mir leid.«
Merry drückte leicht auf das Pflaster. »Schon okay. Was ist mit meiner Hand?« Sie streckte sie aus. Getrocknetes, bräunliches Blut verkrustete die Handfläche.
Der Mann ergriff sie und wischte sie sauber, was lediglich harmlose Kratzer zum Vorschein brachte. Merry starrte auf seinen Mund, als das Desinfektionstuch brennend über die beschädigte Haut strich, und konzentrierte sich auf die schmale Linie seiner Lippen, bis das Brennen nachließ.
»Wahrscheinlich nicht der Mühe wert, sie zu verbinden«, befand er und ließ ihre Hand los.
»Nein, wahrscheinlich nicht. Danke.«
Ihr unbekannter Wohltäter wich etwas zurück und stützte die Unterarme auf die Knie. »Wieso wandern Sie da draußen ohne Vorräte herum?«
»Ich habe einen ganzen Rucksack mit Zeug dabei, aber ich musste ihn zurücklassen, als mir schwindlig wurde. Er liegt ein Stück den Hügel runter. Ich, äh … Wo ist Ihr Badezimmer? Wäre gut, das für alle Fälle zu wissen. Mit ist nämlich ziemlich übel.«
Er stand auf, ging zu einem Schrank, kehrte mit einer großen Metallschüssel zurück und legte sie Merry auf den Schoß.
»So geht’s natürlich auch.«
»Das Badezimmer ist nicht so richtig in der Hütte.«
Wenigstens hatte sich ihr Magen einigermaßen beruhigt. »Danke.«
»Ist Ihnen durch den durch Sturz schlecht geworden?«
»Nein, mir ist schon seit gestern Nacht mulmig und schwindlig. Den Kopf habe ich mir angeschlagen, als ich gestolpert bin.« Sie berührte die Stelle.
»Haben Sie Wasser aus dem See getrunken?«
»Nur gefiltert.«
»Haben Sie es unten behalten?«
Merry schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Nicht mehr seit gestern Nachmittag.«
»Wollen Sie ein wenig Tee versuchen?«
»Gern.« Vielleicht würde etwas Heißes ihrem Körper ein Gefühl von Ruhe verleihen.
Der Mann ging zum Herd, entzündete ein Feuer darin und stellte einen Kessel darauf. Er holte ihre Tasse sowie eine weitere und ein Glas mit losem Tee, dann räumte er den kleinen Küchenbereich auf, während er darauf wartete, dass das Wasser zu sieden begann. Dabei schien er fest entschlossen zu sein, Merry keine Beachtung zu schenken. Als der Kessel endlich pfiff, füllte er einen Teesieblöffel mit Tee und klappte ihn zu.
»Ich habe keine Milch da«, verkündete er.
»Das macht nichts. Ich sollte ohnehin nicht zu viel riskieren.«
»Zucker?«
»Bitte. Sind Sie sicher, dass ich mich nicht hinlegen darf?«
»Ich glaube, das sollten Sie lassen. Für den Fall, dass Sie eine Gehirnerschütterung haben.«
»Ich glaube, in dem Fall sollte ich nur nicht einschlafen.«
»Da wir es offenbar beide nicht mit Bestimmtheit wissen, bleiben wir lieber auf der sicheren Seite.« Sein Tonfall hatte einen Hauch Schärfe gewonnen, und er sprach mit einem anderen Akzent als jenem, den Merry im letzten Dorf gehört hatte, durch das sie gekommen war. Nicht so ausgeprägt wie jener der Menschen in Glasgow oder weiter nördlich, aber härter als die weiche, zivilisierte Aussprache der Einheimischen Edinburghs, denen sie begegnet war.
Als er umrührte, schienen seine blauen Augen die Tasse zu fragen: Warum? Warum? Warum?
Merry war von Natur aus mitteilsam, und nachdem sie hier draußen seit vier oder fünf Tagen niemanden mehr gesehen, mit niemandem mehr gesprochen hatte, konnte sie sich erst recht nicht zurückhalten. »Das ist alles so seltsam. Ich fühle mich betrunken.«
Er nickte, ohne aufzuschauen.
»Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht den Urlaub versaut.«
»Ich lebe hier.«
Aha. »Das ganze Jahr?«
»Ja.«
Oh Mann. »Nur Sie?«
»Nur ich.«
»Schon lange?«
»Ungefähr zwei Jahre.« Immer noch kein Blickkontakt.
»Sind Sie in der Nähe aufgewachsen?«
»Leeds.«
»Oh, Sie sind Engländer. Und ich dachte mir schon: ›Was hat der bloß für einen eigenartigen schottischen Akzent.‹«
Er hob den Blick, um dem ihren zu begegnen, und in diesem Bruchteil einer Sekunde hatte sie das Gefühl, seine Gedanken zu lesen: Meine Fresse, will die den ganzen verdammten Tag lang so weiterlabern?
