Aggressivität bewältigen - Konflikte lösen - Johann Ceh - E-Book

Aggressivität bewältigen - Konflikte lösen E-Book

Johann Ceh

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Beschreibung

Wer mit anderen Menschen friedlich zusammenleben will, muss die menschliche Aggressivität verstehen. Wir alle wissen um die vielfältigen Erscheinungsformen aggressiven Verhaltens. Wir alle haben schon versucht, darauf Einfluss zu nehmen. Es spricht vieles dafür, dass wir Aggression früh und gründlich lernen. Psychologisch gesehen müssen wir jedoch das, was wir gelernt haben, auch wieder verlernen können. Die Bewältigung von Aggressionen ist damit vorrangig ein Problem des Lernens im Sinne einer überdauernden Verhaltensänderung. Konfliktsituationen können im privaten und beruflichen Alltag oft nicht vermieden werden. Da sie unseren Seelenfrieden stören und unsere Gesundheit bedrohen, sollten wir lernen, uns ihnen zu stellen, sie zu ertragen und sie verständnisvoll zu lösen. Die partnerschaftliche Auseinandersetzung kennt keinen Sieger und keinen Verlierer. Für Siege im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen muss meistens ein hoher Preis bezahlt werden. Gewinnen ist besser als siegen. Gewinnen heißt, den anderen durch mein verbales und nonverbales Verhalten für mich einzunehmen. Ziele des Buches sind die Behandlung von Aspekten des Abbaus bzw. der Verhütung von aggressivem Verhalten und die Erörterung von Möglichkeiten, soziale und psychische Konflikte zu analysieren und zu bewältigen sowie Konfliktfähigkeit aufzubauen. Dabei wird auf verschiedene, vielfach erprobte und evidenzbasierte Methoden der modernen Psychologie zurückgegriffen. Auseinandersetzungen müssen sein. Aber die Partner müssen lernen, miteinander zu streiten und sich zu versöhnen, ohne dem anderen etwas nachzutragen. Das Leit- ziel heißt: Mit sich selbst und anderen besser zurechtzukommen. "Als ich durch die Tür in Richtung meiner Freiheit ging, wusste ich, dass Hass und Groll mich auf ewig zu einem Gefangenen machen werden, wenn ich nicht all die Wut hinter mir lassen würde." (Nelson Mandela)

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Für meine Enkel

Josefine

und

Anton

„Behandle die Menschen so, als wären sie,

was sie sein sollen, und du hilfst ihnen zu werden,

was sie sein können.“

Johann Wolfgang von Goethe

„Der eine lebt vom andern,

für sich kann keiner sein.“

Lothar Zenetti

„Während ich mich an deinen Grenzen stoße,

werden meine sichtbar.“

Kyrilla Spiecker

„Die Menschen, denen wir eine Stütze sind,

die geben uns Halt.“

Marie von Ebner-Eschenbach

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Aggressivität/Aggression — Begriffsbestimmung

Selbstbehauptung versus Aggression

Zur Aktualität der Thematik

Theoriemodelle der Aggression — Folgerungen für die Praxis

Triebkonzept der Psychoanalyse

Psychoanalytische Annahmen zur Aggression

Konsequenzen aus dem Triebmodell

Abwehrmechanismen der Persönlichkeit: Verdrängung, Projektion, Identifizierung mit dem Angreifer

Instinktmodell der Verhaltensforschung

Stammesgeschichtliche Erklärung

Kritische Wertung und Beobachtungen am Menschen

Aggressionsrituale und angeborene Hemm-Mechanismen der Aggressionsneigung

Frustrations-Aggressions-Modell

Hypothesen der Frustrations-Aggressions-Theorie

Grundannahmen

Zusatzannahmen

Ergänzungen

Bewertung der Frustrations-Aggressions-Theorie

Aggressionen verschieben und Sündenböcke suchen

Lernziel: Erhöhung des Frustrations-Toleranz-Niveaus

Folgerungen aus der Frustrations-Aggressions-Theorie

Lerntheoretische Konzepte

Klassisches Konditionieren

Lernen am Modell

Operantes Konditionieren

Angst und Aggression

Perfektionismus und Aggression

Sport und Aggression

Ist die Teilnahme wirklich wichtiger als der Sieg? — Aggressive Handlungen der Akteure

Panem et circenses — Aggressives Verhalten der Zuschauer

Medienkonsum und Aggression

Medienumgang von Kindern und Jugendlichen

Wirkungen von Gewaltdarstellungen auf den Zuschauer

Macht die Internetnutzung dick, dumm und aggressiv?

Medienpädagogische Aspekte des TV-Konsums

Gewalt in Märchen

Witz und Aggression

Erziehung und Aggression

Extremvarianten erzieherischen Umgangs

Absolute Milde und Güte

Gegenaggression als Antwort auf provokative Aggressionen

Unkritischer Gehorsam und Aggression

Stanford-Prison-Experiment von Philip G. Zimbardo

Experimente von Stanley Milgram und Thomas Moriarty

Pädagogische Gesichtspunkte

Strafe als problematisches Erziehungsmittel

Strafen, hilft das?

