Ailton. Mein Fußballmärchen - Ailton Goncalves da Silva - E-Book

Ailton. Mein Fußballmärchen E-Book

Ailton Goncalves da Silva

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Beschreibung

Vom Straßenkicker zum Kugelblitz - ein brasilianisch-deutsches Märchen Wie wird ein Junge aus dem kleinen Provinznest Mogeiro im brasilianischen Bundesstaat Paraíba, der bis zum 16. Lebensjahr nie Fußballschuhe trug, keinem Verein angehörte und auch keinen Trainer hatte, zum umjubelten Bundesliga-Star? Die Geschichte von Ailton steht stellvertretend für die der vielen Brasilianer, die seit Jahrzehnten die Fußballkultur in Europa prägen. Ailton Gonçalves da Silva kam 1998 auf abenteuerliche Weise zu Werder Bremen, gewann mit dem Verein zweimal den DFB-Pokal, holte in der Saison 2003/04 das Double, wurde Bundesliga-Torschützenkönig und war der erste ausländische Spieler in Deutschland, der zum Fußballer des Jahres gewählt wurde. Der "Kugelblitz", wie er wegen seiner Statur und seines schnellen Antritts genannt wurde, eroberte die Herzen der Menschen mit viel Charme und unzähligen Toren. Mit Bestsellerautor Fred Sellin legt Ailton seine bewegte und bewegende Lebensgeschichte vor, die ihn von Brasilien nach Mexiko, Deutschland, in die Türkei, nach Serbien, in die Schweiz, die Ukraine, nach Österreich und China führte. Bis heute wird der sympathische Brasilianer, für den Bremen zur Wahlheimat geworden ist, von Fußballfans im ganzen Land gefeiert. Wer wissen will, wer Ailton wirklich ist, kann dies jetzt in seinem "Fußballmärchen" nachlesen.

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Seitenzahl: 293

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Für Aderaldo Sinto sua falta todos os dias

ASSUNTO Inhalt

HORA MÁGICA

Sternstunde

PARA SEMPRE

Für die Ewigkeit

MINHA PÁTRIA

Meine Heimat

HERÓIS E LIÇÕES

Helden und Lektionen

ESCOLA, FESTAS E AMOR

Schule, Feste und die Liebe

OUTRO AMOR

Eine andere Liebe

BOAS PALAVRAS DA MÃE

Mutters gute Worte

MUITO LONGE

Weit weg

O CAMINHO PARA CIMA

Der Weg nach oben

VISITA DA ALEMANHA

Besuch aus Deutschland

DUCHA FRIA

Kalte Dusche

MESES ESCUROS

Dunkle Monate

TANTAS MUDANÇAS

So viele Veränderungen

QUE ANO!

Was für ein Jahr!

BOM E RUIM

Gut und Böse

EM MEMÓRIA

Im Gedenken

INÍCIO QUENTE

Heißer Start

O DUPLO

Das Double

TEMPO ADICIONAL

Nachspielzeit

HORA MÁGICA

Sternstunde

Der 8. Mai 2004, ein Samstag. Olympiastadion München. Der 32. Spieltag der Fußball-Bundesliga. Es ist 15:30 Uhr. Vor 63.000 Zuschauern pfeift Schiedsrichter Edgar Steinborn die Partie zwischen dem FC Bayern München und Werder Bremen an. Wir liegen in der Tabelle sechs Punkte vor den Bayern. Ein Sieg von uns, und die Meisterschaft wäre entschieden.

Aber beamen wir uns einfach zwanzig Jahre zurück. Und stellen wir uns die Stimme von Reporterlegende Henry Vogt vor, der für Radio Bremen1 live aus dem Münchner Stadion berichtet:

… Die Bremer kommen über rechts, über Johan Micoud, der den Ball nach vorne spielt.

Auf Aílton.

Auf der linken Seite läuft Klasnic mit, wird von Jeremies bedrängt.

Klasnic setzt sich durch, direkt an der Strafraumkante.

Aber dann stellt Jeremies seinen wuchtigen Körper dazwischen. Kann also die Situation für Bayern München zunächst einmal entschärfen.

