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Aiji, der zehnjährige Sohn eines Samurais, lebt im Japan des 13. Jahrhunderts. Als sein Vater schwer erkrankt, bittet er den Leibarzt des Kaisers um Hilfe. Der scheint der Einzige zu sein, der den Vater retten kann. Der Leibarzt verspricht, dem kranken Vater zu helfen. Doch zuerst schickt er Aiji in die Welt. Er soll den Schlafplatz der Sonne finden, damit diese immer auf die Gärten des Kaisers scheine. So macht sich Aiji auf eine abenteuerliche Suche, die ihn quer über die Kontinente durch viele Kulturen und zu den Religionen der Welt führt. Eine Erzählung für Kinder, die auf spannende Weise von den Weltreligionen erzählt und einen Weg aufzeigt, in friedlichem Miteinander zusammen zu leben.
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Seitenzahl: 211
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Buch lesen
Cover
Haupttitel
Inhalt
Über die Autoren
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Rainer Buttron | Jo Jung | Ulrich Zehfuß
Aiji, der kleine Samurai
auf der Suche nach dem Schlafplatz der Sonne
Mit Illustrationen von Kaan Karca
Patmos Verlag
Der Traum
Simran
Der Pfeil
Aiji und Shunsho
Endloser Unterricht
Der große Ausritt
Die Schwerter der Seikan
Im Garten des Tenno
Abschied
Das kaiserliche Siegel
Shunshos Entscheidung
Der Leibarzt des Tenno
Eine schwere Entscheidung
Obama
Im Hafen
Jussuf al’Schrait
Narbengesicht und Shunsho
Die »Rote Füchsin«
Verpasst!
Am Krankenlager
Aiji über Bord
Chi-Wan
Der Dai-Lai
Bei Masanobu
Die Befragung
Die Verhaftung der Schmugglerbande
Die Augen des Löwen
Marco Polo
Aiji muss weiter
Aiji voraus
Unerwartete Verstärkung
Die Stunde des Kriegers
Dicht hinter Aiji
Savarna
Vom Jangtsekiang in die Berge
Eine schmerzhafte Überraschung
Auf Aijis Fersen
Allein unter den Sternen
Das Kloster im Fels
Am Ende des Weges?
Ein Kloster voller Wunder
Verborgene Talente und ein langer Weg
Der Aufbruch
Den Göttern entgegen
Großvater Sultan
Viele Weise und eine Weisheit
Wahres Glück
Der Schlafplatz der Sonne
Aiji, der Sohn des Samurai Masanobu, lag eingerollt in eine Wolldecke auf seiner Reisstrohmatte und schlief. Er träumte vom Meer. Die Luft war lau und angenehm. Das Meer, glatt und tiefblau, brandete an den weißen Strand. Die Abendsonne tauchte in die Wellen wie ein Eigelb in den Kuchenteig. Aiji wurde von einer Frau den Strand entlang getragen. Sie hatte braune Augen, duftete nach Jasmin, und weiße Blütensterne steckten in ihrem Haar. Sie sang, und ihre Stimme klang hell und warm wie eine Bambusflöte. Dann hörte er Schreie.
Eben noch war er auf den Armen dieser Frau geschaukelt worden wie auf einer Meereswoge. Nun wurde er durchgeschüttelt, denn sie rannte. Aiji hörte Stimmen, erst weit entfernt und leise, dann immer lauter und näher. Andere Frauen schrien ebenfalls. Und da waren Männerstimmen, kehlige, fremde Stimmen. Die Frau presste Aiji an sich und hetzte über den Strand. Zuerst war ihr Jasminduft noch stärker, dann fielen die Blüten in den Sand, und schwarze Strähnen lösten sich aus ihrem Haarknoten. Sie keuchte. Aiji fühlte, wie ihr Herz hämmerte. Und die fremden Stimmen kamen näher und näher.
Um schneller laufen zu können, nahm die Frau Aiji höher. Über ihre Schulter sah er, was am Strand geschah: Nicht weit hinter ihnen packten Männer in seltsamen Rüstungen die beiden Mädchen, die eben noch um sie gewesen waren, und zerrten sie zu Boden.
