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Seit Annie Goodhouse ihren gewalttätigen Exfreund verlassen hat, muss man ihr wirklich nicht zweimal sagen, dass sie sich von Bad Boys fernhalten soll. Doch als sie einen Job als Bibliothekarin in einer Strafvollzugsanstalt annimmt, zieht sie die Aufmerksamkeit eines Insassen auf sich. Eric Collier ist zwar nicht stolz darauf, was er getan hat. Und er weiß, dass er für seine Taten einstehen muss, aber auch, dass er es für seine Familie immer wieder tun würde. Loyalität und Stärke sind für ihn alles, was zählt, doch als er Annie begegnet, spürt er, dass das Leben noch so viel mehr für ihn bereithalten könnte. In seinen Briefen an Annie entwickeln sich schnell verbotene Fantasien zwischen ihnen, aber kann ihre Liebe auch in der Realität bestehen? (ca. 480 Seiten)
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Seitenzahl: 499
Veröffentlichungsjahr: 2015
Titel
Zu diesem Buch
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Danksagung
Die Autorin
Cara McKenna bei LYX
Impressum
CARA MCKENNA
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Charlotte Seydel
Zu diesem Buch
Seit Annie Goodhouse ihren gewalttätigen Exfreund verlassen hat, muss man ihr wirklich nicht zweimal sagen, dass sie sich von Bad Boys fernhalten soll. Doch als sie einen Job als Bibliothekarin in einer Strafvollzugsanstalt annimmt, zieht sie die Aufmerksamkeit eines Insassen auf sich. Eric Collier ist zwar nicht stolz darauf, was er getan hat. Und er weiß, dass er für seine Taten einstehen muss, aber auch, dass er es für seine Familie immer wieder tun würde. Loyalität und Stärke sind für ihn alles, was zählt, doch als er Annie begegnet, spürt er, dass das Leben noch so viel mehr für ihn bereithalten könnte. In seinen Briefen an Annie entwickeln sich schnell verbotene Fantasien zwischen ihnen, aber kann ihre Liebe auch in der Realität bestehen?
Die Vorschriften kamen per E-Mail.
Kein Make-up. Kein Parfum. Kein Schmuck.
Missbilligend verzog ich die Lippen. Man hätte mich ebenso gut auffordern können, mir den Schädel kahl zu rasieren. Für jemanden, der im Süden aufgewachsen war, lag dazwischen kein großer Unterschied. Wo ich herkomme, geht eine Frau nie ohne Wimperntusche und Perlenohrringe auf die Straße, selbst dann nicht, wenn sie mitten in der Nacht aus einem brennenden Haus fliehen muss.
Weiterhin stand dort: Keine enge oder freizügige Kleidung.
Ich schummelte bei Vorschrift Nummer eins, verteilte etwas Concealer unter den Augen und deckte auch gleich noch einen Pickel damit ab. Ich musste ja nur so aussehen, als wäre ich nicht geschminkt. Vielleicht schummelte ich auch bei Vorschrift Nummer zwei – mein Deo war stark parfümiert, aber darauf würde ich auf keinen Fall verzichten, nicht bei all dem Angstschweiß, den ich vermutlich ausstoßen würde.
Die dritte und vierte Vorschrift erfüllte ich mit links – schlichtes Oberteil mit Rundhalsausschnitt in geschlechtsneutralem Tannengrün. Dazu schwarze, gerade geschnittene Hosen und silberne Ballerinas, die nicht einmal den Ansatz meiner Zehen freigaben. Meine Ohren sehen nackt aus, dachte ich, als ich sie im Badezimmerspiegel kritisch betrachtete. Die kleinen Löcher wirkten geradezu obszön. Verletzlich sahen sie aus, wie diese unglückseligen, zitternden unbehaarten Katzen.
Apropos Haare, dazu stand in der E-Mail nichts, aber ich drehte meine ein und steckte sie mit einer breiten Spange am Hinterkopf fest.
Moment. Darf ich überhaupt eine Spange tragen? Könnte ein einfallsreicher Gefängnisinsasse sie nicht zu einer Waffe umfunktionieren?
Da ich keine Lust hatte, das herauszufinden, entschied ich mich für ein Haargummi und machte mir einen Pferdeschwanz. Bis ich mir vorstellte, in einem Tumult als Geisel genommen zu werden und dass sich eine vernarbte fleischige Hand um meinen Pferdeschwanz schließen könnte, die mich daran über den Linoleumboden schleifen würde. Nein danke. Ich wechselte zu einem Dutt und betrachtete mich von Kopf bis Fuß in meinem großen Türspiegel.
Ja, so geht es. Ich sah nett aus, aber nicht gefährlich nett. Anständig. Professionell. Ich konnte mir vorstellen, was meine Großmutter sagen würde: Du siehst aus, als hättest du bei der Miss-Bieder-Wahl den zweiten Platz belegt. Herrgott, leg doch wenigstens etwas Lippenstift auf. Du könntest dem Richtigen begegnen.
Nein, heute bestimmt nicht. Bieder schien mir genau richtig angesichts der Tatsache, dass die männliche Aufmerksamkeit, die mir heute zuteilwerden könnte, von mehreren Hundert verurteilten Verbrechern stammen würde.
Der Mann, der mich als Letzter angefasst hatte, hatte mir so fest aufs rechte Ohr geschlagen, dass mein Trommelfell geplatzt war. Mit meinem linken hörte ich ihn keine Stunde später sagen, dass er mich liebte. Es tut mir leid. Ich werde dich nie wieder schlagen. Das hatte er in den zwei Monaten, die ich es zu glauben versucht hatte, häufig beteuert.
Mit zweiundzwanzig war ich noch dumm gewesen, war seither aber klüger geworden. Wahrscheinlich hielt ich sogar einen Rekord, weil ich mit siebenundzwanzig noch ledig war, doch das zog ich weiteren Blutergüssen vor. Nie wieder, das hatte ich mir geschworen.
Romantischer Idealismus? Nein, keine Sorge. Auch der lag hinter mir. Soweit das Private. Allerdings in Bezug auf meinen Job …
Es war August, ich hatte im Mai meinen Abschluss gemacht und vor fünf Wochen meine erste Stelle angetreten. Noch immer war ich wild entschlossen, im Leben der Menschen, die mir als Bibliothekarin begegneten, etwas zu bewegen. Die Bibliothek lag ebenso wie meine Wohnung in Darren, in Michigan – dem Prototypen des postindustriellen Verfalls. Die Stadt, in der ich aufgewachsen war, ein Vorort von Charleston, befand sich tausend Meilen weiter südlich. Darren gefiel mir nicht, aber ein Job war ein Job, und meine Wohnung – im zweiten Stock über einer deprimierenden Kneipe in der Hauptstraße – spottbillig.
Meine Arbeit brachte es mit sich, dass ich häufig im Außendienst zu tun hatte, und fast täglich fuhr ich in eine der Nachbarstädte, die leider auch nicht unbedingt von Aufbruchstimmung geprägt waren.
Montags hatte ich in der eigentlichen Bibliothek Dienst. Dienstags und mittwochs arbeitete ich in Larkhaven, in einer psychiatrischen Klinik, die fünfzehn Meilen von der Stadt entfernt in einem Waldgebiet lag – eine willkommene Abwechslung zu Darrens mit Brettern vernagelten Häusern und verlassenen Fabrikgeländen. Dienstags war ich auf der Kinderstation, wo ich den Jüngsten etwas vorlas und den Teenagern bei der Vorbereitung auf ihre Klausuren half. Mittwochs verbrachte ich den Vormittag mit den Senioren der Demenz- und Alzheimerstation. Ich las vor, gab Bücher aus und schrieb Briefe oder tippte E-Mails für jene Bewohner, die unter Arthrose litten oder bei denen das Augenlicht nachließ. In der vorigen Woche hatte ich einem Mann geholfen, einen Brief an seine Liebste zu schreiben, eine temperamentvolle Rothaarige von neunzehn Jahren, wie er mir berichtete. Er werde sie heiraten, wenn er aus diesem gottverdammten koreanischen Arbeitslager entlassen würde.
Seine weißhaarige Frau hatte uns mit gefalteten Händen gegenübergesessen und angespannt gelächelt, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Ich fragte mich, ob sie um den Verlust ihrer Liebe weinte, oder weil sie nie rothaarig gewesen war und nichts von der Leidenschaft ihres Mannes gewusst hatte.
Den Donnerstag verbrachte ich im Büchermobil, das meine Kollegin Karen fuhr. Die alleinstehende Mutter von zwei Teenagern war trotz der fröhlichen geblümten Oberteile, die ihre Garderobe beherrschten, launisch und nicht gerade das, was man eine Plaudertasche nannte, brachte mich jedoch häufig zum Lachen. Die Donnerstage mochte ich sehr – draußen unterwegs sein, viele Kaffeepausen machen … Das erinnerte mich an frühere Sommer mit meinem Vater. Er war bei der Nationalgarde, und ich war Dads Mädchen gewesen. Hin und wieder hatte er mich zu dem mitgenommen, was wir als Die Jagd bezeichneten. Manchmal durfte ich das Radargerät halten. Im Alter zwischen elf und dreizehn sah ich viele Cops ziemlich viel Kaffee trinken. Häufig war ich sogar dabei, wenn jemand festgenommen wurde. Wenn ich dann spürte, wie derjenige von hinten gegen die Trennscheibe trat, war ich so entsetzt und aufgeregt, als säße ich in einem Haifischbecken.