Merry trommelte mit den Fingern auf die Schüssel, die auf ihrem Schoß ruhte. »Tut mir leid. Ich meine, dass ich mich Ihnen so aufdränge, sorry.«
»Ich bin sicher, es war keine Absicht.« Keine besonders herzliche Beruhigung, aber okay. »Wie geht’s Ihrem Magen?«
»Immer noch mulmig. Aber ich glaube, er beruhigt sich allmählich. Oder vielleicht ist mir auch bloß nicht mehr so schwindlig. Also sind Sie im Ruhestand oder …«
»Ja, ich schätze, das bin ich.«
Ruhestand wovon? Und weshalb so jung? Und wieso lebst du wie ein Einsiedler? Was ist dein Ding? Bist du ein Serienmörder? »Tja, Sie haben sich einen sehr …« Abgelegenen. Einsamen. Zurückgezogenen. Zum Morden geeigneten. »… einen sehr majestätischen Ort ausgesucht. Für den Ruhestand.«
Er nickte. Eine lange, unbehagliche Weile starrten sie sich gegenseitig an, und Merry fragte sich, wer von ihnen den jeweils anderen mehr verwirrte.
»Ich bin übrigens Merry. Geschrieben wie in ›Merry Christmas‹.« Ein fröhlicher Name, dem sie stets mit ihrem Temperament gerecht geworden war – und bis vor Kurzem auch mit der Leibesfülle eines Santa Claus. Als ihr Gastgeber nichts darauf erwiderte, ließ die Stille sie kribbelig werden. »Wie heißen Sie?«
»Rob.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Rob. Ich meine, wie es sich zugetragen hat, ist ja weniger angenehm. Aber Sie wissen schon, was ich meine.«
Rob zwang sich zu einem ungeübten Lächeln, das nahelegte, dass er nicht das Geringste an ihrer Bekanntschaft auch nur annähernd erfreulich fand.
Merry plapperte dennoch weiter drauflos, weil sie Stille noch mehr fürchtete, als ihn zu verärgern. »Ich bin aus San Francisco und als Rucksacktouristin hier.«
»Sabbatjahr?«
»Was?«
»Eine Auszeit. Von der Universität?«
»Oh nein, ich bin einunddreißig. Ich bin nur auf Urlaub hier. Meine Ma ist in Inverness aufgewachsen, und ich bin nie dort gewesen, also …« Sie bremste sich, weil sie wusste, dass sie sonst ewig in dieser Richtung weiterschwafeln würde. Wissen Sie, ich habe gerade fünfzig Kilo abgenommen, meine Ma ist letztes Jahr gestorben, ich habe keine verfluchte Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen soll oder was ich will, ich habe die Vermutung, dass mich der Kerl, mit dem ich gefickt habe, wegen meinem Gewichtsverlust abserviert hat, und ich glaube, meine beste Freundin wird es als Nächste tun. »Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht wirklich, warum ich hier wandere. Ich schätze, ich habe eine Herausforderung gesucht.«
Nach einer langen Pause ließ sich Rob letztlich auf den Small Talk ein. Es schien ihn beträchtliche Überwindung zu kosten. »Wie weit?«
»Von Glasgow nach Inverness.«
Rob blinzelte. »Das ist ein ordentliches Stück.«
»Ich war voll im Plan, um es in unter drei Wochen zu schaffen, aber natürlich hatte ich nicht damit gerechnet, mir dieses Leiden einzufangen, was immer es sein mag. Ich hoffe ja, es ist nur eine Erkältung vom langen Campen und meiner Erschöpfung. Gott sei Dank ist mir gestern Ihre Hütte aufgefallen.«
Rob pflichtete ihrer Erleichterung darüber nicht bei. Stattdessen fragte er: »Wie lange haben Sie noch mal gesagt, dass Sie schon krank sind?«
»Einen Tag, mit Krämpfen. Die Kopfschmerzen haben gestern Nacht angefangen, und …« Details sind nicht nötig. »Und einige andere Symptome auch. Wissen Sie, anfangs habe ich gehofft, es würde vielleicht bloß daran liegen, dass ich zu viel Dörrobst gegessen habe.«
»Und Sie haben Ihr Wasser gereinigt?«
»Gewissenhaft.«
»Sind Sie schwimmen gewesen?«
Nur in jedem See, an dem ich in den vergangenen zwei Wochen vorbeigekommen bin. »Ja …« Sie dachte an all die verspielten Springbrunnen, die sie mit den Lippen gebildet hatte, während sie auf dem Rücken im Wasser getrieben war, und die Krämpfe verstärkten sich jäh. »Oh Mann.« Bevor sie mit einer weiteren Entschuldigung herausplatzen konnte, schritt die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf ein. Sag danke, nicht Entschuldigung. Frauen entschuldigen sich schon viel zu lange ständig. »Danke. Für den Tee, fürs Verarzten meines Kopfs und für alles.«
Mit verkniffener Miene begegnete Rob ihrem Blick. »Sie könnten Kryptosporidiose haben.«
Ihr Magen krampfte sich noch fester zusammen. Merry hatte in ihren Reiseführern von Kryptosporidiose, Giardia-Infektion und all den anderen, beängstigenden Krankheiten gelesen, die sich durch Wasser übertrugen, deshalb filterte sie es ja auch so gewissenhaft. »Falls es so ist … haben Sie irgendeine Ahnung, wie lange das anhalten könnte?«
»Vielleicht ein paar Tage. Wenn es ein Virus ist, legt es sich von selbst. Aber wenn Ihre Symptome schlimmer werden, müssen Sie in ein Krankenhaus. Könnten schließlich auch Bakterien sein. Dann brauchen Sie Antibiotika.«
Sie zuckte zusammen. »Und wie weit ist es zum nächstgelegenen Krankenhaus?«
»Mit einem Fahrzeug? Ungefähr eine Stunde.«
»Haben Sie ein Fahrzeug?«
Er nickte. »Wenn Sie sich einigermaßen stabil fühlen, kann ich Sie hinbringen. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Und ein paar warme Nächte in einer Pension würden vielleicht sogar größere Wunder bewirken als alles, was Ihnen ein Arzt verschreiben kann. Wo immer Sie letztlich übernachten, wahrscheinlich könnten Sie von dort mit dem Bus nach Inverness fahren.«
Merrys Mut sank. Sie hatte es ganz allein so weit geschafft, nur sie, ihre zwei Füße und die Muskeln, die sie sich im vergangenen Jahr angeeignet hatte. So himmlisch sich ein Bett anhörte, der Gedanke daran, auf einem Beifahrersitz Platz zu nehmen, um diese Mission zu beenden … Sie hatte bereits dreißig Jahre auf zu vielen Beifahrersitzen verbracht.