Da sah einer der Männer zu Aiji und der Frau herüber, zeigte mit dem ausgestreckten Säbel in ihre Richtung und rannte ihnen hinterher. Der Mann war nicht groß, aber er sah fürchterlich aus. Seine wild funkelnden Augen lugten unter einem runden Helm mit einer Spitze hervor, an der ein Pferdeschweif befestigt war. Unter seinem dünnen, gezwirbelten Bart klaffte sein widerlicher Mund mit fauligen Zahnstümpfen. Und er kam näher und näher.
Aiji schrie auf. Die Frau warf ihren Kopf herum, ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Dann presste sie Aiji noch fester an sich und lief noch schneller die Böschung hinauf. Wie ein Hase bog sie plötzlich hinter einem Busch auf einen kaum sichtbaren Trampelpfad ab, der in ein dichtes Wäldchen führte. Aiji hörte die wütende Stimme des Kriegers, doch sie war leiser geworden. Die Frau rannte weiter und redete dabei auf Aiji ein. Er verstand nicht, was sie sagte. Aber sie weinte und küsste ihn im Laufen auf seine Wange. Heiß fühlte er ihre Tränen auf seinem Gesicht. Dann, mit einem Ruck, blieb sie stehen.
Vor Aiji tauchte ihr Gesicht auf, ihre braunen Augen waren voller Kummer. Zärtlich küsste sie seine Stirn und Wangen und drückte ihn noch einmal so fest an sich, dass er für einen Augenblick keine Luft mehr bekam. Dann schluchzte sie auf, zog die Decke fester um ihn und legte ihn unter die Zweige eines Busches. Sie stand auf und flüsterte ihm etwas zu. Jetzt hörte er die Stimme des Kriegers wieder. Der hatte den Trampelpfad gefunden und kam mit wütendem Gebrüll näher. Die Frau ließ Aiji unter dem Busch zurück und lief in die entgegengesetzte Richtung, weg von der Stimme des Mannes.
Dann hörte Aiji erst einmal nichts mehr. Doch gleich darauf drang das grimmige Lachen des Kriegers durchs Unterholz und Aiji vernahm einen Schrei. Es war die Stimme der Frau.
Aiji war allein.
Mama! Mamaaaa!« Aiji erwachte. Die Wolldecke lag neben ihm und die Reisstrohmatte war kalt. Eine große Hand zog ihn sanft zu sich heran und eine tiefe Stimme murmelte: »Aiji, mein kleiner Aiji, hast du wieder geträumt?«
»Sie haben sie geraubt!« Schluchzend drückte Aiji sein Gesicht an den Kimono seines Vaters. Ein Zucken durchlief das Gesicht von Masanobu, dem alten Samurai. Er nickte: »Ja, das haben sie.«
»War sie denn wirklich so wunderschön wie in deinem Medaillon, Vater?«
»Tausendmal schöner. Behalte die Erinnerung an sie in deinem Herzen, aber verbanne den Schrecken. Und jetzt schlaf – du weißt, was heute für ein Tag ist!«
»Ja, Vater, ich weiß, aber …« Aiji ließ nicht locker. Er war wach, er hatte das Bild seiner Mutter vor Augen. Und er wollte nicht allein sein. »Bitte, Vater«, sagte er und schlang dabei die Arme um dessen Bauch, »erzähle mir noch einmal, wie du sie kennengelernt hast. Und wo wir gewohnt haben. Und erzähle mir …«
»Gut, gut, also noch einmal, du Quälgeist«, seufzte Masanobu, setzte sich auf die Reisstrohmatte und nahm Aijis Kopf sanft in seinen Schoß. »Ich war damals Botschafter am Hof von Ghiyas ud din Balban, dem Sultan von Delhi, in Indien. Dort lernte ich sie kennen: Simran, deine Mutter. Als ich ein Gespräch mit dem Sultan auf einem Balkon seines Palastes hatte, brachte sie den Tee. Das war ungewöhnlich, denn sie war die siebte Tochter des Sultans und damit eine echte Prinzessin. Sie sollte nicht arbeiten. Aber der Sultan hatte sich bereits damit abgefunden, dass sie einfach machte, was sie für richtig hielt. Mit einer tiefen Verbeugung reichte sie zuerst mir, dem Gast, den Tee. Dabei sah sie mir in die Augen, mein Sohn, und ich, bis dahin ein freier, stolzer Samurai, war besiegt. Zum erstenMal besiegt. Sie war so wunderschön, dass ich vergaß, mich zu bedanken. Ich saß einfach da und starrte sie an. Und sie blickte mir so offen und so voller Liebe in die Augen, als würden wir uns seit Anbeginn der Zeiten kennen.