Doch in der Cousins Justizvollzugsanstalt würde mich keine bruchsichere Scheibe von den Kriminellen trennen. Vielleicht ein Tisch. Noch nicht einmal das, wenn ich neben einem von ihnen saß, um ihm zu zeigen, wie man einen Online-Antrag für die Bibliotheksnutzung ausfüllte, den digitalen Kartenkatalog benutzte, ein Textverarbeitungsprogramm bediente, jemandem das Schreiben beibrachte oder wie man eine Bewerbung verfasste. Ungeschützt würde ich neben ihnen sitzen, lediglich beaufsichtigt von einem Wachmann, der vermutlich dafür sorgte, dass sie ihre Hände bei sich behielten. Aber Blicke? Flüstern?
Ich erschauderte. Welcher masochistischen Knalltüte musste man überhaupt sagen, dass sie sich nicht aufreizend kleiden sollte, wenn sie ein Gefängnis der mittleren Sicherheitsstufe besuchte?
Spiel mit dem Feuer, dachte ich. Viel Spaß mit den Verbrennungen dritten Grades. Böse Männer waren leicht reizbar.
Um meine Warnung zu bekräftigen, bewegte ich meinen Kiefer, bis er knackte. Das hatte er nicht immer getan. Erst seit jener Nacht, in der ich mit der falschen Marke Rum bei meinem Exfreund aufgetaucht war. Ich hatte im Spirituosenladen bar dafür bezahlt, und ich bezahlte noch einmal. Mit einem geplatzten Trommelfell von einem Schlag – der so fest war, dass ich nach dem Knall eine halbe Minute nur Weiß sah.
Ich werde dich nie wieder schlagen.
Wie oft hatte er mir das versprochen, ehe ich ihn verlassen hatte? Ein Dutzend Mal vielleicht. Doch jener Schlag gegen den Kopf hatte mich endgültig aufgeweckt.
Ich werde dich nie wieder schlagen.
Und ich dachte, Nein, das wirst du verdammt noch mal nicht. Nach dem üblichen betrunkenen Lamento war er bewusstlos geworden. Ich hatte mir für den Rum zwanzig Dollar aus seiner Brieftasche genommen und hinterließ ihm mit Edding einen ziemlich knappen Abschiedsbrief auf dem Rücken jener Hand, mit der er mich geschlagen hatte.
FICK DICH.
Mein Gehör kehrte zurück, nachdem ich in jenem Herbst nach Ann Arbor umgezogen war. Ich brauchte einen Tapetenwechsel. Einen Ort mit schneereichen Wintern, wo die Männer mit unverfälschtem, nördlich-hartem Akzent sprachen und ihre leeren Versprechungen nicht in süßen Südstaaten-Honig tauchten.
Ich habe meinem Dad nie erklärt, warum ich umgezogen bin, manchmal musste man seine Eltern schützen. Meiner Mama habe ich es zwar auch nie erzählt, doch eine Frau weiß so etwas. Als wir neben dem Wagen meines Vaters gestanden hatten, der bis obenhin mit meinen Sachen vollgepackt war, hatte sie mich zum Abschied umarmt und geflüstert: »Ich mochte diesen Jungen noch nie. Benutz beim nächsten Mal deinen Verstand.«
Damit hatte ich kein Problem, solange das nächste Mal in weiter Ferne lag.
*
Das Auto, mit dem ich nach Ann Arbor umgezogen war, gehörte mir jetzt – ein spießiger brauner Kombi. Als ich mich um sieben Uhr zwanzig hinters Lenkrad setzte, spähte die faule Nordsonne im Osten knapp hinter den Häusern hervor. Ich drückte die Tragetasche voller Bücher und Arbeitsblätter an mich und atmete gleichmäßig ein und aus. Hinten hatte ich noch mehr Bücher, Spenden für die Gefängnissammlung. Karen hatte ihre Zeit als Cousins-Zuständige schon abgeleistet – sie sprach von einer vierjährigen Freiheitsstrafe – und mir erklärt, dass die sogenannte Bibliothek dort lediglich aus einem Schrank voller Bücher bestand. Keine Regale, keine Ordnung, nur hohe Stapel gebrauchter Bücher.
»Ich hab immer gedacht, dass ich mich irgendwann mal darum kümmere«, hatte sie gesagt, als wir gestern mit dem Büchermobil übers Land gefahren waren. »Dass ich eine Auswahl von Büchern zusammenstelle, die denen gefallen – Thriller, Agentengeschichten, Kriegserinnerungen. Dass ich jemanden von den Aufsehern dazu bringe, mir einen Karren zu besorgen, und dass ich die Blöcke auf und ab laufe, um die Bücher zu verteilen. Aber ich denke ja auch, ich könnte dreißig Pfund abnehmen – und du siehst, was bislang daraus geworden ist.«
»Wie sind die denn so? Die Häftlinge?«
Karen hatte die Schultern gezuckt. »Ein Haufen Männer, die Scheiße gebaut und Gewaltverbrechen begangen haben. Ihnen wird die Würde genommen. Man pfercht sie in einem Loch zusammen, wo sie sich gegenseitig mit ihrer Wut infizieren. Vor sich hin vegetieren. Und sich wünschen, sie hätten diese beschissenen Dinge nie gemacht.«
»Hat dich irgendeiner mal angefasst?«
»Nein. Aber ich bin schließlich auch eine fette, mürrische alte Tante. Wahrscheinlich erinnere ich sie an ihre Mutter oder an irgendwelche Lehrerinnen, die ihnen gesagt haben, dass sie es nie zu etwas bringen würden. Ich hab mir natürlich auch diverse Sprüche anhören müssen. Und Anmachen. Sogar einen Antrag. Die sind schließlich verzweifelt. Aber du … pass bloß gut auf dich auf, mit diesen Beinen und mit deinen Sommersprossen. Such dir Freunde mit Elektroschockern am Gürtel.«
»Hat einer mal versucht, dich zu etwas zu zwingen?« Ich hatte in letzter Zeit viele Geschichten über weibliches Wachpersonal gelesen und über Freundinnen von Gefängnisinsassen, die sich von charismatischen Sträflingen zum Drogenschmuggel hatten überreden lassen. Sie waren langsam immer tiefer in die Sache hineingerutscht, bis Kumpel der Kriminellen draußen ihre Familien bedroht hatten. Ich war auch zu oft zu lange aufgeblieben, um mir reißerische Nachrichtensendungenanzusehen.
Karen hatte berichtet, dass niemand je versucht hatte, sie zu etwas zu zwingen. Und ich war schließlich auch keine einsame Frau, die das Brieffreunde-System des Gefängnisses als Dating-Service nutzte. Wahrscheinlich könnte ein Mann noch so nett, hochgewachsen und attraktiv sein, er könnte mich nicht verführen, also keine Sorge. Die einzige Beziehung, auf die ich vielleicht Wert legte, war die zwischen mir und meiner rechten Hand, und sogar wir hatten uns etwas auseinandergelebt. Es hatte einfach ewig niemanden gegeben, der mich zum Träumen verführt hätte. Oder aber ich hatte keinen Zündstoff mehr in mir, der sich von einem attraktiven Gegenüber entflammen ließ. Manchmal machte ich mir Sorgen, mein Ex hätte mich so heftig geschlagen, dass mir dabei das Lustzentrum in meinem Gehirn zerstört worden wäre.
Nein, dachte ich, als ich den Schlüssel ins Zündschloss steckte. Er hat das Vertrauen aus dir herausgeprügelt.
Eines Tages wollte ich Familie haben. Mir war also klar, dass ich das, was auch immer mein Ex zerstört hatte, wieder in Ordnung bringen musste, aber das hatte noch Zeit. Heute war ich dankbar dafür, dass ich so misstrauisch geworden war.
Bevor ich den Wagen startete, holte ich mein Telefon heraus. Ich rief meine Mutter an.
»Hallo, Mama, hier ist Annie.«
»Hallo, Liebes!« Es tat gut, ihre vertraute Stimme zu hören. Ich wünschte, ich wäre wieder zu Hause bei ihr und Daddy und würde mich auf unsere alte Hollywoodschaukel kuscheln. »Ist es so weit?«
»Ja. Mein erster Kurs beginnt um neun.«
»Wie lange insgesamt?«
»Den ganzen Tag, um fünf bin ich fertig. Mit einer Stunde Mittagspause.«
Sie stieß langsam die Luft aus, und ich tat es ihr gleich.
»Du machst das schon, Herzchen. Tu einfach, was das Wachpersonal dir sagt, und lass dich bloß nicht von diesen Männern verunsichern, wenn sie etwas zu dir sagen.«
»Leichter gesagt als getan.«
»Du schaffst das. Du bist viel stärker als du denkst.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Na, ich aber«, sagte sie und ich hörte, wie ein Löffel gegen Porzellan schlug. Ich konnte ihren Tee fast riechen. »Und wenn du dich bei dem Gedanken erwischst, dass du dem nicht gewachsen bist, denk an meine Stimme, die dir sagt, dass das Quatsch ist. Okay?«
»Okay. Danke, Mama. Ich berichte dir, wie es gelaufen ist.«
»Gut. Und viel Glück. Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch. Und Daddy. Wir hören uns heute Abend.«
»Ja, bis dann.«
Ich schaltete das Telefon aus, startete den Motor, lenkte meinen alten Escort auf die Straße und fuhr in Richtung Highway.
Die Fahrt dauerte ungefähr eine halbe Stunde, und mit jeder Meile verkrampfte sich mein Magen stärker. Als ich das Eingangstor zu Cousins erreichte, litt ich unter Sodbrennen.
Ich hielt vor der Metallschranke an der Pförtnerloge.
»Wohin?«
Ich zeigte dem Pförtner den Ausweis, den man mir gemailt hatte. Anne Goodhouse, Externes Personal. »Ich komme von der Öffentlichen Bibliothek in Darren. Die neue Mitarbeiterin von …«
»Fahren Sie durch«, sagte er und öffnete die Schranke. »Der Mitarbeiterparkplatz ist ausgeschildert. Der Personaleingang auch.«
»Danke.«
Ich fand einen Parkplatz und sammelte meine Sachen zusammen. Meine Nerven waren angespannt. Ich hatte Angst vor dem Unbekannten und Angst zu spät zu kommen – man hatte mir erklärt, ich solle beim ersten Mal eine Stunde für die Einweisung und das »Sicherheitsprotokoll« einkalkulieren.