»Ich möchte jetzt auf keinen Fall aufgeben. Mir fehlt nur noch weniger als eine Woche. Ich meine, danke für das Angebot. Aber ich möchte mich lieber einen Tag ausruhen und abwarten, wie ich mich danach fühle …« Sie wartete, ob Rob vielleicht vorschlagen würde, sie könnte besagten Tag bei ihm verbringen, doch seine Züge verrieten ihr nichts. »Ob ich mich wohl hier ausruhen könnte?«
Er zog die Augenbrauen hoch, und seine Miene verfinsterte sich, als er Zucker in ihre Tasse rührte. »Was, für die Nacht?«
»Ich könnte meinen Rucksack vom Hang holen … ich habe einen Schlafsack, eine Matte und ein Zelt dabei. Natürlich will ich Ihnen keine Umstände bereiten. Ich kann draußen schlafen. Nur wäre ich dann nicht völlig allein, falls meine Symptome wirklich schlimmer werden …«
Seine Züge waren ausdruckslos geworden, seine gesamte Aufmerksamkeit galt den Holzdielen zu seinen Füßen.
Merry wechselte die Taktik. »Ich kann Sie bezahlen. Zwar habe ich nicht gerade tonnenweise Bares dabei, aber …«
Er schaute so schnell zu ihr auf und starrte sie so eindringlich an, dass sie erstarrte.
»Sie können das Bett haben. Für eine Nacht. Um abzuwarten, ob Sie sich morgen früh anders fühlen.«
Merry blies den unbewusst angehaltenen Atem aus. »Oh.«
Er tippte mit dem Löffel an den Rand der Tasse, dann näherte er sich ihr, um den Tee an ihrem Ellbogen abzustellen.
»Danke. Auch für das Bett. Aber ehrlich … sagen Sie es mir ruhig, wenn ich Ihnen zur Last falle.«
»Mein ganzes Leben ist eine einzige Last.« Sein Tonfall gab ihr nicht den geringsten Hinweis darauf, ob er es scherzhaft meinte oder nicht. Andererseits – wenn es ihm nicht gefiel, auf Komfort zu verzichten, wäre er wohl kaum hierhergezogen.
»Tja«, meinte Merry, während sie beobachtete, wie er den verbrauchten Tee in einen Plastikeimer klopfte und mit der Zubereitung einer zweiten Tasse begann. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Klopfen bei Ihnen oft Rucksacktouristen an die Tür, die etwas von Ihnen wollen?«
Er ließ den Teesieblöffel zuschnappen, senkte ihn in seine dampfende Tasse und sah ihr letztlich in die Augen.
»Normalerweise mache ich die Tür nicht auf.«
Rob ließ den Löffel geraume Zeit durch seine Tasse kreisen und sah dabei immer wieder verstohlen zu seinem unerklärlichen Gast. Er fühlte sich wie ein Hund, der versuchte, die Grundlagen der Physik zu verstehen.
In seinem Zuhause hielt sich eine Frau auf.
Eine amerikanische Frau mit einer blutenden Platzwunde am Kopf, die wahrscheinlich an Kryptosporidiose erkrankt war, saß in seiner Küche und starrte durch das ferne Fenster hinaus. Ihre Züge wirkten gelassen, abgesehen von einer zwischen den Brauen zusammengezogenen Falte, die erahnen ließ, dass sie Schmerzen litt.
Das war weitaus beunruhigender als die Wanderer mittleren Alters oder die abenteuerlustigen Studenten, die sonst vorbeikamen. Die ignorierte Rob üblicherweise oder schickte sie mit einer barsch gebrummten Wegbeschreibung zum nächsten idyllischen See oder zur Autobahn. Er atmete jedes Mal leichter, sobald ihre bunten Jacken über die Kuppe der nächsten Anhöhe verschwunden waren.