Wenn Strafmaßnahmen unvermeidlich erscheinen…

Mögliche Alternativen

Vorbildwirkung des Erziehers

Verwöhnung und erzieherische Härte als Fehleinstellungen

Trotzen als Verweigerung der sozialen Einordnung

Erzieherische Konsequenzen

Konflikte und Aggression

Konflikte sind getragen von Aggressivität

Konflikte lösen oder zumindest entschärfen – 8 Tipps

Tiefenpsychologische Deutung von Zorn, Wut, Hass und Neid

Mensch ärgere dich nicht - Hilfe durch die Rational-emotive Therapie

Streit muss nicht trennen

Erfolgreiche Kommunikation in aggressionsbetonten Konfliktsituationen

Verbesserung der Selbstwahrnehmung — Das Johari-window

Axiome der Kommunikation

Das Kommunikationsquadrat

Inneres Team – Pluralität des menschlichen Innenlebens

Das nicht-direktive klientenzentrierte Gespräch

Abwehrmöglichkeiten gegen Methoden unfairer Dialektik in Diskussionen

Körpersprachliche Äußerungen von Entrüstung, Ärger, Zorn und Aggressivität

Sachbezogenes Verhandeln – Das Harvard Konzept

Gewaltfreie Kommunikation (Marshall B. Rosenberg)

Transaktionsanalyse — ein Selbsthilfeprogramm zur Konfliktlösung

Struktur der Psyche — Ich-Zustände

Transaktionen

Welche Ich-Zustände bevorzugen Sie?

Grundbedürfnisse

Vier Grundeinstellungen (Lebenseinstellungen) des Menschen

Psychospiele

Wollen Sie Ihre Verhaltensweisen, Grundeinstellungen und Gefühle wirklich ändern?

Entspannung, innere Distanz und Gelassenheit

Atmung als Schrittmacher der Entspannung

Beruhigung durch richtiges Atmen

Bewusstseinsübung

Atmen und die Macht der Vorstellung

Gelassenheit durch Autogenes Training

Was ist Autogenes Training?

Bekämpfung von Stress (Ärger, Zorn, Wut, Angst…) durch Autogenes Training

Grundstufe des Autogenen Trainings

Raum und Zeit für das Üben

Körperhaltungen beim Üben

Ruhetönung

Schwereübung

Zurücknehmen der Schwere

Wärmeübung

Generalisierung

Objektiver Nachweis der Muskelentspannung und Erwärmung

Formelhafte Vorsatzbildung

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Quellenangaben der Karikaturen

Vorwort

In der Humanpsychologie wird Aggressivität (aggressiveness) im Sinne einer Einstellung bzw. als generelle Persönlichkeitseigenschaft diskutiert, d. h. als relativ überdauernde Neigung einer Person, sich in feindselig-ablehnenden bzw. oppositionellen Einstellungen und/oder Handlungen zu ergehen. Aggression ist definiert als eine feindselig angreifende Verhaltensweise zur Verteidigung oder Gewinnung von Ressourcen und zur Bewältigung potenziell gefährlicher Situationen. Ein Verhalten das die Verletzung anderer Lebewesen oder die Beschädigung von Gegenständen zum Ziel hat.

Mit Aggression und Konflikten wird jeder von uns in allen Bereichen seines Alltagslebens konfrontiert. Man verhält sich aggressiv gegen andere und leidet unter den aggressiven Handlungen seiner Mitmenschen. Konflikte ohne aggressive Komponente in Form von entsprechenden Haltungen oder Handlungen sind nur schwer vorstellbar. Wer mit anderen Menschen friedlich zusammenleben will, muss die menschliche Aggressivität verstehen. Wir alle wissen um die vielfältigen Erscheinungsformen aggressiven Verhaltens. Wir alle haben schon versucht, darauf Einfluss zu nehmen. Wie hängt nun Aggressivität mit der Natur des Menschen zusammen? Handelt es sich um einen angeborenen Trieb? Wird aggressives Verhalten durch Lernvorgänge erworben? Oder geht es dabei um die Reaktion auf bestimmte Umweltreize? Ist Aggression letztendlich ihrem Wesen nach aktives oder reaktives Verhalten?

Die Wirkungen der Aggression lernt der Mensch bereits früh in seinem Leben kennen; meist schon in einer Zeit, in der ihm noch keine Möglichkeiten der friedlichen Konfliktlösung zur Verfügung stehen. Sehr bald erfährt das Individuum in diesem Zusammenhang auch, dass mit dem Einsatz von Aggressionen schnelle und auffällige Änderungen einer Situation herbeigeführt werden können. Deshalb spricht vieles dafür, dass wir Aggressionen früh und gründlich lernen. Psychologisch gesehen müssen wir jedoch das, was wir gelernt haben, auch wieder verlernen können. Die Bewältigung von Aggressionen wäre damit ein Problem des Lernens im Sinne einer überdauernden Verhaltensänderung.