Aber das sah gut aus, vor allem, wie Micoud den Ball nach links transportierte, die Seite wechselte, den Raum öffnete und dann Klasnic schickte. Und der zeigte und deutete schon mal an, was er vorhat heute hier im Stadion. Nämlich alles zu geben, sich einzusetzen, hundert Prozent Werder zu geben, hundert Prozent Klasnic zu zeigen …

Klasnic schon wieder. Auf links. Kann den Ball ereilen, direkt an der Grundlinie. Bringt ihn rein … Kahn mit einer Superparade!

Mensch, der Ball wurde gefährlicher, als er schien!

Von links geschlagen. Und Kahn, mit der Faust boxt er das Leder heraus aus dem Fünfmeterraum.

Werder mit dem Einwurf. Und mit den besseren Chancen jetzt hier schon gleich zu Beginn …

Er hat schön auf Aílton gespielt. Hat die Chance … hat Kahn auf die Brust geschossen.

Aílton, völlig frei.

Was macht Werder mit Bayern München in der Anfangsphase? Wo ist er denn, der Rekordmeister der Fußball-Bundesliga? Werder gibt den Ton an im fremden Stadion.

Das war die erste richtige dicke Möglichkeit! Und Kahn mit einem Superreflex gegen Aílton, der beinahe seinen siebenundzwanzigsten Treffer erzielt hätte.

Mein lieber Mann, fünf Minuten ist sie gerade alt, diese Partie. Und Ottmar Hitzfeld kommt, von der Bank aufgesprungen, direkt an den Spielfeldrand. Und er meckert dort. Und er moniert die Spielweise seiner Akteure.

Die Bremer setzen sich durch. Über Borowski. Schön, wie er das macht gegen Hasan Salihamidzić. Der Ball schon auf links. Schon in der Mitte der Hälfte der Bayern. Über Aílton. Der sucht die Anspielstation, findet sie noch nicht, bringt ihn in die Mitte, auf Klasnic. Kahn kommt raus … und … er verliert den Ball! Und Klasnic ist da … schießt …

TOOOOOOOOOOOOR!

Tor für Werder!

Ein Riesenpatzer von Olli Kahn, dem der Ball aus der Hand springt. Der Klasnic ist da, kurvt einmal um den Kahn rum, sieht, dass das Tor frei ist, und haut den Ball in den Kasten.

Ich schaue auf die Uhr: Neunzehn Minuten sind gespielt. Und Werder führt mit 1:0.

Alle sind sie aufgesprungen von der Bank. Thomas Schaaf, die Ersatzspieler. Schaaf steht immer noch da, und in der Fankurve, dort, wo die neuntausend Bremer sind, da ist der Teufel los.

Mensch, ist das ein Auftakt!

Das ist das dreizehnte Tor von Ivan Klasnic. Da hat er ja auch nicht mehr mit gerechnet, dass er noch an den Ball rankommt.

Und ich muss sagen: Verdientermaßen, diese Führung für Werder Bremen. Ich habe noch nichts Meisterliches vom FC Bayern München gesehen. Die spielen wirklich wie ein deutscher Vizemeister. Und noch nicht eine einzige Tormöglichkeiten haben sie sich hier im Laufe der Partie herausgespielt.

Andreas Reinke, so souverän wie immer. Stoisch wie ein Eisblock steht er hinten im Sechzehnmeterraum. Und im Tor des SV Werder Bremen. Und er lässt sich viel Zeit, der Bremer Keeper, ehe er den Ball gleich mit einem langen Pass nach vorne befördern wird. Er wird nicht angegriffen. Jetzt löst sich Makaay, deutete an, auf Reinke zulaufen zu wollen, und deshalb hat er ihn jetzt nach vorne geschlagen.

Die Bremer über Fabian Ernst, schon in der Mitte der Hälfte … Und auf Johan Micoud …

Und die Möglichkeit …

Und das … TOOOOOOOOOOR!

Toooor durch Micouuud.

Das ist doch der Wahnsinn!!! 2:0 für Werder.

Sechsundzwanzigste Spielminute.