Gleich am Eingang wurde ich von einer Beamtin knapp begrüßt.
»Willkommen in Cousins«, sagte Shonda, nachdem wir uns kurz vorgestellt hatten, und klang dabei wie eine Mutter, deren Kinder ihre Geduld strapazieren – sie strahlte eine unterschwellige Gereiztheit aus, die sich gegen niemanden Konkretes richtete. Ihre Uniform war khakifarben und straff, ihr Haarknoten noch straffer.
»Ich führe Sie herum, aber zunächst muss ich Sie durchsuchen.«
»Klar.« Ich hatte mich in einen ruhigen, gehorsamen Modus versetzt – ich klang fast vergnügt, als hätte sie mir eine Tasse Kaffee angeboten.
Shonda führte mich in einen gekachelten Raum, an dem Aufnahme stand. Er verfügte über keine Tür, sondern war durch eine kleine Mauer, die sich gegenüber dem Eingang befand, sichtgeschützt. Wie in einer Flughafentoilette. Der Raum war spärlich eingerichtet, eigentlich gab es nur einen langen Metalltisch, ein paar Schließfächer und zwei Sicherheitskameras.
»Bitte geben Sie mir Ihren Beutel und Ihre Schuhe, leeren Sie Ihre Taschen, dann ziehen Sie sich bitte aus.«
Verdammt. Ich reichte ihr meine Tragetasche, die Schlüssel und mein Telefon, streifte meine Ballerinas ab und übergab sie ihr ebenfalls. Ich zog mich aus und stand wie angewurzelt da, während sie in Ruhe den Inhalt meiner Tasche untersuchte. Als Nächstes nahm sie sich gründlich meine Kleidung vor und tastete jeden Saum ab.
»Ich weiß, dass Ihnen das ziemlich aufdringlich erscheinen muss«, sagte sie beiläufig, »aber es muss sein, wenn wir Sie zu den normalen Insassen lassen.«
»Klar.« Meinetwegen. Für mich war das okay. Gott, ich wollte ganz sicher nicht auf die harte Tour erfahren, dass ein Mann in seiner Verzweiflung etwas von meinen Sachen als Waffe benutzen konnte.
»Gehen Sie bitte in die Hocke und husten Sie.«
Mit knallrotem Gesicht folgte ich ihrer Anweisung. Karen hatte mich davor gewarnt, doch es war ein himmelweiter Unterschied, ob man es sich nur vorstellte oder es wirklich tat. Wie oft mussten die Insassen das wohl über sich ergehen lassen? Täglich? Jedes Mal, wenn sie das Gelände oder den Besuchsbereich verließen? Konnte man das überhaupt als Leben bezeichnen?
Ich überstand diesen ersten erniedrigenden Akt und zog mich rasch wieder an.
»Das behalten wir hier«, erklärte Shonda, nahm eine kleine Plastikschale von den Schließfächern und warf meine Schlüssel und mein Handy hinein. »Wir bewahren das am Empfang für Sie auf, aber solange Sie sich in der Sicherheitszone aufhalten, können Sie jederzeit darauf zugreifen.« Sie sprach mit der Leidenschaft eines Roboters, vermutlich sagte sie den Text mehrmals die Woche auf. Sie sah mir in die Augen, schob die Daumen unter ihren schweren schwarzen Gürtel und sprach langsam und deutlich.
»Solange Sie zum externen Personal der Cousins Justizvollzugsanstalt gehören, gelten für Sie dieselben Vorschriften wie für alle Angestellten der Strafanstalt. Sie betreten keine Bereiche, zu denen Ihnen der Zutritt aufgrund Ihrer Sicherheitsstufe verboten ist. Ohne ausdrückliche Genehmigung machen Sie weder Fotos noch Filmaufnahmen der Einrichtung. Sie bringen keine Schmuggelware in die Einrichtung. Sie nehmen von den Häftlingen keine Schmuggelware an. Wenn Sie mit Schmuggelware in Berührung kommen, liefern Sie diese sofort beim nächsten Beamten ab. Haben Sie das verstanden?«
»Ja.«
Ich dachte, sie wäre fertig, doch es ging noch weiter.
»Ohne schriftliche Eilgenehmigung dürfen Sie den Häftlingen keine Gegenstände überlassen. Sie nehmen keine Geschenke an, weder materieller Natur noch solche, die Ihnen aufgrund einer mündlichen oder schriftlichen Abmachung von einem Gefängnisinsassen versprochen werden. Sie dürfen die Häftlinge nicht auf unangemessene Weise ansprechen oder berühren. Genauso wenig dürfen Sie die Insassen ermuntern, mit Ihnen auf unangemessene Weise zu sprechen oder Sie auf diese Weise zu berühren …«
Das ging ganze fünf Minuten so weiter, nach denen ich eine vierseitige, eng bedruckte Erklärung erhielt, in der die zahlreichen Vorschriften detailliert aufgeführt waren und die darüber hinaus in Form eines Index erklärte, was als »Schmuggelware« und als »unangemessen«einzustufen war und so weiter. Ich las mir das Papier durch und unterschrieb unter den strengen Augen von Shonda. Kaum hatte ich das getan, entspannte sich ihre Haltung.
»Okay. Dann werde ich Ihnen mal alles zeigen, Ms. Goodhouse.«
Sie ließ mein Formular und meine streng verbotenen Gegenstände bei einem jungen Mann mit blondem Bürstenhaarschnitt hinter einem halbrunden Empfangstresen.
»Ryan, das ist Anne Goodhouse, die neue Bibliothekarin.«
Ryan lächelte und schüttelte mir die Hand. Er sah aus wie ein Typ aus Charleston, ein Uni-Footballer oder ein eifriger junger Marinesoldat vor seiner Entsendung. »Willkommen an Bord, Anne.«
»Danke.«
Er nahm meine Sachen, drehte sich mit seinem Stuhl herum und klimperte mit seinen Schlüsseln, während er meine Sachen in eins der Schließfächer hinter sich schloss. »Sie sind also Karens Nachfolgerin?«
»Genau.«
»Die Jungs waren ziemlich angetan von ihr.«
Ach echt? Karen war zwar nicht der Typ Mensch, der sich selbst lobte, aber sie hatte mir überzeugend den Eindruck vermittelt, dass die Insassen sie geradezu wie Krätze verabscheut hätten.
»Ich bin mir sicher, dass Sie das genauso gut machen werden«, erklärte Ryan lächelnd. »Sagen Sie Bescheid, wenn Sie was brauchen.«
»Sie braucht einen Alarmknopf«, bemerkte Shonda. Ihre gehobene Braue sagte: Wenn du nicht so mit Flirten beschäftigt wärst, wärst du auch selbst draufgekommen.
»Natürlich.« Er schloss eine Metallschublade auf und holte etwas heraus, das wie ein Pieper aussah. Er klickte etwas an seinem Computer, drückte den Knopf an dem Gerät, klickte wieder etwas am Computer, tippte auf der Tastatur und überreichte ihn mir schließlich. Ich klemmte ihn an meine Gürtelschlaufe und betete, dass ich ihn nie brauchen würde.
Shonda steckte einen von unzähligen Schlüsseln ihres überladenen Schlüsselrings in das Schloss einer schweren Metalltür und führte mich in einen kleinen Korridor. »Die meisten Ihrer Veranstaltungen finden in Klassenraum B statt, und wenn Sie nicht gerade Unterricht haben, können Sie das Büro Nummer vier nutzen. Dort können Sie allerdings nichts liegenlassen – das teilen Sie sich nämlich mit anderen Externen –, aber wir werden einen Aktenschrank für Sie frei räumen.«
»Toll.«
»Der Raum verfügt über einen Computer, einen Drucker, einen Scanner und einen Festnetzanschluss.« Ein weiterer Schlüssel wurde umgedreht und eine weitere Tür verschluckte uns, es folgte ein weiterer weißer Flur. »Der Gebrauch von Mobiltelefonen ist für externe Mitarbeiter hier drinnen verboten. Tut mir leid.«
»Ich werde es überleben.«
»Ihre Sicherheitsstufe gewährt Ihnen Zugang zum Büroflügel, zum Pausenraum und zur Küche sowie zu den Toiletten und dem Verwaltungsflügel – das bezeichnen wir als grüne Zone. Dort sind keine Häftlinge ohne Begleitung zugelassen. Außerdem gelangen Sie in den Aufenthaltsbereich und zu den Klassenzimmern – das ist die orange Zone, die sich Mitarbeiter und Häftlinge teilen. Sie haben keinen Zugang zum Hof, den Zellen, dem Sportraum und so weiter – der roten Zone –, ebenso wenig zu allen blauen Zonen, die dem Sicherheitspersonal vorbehalten sind.«
»Okay.«
»Keine Sorge. Falls Sie sich das nicht alles merken können – die Durchgänge sind farblich markiert, damit Sie wissen, welche Zone Sie betreten.« Sie tippte auf den Metallrahmen, den wir gerade passierten. Orange. Mir drehte sich der Magen um. Meine Beine wollten auf der Stelle umdrehen und mich zurücktragen, hinaus in die Sonne. Hinter den Stahltüren hörte ich Geräusche, vereinzelte Rufe und gedämpftes Scheppern.