Anhand der Beschreibung verschiedener Aggressionstheorien werden in diesem Buch Ursachen für aggressives Verhalten aufgezeigt. Die einzelnen theoretischen Konzepte werden kritisch analysiert und bewertet. Schwerpunktmäßig geht es darum, aus den einzelnen theoretischen Ansätzen praktische Konsequenzen für die Vermeidung bzw. Reduzierung von Aggressionen abzuleiten.

Immer noch sind Gefühle wie Ärger, Wut, Zorn, Aggression in der Regel negativ besetzt. Jede/jeder von uns verfügt über ein solches Gewaltpotenzial. Es ist ganz wichtig, darum zu wissen, auch um verantwortlich damit umgehen zu können. Zugleich versetzen wir uns dadurch in die Lage, die positiven Seiten von Aggression, das „Gold“, das in ihr schlummern kann – wenn es zum Beispiel darum geht, sich abzugrenzen, zu behaupten und durchzusetzen – zu entdecken.

Bei der Behandlung von Aspekten des Abbaus bzw. der Verhütung von aggressivem Verhalten und der Erörterung von Möglichkeiten, soziale und psychische Konflikte zu analysieren und zu bewältigen und Konfliktfähigkeit aufzubauen, wird auf verschiedene Methoden der modernen Psychologie zurückgegriffen:

Rational-emotive Therapie (Ellis)

Kommunikationsquadrat (Schulz von Thun)

Inneres Team (Schulz von Thun)

Harvard-Konzept (Fisher, Ury)

Gewaltfreie Kommunikation (Marshall B. Rosenberg)

Nicht-direktives klientenzentriertes Gespräch (Rogers)

Transaktionsanalyse (Berne, Harris u.a.)

Um in ärgerbetonten Konfliktsituationen psychische und zeitliche Distanz zum aktuellen Geschehen gewinnen und alternatives Verhalten entwickeln zu können, ist es eine große Hilfe, sich praktisch auf Kommando entspannen zu können. Im Zustand der Entspannung lässt sich auch die Motivationsautomatik des Unbewussten in Richtung bewusste Eigenmotivation verändern. Entsprechende Möglichkeiten der Selbstbeeinflussung durch Verwendung von Suggestivformeln werden aufgezeigt.

Wir alle machen fast täglich die Erfahrung: Für Siege im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen muss ein hoher Preis bezahlt werden. „Jeder Sieg zeugt neuen Krieg“, denn die Niederlage verletzt das Selbstwertgefühl des Besiegten. Der Schrei nach Rache und Wiederherstellung der alten Position nach verlorenen Kriegen war in der Geschichte der Völker oft Auslöser erneuter feindseliger Aktivitäten.

Gewinnen ist besser als siegen. Gewinnen heißt, den anderen durch mein verbales und nonverbales Verhalten für mich einzunehmen. Durch partnerorientiertes Verhalten kann man Ziele ohne Gewalt erreichen, der Gegner fühlt sich nicht als Verlierer, sein Selbstwertgefühl bleibt intakt, die drohende Kettenreaktion der Gewalt wird unterbrochen. Auseinandersetzungen müssen sein. Aber die Partner müssen lernen, miteinander zu streiten und sich zu versöhnen, ohne dem anderen etwas nachzutragen. Das Leitziel heißt: Mit sich selbst und anderen besser zurechtzukommen.

Emotionale Intelligenz ist eine Metapher für die Fähigkeit, eigene und die Gefühle anderer zu verstehen und das Verhalten daran zu orientieren. Inzwischen ist es statistisch gesichert, dass nicht die Menschen den großen Lebenserfolg erzielen, die mit einem besonders hohen IQ ausgestattet sind, sondern die, die ihre Gefühle im Umgang mit anderen intuitiv oder gezielt richtig einsetzen.

1985 veröffentlichte ich das Buch „Konflikte und Aggressionen bewältigen“, das im Laufe der Jahre eine sehr positive Resonanz fand und drei Auflagen erlebte. Wesentliche Inhalte des vorliegenden Werkes wurden – zum Teil in aktualisierter, überarbeiteter und ergänzter Form – diesem nicht mehr im Handel erhältlichen Buch entnommen.

Johann Ceh

Biberach an der Riß, August 2018

Aggressivität/Aggression — Begriffsbestimmung

Im Zusammenhang mit dem Begriff „Aggression“ denkt man zumeist an schädigendes Verhalten. Aggression ist ein „. . . physisches oder verbales Verhalten mit der Absicht zu verletzen oder zu zerstören.“1 Unter „Aggressivität“ versteht man die psychisch latent vorhandene, relativ überdauernde Bereitschaft zu aggressivem Handeln. Da die Schädigungsabsicht im konkreten Fall objektiv schwer nachweisbar ist, schlägt z.B. Buss2 vor, nur solches Handeln als „aggressiv“ zu bezeichnen, durch das ein Organismus (Mensch oder Tier) tatsächlich geschädigt wird.