Dann reichte sie ihrem Vater, dem Sultan, den Tee und verschwand vom Balkon wie ein Sommerwind. Der Sultan klopfte mir lachend auf die Schulter. ›Trinken Sie Ihren Tee, werter Masanobu, solange er heiß ist‹, sagte er. Und das habe ich getan.
Wenige Tage später hielt ich um ihre Hand an. Durch meine Verdienste am Kaiserhof konnte ich ihr ein Leben bieten, das einer Prinzessin angemessen war. Der Sultan willigte ein. Waren wir doch auch Verbündete im Kampf gegen die Mongolen. Außerdem stammen die Sultane von Delhi von einem Sklaven ab, so wie die Vorfahren unserer Familie, die Seikan, einfache Bauern waren. Das hat er wie auch ich nie vergessen. Simran reiste mit mir zurück nach Japan. Wir ließen uns hier in diesem Haus nieder, wo du geboren wurdest, Aiji. Und damit machte sie mich zum glücklichsten Mann der Welt.«
Masanobu schwieg eine Weile und streichelte versonnen Aijis Kopf. Dann verfinsterte sich sein Blick. Und mit leiser, brüchiger Stimme fuhr er fort: »Doch unser Glück dauerte nur kurz, Aiji, so kurz wie die Kirschen blühen. Sie öffnen ihre Blüten und zeigen uns die Herrlichkeit des Himmels. Aber kaum erfreuen wir uns an ihnen, welken sie und zerfallen zu Staub. Und wir, die wir die Herrlichkeit des Himmels gesehen haben, bleiben zurück mit dem Schmerz und der Sehnsucht und warten auf ihre Wiederkehr.«
Masanobu seufzte tief. »Es war Hochsommer. Du warst etwa ein Jahr alt. Ich war oft fort, denn der Kriegsrat, dem ich damals angehörte, tagte in Kamakura. Kaufleute, die mit ihren Waren aus China zurückkehrten, berichteten uns beunruhigende Dinge. Kublai Kahn, der Herrscher der Mongolen und Kaiser von China, ließ Schiffe ausrüsten und jeden Halunken anheuern, der im Hafen zu kriegen war.
Er wollte uns vom Meer aus angreifen. Simran beschloss trotz der Gefahr, mit dir und den beiden Zofen an die Westküste zu fahren, wo sie sich im Haus deines Onkels Kiyoshi einquartierte. Natürlich war ich gegen diese Reise, denn ich konnte sie ja nicht begleiten. Sie sagte mir, die Tochter eines Sultans kenne keine Furcht. Ich werde mir nie verzeihen, sie nicht zum Bleiben überredet zu haben, obwohl ich genau fühlte, dass es ein Fehler war.