»Wir betreten jetzt den Aufenthaltsbereich«, erklärte Shonda, steckte einen letzten Schlüssel ins Schloss und gab Zahlen in eine Tastatur ein. »Dieser Bereich verfügt über das meiste Personal. Von hier bis zu ihren Zellen dürfen sich die Gefangenen frei bewegen, vorausgesetzt sie verhalten sich entsprechend. Sie müssen sich dieses Privileg durch gute Führung erst verdienen.«
Das sollte mich beruhigen, aber ich fühlte nichts als Kälte, Eiseskälte.
»Die werden Sie ansprechen, mit Ihnen reden wollen«, erklärte mir Shonda und ließ den Finger über dem Keypad schweben. »Achten Sie nicht auf sie. Sie haben einen Beamten vor sich und einen hinter sich. Richten Sie den Blick geradeaus. Egal, ob Sie lächeln oder nicht, Sie sollten auf jeden Fall versuchen, selbstsicher zu wirken. Wenn nötig, tun Sie so.«
Oh, das würde ich wohl müssen.
»Sie wirken nicht, als würden Sie Ihre weiblichen Reize auf dem Servierteller präsentieren, aber ich sage es Ihnen trotzdem: Gehen Sie, als hätten Gott oder Ihre Mutter Sie weder mit Hüften noch mit einem Hintern ausgestattet.«
»Klar.«
Sie warf mir einen mütterlichen Blick zu und ergänzte: »In mehr als zehn Jahren ist im Aufenthaltsbereich noch nie ein externer Mitarbeiter angegriffen worden.«
Yeah.
Sie gab die letzte Zahl ein, und das rote Licht über dem Keypad blinkte grün und piepte.
Shonda trat ein. Ich folgte ihr.
Die frische Luft blieb hinter uns, sie durfte sich strikt nur in der grünen Zone aufhalten.
Der Aufenthaltsbereich war lang und auf der einen Seite von Zellentüren gesäumt. Darüber, in einem zweiten Stockwerk hinter einem Geländer, befanden sich zwei weitere Reihen Zellentüren. Keine Gitterstäbe – jede Tür bestand aus bemaltem Metall, hatte einen Riegel, ein schmales Fenster und war mit Ziffern beschriftet. Männer liefen umher oder lungerten herum – die Häftlinge in Marineblau, die Beamten in Khaki.
Der Raum war wie ein Dschungel aus dichtem, unruhigem Lärm. Bei jedem Schritt knallten die harten Sohlen meiner Ballerinas laut auf dem Boden. Alles hallte, unzählige Geräusche dröhnten von Beton, Stahl und Glas wider. Der Geräuschpegel erdrückte mich, ich ging unter in einem donnernden Wasserfall aus Schreien, Knallen, Klirren und dumpfen Schlägen.
Ein Dutzend runder Tischeinheiten waren im Boden verschraubt, jede verfügte über vier Stühle, die im Neunzig-Grad-Winkel an einem dicken Rohr befestigt waren. Die Insassen kauerten in kleinen Gruppen an den Tischen oder standen zusammen und unterhielten sich.
Es wirkte alles lockerer, als ich es mir vorgestellt hatte, und mir fiel wieder ein, dass nur Männer, die sich anständig verhielten, die Erlaubnis bekamen, sich frei zu bewegen. Oder an den Bibliothekskursen teilzunehmen.
Auf unserer Seite standen diverse Beamte, und einer von ihnen, ein kräftig wirkender schwarzer Typ von ungefähr fünfzig schritt auf uns zu.
»Sie müssen die neue Bibliothekarin sein«, sagte er. »Ich bin John.«
Ich schüttelte ihm die Hand. »Anne.«
»Wohin soll sie?«, erkundigte sich John bei Shonda. »Zu den Büros?«
Sie nickte und sagte zu mir: »Sie folgen John, und ich bleibe direkt hinter Ihnen.«
Ich wollte sie bitten, mir einen Moment Zeit zu geben, um mich zu sammeln – um eine große Portion Sauerstoff aus dem Bereich hinter der schweren Metalltür in meinem Rücken zu atmen –, doch John ging bereits voran. Lässig und mit langsamen Schritten stolzierte er ein bisschen so, wie ich es als Frau gerade nicht tun sollte. Ich ging mit steifen Hüften, mein Rückgrat war gerade wie ein Laternenpfahl. Die Tragetasche hängte ich über die Schulter, sodass sie meine Brüste verdeckte.
Blicke verfolgten mich. Die Unterhaltungen wurden leiser, und die lärmende Menge verwandelte sich in einen surrenden Schwarm. Es befanden sich vielleicht vierzig Männer im Erdgeschoss und ein Dutzend weitere darüber; sie lehnten über dem Geländer vor den Zellen im oberen Stock. Panische Fragen drängten aus meiner Kehle. Warum dürfen die einfach so raus? Wozu nehmen Sie mir die Schlüssel weg, wenn ich innerhalb von einer Minute erwürgt werden könnte?
Auf meinem Körper spürte ich die anzüglichen Blicke ebenso real wie die vielen Hände, die sich aus allen Ecken nach mir ausstreckten. Ich bemühte mich sehr, ruhig zu wirken. Als machte ich das nicht zum ersten Mal. Man würde mich nie für unnahbar halten so wie Shonda oder denken, dass ich cool über allem stünde so wie John, also versuchte ich es erst gar nicht. Stattdessen bemühte ich mich, mich unsichtbar zu machen, was natürlich nicht funktionierte.
»Endlich«, sagte ein dürrer schwarzer Insasse und klatschte in die Hände. »Ehelicher Freitag. Wo kann man sich anstellen?«
Ein paar Typen lachten, und in meinem Rücken bellte Shonda: »Red du nur, Wallace. Red’ dich meinetwegen um deine Privilegien.«
Wallace murmelte etwas und wirkte nicht besonders reumütig. Mein Herz, meine Lungen und mein Hals schmerzten, sie waren trocken und angespannt. Mein gesamter Körper tat weh, als würden mich ihre Blicke verletzen.
Als wir an einer verglasten achteckigen Station in der Mitte des Aufenthaltsbereichs vorbeikamen, erfolgte eine ethnologische Veränderung – alle dunkelbraunen Gesichter waren plötzlich verschwunden, an den nächsten Tischen folgten kleine Gruppen hispanisch aussehender Männer, dann nur noch weiße. Die Trennung war so offensichtlich, dass es mir unangenehm war.
Noch unangenehmer war es mir, als einer der hispanischen Kerle einen leisen Pfiff ausstieß. Aber als die weißen Insassen überhaupt nichts von sich gaben, fühlte ich mich bedroht. Zumindest sagten sie nichts, was ich hörte. Sie flüsterten oder befeuchteten ihre Lippen. Fast vermisste ich Wallace von vorhin und seine gesellige Horde mit ihren anmaßenden Sprüchen. Ich war dankbar, dass mein Gesicht kühl und taub geworden war, völlig blutleer. Rot anzulaufen schien hier einer Einladung gleichzukommen. Damit gestand man eine gefährliche Schwäche ein, die darin bestand, weiblich und schüchtern zu sein.
Ein Insasse stach selbst im Sitzen aus einer Gruppe heraus.
Er wirkte vollkommen ruhig und konzentriert, sogar, als sein Kumpel ihn mit dem Ellbogen anstieß.
Mein pochendes Herz blieb kurz stehen. Es war unheimlich. Wie der Moment, wenn Vögel in der Stille nach einem Gewehrschuss herabfielen.
Er war groß. Hochgewachsen, breite Schultern – aber nicht stämmig.
Anders als bei den meisten anderen Insassen war sein Schädel nicht rasiert. Seine fast schwarzen Haare hätten vielmehr einen Schnitt vertragen können, sie lockten sich unter seinen Ohren. Er hatte dunkle Brauen, einen dunklen Bartschatten, dunkle Wimpern und dunkle Augen.
Er war attraktiv. Sehr attraktiv. So attraktiv, dass es einem das Herz brach.
Er hatte einen Satz Spielkarten in den Händen und hielt im Mischen inne. Einige der Männer trugen verwaschene marineblaue Oberteile und Hosen, andere marineblaue T-Shirts, ein paar nur weiße Unterhemden. Dieser Mann trug ein T-Shirt, auf dem COUSINS und darunter die Nummer 802267 standen. Diese Ziffern brannten sich in mein Gehirn ein.
Ich sah, dass er mich beobachtete.
Aber nicht so wie die anderen.
Wenn er sich mich gerade nackt vorstellte, besaß er ein überzeugendes Pokerface, dennoch war seine Aufmerksamkeit alles andere als unauffällig. Als ich seinen Bereich passierte, drehte er den Kopf, seine Augen wirkten jedoch verträumt. Die Lider waren halb geschlossen, auf eine unbestimmte Weise wirkte sein Blick trotzdem intensiv. Hunderte Blicke in einem. Das gefiel mir nicht. Ich konnte es nicht deuten. Bei den anderen geilen Idioten wusste ich wenigstens, woran ich war.
Was war wohl das Schlimmste, was man tun konnte, um dennoch nur in einem Gefängnis mittlerer Sicherheitsstufe zu landen?
Hoffentlich würde ich es nie erfahren.
Und ich betete zu Gott, dass Insasse 802267 sich nicht für einen meiner heutigen Kurse angemeldet hatte.
Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, ließ meine Panik etwas nach.
Den ganzen Morgen über war ich im Unterrichtsraum B, der sich nicht sehr von einem normalen Klassenzimmer in einer Schule unterschied, auch wenn die gestrichenen Betonwände fensterlos waren, an ihnen keine Poster hingen und die Atmosphäre irgendwie trostlos wirkte.
An acht langen Tischen, die in vier Reihen hintereinander standen, waren je vier Metallstühle in den Boden geschraubt, sodass zweiunddreißig Männer Platz fanden und in der Mitte ein Gang blieb. Mein Stuhl war frei beweglich, aber auch nicht bequemer als die der Häftlinge – die Ausstattung war minimalistisch. Ein Minimum an beweglichen Gegenständen, ein Minimum an Geräten. Ein Minimum an Material, aus dem man eine Waffe hätte herstellen und mich erstechen können.