Zur etymologischen Herkunft des Wortes Aggression und zum Bedeutungswandel, den der Begriff inzwischen erfahren hat, schreibt Hacker3: „Aggression leitet sich vom lateinischen aggredior — aggredi ab und heißt ursprünglich herangehen (im Sinne von Annäherung), angreifen (im Sinne von berühren, aus dem später begreifen wird). Erst in neuerer Zeit ist Aggression als manifestes oder latentes Angriffsverhalten bekannt.“ Demgemäß verwendet Hacker einen Aggressionsbegriff, der von „sozial gelernten und sozial vermittelten Formen von Selbstbehauptung bis zur Grausamkeit“ reicht und grenzt ihn vom Begriff „Gewalt“ ab: „Gewalt ist nicht mit Aggression identisch; Gewalt ist die offene, manifeste, ,nackte’, meist physische Ausdrucksform von Aggression.“

In der Psychologie gibt es keine übereinstimmende, allgemein akzeptierte Definition aggressiven Verhaltens. Offen sind in diesem Zusammenhang auch die Fragen: Was ist als „Schädigung“ anzusehen? und: Wer beurteilt das Ausmaß des Schadens? Wir wollen im Folgenden von einem Aggressionsbegriff ausgehen, der auf Berkowitz4 zurückgeht und Aggression als ein Verhalten definieren, dessen Ziel eine Beschädigung oder Verletzung ist. Typische Arten von Aggressionen sind in Abbildung 1 zusammengestellt.

Abbildung 1: Arten der Aggression

1 Zimbardo und Ruch, 1978, S. 473

2 Buss, 1961

3 Hacker, 1973, S. 73

4 Berkowitz, 1971

Selbstbehauptung versus Aggression

Menschen, die überwiegend aggressiv auftreten, sind geprägt von der Grundeinstellung: „Du bist nicht o.k.!“ Häufig handelt es sich um Verlierer in Siegerpose, die oft eigenmächtig Entscheidungen für andere treffen. Diese fühlen sich dadurch bevormundet und reagieren deshalb mit Verletztheit und Abwehr darauf. Der „aggressive Typ“ greift frontal oder verdeckt an und reagiert meist unangemessen auf Reize aus seiner sozialen Umgebung, die ihn stören; oft versucht er sich durch die Herabsetzung anderer aufzuwerten. „Ich bin o.k. und Du bist o.k.!“ ist im Gegensatz dazu die Devise der selbstsicheren Persönlichkeit. Sie kennt ihren Wert, tritt für sich selbst ein und handelt direkt, überlegt und situationsadäquat von sich aus. Die gleichen Rechte werden auch anderen zugestanden. Das Verhältnis zu ihnen ist bestimmt durch partnerschaftlichen Respekt. Gewonnen wird nicht durch Manipulation, sondern mit ehrlichen Mitteln. Lob und Tadel werden so angebracht, dass sich der Adressat nicht verletzt fühlt und das Gesagte akzeptieren kann. Selbstsichere Menschen drücken ihre Gefühle aus, wobei sie darauf bedacht sind, Empfindungen anderer zu respektieren. Solche Personen erreichen sicher auch nicht immer ihre Ziele; sie sind dann vielleicht enttäuscht, jedoch nicht verbittert. Vielfach ist ihnen auch der Prozess wichtiger als das Endergebnis.

Häufig sind Probleme mit dem Selbstbewusstsein und der Selbstbehauptung die Ursachen für unangemessenes Verhalten. Aggressives Verhalten induziert bei anderen Menschen Gegenaggressionen, die häufig wieder — mit noch destruktiverem Verhalten — beantwortet werden. Der Teufelskreis hat sich geschlossen, schwere Störungen der mitmenschlichen Kommunikation sind die Folge. In diesem Zusammenhang kann man Fensterheim und Baer 5 nur zustimmen: „Es ist unmöglich, übermäßig selbstbewusst zu sein. Wenn man weitergeht, handelt es sich oft schon um Aggressivität und diese ist immer unangemessen.“

Probleme im zwischenmenschlichen Bereich sind häufig auf ein negatives Selbstbild zurückzuführen. Ängste vor dem Versagen, vor dem Gesichtsverlust können tief sitzen. Oft sind selbstunsichere Menschen auch das Opfer einer sich-selbst-erfüllenden Vorhersage. Eine negative Einstellung zu sich selbst begünstigt unsicheres Verhalten, das den Misserfolg gleichsam anzieht. Eintretender Misserfolg wiederum bestätigt und verstärkt seinerseits das negative Selbstbild.

5 Fensterheim und Baer, 1981, S. 52

Zur Aktualität der Thematik

Friedrich Hacker bezeichnet das 20. Jahrhundert als „Zeitalter der Grausamkeit“. Aggressionen sind in unserer Zeit an der Tagesordnung, Gewalt hat viele Gesichter.

Aggression — nachweislich gefördert durch die zunehmende Anonymität — ist eine Grunderscheinungsweise menschlichen Verhaltens, beobachtbar in allen Lebensbereichen.

Mehr als 100 Kinder pro Jahr werden in der Bundesrepublik Deutschland durch ihre Erziehungsberechtigten zu Tode gequält. Mehr als 500 Schüler enden bei uns Jahr für Jahr durch Selbstmord.