Nach wenigen Tagen erreichten den Kriegsrat Berichte, dass tatsächlich mongolische Piraten an der Küste von San’indô gelandet waren, ganz in der Nähe von dort, wo sich Simran aufhielt. Sofort wurden die Samurai der Region in Alarmbereitschaft versetzt, und ich machte mich eilig auf den Weg, um euch in Sicherheit zu bringen. Doch ich kam zu spät. Nur wenige Augenblicke, nur so lange, wie ein Kirschblütenblatt braucht, um zu Boden zu schweben – aber das reichte. Und so wurde dies der Tag, an dem das Schwert des Schicksals mein Leben mit einem gewaltigen Hieb in zwei Teile teilte. Danach war ich nicht mehr derselbe.«
Aiji schaute seinen Vater mit großen Augen an. Der fuhr fort: »Ich stürmte mit meinen Kämpfern zum Strand, wo sich die wenigen Wachen verzweifelt gegen die Übermacht der Piraten wehrten. Die meisten der Tapferen lagen bereits blutend im Sand. Sie waren weder gut ausgebildet noch ausgerüstet und hatten einfach keine Chance. Als wir eingriffen, wendete sich zwar das Blatt, denn unsere Pfeile fanden ihre Ziele und unter unseren Klingen zerbarsten die kleinen Schilde der Mongolen. Ich selbst bahnte mir mit fürchterlichen Hieben den Weg zum Meer. Aber als ich in der Brandung stand, sah ich deine Mutter gefesselt in einem Boot. Mongolische Piraten ruderten eilig zu ihrer Dschunke. Sie entfernten sich schnell, und mit ihnen deine Mutter, Simran. Ich schrie ihren Namen über das Getöse der Schlacht und das Brüllen der Wellen. Auch sie rief mir etwas zu. Zuerst verstand ich es nicht, aber dann hob sie ihre gefesselten Hände und tat so, als wiege sie etwas im Arm. Sie nickte heftig in Richtung der Küste hinter mir. Ich wandte mich um und bemerkte ein dichtes Wäldchen. Da verstand ich. Sie wollte mir sagen, wo du bist. Sie hatte dich in Sicherheit gebracht, Aiji.«
Im nächsten Augenblick durchfuhr mich ein glühender Schmerz«, erzählte Masanobu weiter. »Tief in meinen Oberschenkel war ein Mongolenpfeil eingedrungen. Ich stürzte so unglücklich in die schäumende Gischt, dass der Pfeil abbrach und sich die Spitze mit ihren Widerhaken noch tiefer in mein Bein bohrte. Der Schmerz drohte mich zu übermannen. Als ich mich mit Mühe im kniehohen Wasser wieder aufrichtete und aufs Meer sah, war deine Mutter verschwunden. Die Dschunke setzte gerade die Segel und nahm Kurs auf das offene Meer. Simran, meine arme Simran. Sie war fort, geraubt.
Doch du warst da, irgendwo. Auf mein Schwert gestützt, humpelte ich so schnell ich konnte zu dem Wäldchen. Dein Schreien wies mir den Weg, und so fand ich dich, eingewickelt in diese bestickte Decke hier. Du warst am Leben und in Sicherheit, Aiji. Das war mein einziger Trost. Ich dankte den Göttern dafür. Doch gleichzeitig verfluchte ich sie, denn sie hatten zugelassen, dass mir meine Frau genommen wurde. Ich habe deine Mutter verloren. Und der Schmerz darüber sitzt tiefer in meinem Herzen als die Pfeilspitze in meinem Schenkel.«
Aiji blickte seinen Vater nachdenklich an. »Warum hat sie Onkel Kiyoshi damals nicht einfach herausgezogen? Er ist doch Heiler.«
Masanobu lächelte seinen Sohn an: »Und wie du weißt auch Priester. Aber selbst wenn man einen zerbrochenen Krug wieder zusammenfügt, er wird nicht mehr derselbe sein.«
»Wie meinst du das?«, fragte Aiji.
»Nun, nachdem ich dich wiedergefunden hatte, schaffte ich es mit dir noch zurück zum Strand, wo ich dann ohnmächtig zusammenbrach. Meine Männer schnitten Bambusstangen und bauten daraus eine Trage, mit der sie dich und mich in Kiyoshis Haus brachten. Es lag nur etwa fünf Pfeilschüsse vom Meer entfernt. Kiyoshi flößte mir Heiltees ein, beschwor unsere Ahnen, mir beizustehen. Er befahl den bösen Geistern, die ein Wundfieber ausgelöst hatten, meinen Körper zu verlassen. Er verbrannte duftende Kräuter, murmelte und sang die uralten Lieder. Seine Haushälterin kümmerte sich um dich, während mein Bruder mit dem Tod um mein Leben rang. Natürlich versuchte er sofort, diese grässliche Pfeilspitze aus meinem Bein zu ziehen. Doch die dünnen Widerhaken waren so heimtückisch gefertigt, dass sie sich auseinanderbogen, wenn man versuchte, sie zu entfernen, und das Bein innerlich zerfetzten. Kiyoshi fürchtete auch, wenn er den Pfeil im Ganzen aus meinem Bein schneidet, würde die Wunde zu groß und ich könnte verbluten. So tat er alles, um eine Entzündung zu verhindern.