Und der kleine grün-weiß-orangene Knäuel dort hinten im linken Eck der Bayernhälfte. Freut sich irrsinnig. 2:0 durch Johan Micoud.

Der Pass in den freien Raum. Micoud konnte durchstarten. Der Ball kam von Ernst. Micoud ungedeckt auf Kahn zu. Und dann mit dem Heber, so was von gekonnt, oben ins rechte Eck.

Und die Bayern sind fertig. Vielleicht sogar fix und fertig. 2:0 für Werder.

Sie wissen gar nicht, wie ihnen geschieht, die Bremer dort auf der Bank. Immer mal wieder recken sie die Fäuste nach oben und zeigen an: Wir führen hier in München!

Uli Hoeneß ist zusammengerückt dort. Man sieht ihn kaum noch. Zusammengesunken auf der Bayernbank, die Hände voreinander geschränkt. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber ich vermute, es ist puterrot. Werder führt nach sechsundzwanzig Minuten mit 2:0.

TOR!

3:0.

Tor.

Leute, kommt her! 3:0 für Werder Bremen – durch Aílton. Das wird nicht nur ein Werdersieg, das wird eine Demontage des FC Bayern München.

Aílton mit seinem siebenundzwanzigsten Tor in der Fußball-Bundesliga.

Was ist das für ein Spiel, hier im Münchner Olympiastadion?! Unfassbar, diese Entwicklung. Sie haben viel erwartet, die Zuschauer, die aus Bremen hierher gereist sind, aber nicht eine solche Begegnung, in der Bayern München so was von vorgeführt wird.

Der Angriff, eingeleitet über Borowski, gespielt auf Aílton. Der steht an der Sechzehnmeterlinie. Wird nicht angegriffen. Die Bayern wissen nicht, was sie machen sollen. Aílton guckt sich das Eck an, und dann haut er den Ball mit dem linken Fuß oben in den linken Winkel des Tores – vom Schützen aus gesehen. Und Werder führt mit 3:0.

Das ist Waaahnsinn!

Sechsunddreißigste Spielminute.

3:0 bei Bayern München.

Wenn man das irgendjemandem vorher gesagt hätte, man hätte ganz deutlich einen Fingerzeig Richtung Stirn erhalten. Aber es ist tatsächlich wahr: Werder führt hier mit drei zu null. Und die Bayern haben nichts, aber ganz und gar nichts zustande bekommen hier in den ersten fünfundvierzig Minuten. Die sind platt, von der Rolle, konsterniert, geschockt. Die wissen gar nicht, was los ist, was Werder hier mit ihnen veranstaltet.

3:0 – ein schönes Tor von Aílton. Wie er den Ball annahm, wie er guckte und wie er jetzt schon wieder unterwegs ist, gegen Jeremies, auf der rechten Seite … Oh, der Schiedsrichterassistent hat auf Ausball gegeben. Na, dann wird er wohl auch über die Außenlinie gerollt sein, der Ball. Und so gibt es Einwurf für den FC Bayern München.

Ganz ruhig sind sie auf der Bremer Bank. Sie wissen, dass sie es heute perfekt machen können. Noch nie waren sie so nah dran, zum vierten Mal deutscher Fußballmeister zu werden. Thomas Schaaf zum ersten Mal in seiner Karriere als Trainer. Morgen auf den Tag genau ist er fünf Jahre Trainer bei Werder Bremen. Und ich weiß noch ganz genau, wie er damals von Platz 11 herübergeschritten kam, Richtung Geschäftsstelle, und ich ihn sah und ihn fragte, ob er es wird und er nickte ganz kurz mit dem Kopf, und ich muss ganz ehrlich sein, ich habe es ihm damals nicht zugetraut, dass er eine solche Mannschaft formen kann.

Also Hut ab vor diesem Trainer, Hut ab vor Klaus Allofs, was sie hier mit Werder gemacht haben, wie sie diese Mannschaft geformt haben, wie sie sie langsam haben wachsen und gedeihen lassen. Und vor allem einen Teamgeist erzeugt haben, den es bundesweit so nicht gibt, in keiner anderen Mannschaft. Spielerisch sind sie super, aber vom Zusammenhalt auch allererste Klasse.