Aber Merry konnte er nicht gut den Hügel hinunter davonjagen, und das Wissen, dass er sie für eine Nacht oder mehr an der Backe hatte, ließ sein Herz mit angespannten, hektischen Schlägen pulsieren und schnürte ihm die Kehle zu. Er sollte sie wirklich ins Krankenhaus bringen, um sie loszuwerden. Allerdings missfiel ihm die Aussicht darauf, eine Fahrt zu riskieren … seine Steuerplakette war abgelaufen, sein Führerschein eingezogen. Im Dorf würde man es vielleicht nicht bemerken, aber die Stadt war eine völlig andere Geschichte. Außerdem machte ihn die Stadt nervös. Noch nervöser als Merrys Gesellschaft.
Er zwang sich, tief durchzuatmen, obwohl das wenig mehr bewirkte, als dass ihm davon schwindlig wurde. Damit waren sie dann wohl schon zu zweit.
Rob betrachtete seinen Gast. Die Frau wirkte in seinem minimalistischen Zuhause wie ein Fremdkörper. Sie wirkte zu modern mit ihrem glänzenden dunklen Zopf, der über das knallige Violett eines eng anliegenden Wanderoberteils fiel, paspeliert mit schimmerndem, reflektierendem Material. So eine vulgäre Farbe inmitten all des glanzlosen Holzes und der gedeckten alten Vorhänge, der kalten, erdigen Palette der Highlands selbst. Nur allzu gern hätte er sie davonmarschieren gesehen wie all die anderen verirrten Wanderer.
Aber ihr Aufbruch durfte nicht überstürzt werden, nicht mit dieser Beule an einem Kopf, dessen Besitzerin immer noch wie eine Betrunkene faselte. Selbstsüchtig hoffte er, Letzteres wäre eine Begleiterscheinung ihrer Kopfverletzung. Rob hielt nicht viel von Konversation.
Er wusste nicht mehr, wie man mit Frauen redete, jedenfalls nicht, sobald es sich um mehr als ein paar gemurmelte Worte zu den Verkäuferinnen bei seinen Ausflügen ins nächstgelegene Dorf handelte, die nötig waren, um seine Vorräte an Grundnahrungsmitteln aufzustocken.
Irgendwann, als Rob Mitte zwanzig gewesen war, hatte er gewusst, wie man mit Frauen redete. Genug, um zu Dates zu kommen, jemanden abzuschleppen, sich zu verlieben und sogar geheiratet zu werden. Dann jedoch war die Dunkelheit gekommen, und jener Mann von damals hatte sich darin verirrt. Dafür war Rob gut darin geworden, herumzubrüllen. Erniedrigende, hasserfüllte Worte, die er seiner Frau an den Kopf geschleudert hatte, wann immer er sich in den Klauen des unvermeidlichen Katers befunden hatte. Dazu kamen wer weiß was für gelallte Gehässigkeiten, wenn er betrunken gewesen war. Und er war in jeder verfluchten Nacht der letzten drei Jahre seines sogenannten zivilisierten Lebens betrunken gewesen.
Seine um eine Phantomflasche geschlungenen Hände fühlten sich kalt an. Er legte beide Handflächen um die heiße Tasse, forderte geradezu heraus, dass der heiße Tee ihn verbrannen möge. Vielleicht würde ihn der Schmerz dann von seiner Panik ablenken. Die gesamte Situation roch nach ausgleichender Gerechtigkeit, als wäre Merry geschickt worden, um ihn zu bestrafen. Allein, zehn Schritte von ihr entfernt zu stehen, verstörte ihn. Dass er jemandem so nah sein konnte, der so weich und verletzlich war … und obendrein noch krank … fühlte sich durch und durch falsch an. Er sehnte sich danach, zu fliehen. Zum Glück fiel ihm auch eine plausible Ausrede dafür ein.
»Sie scheinen ja soweit stabil zu sein«, meinte er zu ihr. »Ich hole Ihren Rucksack. Legen Sie sich nicht hin.«
»Danke. Er ist orange. Muss irgendwo zwischen hier und dem See gelandet sein.«
Rob stellte seinen Tee ab und ging nach draußen. Als sich die Tür hinter ihm schloss, konzentrierte er sich auf den Himmel, die Luft, den Horizont … allerdings half das wenig.
Rob konnte für mehrere Tage am Stück vergessen, wer er war. Wenn das Wetter schön blieb, bewegte er sich wie ein Tier auf vertrauten Pfaden, erfüllte seine grundlegendsten körperlichen Bedürfnisse und nahm seine Gedanken nur als sensorische Rückmeldungen wahr. In der Nähe einer Ortschaft oder in einem Haus gefangen kehrten die Worte zurück, die Ideen und die Sorgen, die sich in ellenlangen Absätzen durch sein Gehirn wälzten, ineinander verhedderten und alte Gelüste entfachten.
Hier in den Hügeln gab es keine Spiegel. Aber im Ort bot ihm jedes Augenpaar ein Spiegelbild, und der Mann, der ihn daraus anstarrte, war hässlich, gemein und unverzeihlich grausam. Sobald er ihn sah, sehnte er sich nach einem Drink, wohingegen er hier draußen, weit abseits des Great Glen, tagelang nicht daran dachte, während er in Routinearbeiten aufging, gelegentlich Wild jagte oder stundenlang in den tiefsten, ruhigsten Gewässern schwamm, die ihm je untergekommen waren. Ohne Menschen in der Nähe war er nichts weiter als ein anonymes Säugetier, das atmete, aß und lebte. Doch in der Gesellschaft Anderer beschlich ihn unweigerlich das Gefühl, das Schlimmste zu verkörpern, was seine Spezies zu bieten hatte. Gefräßig, schwach, boshaft.