Rücksichtsloses und gewalttätiges Verhalten im Straßenverkehr.

Kontakt- und Kommunikationsstörungen durch Aggressionen im privaten und beruflichen Bereich, sowie hemmungs- und rücksichtsloses Erfolgsstreben erschweren das Zusammenleben und Zusammenarbeiten.

Das „Radfahrer-Prinzip“ und das „St. Floriansprinzip“ spielen — sicher mitbedingt durch den Leistungsdruck — im Berufsleben eine nicht unerhebliche Rolle.

Häufig wird nach dem Grundsatz verfahren: „Wie Du mir...“ und nicht selten „geht jemand über Leichen.“

In vielen Bereichen des privaten und beruflichen Lebens wird nach „Sündenböcken“ gesucht.

Aggressionen von Aktiven und Zuschauern bei sportlichen Wettkämpfen

Nach der Sex- und Pornowelle in den Medien kam die Aggressionswelle. Eine Folge aggressiven Verhaltens ist die zunehmende Entfremdung vom Mitmenschen.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie kann aggressives Verhalten abgebaut werden, bzw. wie kann von vornherein vermieden werden, dass es entsteht? Entscheidend ist, dass man, zumindest nach überwiegender wissenschaftlicher Lehrmeinung, nicht aggressiv ist, sondern aggressiv wird.

Theoriemodelle der Aggression — Folgerungen für die Praxis

Triebkonzept der Psychoanalyse

Psychoanalytische Annahmen zur Aggression

Nach dem Persönlichkeitsmodell der Psychoanalyse konstituiert sich die Gesamtpersönlichkeit des Menschen aus den drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich, die in intensiver Wechselwirkung miteinander stehen. Aus dem Es — als ältestem Persönlichkeitsbereich und „Kräfte-Reservoir“ — entspringen demnach die elementaren Antriebe des Menschen. Es ist ein Teilbereich des Unbewussten, der nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung strebt; eine Instanz in der das Lustprinzip eine zentrale Rolle spielt. Zwischen dem Triebanspruch des Es und der entsprechenden Handlung zur Befriedigung eines Bedürfnisses, werden durch das Ich Funktionen des bewussten Erlebens geschaltet (Wahrnehmen, Denken, Erinnern, Kontrolle der Motorik...). Das Ich vermittelt zwischen Es, Über-Ich und Außenwelt im Sinne realitätsgerechter Selbsterhaltung und hat damit die Aufgabe, die Bedürfnisse des Es mit der Realität in Einklang zu bringen. Das Über-Ich, ein teilweise bewusster und teilweise unbewusster Funktionsbereich im Menschen, entwickelt sich durch Übernahme (Internalisierung) von Wertnormen und Leitbildern der Bezugspersonen und der soziokulturellen Umwelt. Die Psychoanalyse unterscheidet demnach zwischen dem Über-Ich im engeren Sinne, das sich an den internalisierten Geboten und Verboten der Bezugspersonen orientiert (Gewissen) und den Idealvorstellungen vom eigenen Selbst (Ich-Ideal), dem Maßstab für die Selbstbewertung, der sich weitgehend an Vorbildern ausrichtet. Freud ging davon aus, dass das menschliche Verhalten wesentlich von dem unbewussten Kräftepotential (den Trieben) des Es bestimmt wird. Er modifizierte seine Triebtheorie mehrfach, bis er um das Jahr 1920 — nach Beschäftigung mit Sadismus und Masochismus und wohl auch unter dem Eindruck der schrecklichen Zerstörungen des Ersten Weltkriegs — sein dualistisches Triebmodell konzipierte, in dem Lebenstrieb (Eros) und Todestrieb (Thanatos) als Gegenspieler auftreten.

Die Grundlage des Freudschen Triebkonzeptes bildet die Annahme, „es müsse außer dem Trieb, die lebende Substanz zu erhalten und zu immer größeren Einheiten zusammenzufassen, einen anderen, ihm gegensätzlichen geben, der diese Einheiten aufzulösen und in den uranfänglichen anorganischen Zustand zurückzuführen strebe.“6 Danach steht der Todestrieb den lebenserhaltenden Trieben als zerstörendes Prinzip — zunächst mit dem Ziel der Selbstvernichtung — gegenüber. Der masochistische Drang nach Selbstzerstörung und Selbstverletzung kann im extremen Fall zum Selbstmord führen. Dass der Mensch trotz des Todestriebes leben kann, erklärt Freud zum einen damit, dass Eros und Thanatos in der Regel nicht getrennt, sondern meist in gegenseitiger „Legierung“ auftreten, zum anderen lenkt der Eros — außer in Ausnahmesituationen wie z.B. dem Suizid — den Todestrieb über die Muskulatur nach außen. Der so abgelenkte Todestrieb tritt als Aggressions- oder Destruktionstrieb der Umwelt gegenüber in Erscheinung. Das Lebewesen bewahrt sozusagen sein eigenes Leben dadurch, dass es fremdes zerstört. Der Aggressionstrieb ist Abkömmling und Hauptvertreter des Todestriebs.