Oliver Kahn, ich sehe ihn gar nicht mehr. Die Schultern hängen runter bei ihm. Was ist das für ein Zeichen bei Kahn? Mensch, keine Regung beim Keeper der deutschen Nationalmannschaft, der sonst auch immer so tönt und den Mund ganz voll nimmt und jetzt mucksmäuschenstill ist. Nichts hört man von Kahn, und die ganze Haltung von ihm, sein Habitus, signalisiert in keinster Weise, dass es da noch mal wieder ein Aufbäumen geben könnte beim derzeitigen Tabellenzweiten der Fußball-Bundesliga. Und wenn es ganz schlecht läuft für diese Mannschaft, dann werden sie nicht einmal Zweiter.

Die Bremer Fans haben die Arme alle nach oben gerissen, einige in dem ganzen Freudentaumel schon ihre Trikots ausgezogen. In freien Oberkörpern stehen sie da, und sie blitzen immer noch, die Meisterschalen.

Und jetzt sind die ersten fünfundvierzig Minuten rum.

3:0 für Werder Bremen beim FC Bayern München.

Wer jetzt erst das Radiogerät eingeschaltet hat, sagt sich vielleicht: Der Vogt ist verrückt und erzählt uns Unsinn aus dem Olympiastadion. Nein, das macht er nicht. Es steht 3:0. Klasnic – Micoud – Aílton … neunzehnte, sechsundzwanzigste und sechsunddreißigste Minute. Und Werder ist ganz nah dran am vierten deutschen Meistertitel.

Glaubt jetzt noch einer an eine Korrektur dieses Ergebnisses, hier im Münchner Olympiastadion, in der zweiten Halbzeit? Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen, dass die Bremer hier diesen souveränen und sehr komfortablen Vorsprung noch aus der Hand geben. Sie dominieren hier eindeutig in diesem fremden Stadion. Sie waren ja auch so cool, so gelassen vor der Partie, fast schon zu ruhig, dass man das Gefühl hatte: Mensch, Jungs, wacht auf! Nehmt es nicht zu einfach, nicht zu leicht, hier zu spielen. Auch im Gefühl, vielleicht mit einer Niederlage nach Hause zu fahren, dass noch alles offen ist. Dann könnte vielleicht noch ein Zitterspiel gegen Leverkusen und gegen Rostock anstehen. Aber sie waren gar nicht zu ruhig. Sie waren einfach nur hoch konzentriert.

Um auf Uli Hoeneß zu kommen: Wie sehr hat er gewettert am vergangenen Wochenende, ist über den HSV hergezogen, sie hätten sich abschlachten lassen gegen Werder Bremen. Und heute liegen sie ebenfalls hinten mit 0:3. Und das kann ja noch schlimmer kommen für Bayern München, hier im eigenen Stadion. Aber ein 0:3 zu Hause, und dann mit dieser großen Erwartung gegen Werder angetreten – da muss man dieses 0:3 schon wie ein 0:6 empfinden.

Und für Werder wird es nicht nur ein Sieg, glaube ich, heute hier in diesem Stadion, sondern ein Triumphmarsch sondergleichen, wenn sie es tatsächlich packen sollten, dieses Resultat aufrechtzuerhalten oder zumindest auch einen Sieg hier davonzutragen.

Also 3:0. Ich habe eigentlich keine Zweifel, aber man darf das Fell des Bären eben nicht schon eher verteilen …

Und Makaay ist unterwegs … Und er hat die Möglichkeit … Und er verschießt.

Wow, wow, wow, wow, wow, Abwehrpatzer bei Werder. Ismaël und Krstajic waren sich nicht einig. Und der lange Pass kam nach vorne. Und sie dachten, Edgar Steinborn würde auf Abseits pfeifen. Aber er pfiff nicht. Aber symptomatisch auch für Roy Makaay, dass er es nicht packt, alleine vor Reinke, den Ball im Tor unterzubringen.