Nach sieben Tagen gelang es ihm endlich, mein Fieber zu senken und ich schlief drei Tage lang ruhig weiter. Ein Vierteljahr blieben wir bei Kiyoshi. Als wir endlich wieder zu Hause waren, du und ich, bat ich Shogun Koreyasu, mich aus seinen und den kaiserlichen Diensten zu entlassen. Meine Verletzung machte mich ja für den Kampf untauglich. Diese Bitte wurde mir gewährt. Zu unserem Glück, Aiji, denn du bist alles, was mir von meiner geliebten Simran …« Masanobu stockte. Aiji war eingeschlafen. Der alte Samurai lächelte, schalt sich einen gefühlsduseligen Schwätzer und wickelte seinen Sohn sanft in seine Decke. Der erste fahle Schimmer des aufziehenden Tages durchbrach die Mauer der Nacht. Masanobu erhob sich leise und verließ Aiji, um selbst schlafen zu gehen.
Nachdem er die Schiebetür seines Zimmers hinter sich zugezogen hatte, blieb er vor seiner alten Rüstung aus lackierten Metallplatten stehen. Über ihr thronten der gehörnte Helm und die geschmiedete Dämonenmaske. Ja, als stolzer Samurai war er aus Kyoto ausgeritten. Als gebrochener Mann war er zurückgekehrt. Ohne Aiji wäre er den Piraten gefolgt, verkleidet als Händler oder Mönch, um Simran zu suchen. Doch er wusste, dass sie ihm nie verzeihen würde, wenn er den kleinen Aiji im Stich gelassen hätte. Wählen zu müssen zwischen der Gewissheit, sein Kind zu verraten, und der Hoffnung, seine Liebe wiederzufinden, das umfasste sein Herz wie eine kalte Hand und drohte ihn noch mehr zu vergiften als die Mongolenspitze in seinem Bein.
Was Masanobu aufrecht hielt, war Bushido, die uralten Verhaltensregeln der Samurai. Sie sagten, wie ein Krieger seinen Lebensweg zu gehen hatte: Alles, was ihm an Gutem wie Schlechtem begegnete, sollte er als Lehre begreifen, die ihn weiser macht. Da er seine Rüstung nicht mehr tragen konnte, hatte er den Rücken des Pferdes gegen den Schemel des Lehrers getauscht. Und er widmete sich seiner Aufgabe, Aiji zu erziehen, mit der gleichen Disziplin und Hingabe, mit der er als Krieger den Schwertkampf und das Bogenschießen geübt hatte. Denn: einmal Samurai, immer Samurai.
Das fahle Licht der Morgensonne zwängte sich durch die Ritzen der Fensterläden und fiel auf ein Pergament an der weiß gekalkten Wand. Darauf stand in großen Schriftzeichen ein Gedicht, ein Haiku:
Manchen Krieger sah ich fallen.
Doch was mich berührt?
Die Amsel auf dem Kirschzweig.
Auf seiner Matte in der Ecke des Raumes lag Aiji, eingerollt in seine warme Decke. Aus seinem Mund traten kleine Wölkchen von gefrorenem Atem. Der Frühling zeigte sich am Tag zwar schon mit Macht, aber nachts bildete sich bis zum frühen Morgen in den hölzernen Regenfässern noch eine dünne Eisschicht auf dem Wasser.
Über die gepflasterte Straße holperten Karren. Händler schafften ihre Waren zum Markt. Von fern hörte man das rhythmische Klirren und Stampfen eines Trupps Soldaten, der die Hunde aufschreckte. Aiji öffnete die Augen, schlug die Decke zurück und stand mit einem Ruck senkrecht auf seiner Reisstrohmatte. So lange hatte er auf diesen großen Tag gewartet, und heute war es endlich soweit. Der 15. Tag des März, des Yayoi, wie der dritte Monat des Jahres auf Japanisch heißt: sein zehnter Geburtstag. Heute würde sein Vater sein Versprechen einlösen.