Freud versteht unter „Trieb“ die angeborene psychische Repräsentation einer körperlichen Erregungsquelle. Sein Ursprung liegt demnach in körperlichen Vorgängen. Somatische Quelle für die Energie des Eros (Libido) sind die erogenen Zonen. Über die Triebquellen des Todes- oder Aggressionstriebes machen die Psychoanalytiker keine Angaben.

Nach der Formulierung der Todestriebhypothese ist in den Schriften Freuds eine zunehmend pessimistische Grundauffassung über die menschliche Natur festzustellen. Er spricht in seiner Abhandlung „Das Unbehagen in der Kultur“ von der „angeborenen Neigung des Menschen zum Bösen, zur Aggression, Destruktion und damit zur Grausamkeit“ 7 und konkretisiert seine Auffassung von der Dauerhaftigkeit des Aggressionstriebes 1933 in seinem berühmten Brief an Albert Einstein zur Frage „Warum Krieg?“: „Es ist zwecklos, versuchen zu wollen, den Menschen von seinen aggressiven Neigungen zu befreien“.

Die Freudsche Hypothese vom Todestrieb ist seit langer Zeit — auch unter Psychoanalytikern — heftig umstritten. Eine größere Gruppe nimmt zwar die Existenz eines eigenständigen Aggressionstriebes an, lehnt aber seine Herleitung aus einem Todestrieb ab. Es gibt auch Vertreter der psychoanalytischen Richtung (zum Beispiel K. Horney), die statt eines selbstständigen, der Energie des Eros gegenübergestellten Aggressionstriebes, davon ausgehen, dass es bei der Aggression nicht um triebmäßig spontanes — also aktives — sondern um reaktives Verhalten geht. Auch bei Freud finden sich schon Ansätze einer Frustrations-Aggressions-Hypothese, wenn er andeutet, dass es so etwas wie einen inneren Zusammenhang zwischen Frustration und Aggression gibt. Frustration könnte in diesem Sinne als Auslöser des angeborenen Aggressionstriebes betrachtet werden.

Stärker als bei Freud wird die Bedeutung von Frustrationen für das Entstehen aggressiven Handelns von Alexander Mitscherlich betont. Er unterscheidet zwischen gutartiger, defensiver Aggression, die der Erhaltung des Lebens dient (sich durchsetzen können) und bösartiger, destruktiver Aggression. Die Freudsche Triebtheorie hält er so lange für einen legitimen Ansatz, „wie kein anthropologisches Konzept aufgetaucht ist, welches das mit dem Triebverhalten umschriebene Geschehen prägnanter . . . aufzufassen gestattet.“8

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Freud selbst seine Todestriebhypothese nicht unter wissenschaftlichem, sondern unter spekulativem Aspekt verstanden wissen wollte. Er spricht von der „Unsicherheit unserer Spekulationen“ und weist auch auf die Möglichkeit hin, dass der „künstliche Bau von Hypothesen umgeblasen werden könnte.“9 Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie und Schüler Freuds, hebt besonders die reaktive Natur der Aggressivität hervor. Für Adler ist der Mensch ein total auf Gemeinschaft hin angelegtes, also durch und durch soziales Wesen. Er versteht Aggression, in seinem insgesamt eher als lerntheoretisch zu bezeichnenden Konzept, im Gegensatz zu Freud, als Reaktion auf die Versagung der Erfüllung sozialer Bedürfnisse: „In den zeitweiligen Entbehrungen und Unlustempfindungen der ersten Kinderjahre ist der Anstoß zu suchen, der zuerst eine Anzahl allgemeiner Charakterzüge eines Angreifers entwickelt.“10

Konsequenzen aus dem Triebmodell

Nach den Auffassungen Freuds können die Aggressionsneigungen nicht beseitigt werden. Als Möglichkeiten für die Bewältigung von Aggressionen sieht er u.a. den Aufbau emotionaler Bindungen im Sinne christlicher Nächstenliebe und die Identifizierung, d.h. die meist unbewusste Gleichsetzung mit anderen Menschen, bei der Wertungen, Normen und Gefühlshaltungen übernommen werden.