Die Wildnis war nötig gewesen, um einen zivilisierten Menschen aus ihm zu machen, und wenn er sich von diesem Ort entfernte, sehnte er sich in jeder Sekunde danach zurück. Sogar noch mehr, als er sich nach einem Drink sehnte.
Weiter unten am Hang tauchte orangefarbenes Nylon in seinem Blickfeld auf. Als Rob die scharfkantigen Granitgrate betrachtete, die hier und da durch das struppige Gras und Heidekraut ragten, fand er, dass Merry mit einer Beule und ein paar Kratzern noch glimpflich davongekommen war. Und als er den großen Wanderrucksack aufhob, verblüffte ihn dessen Gewicht … das mussten knapp zwanzig Kilo sein. Das hatte sie wirklich zwei Wochen lang herumgeschleppt? Rob verlängerte die Riemen und hievte sich den Rucksack auf den Rücken, beeindruckt davon, dass sie es damit so weit den Hang heraufgeschafft hatte, bevor sie ihn nicht mehr weitertragen konnte. Womöglich schuldete er seinem unerwarteten Gast doch etwas mehr Achtung.
Es war eben bloß so, dass ihn Frauen grundsätzlich unheimlich nervös werden ließen. Und angesichts Merrys lebhaften Auftretens fühlte er sich nur noch unzulänglicher; ein Giftpilz, der neben einer fröhlich-gelben Blume wuchs.
Er stapfte den Hügel zurück hinauf und hob die Plastikpfeife auf, die Merry an der Treppe vor seiner Tür fallen gelassen hatte. Dabei hatte er unter der Last des Rucksacks Mühe, das Gleichgewicht zu halten.
Merry saß noch dort, wo er sie zurückgelassen hatte, und bei dem Lächeln, mit dem sie ihn bedachte, krampfte sich sein Magen zusammen. Ihre Haut war so glatt. So bezaubernd und sonnengebräunt und … amerikanisch. Er selbst musste wie ein Vagabund aussehen. Ein Gewirr zu langer Haare, das Gesicht, das seit Wochen nicht mehr mit einem Rasierer bearbeitet worden war.
Rob lehnte den Rucksack gegen die Wand und befestigte die Pfeife an einem der unzähligen Riemen. So viele Riemen. Blinzelnd betrachtete er sie, bis Merrys Stimme seine Geistesabwesenheit durchbrach.
»Vielen lieben Dank.«
Rob hätte schwören können, dass er seine Kiefer knacken hörte, so eingerostet fühlte sich sein Lächeln an. Er ergriff seinen Tee vom Herd. »Schon gut. Können Sie gehen? Warum setzen Sie sich nicht in den Schaukelstuhl?« Er winkte sie zu dem Stuhl, trug ihr die Notfallschüssel hinüber und beobachtete ihre unsteten Schritte.
Als sie sich hinsetzte, stellte er die Schüssel neben ihre Füße, bevor er den Küchenstuhl und den Tisch zu ihr hinüberschob. Ihre Tassen standen Seite an Seite. Komisch. Rob hatte nur deshalb zwei Tassen an diesen Ort mitgebracht, um eine als Reserve zu haben, falls die andere zerbrach. Er hätte nie damit gerechnet, dass er sie einmal für einen Gast brauchen würde.
Merry lächelte ihn erwartungsvoll an.
An der Stelle betreibt man höfliche Konversation, Arschloch. Er nippte an seinem lauwarmen Tee, den er viel zu lange hatte ziehen lassen, und überwand sich zu sagen: »Also … von Glasgow nach Inverness?«
Sie nickte und überkreuzte zwei Finger. »Fast geschafft.«
»Sie haben sich eine gute Zeit dafür ausgesucht.« Das Wetter? Echt jetzt? Du Vollpfosten. Aber was gab es sonst schon für Themen? »Ein bisschen kalt zwar, aber dafür sind die Mücken weg.«
»Und die meisten anderen Touristen«, ergänzte Merry. »Obwohl ich gar nichts dagegen gehabt hätte, ein paar Leuten mehr über den Weg zu laufen. Einige Male bin ich regelrecht in Panik geraten, weil ich dachte, ich müsse durch irgendein Wurmloch gewandert und in einem anderen Jahrhundert gelandet sein. Als könnte die nächste Ruine, an der ich vorbeigekommen wäre, eine vor Leben strotzende Burg sein.«
Rob versuchte, sich die Szene vorzustellen, diesen so albernen, romantischen Gedanken … doch er war hoffnungslos außer Übung für derlei.