Mit einem Jubelschrei schlüpfte Aiji in seinen grünen Kimono, auf den ein roter Drache gestickt war, streifte seine blaue Winterjacke darüber, steckte das Bokuto, sein Holzschwert, in die Schlaufe seines Gürtels und stürmte auf die Straße, wo er fast mit Kitaro, dem Wasserträger zusammenstieß. »Nicht so hastig, Meister Aiji«, rief er dem Jungen hinterher. Doch Aiji hörte es schon nicht mehr, so schnell rannte er zu seinem Freund Shunsho, der mit seinen Eltern in einem bescheidenen Holzhaus lebte. Shunshos Vater war ein einfacher Schreiber im Dienst eines kaiserlichen Beamten.
Aiji sprang mit einem Satz die Treppe hinauf auf die Holzveranda, streifte seine Schuhe ab und klopfte ungeduldig an die hölzerne Tür: »Shunsho! Shunsho!«
Als der endlich die Papiertür aufschob, fiel ihm Aiji um den Hals und rief triumphierend: »Heute lernen wir reiten! Shunsho! Auf einem richtigen Pferd!«
Shunsho riss jubelnd die Arme in die Höhe, stieß seinen Freund mit einer schnellen Drehung beiseite und rannte los. »Wer schneller bei den Pferden ist!« Aiji verfolgte ihn mit Siegesgeheul. Doch plötzlich stoppte Shunsho mitten im Lauf, fing seinen Freund ab, indem er ihn am Gürtel schnappte, und legte ihm drohend einen Bambusstecken an den Hals. Ganz nah schob er sein grimmiges Gesicht vor das Aijis, der zwar den Mund geöffnet hatte, aus dem aber kein Laut kam. Grinsend meinte er dann: »Bevor ich’s vergesse, du lahmes Hängebauschwein: herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«
Dann flitzten sie flink wie die Wiesel weiter zur Koppel, wo Masanobu sie bereits wartete. Keuchend kamen sie vor dem Samurai zum Stehen. In der Morgenkälte dampften ihre Köpfe, ihre Wangen glühten. Dann verneigten sie sich vor Masanobu und sagten: »Wir sind bereit.« Der alte Samurai lächelte, nickte und meinte: »Dann kann’s ja losgehen. Und noch etwas: Zur Feier des Tages fällt heute der Unterricht aus. Holt den Sattel.«
Vom nächsten Tag an rannten Aiji und Shunsho, sobald der Unterricht beendet war, zur Koppel, die nicht weit entfernt vom Stadttor lag. Masanobu selbst kam meist kurze Zeit später. Er war nicht mehr so schnell zu Fuß. Am Anfang ließ der alte Samurai seinen Sohn und dessen Freund das Pferd am Zügel im Kreis führen, damit es sich an die Jungen gewöhnte. Nach ein paar Tagen durfte dann jeder für eine Weile in den Sattel, aber immer noch an einer langen Leine.
Als Aiji und Shunsho sich sicherer fühlten, ritten sie abwechselnd allein auf der Koppel im Kreis. Der alte Samurai stand in der Mitte. Er rief ihnen zu, was zu tun war, und passte auf, dass das Pferdchen nicht ausbüchste. Nach zwei Wochen hielten Aiji und Shunsho sich schon so gut im Sattel, dass der Alte sein Versprechen wahrmachen konnte: Heute Abend würden sie gemeinsam über die Felder vor der Stadt reiten, den Fluss überqueren und den Wald dahinter durchstreifen.