Als wichtiges Mittel zur Hemmung aggressiver Tendenzen betrachtet Freud die Introjizierung, die Verinnerlichung der Aggression. Da Aggression in der menschlichen Gesellschaft nur in Grenzen ausgelebt werden kann, wird sie zum Teil „dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, der sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als ‚Gewissen’ gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gern an anderen fremden Individuen befriedigt hätte.“11 Eine systematische und konsequente Unterdrückung der Bedürfnisse des Aggressionstriebes durch das Über-Ich und die gesellschaftlichen Normen kann nach psychoanalytischer Meinung zu neurotischen Störungen führen: „Zurückhaltung von Aggression ist überhaupt ungesund, wirkt krankmachend.“12 Selbstaggressive Tendenzen sind demnach umso stärker, je stärker die Hemmung gegen Aggressionsabfuhr nach außen ist. Freud meint, die Aggression brauche ein Ventil zu ihrer Entladung. Eine solche Möglichkeit sieht er in der Sublimierung. Hier geht es darum, dass sozial schädliche Impulse auf konstruktive Ziele (politische Aktivitäten, Forschung, nützliche Arbeit, Schaffung von Kunstwerken...) gelenkt werden. In Zusammenhang mit den Triebmodellen der Aggression wird immer wieder auf die Katharsishypothese verwiesen. Der Begriff geht ursprünglich auf Aristoteles zurück. Man schrieb dem Erleben von Aufführungen der attischen Tragödie eine läuternde, reinigende (kathartische) Wirkung auf den Zuschauer zu und ging davon aus, der Betrachter erhalte ethische Impulse durch Identifikation mit den Personen der Handlung. Nach dieser Hypothese reduziert eine Aggression irgendeiner Art (z.B. eine sozial gebilligte) die Bereitschaft zur Ausführung weiterer Aggressionen (z.B. solcher, die sozial missbilligt werden). Konkrete Handlungsanweisungen in dieser Richtung findet man z.B. bei Konrad Lorenz und im ursprünglichen System der Frustrations-Aggressions-Theorie — entgegen weit verbreiteter Meinung — jedoch nicht bei Freud.

Abwehrmechanismen der Persönlichkeit: Verdrängung, Projektion, Identifizierung mit dem Angreifer

Nach psychoanalytischer Denkweise setzt das Ich aus Angst vor Bestrafung durch das Über-Ich Verhaltensstrategien in Form der Abwehrmechanismen ein, wenn aus dem Es verbotene Triebimpulse aufsteigen. Ein solcher Abwehrmechanismus ist die Verdrängung; das Nicht-wahr-haben-Wollen von Wünschen oder Erlebnissen. Gedanken-Inhalte, die als unerlaubt, peinlich, gefährlich oder angsterregend erlebt wurden, werden vom Bewussten ins Unbewusste abgeschoben. Das betreffende Individuum tut dann so, als habe es gar kein Problem und leugnet hartnäckig, solche Triebwünsche, die nach der Verdrängung im unbewussten Es weiter existieren, jemals verspürt zu haben. Aus Verdrängungen entstehen häufig offene oder verdeckte Aggressionen, die von den Mitmenschen nicht verstanden werden und deshalb die sozialen Beziehungen in besonderer Weise belasten.

Die Verdrängung intensiver, als unerlaubt oder gefährlich empfundener Aggressionsgefühle kann nach tiefenpsychologischer Sicht dazu führen, dass die Umwelt durch aggressives Handeln — das beim ersten Hinsehen oft gar nicht als solches zu erkennen ist — tyrannisiert wird. Ein Beispiel für solches „verrücktmachendes“ Verhalten, das zu schweren emotionalen Störungen des Opfers führen kann, geben Bach und Goldberg.13 Es geht dabei um die sogenannte Zwickmühlen-Situation: „Tust du’s, ist es falsch; tust du’s nicht, ist es auch falsch!“ Unabhängig davon, wie das Opfer reagiert, ist sein Verhalten zum Scheitern verurteilt.

„Eine verrücktmachende Mutter dieses Typs bemerkt, dass ihr Kind, Kathy, sieben Jahre alt, ruhig dasitzt; wahrscheinlich liest oder malt sie. Der Dialog beginnt:

,Kathy, du siehst traurig aus. Bist du traurig?’ Kathy: ,Nein!’

Mutter (schuldbewusst): ,Komm doch einmal her zu mir und gib mir einen Kuss. Zeig Mammi, dass du sie lieb hast.’ Kathy: ,Also gut!’ (geht zu ihr und gibt ihr einen Kuss). Mutter (setzt sich auf): ,Das hast du nur getan, weil ich es gesagt habe. Du selbst wolltest es gar nicht, hab ich recht?’ Kathy: (schweigt verwirrt)

Mutter: ,Also dann mal du nur weiter — ich bin enttäuscht.’“ Als Ursache für das Verhalten der Mutter geben Bach und Goldberg an: Die Mutter „hegte in ihrem Herzen einen geheimen Groll gegen Kathy, die der Grund für eine voreilige Heirat gewesen war... Dabei war … ihr ,Liebsein’ von dem Schuldgefühl über ihren versteckten Groll gegen Kathy und nicht von einem echten Bedürfnis nach ihrer körperlichen Nähe motiviert.“ Verrücktmachende Kommunikation dieser Art „erscheint immer verschleiert durch ,liebevolle’ Blicke oder Worte, die beim Opfer die Illusion der Gefühlsnähe hervorrufen, um es dann nur desto schuldbewusster und verwirrter zu machen, wenn die Zurückweisung erfolgt (für die es sich verantwortlich fühlt).“