»Aber dann ist jedes Mal wieder unweigerlich ein Düsenjet über mir hinweggebraust«, fuhr Merry fort. »Kommt es oft vor, dass Sie hier lange Zeit niemanden zu Gesicht bekommen?«
»Im Winter läuft hier niemand rum. In den wärmeren Monaten höre ich ein paarmal die Woche Stimmen oder sehe in der Ferne Leute.« Er lebte auf einem sonnigen, verführerischen Abschnitt eines historischen Hangs nur wenige Stunden Fußmarsch vom mittleren Bereich des Loch Ness entfernt, wenngleich seine die ruhigere Seite der Schlucht war. Im Frühling und im Sommer herrschte nie ein Mangel an Wanderern in der Gegend. »Vielleicht im Schnitt einmal die Woche klopft jemand bei mir, der sich nach dem Weg irgendwohin erkundigt. Sie sind die Erste, die aufgetaucht ist, seit … Herrje, ich bin gar nicht sicher, welches Datum wir haben. Aber die Erste seit zwei Wochen oder mehr.«
Mit einem Lächeln ließ Merry den Blick durch seine kleine Behausung wandern. »Ihr Zuhause ist echt cool.«
»Ach ja? Finden Sie?«
»Sehr friedlich. Sehr schlicht, ganz ohne Schnickschnack.«
»Ich bin kein Fan von Schnickschnack, also passt es wohl ganz gut zu mir.«
»Kein Stadtmensch?«
Rob überlegte kurz. »Nicht in den letzten Jahren. Ich bin in der Stadt aufgewachsen, und als junger Mann habe ich es dort geliebt …« Zu sehr geliebt, und ausschließlich auf die falsche Weise. »Aber Menschen ändern sich.«
»Sie müssen es aber doch zumindest manchmal vermissen.«
An manchen Tagen tat er das wirklich. Vor allem vermisste er Pub und Schnapsladen mit einer Sehnsucht, die an Lust grenzte. »Es gibt dort nichts, was mir je gutgetan hätte.«
»Gar nichts?«
»Das Leben in der Stadt kehrt das Schlimmste in den Menschen hervor. All die ständige Hektik, das dicht gedrängte Zusammenleben.« Er zögerte, bevor er hinzufügte: »Jedenfalls hat es das Schlimmste in mir hervorgekehrt.«
»Darf ich fragen, was Sie gemacht haben, bevor Sie hierhergezogen sind?«
»Ich hatte zusammen mit einem Freund ein paar Geschäfte in der Gegend von Leeds. Nichts Aufregendes.« Nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte, als sie beide gerade die Universität abgeschlossen hatten. Aber wie konnte ein werdender Alkoholiker nicht begeistert von der Aussicht darauf sein, eine eigene Kneipe zu eröffnen? Das war, als trete ein leidenschaftlicher Brandstifter eine Stelle in einer Streichholzfabrik an. Und dementsprechend war Robs Leben spektakulär in Flammen aufgegangen.
»Vom Geschäftsmann zum Einsiedler«, sinnierte Merry lächelnd. »Nichts für ungut.«
»Trifft durchaus zu.«
»Wie wär’s stattdessen mit ›Überlebenskünstler‹? Das klingt ein wenig netter.«
»Mich kümmert nicht mehr sonderlich, wie man mich bezeichnet.« Ihn kümmerte allgemein nicht mehr viel, solange er wusste, dass er genug Essen, Holz für den Herd und ein Bett hatte, in dem er schlafen konnte. Sich um nichts zu kümmern, behagte ihm durch und durch. Er brauchte nur stets für einen vollen Magen und einen leeren Kopf zu sorgen und zu verhindern, dass sich jene alten, dunklen Begierden in ihm regten.
Sein Gast gähnte gedehnt.
»Sie müssen ziemlich erledigt sein.«
Merry nickte. »Ich hab letzte Nacht zwar schon ein wenig geschlafen, aber alles andere als erholsam. Hatte ständig diese schrägen, sich wiederholenden Träume, die man bekommt, wenn einem schlecht ist.«
»Ich muss mich noch um ein paar Arbeiten kümmern, aber ich zeige Ihnen, wo das Klo ist, dann können Sie schlafen.«
Sie stellte ihre Tasse ab und mühte sich unstet auf die Beine. Um ein Haar hätte Rob ihr die Hand gereicht, um sie zu stützen. Er bekam jedoch im letzten Moment kalte Füße, eingeschüchtert von der Intimität, die eine solche Berührung verhießen hätte. Eingeschüchtert von ihrer Schwäche. Als sie sicher auf den Beinen stand, führte er sie durch den kleinen Lagerbereich und die Hintertür nach draußen. »Passen Sie auf die Stufe auf.«
Sie folgte ihm über den Hof, und er zeigte ihr den Holzverschlag, der ein primitives Plumpsklo beherbergte. Auf dem Weg zurück in die Hütte füllte er an der Pumpe die große Waschschüssel aus Email, trug sie hinein und stellte sie auf den Herd.
Anschließend fütterte er das Feuer mit zwei frischen Scheiten. »Das Wasser braucht eine Zeit, bis es warm ist. Falls Sie sich waschen möchten, meine ich.«
»Danke.« Merry ließ sich wieder auf dem Schaukelstuhl nieder.
Rob fühlte sich eine Spur besser, nachdem er eine richtige Unterhaltung mit seinem Gast überstanden hatte. Er legte ein sauberes kleines Handtuch über den Rand der Waschschüssel, holte die Wolldecke aus seinem winzigen Schlafzimmer und reichte sie ihr.