[Makaay trifft dann doch noch, in der sechsundfünfzigsten Minute, zum 1:3]

Ich schaue mal auf die Uhr … siebzehn Uhr und vierzehn Minuten. Was ist da unten los auf der Bremer Bank? Jetzt kann man mal so langsam schon anfangen zu tanzen und sich zu freuen über den vierten Meistertitel. Aber sie trauen sich offensichtlich nicht. Oder es gehört ganz einfach zu ihrer Haltung, zur Haltung der Gelassenheit, ihrer Genugtuung, ihrer Ruhe und sich einfach nicht in den Vordergrund zu schieben. Na, wo ich es sage, kommen Sie jetzt so langsam zusammen. Sie umarmen sich schon dort unten auf der Bank. Ich sehe den Borel, ich sehe den Blonden, Magnin ist es. Ismaël ist aufgestanden und auch die anderen. Nur Thomas Schaaf, stoisch ruhig, genauso wie Klaus Allofs und auch Dieter Burdenski und Kalli Kamp beobachten sie das Spielgeschehen von unten. Und der Mannschaftsbetreuer bringt gerade eben eine große Kiste, eine Pappkiste, direkt zur Trainerbank und Spielerbank. Und was glauben Sie wohl, was da drin ist? Natürlich die Meistertrikots, da bin ich mir ziemlich sicher …

Noch mal auf der rechten Seite, Roque Santa Cruz im Laufduell. Und er bringt den Ball rein … und Reinke fängt ihn ab. Im Fünfmeterraum. Mutig hat er sich da rausgestürzt, der Bremer Keeper.

Siebzehn Uhr fünfzehn. Zwei Minuten sind es jetzt noch offiziell hier in diesem Stadion. Ich glaube, wir können es sagen, dass Werder deutscher Fußballmeister des Jahres 2004 ist. Dass diese Mannschaft sich hier in diesem Stadion krönt für eine fabelhafte Saison, die sie abgeliefert hat. Sie bleiben im dreiundzwanzigsten Spiel der Fußball-Bundesliga nacheinander ungeschlagen. Das ist eine sensationelle Marke. Und zählen wir die Pokalspiele noch hinzu, dann sind es sechsundzwanzig Duelle. Kein einziges Spiel haben sie verloren und die meisten davon gewonnen.

Eine Schar von Ordnern postiert sich jetzt schon vor der großen Werder-Fanschar im weiten Rund des Olympiastadions. Weil sie vielleicht ein bisschen in Sorge sind, dass sie in der Euphorie über den Zaun hinwegklettern, um ihre Stars zu bejubeln, die da heißen: Aílton oder Johan Micoud. Und Fabian Ernst. Oder auch Valdez, der jetzt im Einsatz ist gegen Hargreaves, der diesen Ball auch gewinnt und den Zweikampf, der Ball aber über die Torauslinie geht. Und es gibt Abstoß vom Gehäuse des FC Bayern München.

Und da ist einer in sich zusammengesackt, zusammengesunken. Der heißt Oliver Kahn. Sonst ja eigentlich die Verkörperung des Siegeswillens. Aber heute ist nichts von ihm zu sehen, wie von all den anderen Münchnern auch nicht. Weil Werder, man muss es so klar sagen, Bayern München im eigenen Stadion hier, im Olympiastadion von München, die Grenzen aufgezeigt hat.

Jetzt gibt es schon mal die ersten Bilder der tänzelnden Spieler unten auf der Trainerbank. Na endlich, Jungs, nun kommt mal aus euch raus! Nun freut euch darüber, was ihr hier auf die Reihe gekriegt habt. Nicht nur in diesem Stadion, sondern insgesamt in dieser Saison. Das sind sie doch, die herrlichen, die schönen Bilder, die wir sehen möchten.

[Siebzehn Uhr siebzehn:]

Das Spiel ist aus! Und Werder Bremen zum vierten Male deutscher Fußballmeister. Der deutsche Meister 2003/2004 heißt Werder Bremen. Und es ist ein unbeschreiblicher Jubel jetzt in diesem Stadion. Alle Spieler sind zu einem Knäuel zusammengeeilt, und sie bejubeln den Meistertitel.