Wie sehr fieberten die beiden Freunde dem Ausritt entgegen! Doch am Morgen kam zunächst wie immer: Unterricht! Über die Kami, die Götter. Über die Welt der Ahnen und ihre Bedeutung. Über Buddhas Lehren und, und, und … Dann gab es Sprachunterricht. Niemand sonst lernte irgendwelche anderen Sprachen als Japanisch, aber sie mussten Chinesisch und die Sprache der Inder lernen, weil Shunshos Mutter Chinesin und Aijis Mutter Inderin war. Wie sich so ein Tag doch dehnen konnte! Der Blick der Freunde glitt immer wieder sehnsüchtig aus dem Zimmer, doch Masanobu weckte sie unsanft aus ihren Tagträumen. »Der Weg der Vollkommenheit beginnt damit, dass ihr euch immer auf das konzentriert, was ihr gerade tut. Denkt nur an das eine. Verbannt alle anderen Gedanken aus euren Kokosnüssen von Köpfen. Nur dann wird es gelingen!«
Die Jungen nickten schnell. Sie hatten Masanobu aus Versehen auf sein Lieblingsthema gebracht und wussten nur zu genau, was jetzt kommen würde.
»Ungeduld beherrscht eure Gedanken«, sagte Masanobu. »Sie hindert euch daran, euren Geist frei zu benutzen. Der Geist ist aber der Arm, der euer Schwert führt. Nur ist das mächtigste Schwert nutzlos, wenn der Geist nicht klar und frei ist. Das ist die Lehre Buddhas für den Samurai. Befreit euren Geist von allem Leiden. Übrigens: Welche Leiden außer der Ungeduld gibt es noch? Aiji?«
»Schmerzen!«, sagte Aiji.
»Ja, Schmerzen! Sehr gut. Und was noch, Shunsho?«
Aijis Freund druckste herum, starrte zu Boden und murmelte schließlich: »Die Liebe.«
Masanobu sah ihn einen Moment lang groß an. »Ja, das stimmt, Shunsho. Die Liebe nimmt den Geist oft schmerzlich in Besitz.« Seine Augen blieben auf den Sohn des Schreibers geheftet. Der errötete, als er es bemerkte, und schob schnell nach: »Ich meine ja nur. Das ist mir gerade so eingefallen.«
Aiji knuffte ihn in die Seite. »Shunsho ist verliebt!« »Aiji«, rief ihn sein Vater streng zur Ordnung, »verliere nie den Respekt vor einem anderen Lebewesen und seinen Gefühlen.« Masanobu dachte nach. »Euer Geist ist abgelenkt von der Frage, in wen unser Shunsho denn verliebt ist.«
»In …« Doch noch ehe Aiji den Namen der Angebeteten seines Freundes herausposaunen konnte, brachte ihn ein Blick seines Vaters zum Schweigen.
»Wir werden jetzt die Meditation der Klangschale machen.« Masanobu stellte eine Metallschale auf den niedrigen Tisch vor sich, griff nach einem kleinen Stab und schlug an den Rand des zierlichen Gefäßes. Ein hoher, reiner Ton stand im Raum, hell wie Sonnenstrahlen.
Mit der anderen Hand berührte er die Schale wieder und brachte sie zum Schweigen. »Dies ist ein schöner Ton, so schön wie die Liebe sein kann. Ich möchte, dass ihr nun meditiert und den Ton, der den Raum füllt, aus eurem Geist verbannt, sodass euer Geist ruhig und glatt wie ein See ist. Schließt die Augen und setzt euch ordentlich hin.« Die beiden Freunde rappelten sich auf und setzten sich mit geradem Rücken und überkreuzten Beinen in den Lotossitz. Dann schlossen sie die Augen. Masanobu schlug das Gefäß erneut an. Der Ton durchflutete den Raum.