»Ich werde mich bemühen, in Hörweite zu bleiben. Falls Sie ungestört sein wollen, um sich umzuziehen oder zu waschen: Ich werde mindestens ein paar Stunden draußen sein. Ich glaube zwar nicht, dass Sie mehr Holz für den Herd brauchen, aber falls doch, finden Sie einen Stapel neben der Hintertür.«
»Danke.«
Rob griff sich seine Jacke vom Haken und trank die Neige seines kalten Tees aus. »Ich habe nicht viel an Lebensmitteln da.«
»In meinem Rucksack habe ich jede Menge. Ich komme schon zurecht.«
Er nickte. »Dann sehen wir uns später.«
Ihr Lächeln erwischte ihn gerade noch, bevor er sich umdrehen konnte, und bescherte ihm ein warmes, mulmiges Gefühl um die Leibesmitte. Rasch zog er die Tür hinter sich zu.
Rob absolvierte seine übliche wöchentliche Runde, schritt die Rohrleitung zur Pumpe ab und vergewisserte sich, dass sie keine lecken Stellen aufwies. In einem robusten, gleich hinter dem Hof in die Erde eingelassenen Fass aus Kunststoff verwahrte er einen Vorrat von geräuchertem Fisch und Wild. Er überprüfte sowohl die Bretter, die es bedeckten, als auch den umliegenden Boden auf Anzeichen für futtersuchende Tiere. Zufrieden stellte er fest, dass es keine gab. Ein rascher Rundgang durch den Garten verriet ihm, dass die letzten Kartoffeln des Jahres so erntebereit waren, wie sie je sein würden. Darum würde er sich morgen kümmern.
Mit einem leisen Klimpern tauchte Robs einziger Freund auf, ein kleiner, grauer Schemen, der den Hügel aus westlicher Richtung heraufgelaufen kam.
Es musste sich um den hässlichsten Hund auf Erden handeln, einen unvorteilhaften Terriermischling mit staubgrauem Fell, Stummelbeinen und einem Kopf wie einem Amboss. Das Fell sah immer speckig aus, auch dann, wenn sich Rob die Zeit nahm, das Tier im Zuber zu baden. Obendrein war der Hund stocktaub. Aber putzig.
»Und was hast du so getrieben?« Er kauerte sich hin, um die freudige Begrüßung des Hundes über sich ergehen zu lassen und ihn hinter den Schlappohren zu kraulen. Das Tier verschwand regelmäßig für einen oder mehrere Tage am Stück, fand jedoch seit mittlerweile zwei Jahren immer wieder den Weg zurück zu ihm.
»Dürfte dich freuen, zu hören, dass wir einen Gast haben.«
Im Augenblick freute sich der Hund mehr auf ein Leckerli. Er trottete zum Rand des Hofs und gab einen seiner kehligen Laute von sich, die man fast als Bellen bezeichnen konnte. Rob richtete sich auf und folgte ihm. Er schob die Bretter beiseite, entriegelte den Deckel des Fasses und schnitt mit seinem Taschenmesser ein Stück vom nächstbesten Brocken Wild ab.
Dann trennte er davon einen langen Streifen, den er dem Hund zuwarf, während er selbst auf dem Rest kaute, als er die Vorräte wieder sicherte. Kameradschaftlich standen sie da und arbeiteten sich durch die zähen Fasern.
So nutzlos er sein mochte, Rob liebte den Hund.
Er schuldete dem Hund etwas. Das Tier hatte ihm höchstwahrscheinlich das Leben gerettet.
Vor drei Jahren, nachdem ihn seine Frau verlassen hatte und sein Vater gestorben war, hatte sich Rob aus einem Bauchgefühl heraus in die Highlands begeben. Insgeheim hatte er geahnt, dass er sich die Gegend als den Schauplatz ausgesucht hatte, an dem er seine Alkoholsucht wahrscheinlich zu ihrem natürlichen Ende führen würde. Indem er sich an dem einzigen Ort zu Tode soff, an dem er je echte Freude erfahren hatte. Er hatte eine Hütte ähnlich jener gebucht, die er mittlerweile besaß, war ausreichend nüchtern geworden, um ein Fahrzeug zu lenken, und mit ein paar Sachen zum Wechseln und einer klirrenden Kofferraumladung von Flaschen nach Norden aufgebrochen.
Vielleicht acht Kilometer vor seinem Ziel war der Hund aufgetaucht.
Rob hatte Glück gehabt, ihn im Nieselregen und durch den Gin in seinem Hirn überhaupt wahrzunehmen. Das Tier hatte von ihm abgewandt starr mitten auf der Straße gestanden, als hätte es auf jemanden gewartet. Rob hatte den Wagen angehalten und war ausgestiegen. Der Hund hatte entweder das Zuknallen der Tür oder seine Schritte wahrgenommen oder seinen Geruch gewittert und sich umgedreht. Der Schwanz hatte einmal kurz gewedelt, doch je näher Rob dem Tier gekommen war, desto verschreckter war es geworden. Der Hund hatte aus nichts als Haut und Knochen bestanden, war völlig durchnässt vom Regen gewesen. Eine Kreatur, genauso verloren und mitleiderregend, wie Rob selbst es damals gewesen war, und das wollte etwas heißen. Er hatte ihn mit einem halben, übrig gebliebenen Wurstbrötchen angelockt, und das Tier hatte sich von ihm streicheln lassen. Und da Rob leicht angetrunken gewesen war, hatte er es hochgehoben und mit zur Hütte genommen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob es vielleicht Tollwut hatte.