Bevor die Häftlinge eintrafen, postierte sich ein älterer Beamter neben der Tür. Er stand so aufrecht, als hätte er einen Stock verschluckt, und hielt die Hände gefaltet. John stellte ihn mir als Leland vor. Sein Schnauzbart war stahlgrau und vorbildlich getrimmt – wie die obere Hälfte eines Hamburgerbrötchens. Mit mir ist nicht zu spaßen, sagte der Schnauzbart.
Zwei Minuten vor neun wurde die Tür von außen geöffnet, und mein Herz klopfte bis zum Hals. Ich zwang mich zu lächeln. Und zu schlucken. Und meinen Händen befahl ich, nicht zu zittern, als ich sie auf das Lesebuch legte, das vor mir auf dem kleinen verschrammten Schreibtisch lag. Und meinen Knien, nicht zu schlottern.
Die Häftlinge trafen ein, plauderten und stritten sich. Die Klasse war bis auf den letzten Stuhl besetzt. Es musste wohl eine Warteliste für den Grundkurs in Lesen und Schreiben geben. Alle Größen und Altersklassen waren vertreten. Alle trugen die gleiche blaue Uniform. 802267 war nicht dabei.
»Guten Morgen«, sagte ich. Meine Stimme klang etwas schrill. Ich hörte es, also hörten es die Männer auch, aber ich konnte nichts dagegen tun.
»Ich bin Ms. Goodhouse, die neue für Sie zuständige Bibliothekarin von der Öffentlichen Bibliothek in Darren. Herzlich willkommen im Grundkurs Lesen und Schreiben.« Ich atmete ganz bewusst ein, damit ich nicht zu schnell sprach. Wie gern hätte ich die Augen so zusammengekniffen, dass ihre Bärte und Tattoos und ihre Nummern verschwimmen würden und ich so tun könnte, als seien sie Teenager und ich befände mich im Klassenzimmer einer Highschool.
»Ich teile jetzt ein paar Arbeitsblätter aus«, verkündete ich und reichte den Männern, die in der ersten Reihe am Gang saßen, je vier Blätter. »Bitte geben Sie die weiter.« Als ich zur zweiten Reihe weiterging, hielt ich die Luft an, doch niemand fasste mir an den Hintern. Ihre Blicke waren allerdings überall, und jemand murmelte »Ein Mädchen aus dem Süden«, aber kein Anfassen. Dritte Reihe. Vierte. Ich ging zurück nach vorn und ließ mir meine Erleichterung nicht anmerken.
»Der Kurs dauert acht Wochen. Wenn ich Stoff durchgehe, den Sie bereits kennen, betrachten Sie es als Auffrischung. Die Anforderungen steigern sich von Woche zu Woche. Alles klar? Also, wer von Ihnen kennt nicht das Alphabet?«
Niemand antwortete oder hob die Hand. Mir blieb nichts anderes übrig als anzunehmen, dass sie ehrlich waren.
»Sehr gut. Wir beginnen mit den Grundlagen der Phonetik. Die Phonetik ist eine Methode, lesen und schreiben zu lernen, indem man auf den Klang der Worte hört …«
Mein Gehirn löste sich von meinem Mund – diese Einführung hatte ich schon oft gehalten. Während meines Studiums hatte ich häufig als Vertretungslehrerin in unteren Klassen und als Privatlehrerin gearbeitet.
Es war allerdings äußerst merkwürdig, diesen Text vor erwachsenen, inhaftierten Männern aufzusagen und nicht vor zappeligen Kindern.
Einige Männer blieben die ganze Stunde über stumm – ob sie konzentriert bei der Sache waren oder sich geistig abgemeldet hatten, war schwer zu sagen. Andere waren mitteilsam und stellten mir Fragen, nur um mit mir zu sprechen. Im Allgemeinen um zu flirten.
»Hey, Bibliothekslady«, unterbrach mich einer. »Sind Sie eine Frau oder ein Fräulein?«
Sein Kumpel fügte hinzu: »Ja. Wem lesen Sie zu Hause Gute-Nacht-Geschichten vor?«
Daraufhin drehte sich ein Mann in der ersten Reihe um und sagte: »Halt die Klappe. Als ob du Chancen hättest. Scheiße, Mann! Einige von uns wollen hier echt was lernen, du Wichser.«
Das war eine weitere Fraktion: die hyperernsten Typen, die kein Verständnis für Unsinn hatten, und die schnell nachfragten, wenn sie etwas nicht verstanden.
Keiner von ihnen verhielt sich offen respektlos oder bedrohlich durch das, was sie sagten. Karen hatte recht gehabt – die Chance, eine Stunde mit einer unbekannten Frau zu verbringen, war ganz offensichtlich begehrt. Ich hoffte, dass einige wirklich etwas lernen wollten, musste mich jedoch damit abfinden, dass die anderen sich vermutlich nur an die Regeln hielten, weil sie mich dafür eine Stunde lang in Gedanken ausziehen durften. Also seien wir ehrlich – ich wurde nicht annähernd angemessen bezahlt.
Nach »Lesen und Schreiben« folgte »Aufsatz schreiben«. Als die Teilnehmer hereinkamen, bat ich sie, sich entsprechend ihrer Fähigkeiten zusammenzusetzen, je nachdem, ob sie das Schreiben eines Aufsatzes »sehr anspruchsvoll«, »etwas anspruchsvoll«, oder »gar nicht anspruchsvoll« fanden. Ein paar nickten zustimmend, doch dann teilten sie sich erneut strikt nach Hautfarbe auf.
Es war ganz offensichtlich zwecklos, sie nach unterschiedlichem Niveau gruppieren zu wollen. Stattdessen verteilte ich liniertes Papier und Bleistifte – Letztere wurden vom Gefängnis gestellt – und gab ihnen einen Schreibanlass.
»Jeder schreibt bitte drei Minuten etwas zum Thema ›Meine liebste Jahreszeit‹. Ich möchte mir nur ein Bild machen, wo wir stehen.«
Ich lief durch die Klasse, wobei mein Hintern noch immer unberührt blieb. Einige Männer brachten ein paar Sätze zustande, sie malten langsam und sorgfältig in Großbuchstaben wie Kinder, anderen schrieben ein oder zwei Absätze. Als sie ihre Stifte weglegten, sammelte ich ein paar Seiten mit Texten unterschiedlicher Länge ein, um sie laut vorzulesen. Ich würde sie erst sorgfältig loben für das, was sie gut gemacht hatten, ehe ich Ausdrucks- oder Grammatikfehler herausgriff und sie erklärte.
»›Meine liebste Jahreszeit ist der Sommer‹«, las ich laut vor, ohne auf Rechtschreibfehler einzugehen, »›weil ich als Kind keine Schule hatte und den ganzen Tag spielen durfte und mir bis zum Abendbrot niemand sagte, was ich tun sollte. Ich hasse den Winter. Der ist hier in Michigan zu lang, anders als in Virginia, wo ich herkomme.‹ Sehr gut. Sie gehen mit starken Aussagen auf das Thema ein. Lernen wir jetzt etwas über Zeichensetzung, die den Rhythmus der Wörter bestimmt …«
Der Rest der Schreibstunde verlief … nicht katastrophal. Als ich ein paar einfache Hinweise zur Grammatik geben wollte, kam ich vom Thema ab. Vielleicht hatte er meine Unsicherheit gespürt, jedenfalls nutzte ein Häftling die Gelegenheit, das Ganze zu einer politischen Diskussion über das Thema »Die Stimme des schwarzen Mannes« auszuweiten. Dass die Sprache der Straße authentischer sei als das, was er »Ihre schicke Weiße-Leute-Sprache« nannte. Aus Angst, dass darüber ein Konflikt entbrennen könnte, ließ ich zu, dass die Häftlinge sich an einer halbwegs zivilisierten Analyse des Themas beteiligten und meldete mich nur mit einem schlappen »Ja, das ist ein interessanter Punkt« zu Wort. Als die Stimmung schließlich zu hitzig wurde, schlug Leland mit seinem Knüppel gegen die Wand und befahl allen, den Mund zu halten.
Die Stunde ging zu Ende, und als die Häftlinge den Raum verließen, schmerzten meine Gesichtsmuskeln vom vielen Lächeln, und meine Schultern hingen quasi unter meinen Ohren. Ich linste in die Ecke zu Leland und flehte um ein Zeichen – irgendein Zeichen, ob gut oder schlecht –, das mir sagte, wie ich mich geschlagen hatte.
Er hob den Daumen, und seine Miene sagte, Mach dir nichts draus, Kleine. Du machst das gut.
Ich holte so tief Luft wie ich konnte und zwang mich, ihm zu glauben.
In der nächsten Stunde stand das Thema »Internet und Korrespondenz« auf dem Lehrplan. Cousins hatte eine starke – wenn nicht gar revolutionäre – Resozialisierungsethik und setzte darauf, dass die externen Bibliothekare den Häftlingen beibrachten, wie sie das Internet zur Jobsuche nutzten und Online-Bewerbungen ausfüllten. Es war kein richtiger Unterricht, mehr ein Gerangel. Es gab nur zwei Computer, deshalb mussten die Männer sich vorher anmelden. Der Rest der Jungs kam und ging, wie sie wollten. Sie baten mich, ihre Lebensläufe Korrektur zu lesen, ihnen bei Verwaltungskram zu helfen, beim Verfassen von Briefen und so weiter.
Die morgendliche Internet-Stunde war im Vergleich zu der, die ich nachmittags geben sollte, wohl noch ruhig verlaufen, denn man hatte mir gesagt, dass die am Nachmittag deutlich beliebter war. »Zwischen Mittag- und Abendessen werden sie unruhig«, erklärte mir Leland im Pausenraum des Personals.