Unter „Projektion“ versteht man im Sprachgebrauch der Psychoanalyse einen Abwehrmechanismus der Persönlichkeit durch die angsterregende Vorstellungen und Emotionen nicht mehr als eigene erkannt werden, sondern unbewusst anderen Personen unterstellt werden. Es handelt sich also um die Neigung, unerwünschte, als unerlaubt empfundene eigene Triebregungen anderen Personen zuzuschreiben. Wahrscheinlich haben auch Sie schon mit Menschen zu tun gehabt, die überempfindlich waren, was sie selbst betraf und überaggressiv anderen gegenüber. Hacker spricht in diesem Zusammenhang von „aggressiven Mimosen“ und meint: „Sie sind überempfindlich, weil sie, unbewusst aggressiv, ihre eigenen Aggressionen auf den anderen übertragen, und überaggressiv, weil sie sich auf Grund ihrer nicht wahrgenommenen Projektion der Aggression von den anderen ständig attackiert fühlen.“14

Bei der Konfrontation mit einem Aggressor geschieht es gelegentlich, dass sich das Opfer auf die Seite des Angreifers schlägt und dessen Gebote zu seinen eigenen macht. Hier geht es um den meist unbewusst ablaufenden Prozess der Identifikation, also der Übernahme von Eigenschaften und Bedürfnissen einer Person, die von der Imitation, d.h. dem Nachahmungslernen zu unterscheiden ist. Der Angegriffene setzt den Abwehrmechanismus Identifizierung mit dem Angreifer — nach psychoanalytischer Auffassung — ein, um seine Angst zu reduzieren. Bei Bruno Bettelheim findet sich die eindrucksvolle Beschreibung der Identifizierung von Lagerinsassen deutscher Konzentrationslager mit ihren nationalsozialistischen Wärtern.15 Die Identifikation ging so weit, dass ältere Gefangene anderen Häftlingen gegenüber die gleichen Formen verbaler und physischer Aggression (Schlagen, Foltern, Töten) praktizierten wie ihre KZ-Wärter. Zudem versuchten sie, dem Wachpersonal nicht nur im Verhalten, sondern auch im Aussehen zu gleichen und seine Werthaltungen zu übernehmen.

Instinktmodell der Verhaltensforschung

Stammesgeschichtliche Erklärung

Mit „Instinkt“ im Sinne der Tierverhaltensforschung (Ethologie) bezeichnet man angeborene, artspezifische Verhaltensweisen, die bereits bei ihrem ersten Auftreten voll entfaltet sind. Dem Instinktverhalten liegt ein genetisch vorprogrammierter Mechanismus zugrunde. Der Ablauf ist besonders in der Schlussphase relativ schematisch.

In seinem Buch „Das sogenannte Böse“ verwendet Konrad Lorenz die Begriffe „Trieb“ und „Instinkt“ synonym. Aggression definiert er als den „auf den Artgenossen gerichteten Kampftrieb von Tier und Mensch“.16 Aggression ist für Lorenz „ein Instinkt wie jeder andere und unter natürlichen Bedingungen auch ebenso lebens- und arterhaltend“.17 In diesem Zusammenhang hat der Aggressionstrieb für Lorenz im wesentlichen vier Funktionen

für die Nahrungssuche bestmögliche Verteilung der Lebewesen auf den vorhandenen Lebensraum;

durch Rivalenkämpfe bedingte, optimale Selektion der jeweils stärksten Tiere für die Weiterzucht und für die Verteidigung gegen Feinde;

Verteidigung der Brut gegen Angreifer;

Festsetzung von Rangordnungen, die den Frieden in der Gruppe sichern, indem sie z.B. durch den Schutz rangniedriger Tiere weitere Aggressionen reduzieren.

Der Organismus bezieht seine aggressionsspezifische Energie nach Lorenz aus seiner ererbten biologischen Grundlage. Durch das sogenannte Appetenzverhalten wird der Organismus in Situationen gebracht, in denen der aufgeladene Aggressionstrieb befriedigt werden kann. Die Instinkthandlung wird dabei durch entsprechende Schlüsselreize über ihr körperliches Äquivalent, die sogenannten angeborenen Auslösemechanismen, veranlasst. Dabei wird die bereitgestellte Energie verbraucht. Da innerhalb des Zyklus: Produktion — Kumulation — Entladung — Produktion — ... laufend aggressionsspezifische Energie produziert wird, kommt es bei mangelnder Gelegenheit zur Abreaktion (z.B. bei fehlenden Schlüsselreizen), zu einem aktiven Appetenzverhalten des Organismus und zu Ersatzhandlungen, etwa in Form der sogenannten Leerlaufhandlung, bei der sich ein Trieb ohne erkennbare äußere Reize gleichsam spontan entlädt.

Lorenz überträgt die an gewissen Arten im Tierreich gefundenen Erkenntnisse — unter Berufung auf die mit den Tieren gemeinsame Geschichte des Menschen (Deszendenztheorie) — auf den Menschen, dem er ebenfalls einen Aggressionstrieb, sogar in hypertrophierter Form, zuschreibt. Dieser Trieb wurde demnach „in grauer Vorzeit“ angezüchtet und war aus Gründen der Art- und Selbsterhaltung damals lebensnotwendig.