Der Hund hatte in jener Woche dafür gesorgt, dass er bei Verstand geblieben war, wenn auch nicht nüchtern. Anfangs hatte er jedes Mal verängstigt gezittert, wenn sich ihm Rob genähert hatte, und in den paar Tagen, die es gedauert hatte, bis das Tier Vertrauen zu Rob fassen konnte, hatte er vor Panik mehr als eine Sauerei auf dem Fußboden hinterlassen. Aber danach war er zu Robs hässlichem kleinen Schatten geworden. Und zu beobachten, wie der Hund kräftiger wurde und an Gewicht zulegte, war für Rob auf eine unerklärliche Weise faszinierender gewesen, als sich zielsicher ins Koma zu saufen. Es war lange her gewesen, seit ihn zuletzt irgendjemand oder irgendetwas gebraucht hatte. Das jemand von ihm abhängig gewesen war.
In der nächsten Woche hatte er den Hund mit nach Leeds genommen und von einem Tierarzt untersuchen lassen, und ein Jahr später, als er endgültig weggezogen war, hatte er ihn wieder mit in die Highlands gebracht. Er verkörperte genau den Gefährten, den Rob wollte. Beide bestanden sie aus Blut und Knochen, waren aber mit der Unfähigkeit zu mehr als der schlichtesten Kommunikation gesegnet. Hinzu kam, dass zu dem Zeitpunkt, als Rob der Gesellschaft den Rücken zugekehrt hatte, ein Wesen, das sich darüber freute, ihn zu sehen, eine wahre Seltenheit geworden war.
Der Kopf des Hundes schwenkte jäh herum, und seine Aufmerksamkeit heftete sich auf drei Krähen, die weiter unten am Hang müßig in der Luft kreisten. Einen Moment lang starrte er sie an, bevor er seiner Wege hopste und Rob zurückließ, der sich mit der Realität abfinden musste, die zu verdrängen ihm eine Weile gelungen war: Er hatte einen Gast. Einen verwundeten, von Übelkeit geplagten, menschlichen Gast, nachdem er langsam wirklich sehen sollte.
Er räumte den Hof auf und warf einen letzten Blick auf die Berge, ließ sich von diesen kalten Felsen an diesem Ort verwurzeln. Diese von Schnee gekrönten Gipfel waren schon ewig hier, und sie würden noch lange fortbestehen, nachdem der letzte Mensch auf Erden zu Staub zerfallen wäre. Ähnlich wie Rob noch lange bleiben würde, nachdem Merry gegangen wäre, um sich wieder der Rasse anzuschließen, von der sich Rob losgesagt hatte.
Leise betrat er die Hütte, doch er fand die Frau wach vor. Schläfrig winkte sie ihm aus dem Schaukelstuhl zu, und das kleine Handtuch, das zerknüllt neben der Waschschüssel lag, verriet ihm, dass sie sich gewaschen hatte, während er weg gewesen war. Außerdem hatte sie sich umgezogen und das violette Oberteil durch eine butterfarbige Reißverschlussjacke ersetzt.
Als er zum schwindenden Feuer hineinspähte, erkundigte er sich: »Ist der Magen noch stabil?«
»Ist er.«
»Ich dachte, ich mache zum Abendessen Haferbrei. Falls Sie meinen, dass Sie das unten behalten können …«
Sie lächelte, und der Ausdruck wirkte so warm wie der Herd vor ihm. »Werden wir ja sehen.«
Rob hätte an Merrys Stelle mit Sicherheit nicht gelächelt … brodelnde Eingeweide, gefangen in der Hütte irgendeines pampigen Mistkerls, dehydriert und krank. Irgendwie gelang es ihm, das Lächeln zu erwidern, und er hoffte, das Ergebnis wirkte nicht allzu unaufrichtig.
Merry sah nicht mehr ganz so elend aus wie zuvor. Etwas Farbe war in ihr Gesicht zurückgekehrt, ein wenig Leben in ihre Augen. Das schien ihm ein gutes Zeichen, zumal es die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass sie einen Virus hatte und sich die Fahrt ins Krankenhaus vermeiden ließe.
Sie hatte einen Fuß am Boden, das andere Bein hielt sie an die Mitte gedrückt. So starrte sie zu den Hügeln im Süden. Rob holte eine Armladung Scheite aus dem Schuppen und schürte das Feuer, dann ließ er sich auf dem freien Stuhl nieder und schloss sich Merry dabei an, aus dem Fenster zu schauen.
Es war frostig für Ende September … oder hatten sie bereits Oktober? Rob war seit dem Vorjahr besser darin geworden, den Jahreslauf abzuschätzen, trotzdem hatte er noch viel über den Rhythmus der Dinge zu lernen. Der erste Bodenfrost hatte vor einer Woche eingesetzt, was vermutlich bedeutete, dass der Kalender noch den September anzeigte.