»Ich Glückspilz.« Ich füllte zwei Päckchen Instant-Haferbrei in einen Becher und erhitzte sie in der Mikrowelle. Ich aß achtlos im Stehen und blickte aus dem Fenster auf den Sportplatz. Die Männer hingen herum, trainierten an Stangen Klimmzüge und Liegestütze und spielten T-Shirts gegen nackte Oberkörper auf einem rissigen Basketballfeld mit nur einem Korb.
Jahrelang an diesem Ort, dachte ich. Jahrelang nichts zu tun zu haben, außer sich die Langeweile zu vertreiben, indem man seine Muskeln trainiert und vielleicht noch seinen Kopf. Dass Cousins für Letzteres nicht besonders gut ausgestattet war, war mir klar.
Nach dem Mittagessen folgte die »Buchdiskussion« – die einzige Stunde, auf die ich mich wirklich freute.
Man hatte mir empfohlen, ein Buch zu wählen, das auf die Probleme der Häftlinge einging, ohne ihre Gemüter zu erhitzen. Etwas, das zu Männern passte, die schwerwiegende Erwachsenenprobleme hatten, aber das Textverständnis eines Teenagers, und das sowohl den Ansprüchen der amerikanischen Bibliotheksgesellschaft als auch denen von Cousins gerecht wurde. Ich hatte die Gefängnisrichtlinien studiert, sie waren ziemlich liberal. Man wollte »äußerst brutale und sexuelle Inhalte« vermeiden, eine echte Zensur war jedoch nicht zu befürchten.
Bibliothekare lieben Herausforderungen – tief in unserem Inneren sind wir alle Missionare –, und ich hatte mich tagelang mit der Auswahl beschäftigt. Schließlich hatte ich mich für ein Buch entschieden, das sich an Jugendliche richtete. Ich dachte, dass die Geschichte des jungen Mannes die Jungs vielleicht an die Zeit erinnerte, bevor ihr Leben eine so üble Wendung genommen hatte.
Die Buchdiskussion fand in einem anderen Raum als der morgendliche Unterricht statt – er fasste fünfzig oder sechzig Personen, die mir auf Plastikstühlen gegenübersaßen. Auch ich saß auf einem Stuhl.
Die Männer kamen um eins, und ich erhielt zwei Sicherheitsbeamte – Stahlschnauzer Leland in der vorderen Ecke sowie einen weiteren Mann am Ausgang. Es wurde viel geredet und gescherzt, die Jungs waren von ihrer Mittagspause noch in geselliger Stimmung.
Tu einfach so, als sei es eine Schülergruppe. Sobald alle Stühle bis auf den letzten Platz besetzt waren, sagte ich so fest wie ich konnte: »Ruhe, bitte. Danke. Hallo. Ich bin Ms. Goodhouse, die neue Bibliothekarin. Willkommen zu einer neuen Buchdiskussion. Ich hoffe, dass Ihnen die Geschichte, die ich ausgesucht habe, gefällt …«
Aus der zweiten Reihe tönte es: »Auf geht’s! Wer die Scheißnachtigall stört!« Wallace, Mr. Ehefreitag.
Ein paar Typen lachten, ein paar zischten, er solle leise sein.
»Sie heißt Schiffsdiebe von Paolo Bacigalupi«, erklärte ich. »Mehr will ich nicht verraten.« Dann begann ich zu lesen.
Die Geschichte spielte in nicht allzu ferner Zukunft. Der Protagonist war ein Junge namens Nailer, der in den Wracks großer Tanker nach Kupfer suchte. Ich hoffte, dass die Handlung weit genug vom Leben der Häftlinge entfernt war, dass sie aber dennoch mit dem Thema etwas anfangen konnten – wie findet man seinen Weg in einer rauen Welt. Überleben, Unterdrückung, Kampf, Sieg, Liebe.
Während ich las, wurden die Männer still. Unheimlich still, nur unterbrochen vom Summen dutzender gemurmelter Kommentare, wenn in der Geschichte etwas Aufregendes passierte.
Ich hatte einen Treffer gelandet.
Meine Stimme verlor ihren brüchigen Lampenfieberklang. Als das Kräftespiel zwischen den jungen unterdrückten Schiffsdieben und ihren eiskalten Aufsehern in den Mittelpunkt rückte, waren alle wie erstarrt.
Entgegen meinem Vorhaben, den Kopf beim Lesen gesenkt zu halten, setzten sich meine alten Märchenstundeninstinkte durch. Ich begann aufzublicken und alle paar Sätze Augenkontakt zu jemandem zu suchen. Nur eine Sekunde – ein kurzer Blick in irgendein Gesicht, gerade lang genug, um die Aufmerksamkeit von jemandem zu fangen, dann wandte ich mich wieder dem Buch zu.
Eine Viertelstunde lang war alles in Ordnung. Bis sich beim Hochschauen mein Blick mit dem von 802267 traf.
Mein Herz setzte aus. Ich geriet ins Stammeln und blickte zurück ins Buch, um mein Gehirn und die gedruckten Wörter wieder miteinander in Einklang zu bringen.
Fortan bemühte ich mich, nicht mehr aufzublicken. Aber zu wissen, dass er da war … Wo genau sich sein Körper im Verhältnis zu meinem befand, zu wissen, dass seine dunklen Augen auf mich gerichtet waren …
Ich sah erneut auf.
Wieder traf ich auf seinen durchdringenden Blick. Seine unergründliche Miene, eine unglaubliche Mischung aus Apathie und Faszination, aus Kälte und Sinnlichkeit.
Moment – wo war ich? Was machte ich hier gerade? Ich flüchtete erneut ins Buch. Während mein Mund auf Autopilot geschaltet war, machten meine Gedanken sich selbstständig.
Kalte Sinnlichkeit. Ja, genau das war es. Aber gab es nicht ein passenderes Wort für diese Eigenschaft, vielleicht: soziopathisch?
Ich achtete sorgsam darauf, ein paar Seiten lang nur Blickkontakt zur anderen Hälfte des Raums aufzunehmen, doch ich spürte, dass seine Augen an mir hafteten. Wie die Wärme, die die Hand eines Liebhabers hinterließ. Er trieb Hitze in meine Wangen, und ich hoffte, dass man meine Röte in dem fahlen Neonlicht nicht sehen würde.
Meine Gedanken rasten, während meine Lippen und meine Zunge weitermachten.
Sieh noch mal hin – dann merkst du, dass da gar nichts war. Dein Kopf hat dir einen Streich gespielt. Vielleicht gab ich mir lediglich ein anerkennendes Pfeifen, weil ich ein scheinbar vertrautes Gesicht unter Fremden entdeckt hatte. Und vertraut nur aus dem Aufenthaltsbereich.
Doch warum sollte ich mir das Gesicht eines Mannes nach einer so kurzen Begegnung so genau einprägen …
Er war attraktiv, klar. Nicht für jeden Geschmack – er entsprach nicht dem amerikanischen Ideal eines gut aussehenden Mannes. Er war deutlich dunkler und hatte eine wissende und bedrohliche Ausstrahlung.
Natürlich wusste ich nur zu gut, dass das Äußere nichts aussagte. Der Ex, dem ich mein geplatztes Trommelfell und den knackenden Kiefer zu verdanken hatte, entsprach dem amerikanischen Ideal eines gut aussehenden Mannes. Blond. Haselnussbraune Augen, die in der Sonne grün schimmerten, und dieses Lächeln. Dazu noch ein gelber Labrador und ein Football, und das Bild war perfekt.
Dazu ein Plastikbecher – halb Cola, halb Rum – und er veränderte sich.
Das ist der einzige Grund, aus dem 802267 so anziehend auf mich wirkt. Er ist ganz anders als Justin. Als der blonde, lächelnde Justin.
Dieser nummerierte, namenlose Fremde hatte Mist gebaut. Vergangenheitsform. Hatte so schlimmen Mist gebaut, dass man ihn weggeschlossen hatte, und die Klarheit darüber, dass er etwas Verbotenes getan hatte und nun seine Strafe verbüßte, übte einen unerwarteten Reiz auf mich aus. Denn für welche Sorte Verbrechen Justin bestraft werden würde – Verkehrsverbrechen, Familiendelikt, Trunkenheit oder ungebührliches Verhalten –, das würde sich erst noch herausstellen. Wenn er nicht aufhörte zu trinken, würde ihm jedenfalls etwas Unangenehmes passieren, und diese Gewissheit, gepaart mit der Unsicherheit, wann und in welcher Form das geschehen würde, war erdrückend.
Doch dieser Mann hier mit den dunklen Augen, den dunklen Haaren und dem dunklen Bartschatten … Dieser Mann, der sich vier Reihen weiter hinten, drei Sitze vom Rand entfernt befand … Von ihm wusste ich, wo er saß und wo er stand. Ich wusste, wo er schlief – hinter einer dicken Metalltür. Und das ließ ihn irgendwie sicher wirken.
Ich riskierte es, ihn wieder anzuschauen.
Sein Blick war wie der eines Vogeljungen in den kräftigen Händen eines Mannes – scheinbar harmlos, doch mit der Möglichkeit, eine schreckliche Grausamkeit zu begehen. 802267s Ausdruck an sich war nicht grausam, doch es lag etwas in seinem Blick, das ich nicht deuten konnte. Konnte man ihm trauen?
Hör auf zu gucken.
Ich begegnete den Blicken der Männer um ihn herum, nahm ihn jedoch aus dem Augenwinkel weiterhin wahr. Die Art, wie er dasaß – mit gespreizten Beinen, die Hüften nach vorn geschoben, die Arme lässig auf den Schenkeln abgelegt – als säße er in einem Garten. Als würde er mit zwei Fingern den Hals einer Bierflasche halten, während die Sommersonne warm auf seinen Nacken schien. Sein Blick war fest, und ich spürte ihn auf mir. Spürte, wie er jedes Wort aufnahm, das meine Lippen formten, und es direkt von ihnen ableckte.