Und der Baumeister, der Architekt – es sind im Grunde genommen zwei, sie umarmen sich innigst vor der Trainerbank: Klaus Allofs und Thomas Schaaf. Eng zusammengerückt, eng umeinandergeschlungen, und die Freude steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie haben hier, beim Klassenprimus, beim FC Bayern München, den Titelgewinn vorzeitig perfekt gemacht. Sie haben sich hier schon an dieser Stelle die Schale geholt, zwei Spieltage vor Saisonende. Und das hatte ihnen keiner zugetraut. Weil sie alle glaubten, dass sie noch Nervenflattern kriegen. Aber Werder hat Bayern München, hier im Olympiastadion, vor 63.000 Zuschauern, die Grenzen aufgezeigt. Sie sind alle in die Fankurve geeilt, die Spieler …

Und wie einst Franz Beckenbauer beim Titelgewinn 1990 der deutschen Mannschaft in Rom, so schreitet Thomas Schaaf über den Rasen des Olympiastadions. So, als wollte er sagen: Hier ist meine große Triumphstätte.

Aílton kommt auf Schaaf zugelaufen.

Ach, ist das ein schönes Bild.

Sie herzen sich, sie umarmen sich. Aílton bedankt sich bei Schaaf, und der wiederum bei seinem Torjäger, der heute seinen siebenundzwanzigsten Treffer erzielt hat. Die beiden haben manche Sträuße miteinander ausgefochten, aber dies alles zum Wohle des Vereins. Zum Wohle des SV Werder Bremen. Und für einen ganz großen Erfolg.

Aílton kniet nieder, küsst den Rasen des Olympiastadions.

Schaaf traut sich nicht in die Fankurve. Steht mit weitem Abstand zu seinen Spielern jetzt im Sechzehnmeterraum der Münchner Bayern und schaut sich das Spektakel, die Hände hinten zusammen, verschränkt hinter dem Körper, an. Er darf sich freuen. Und er darf zufrieden und stolz sein auf die Leistung seiner Mannschaft, auf das, was er mit diesem Team hingekriegt hat.

1Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Radio Bremen.

PARA SEMPRE

Für die Ewigkeit

Und hier ist sie, unsere Meistermannschaft von 2004. Wir waren wie eine Familie in jener Saison, eine Einheit. Ich zähle alle noch einmal auf – zum Erinnern. Und für die Ewigkeit.

Andreas Reinke

Paul Stalteri

Valerien Ismaël

Pekka Lagerbloom

Mladen Krstajic

Christian Schulz

Viktor Skripnik

Ludovic Magnin

Fabian Ernst

Frank Baumann

Johan Micoud

Krisztián Lisztes

Tim Borowski

Ümit Davala

Ailton

Ivan Klasnic

Angelos Charisteas

Nelson Valdez

Holger Wehlage

Markus Daun

Pascal Borel

Und:

Thomas Schaaf

„Kalli“ Kamp

Dieter Burdenski

Und:

Klaus Allofs

Muito obrigado, amigos!

Lebenslang Grün-Weiß.

MINHA PÁTRIA

Meine Heimat

Mogeiro.

Hier fing alles an.

In diesem kleinen Ort im Nordosten von Brasilien, den kaum einer kennt. Rund neunzig Kilometer vom Meer entfernt. Atlantischer Ozean. Bundesstaat Paraíba.

Mogeiro ist aber nicht nur dieser eine Ort, sondern eine Gemeinde – um município, wie wir in unserer Landessprache sagen, auf Portugiesisch. Diese município besteht aus mehreren kleinen Siedlungen. Manchmal sind es nur ein paar Häuser, die sich an zwei oder drei kurzen Straßen entlangreihen. Oder ganz für sich allein stehende Gehöfte mit eingezäunten Grundstücken, irgendwo in der Pampa. Da führt dann nur ein Sandweg hin, so schmal, dass man ganz an den Rand fahren und warten muss, wenn einem jemand entgegenkommt.