In Aijis Kopf war er zuerst durchsichtig silbrig, dann wurde er golden, während er langsam verklang. Und wieder erscholl er. Aiji schoss es durch den Kopf, dass er es wohl niemals schaffen würde, an etwas anderes als diesen Ton zu denken. Vielleicht, dachte er, hilft es ja, wenn man die Augen zusammenpresst. »Nicht kämpfen, Aiji. Du gibst dem Klang zu viel Macht. Sammle dich«, hörte er seinen Vater sagen. Seine Gedanken suchten ein ruhiges Bild. Eine Wiese voller Blumen? Zu viele Bienen und Schmetterlinge! Ein farbenprächtiger Marktplatz? Zu umtriebig! Dann versuchte er sich vorzustellen, er wäre das Wasser eines Sees und sein Gesicht entspannte sich. »So ist es gut«, sagte Masanobu, »in eurem Kopf ist jetzt nur noch Platz für …«»Asuka«, flüsterte Shunsho mit geschlossenen Augen. Aiji riss die Augen auf, brüllte »Asuka!« und warf sich mit einem Lachen auf seinen Freund, der aus seinen Träumen aufgeschreckt war. »Asuka! Shunsho liebt Asuka!«
Masanobu verdrehte die Augen und seufzte: »Nun, der Weg zur Erleuchtung ist weit … lasst uns zu etwas Praktischem kommen!«
»Reiten«, riefen beide Freunde im Chor.
»Rechnen«, stellte ihr Lehrer fest. Shunsho und Aiji sanken stöhnend in sich zusammen.
Endlich, als die Sonne sich lange nach Mittag schon wieder zu senken begann, war der Unterricht zu Ende. Doch bis zum Ausritt würde es immer noch zwei Stunden dauern, denn Masanobu zog sich jetzt zurück, um in seinem Zimmer mit Blick auf den Garten zu meditieren.
Außer Atem und mit brennenden Lungen erreichten Aiji und Shunsho gegen Abend die Koppel. Sie hatten in der Zwischenzeit mit ihren Freunden gespielt und beinah die Zeit vergessen. Ein kleines schwarzes Pferd erwartete sie schon. Daneben stand Masanobus nicht viel größerer Apfelschimmel. Und dann noch ein Brauner, der die anderen um einen halben Kopf überragte. Aijis Vater hatte diesen und den Rappen von einem Bekannten geliehen, damit sie alle drei zusammen ausreiten konnten. »Ich wollte schon alleine los! Dann mal rauf mit euch!«, sagte Masanobu.
Er half Shunsho und Aiji auf die kleineren Pferde und bestieg zuletzt den großen Braunen, wobei er vor Schmerz die Lippen zusammenpresste, ohne dass die Jungen es sehen konnten. Dann sagte er: »Solange wir in der Stadt sind, reitet ihr schön hinter mir.« Die beiden Jungen nickten, und los ging es.
Wie stolz sie waren! Aiji versuchte, möglichst aufrecht auf dem Schimmel zu sitzen. Jedes Mal, wenn er in den Straßen das Klappern und Stampfen der Hufe gehört hatte, waren sie dem Geräusch nachgelaufen und hatten zusammen mit ihren Freunden die Reiter bestaunt. Und jetzt waren sie selbst welche! Am Ende der Straße standen Fazon und ein paar andere Jungs aus ihrer Bande und glotzten mit offenen Mündern. Sie fuchtelten mit den Armen und schrien begeistert: »Shunsho! Aiji!« Masanobus Sohn fühlte sich wie ein richtiger Samurai. Und sein Freund winkte allen so würdevoll zu wie der Kaiser.
Als sie an Kitaro, dem Wasserträger, vorbeikamen, stellte der seine Wassereimer ab, riss die Arme auseinander und rief mit hoher Fistelstimme: »O, die jungen Herren, hoch zu Ross! Nicht runterfallen! Ich wünsche schönen Ausritt.« Dann verbeugte er sich so tief, dass er mit der Nase fast an seine Knie stieß.
Die letzten Häuser der Stadt kamen in Sicht. Dann passierten sie das Stadttor. Masanobu nickte den Wachen zu und Aiji und Shunsho salutierten zackig von ihren Pferden herab. Die Wachen lachten und salutierten zurück. Vor der Stadt öffnete sich die Landschaft mit weiten Feldern, dem Fluss, der sich in einiger Entfernung schlängelte, und den waldigen Hügeln jenseits seiner Ufer. Die Pferde fielen in einen Trab. Alles schien so leicht. Nur das Wetter spielte nicht mit. Den ganzen Tag war der Himmel strahlend blau gewesen, doch jetzt zogen schwarze Regenwolken auf.