Es fühlte sich an, als würde ich zu 802267 andere Worte sprechen, Worte, die niemand anders hören konnte.
Was bedeutet dein undurchdringlicher Blick?
Was denkst du?
Was hast du getan, um deine Freiheit zu verlieren? Womit hast du dieses Leben verdient?
Was würdest du mit mir anstellen, wenn wir allein hier wären? Schauder.
Aber welche Art von Schaudern?
Hör auf, mich anzusehen. Doch alle sahen mich an – ob sie sich Dinge vorstellten, von denen mir übel wurde, oder nicht. Sie hatten das Recht, mich anzusehen, und das taten sie. Warum brannte die Aufmerksamkeit dieses einen Mannes auf mir, wenn die anderen mich kalt ließen?
Ich blickte auf die Uhr. Fast halb. Zeit, die Diskussion zu beginnen.
Als ich das Buch bei einem Cliffhanger schloss, hörte ich vernehmliches Stöhnen und ein »Och, nein!«
»Also«, sagte ich und sah mich im Raum um. Zu allen, nur nicht zu 802267. »Was denken Sie? Mögen Sie Nailer? Warum oder warum nicht? Bitte, heben Sie die Hand, wenn Sie etwas sagen möchten.«
Zunächst sagte niemand etwas, doch nach ein paar peinlichen Atemzügen erhob sich eine dunkle Hand.
»Ja«, sagte ich und zeigte auf den jungen Mann.
»Hoffentlich revanchiert er sich bei dieser Schlampe dafür, dass sie ihn sterben lässt.«
»Meinen Sie, er würde sich ihr gegenüber genauso verhalten«, fragte ich, »wenn er in der Position wäre, von all dem Öl zu profitieren?«
In der ersten Reihe ging eine andere Hand nach oben, und ich nickte ihrem Besitzer zu.
»Nein, Mann. Er versteht was von Kameradschaft. Er würde es mit ihr und diesem anderen Mädel teilen.«
»Scheiß auf sie«, sagte jemand anderes, und ich bedeutete einem großen Skinhead mit abfallenden Schultern, dass er diesen Gedanken weiter ausführen solle.
»Jeder kann sich einreden, er würde das Richtige tun. Aber wenn die Gelegenheit da ist …«, er zuckte mit den Schultern, »… meldet sich der Überlebensinstinkt. Man muss zuerst an sich denken. Vor allem, wenn es um Leben oder Tod geht. Oder um deine Freiheit.«
»Ich würde meine Mannschaft nie so verraten«, meldete sich eine gereizte Stimme von hinten.
»Bitte melden Sie sich«, mahnte ich. »Das ist eine interessante Sichtweise, in einer solchen Situation von Kameradschaft zu sprechen, oder? Nailer muss sich zwar auf die anderen Schiffsdiebe verlassen, aber auch mit ihnen um den Platz kämpfen. Glauben Sie, dass Nailer sich an Sloth rächen wird, wenn er lebend dort herauskommt?«
Vereinzeltes Nicken und Brummen. Ich nahm jemanden dran, der sich gemeldet hatte.
»Ich wette, dass er das nicht tun wird«, sagte ein hispanischer Typ um die dreißig. »Ich wette, er hält die andere Wange hin, weil er nicht so ein Arsch wie sein Alter sein will.«
Das führte zu lautstarken Reaktionen.
Als Nächster meldete sich Wallace, und was er sagte, beeindruckte mich. Es bewies, dass er zu mehr als zu unterirdischen Sprüchen fähig war.
»In dieser Welt kämpft jeder gegen jeden. Er wird verhungern, Mann. Wenn er sich nicht rächt, verdammt, dann wird ihn niemand respektieren. Das ist doch wie hier. Man bekommt eine einzige Chance zu beweisen, dass man Eier hat. Wenn man die vergeigt, ist man tot.«
»Aber dann ist er auch nicht besser als diese Sloth-Schlampe«, wandte sein Nachbar ein.
Die Diskussion blieb lebendig und überwiegend ruhig, und es meldeten sich noch immer welche, als ich die Stunde beenden musste. Die Häftlinge standen auf, kratzten mit den Stühlen über den Boden und unterhielten sich angeregt, und ein großer Typ aus der ersten Reihe trat in respektvollem Abstand auf mich zu. In überraschend freundlichem Ton sagte er: »Das ist ein geiles Buch, Miss …«
»Miss Goodhouse.«
»Richtig, Miss Goodhouse. Könnte ein Film sein.«
»Das freut mich.«
Er lächelte nicht, doch in seinen Augen lag eine traurige Wärme, während er sich an mir vorbeischob. »Ich freu mich darauf zu hören, wie es weitergeht. Ob er sich retten kann oder ertrinkt oder sonst was.«
»Oh, gut.« Ich lächelte, bis er sich abwandte, dann ließ ich den Blick über die Menge gleiten. Kein 802267. Nicht, dass ich nach ihm Ausschau halten sollte …
Der Rest meines Tages würde eine teilweise Wiederholung des Morgens sein – nacheinander Grundkurs in Lesen und Schreiben, in Internet und in Korrespondenz. Ersteres war angespannt verlaufen. In Cousins ging man leicht hoch, und niemand war scharf darauf, vor einen Frau in den Zwanzigern dumm dazustehen oder vor seinen schlimmsten Feinden Wörter wie »Eimer« oder »Meer« oder »Möwe« vorzulesen. Es gab Trotzanfälle – verzweifelte Blicke voller Selbsthass, die mich an die Kinder erinnerten, denen ich geholfen hatte, dieselben Buchstaben zu entziffern. Diese Männer brauchten meine Hilfe, sie wollten meine Hilfe. Und sie ärgerten sich über meine Hilfe.
Ich spürte, wie die Anspannung hier und da aufblitzte und dann wieder simmerte wie wabernde Luft über heißem Asphalt. Ich war äußerst konzentriert. Ich dachte sogar vorübergehend nicht an Häftling 802267.
Bis ich ihm eine Stunde später plötzlich direkt gegenüberstand.
Leland hatte recht gehabt – der Nachmittagsblock von Internet und Kommunikation war deutlich beliebter als der am Morgen, und er war doppelt so lang. Es gab eine Menge Häftlinge und nur einmal mich, ich spürte allgemeine Ungeduld, als ich aufs Geratewohl entschied, wem ich als Nächstes half.
Als ich gerade einen jüngeren Typen für seine Abi-Prüfung abfragte, trat eine große Gestalt durch die Tür. Ich wusste, ohne aufzusehen, wer es war. Breite Schultern, schmale Hüften, lange Beine. Etwas zu lange dunkle Haare. So heiße Augen, dass sie einen mit ihren Blicken verbrennen konnten.
Verdammt.
Warum machte er mich so nervös? 802267 sah nicht mehr oder weniger bedrohlich als irgendeiner der anderen Männer aus, doch schien meine Intuition durch irgendetwas alarmiert. Es war nicht Angst, die er in mir auslöste. Er beunruhigte mich auf andere Weise. Ich fühlte mich durch ihn warm und aufgeregt und unruhig auf eine Art, die mich misstrauisch stimmte. Das kannte ich nicht. Ein solches Verlangen hatte mich seit Jahren nicht befallen.
Er schlenderte zwischen den Tischen zu einem freien Stuhl auf der überwiegend schwarzen Seite des Raums und erntete abweisende Blicke, als er sich setzte. Er hatte keine Unterlagen dabei, verschränkte die Finger auf dem Tisch und gab sich so geduldig wie möglich.
Er schien mich mit seinem Blick für sich zu reservieren, sein Schweigen sagte mir: Ich warte hier.
Andere bemühten sich schon länger um meine Aufmerksamkeit, und ich war froh, ihm für vierzig Minuten oder länger aus dem Weg gehen zu können. Er saß einfach mit gefalteten Händen da und folgte mir mit seinem Blick. Gegen Ende des zweistündigen Blocks ging ich zu ihm, mein Herz pochte. Überall, wo ich hinging, rollte ich meinen Stuhl mit mir. Ich stellte ihn ans Ende seines langen Tisches und setzte mich lächelnd ihm schräg gegenüber.
»Danke für Ihre Geduld. Kann ich Ihnen bei etwas behilflich sein?«
Fast ein Lächeln. Fast. Seine Stimme war tief. Tief und voll und dunkel wie Frühlingserde. »Das hoffe ich.«
»Ich auch. Schießen Sie los.«
»Ich kann nicht so gut schreiben.«
»Okay.«
»Die Kurse in Lesen und Schreiben habe ich schon mal mitgemacht, aber das hat nicht viel geholfen.«
»Nicht?«
»Diesen ganzen Kindergartenkram von wegen laut lesen und so, das kenne ich schon. Ich kann ganz gut lesen, aber mein Schreiben ist Mist. Ich muss über jeden verdammten Buchstaben nachdenken, als würde ich ihn zum allerersten Mal sehen. Legasthenie oder so.«
»Das klingt eher nach Dysgrafie.«
»Nach was?«
»Das ist eine Schwester der Legasthenie. Sie können ganz gut lesen, sagten Sie?«
Er nickte einmal, wie ein Cowboy oder so. Dass er nie den Blick von meinem Gesicht löste, machte mich ganz kribbelig. Ich betete, dass er es nicht merkte. »Ich lese ganz okay, nicht schnell, aber ein paar Bücher die Woche.«
Okay, das war viel.
»Aber wenn Sie etwas schreiben wollen, fällt es Ihnen schwer, die Buchstaben zu formen?«
»Ich kann sie gut kopieren, aber ich kann sie mir nicht merken. Jedenfalls nicht alle.«
»Ja, das ist Dysgrafie.« Lieber Gott, warum hatte man das denn nicht schon in der ersten oder zweiten Klasse festgestellt? Welche Chancen hatte ein Kind in einem solchen Schulsystem? »Wollen Sie einen Plan, wie Sie mit Ihren Schwierigkeiten arbeiten können?«
»Wenn Sie einen haben.«
»Na ja, ich weiß, dass hier nicht der ideale Ort dafür ist, aber viele Menschen mit Ihrem Problem fällt das Schreiben deutlich leichter, wenn sie tippen, nachdem sie sich erst einmal an eine Tastatur gewöhnt haben. Haben Sie Erfahrung mit Computern?«
»Nein. Aber das stimmt. Tippen ist viel leichter. Ich kann die Buchstaben viel schneller finden als sie selbst schreiben.«
»Toll. Wenn Sie nächsten Freitag wieder zum Kurs kommen, bringe ich Ihnen ein paar Arbeitsblätter und Literatur über Dysgrafie mit. Und vielleicht kann ich Ihnen etwas beim Schreiben zusehen, damit ich genau weiß, wo wir stehen. Wäre das okay?«
Noch ein Nicken mit dem Stoppelkinn. »Yepp.«
Ich versuchte mir vorzustellen, wie er draußen aussähe. Wie er sich kleidete. Ob er weite Jeans trug oder enge, eine Lederjacke oder ein kariertes Flanellhemd, ein Gratisshirt mit einer Bierwerbung …? Was hatte er gearbeitet, bevor er inhaftiert wurde? Hatte er körperlich gearbeitet? Oder waren diese kräftigen, gebräunten Arme ein Nebenprodukt dieses Ortes, dieser Existenz mit seiner unendlichen Langeweile und Gefahr?
Ein anderer Häftling riss mich aus meinen Gedanken.
»Hey! Klopf, klopf, Bibliotheksfrau. Ich warte hier schon seit über einer Stunde.«
Ich öffnete den Mund, um ihm zu versichern, dass er als Nächster dran sei, doch 802267 kam mir zuvor. Er drehte den Kopf und warf dem Typen den kältesten Blick zu, den ich je gesehen hatte.
»Siehst du eine Nummer auf ihrem Shirt?«, fragte er.
»Was …«
802267 saß ganz aufrecht. »Ich nämlich nicht. Und da sie keine Nummer auf ihrem Shirt hat, nehme ich an, sie muss nicht hier sein. Also behandele die Dame mit etwas Respekt. Schließlich ist sie nett genug, hierherzukommen und so zu tun, als würde sie sich für deinen Knastarsch interessieren.«
Der Mann schob quietschend seinen Stuhl zurück und lief vor sich hin brummend zur Tür. 802267 drehte sich wieder zu mir um, nahm eine entspannte Haltung ein und sagte: »Wo waren wir stehen geblieben?«
»Gut«, sagte ich mit brennenden Wangen. »Sie kommen nächste Woche wieder, und ich bereite etwas für Sie vor.«
»Abgemacht.«
Ich zögerte, dann fügte ich vorsichtig hinzu: »Zufällig interessiert mich die Arbeit mit Knastärschen wirklich.«
Er lächelte, und ich fühlte mich verwirrt.
Ich wollte aufstehen, aber sein durchdringender Blick hielt mich gefangen – von kalt zu siedend in einem Atemzug. Er sprach leise. Als würden wir eine Verschwörung planen.
»Es gefällt mir, wie Sie sprechen.«
»Oh.« Ich schluckte, meine Wangen und mein Hals waren knallrot. »D–danke.«
»Woher kommen Sie?«
»Aus South Carolina.«
»Ich bin noch nie jemandem aus South Carolina begegnet.« Seine Stimme war tief und voll, und er musste nicht laut sprechen, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sein Ton klang zugleich bedrohlich, nötigend, verführerisch und traurig. Alles auf einmal. Ich bin noch nie jemandem aus South Carolina begegnet. Wie er das sagte, hätte alles darauf folgen können.
Ich bin noch nie jemandem aus South Carolina begegnet …
… aber ich liebe Bluegrass.
… aber ich habe in Tennessee einen Mann erstochen.
… aber ich habe gehört, die Mädchen dort schmecken nach Pfirsich.
»Wie ist das Wetter dort?«, fragte er.
»Schön«, erwiderte ich dümmlich und nickte. Ängstlich. Hypnotisiert. »Sehr schön.«
Sein Blick glitt von meinen Augen zu meinem Mund, es fühlte sich an wie ein Kuss. Seine eigenen Lippen waren leicht geöffnet, die untere wirkte voll.
»Ziemlich heiße Sommer«, meinte er.
»Ja, ziemlich heiß.« Ich schluckte erneut, meine Kehle war ausgetrocknet. »Manchmal.«
»Ich vermisse die Sommer. Draußen.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Bier. Schwimmen im See. Wie meine Haare in der Sonne trocknen.«
Er gab seine Gedanken Stück für Stück preis, dadurch blieb ich hungrig, ich wollte unbedingt wissen, was als Nächstes von dieser Zunge rollte.
»Klar«, sagte ich.
»Ich vermisse vieles«, sagte er leise, und von jedem Buchstaben troff Molasse, schwerflüssige, schwarze, klebrig süße Absichten.
Dieser Mann konnte vielleicht nicht schreiben, aber er sprach Bände mit ein paar gemurmelten Worten.
Die Stimme des Beamten unterbrach ihn mit einem Bellen. »Collier! Halt Abstand.« 802267 richtete sich gehorsam auf. Collier. Seine Körperwärme verschwand mit ihm.
Unsere Ellbogen hatten sich fast berührt, unsere Gesichter waren so nah gewesen, dass wir uns Geheimnisse hätten zuflüstern können. Hatte er das nicht getan? Und hatte ich nicht zurückgeflüstert? Ich konnte gar nicht sagen, was uns so nah zusammengebracht hatte. Ich wusste nur, dass ich nicht zurückgewichen war. Und das ergab genau zwei Männer auf der Welt, vor deren Nähe ich nicht zurückwich – mein Vater und Collier.
»Ich sollte weitermachen, ehe die Stunde zu Ende ist«, sagte ich und blickte auf seine Hände. Auf diese Finger, die noch immer brav gefaltet waren. Dann in seine Augen. »Bis nächste Woche, wenn Sie meine Hilfe wollen.«
»Wir haben eine Verabredung.«
Ich stand auf, rollte meinen Stuhl davon und riskierte nur einen ganz kurzen Blick. Doch das genügte. Erneut wurde mein Körper von dieser merkwürdigen, unheimlichen Hitze durchströmt. Während ich nach dem nächsten erwartungsvollen Gesicht suchte, fühlte ich mich derart benebelt, als wäre ich betrunken.
Ich spürte, dass Collier gegangen war. Es war wie die Kälte, die auf einen Sommersturm folgte, ich bekam wieder richtig Luft und freute mich, dass mein Verstand zurückkehrte.
Der Mann ließ mich nicht mehr los.
Hundertmal ging ich am Wochenende unsere Begegnung durch. Ich war fassungslos und schämte mich, dass er es geschafft hatte, mir so nah zu kommen. Dass mich erst ein Wachmann aus mehr als fünf Metern Entfernung darauf aufmerksam hatte machen müssen, dass ich ihm nah genug gewesen war, um den Geruch seiner Haut wahrzunehmen.
Das ist seine Masche, vermutete ich. Ein Charmeur. Wenn ich nicht aufpasste, würde er die Namen meiner Eltern oder meiner Freunde herausfinden und mich innerhalb eines Monats dazu bringen, für ihn Drogen zu schmuggeln. So funktionierte das mit der Erpressung. Jedenfalls im Fernsehen.
Doch am meisten trieb mich um, dass dieser Vorfall einen von mir langgehegten Verdacht bestätigte – ich fühlte mich zu schlechten Männern hingezogen.
Ein gewalttätiger Freund und verheerende Lustgefühle für einen Häftling, der Gott weiß was getan hatte … Das waren nur zwei Vergehen, aber genug. Ich konnte meiner Libido nicht mehr trauen als Collier. Ich musste beide als die gefährlichen Kreaturen behandeln, die sie waren.
Ich bemühte mich, meine Besessenheit hinter einem praktischen Vorwand zu verbergen. Am Montag durchwühlte ich den staubigen Keller der Bibliothek und fand, wonach ich gesucht hatte. Ich rief in Cousins an, und nachdem man mich dreimal durchgestellt hatte, wurde ich mit der Gefängnisdirektorin persönlich verbunden. Ich stellte einen Antrag, den sie bewilligte. Am nächsten Freitag schleppte ich einen schweren Kasten herein, dessen gesprenkeltes Plastik durch Alter und Staub brüchig geworden war. Nach meiner morgendlichen Leibesvisitation durch Shonda stellte ich den schweren Koffer vor Ryan auf dem Empfangstisch ab.
»Ich habe die Erlaubnis der Gefängnisleitung, das hier für Häftling 802267 mitzubringen.«
Er musterte den Koffer und öffnete die Schnallen. »Alles klar. Ich bringe ihn auf den Weg, dann ist er hoffentlich morgen oder übermorgen an seinem Ziel.«
Als Shonda und ein männlicher Beamter mich durch den langen Aufenthaltsbereich führten, war ich nicht annähernd so ängstlich wie in der Woche zuvor. Ich wurde angestarrt, hörte hier und da anzügliche Laute und Murmeln sowie ein fröhliches »Hey, Ms. Goodhouse!« von Wallace. Ich konnte mich nicht genau an das Protokoll erinnern, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es gegen irgendeine Regel verstoßen würde, ihn zu grüßen. Also hielt ich den Blick geradeaus gerichtet und den Mund geschlossen.
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