Die gesamte Fläche von Mogeiro, dem Hauptort, in dem unsere Familie ansässig ist, und allem, was drumherum liegt, also die gesamte Gemeinde, ist rund zweihundert Quadratkilometer groß. Das wäre genug Platz für ungefähr 28.000 Fußballfelder, wobei man sich auch das nicht viel besser vorstellen kann. Auf jeden Fall ist das gar nicht so klein für die paar Leute, die hier leben. Nämlich etwas mehr als 13.000, alle zusammengenommen.

Die Landschaft hier ist flach bis hügelig. Sanft geschwungen kann man sagen. Keine steilen Erhebungen, senkrechten Felswände oder so was. Erst ein Stück weiter im Norden trifft man auf Berge. Gewaltig sind die aber auch nicht, mal zweihundert, mal vierhundert Meter hoch, kaum darüber. Sonst Wiesen wo man hinschaut. Und Felder. Braune Erde, fast ein bisschen rötlich, wenn sie frisch gepflügt ist und noch nichts darauf wächst.

Richtiger Wald, wie es ihn früher gegeben haben soll, ist kaum noch zu finden. Der wurde gerodet, damit mehr Felder entstehen konnten. Und weil das Holz der Bäume zum Bauen gebraucht wurde. Heute gibt es nur noch ein paar größere Flächen mit Sträuchern, meistens Dornenbüsche. Oder mit niedrigen Bäumen, die nur ein bisschen höher als die Büsche sind. Manche Arten, ob Sträucher oder Bäume, werfen während der Trockenzeit ihre Blätter ab, damit sie mit wenig Wasser auskommen.

Hier und da ragen auch Palmen in die Höhe, einzelne Exemplare oder mal zwei, drei auf einem Fleck – in Gärten, irgendwo am Straßenrand oder auf dem freien Feld. Das sind aber nicht viele. Als wären es die letzten Vertreter einer aussterbenden Spezies. Aber das täuscht. Weiter zum Meer hin gibt es mehr davon. Auch in anderen Gegenden.

Ansonsten wäre noch der Riacho de Mogeiro zu erwähnen, der sich durchs Gelände schlängelt, auch ein Stück durch den Hauptort. Er ist kaum mehr als ein Flüsschen, ein Bach. Und zeitweise, wenn länger kein Regen fällt, auch nur ein trockenes Flussbett. Nach diesem Flüsschen wurde die Gemeinde benannt. Und der Ort, der wahrscheinlich zuerst.

Wobei nicht ganz klar ist, woher das Wort Mogeiro stammt und was es bedeutet oder mal bedeutet hat. Es gibt verschiedene Theorien. Eine besagt, es könnte eine Ableitung des Begriffs mong-eir sein, den die Indianer, die das Gebiet früher bevölkerten, als Bezeichnung für klebrigen Honig benutzten. Eine andere Theorie bezieht sich auf Mönche, die sich später in der Region ansiedelten. Auch das ist ewig her. Einige von denen sollen in der Nähe eines Felsvorsprungs gelebt haben. Den nannten die Einheimischen damals Lajeiro. So könnte aus Monge, dem portugiesischen Wort für Mönch, und Lajeiro der Begriff Mongeiro gebildet worden sein, aus dem dann irgendwann Mogeiro wurde.

Aber das erzähle ich nur, damit man eine Vorstellung davon bekommt, wo ich aufgewachsen bin, was das für ein Ort ist. Schließlich liegt Mogeiro weit ab vom Schuss im Hinterland, es dürfte in keinem Reiseführer erwähnt werden. Wer zum ersten Mal herkommt, aus Deutschland oder so, denkt wahrscheinlich, dieser ganze Landstrich, der muss irgendwie vergessen worden sein. Als hätte jemand die Zeit zurückgedreht. Dabei hat selbst hier mittlerweile der Fortschritt Einzug gehalten.

Natürlich in anderen Dimensionen, als man das in größeren Städten sehen kann. Zum Beispiel in Campina Grande, wo Marcelinho herkommt. Das liegt im gleichen Bundesstaat, nur sechzig Kilometer entfernt. Oder in João Pessoa, der Hauptstadt von Paraíba, direkt am Ozean. Bis dahin fährt man mit dem Auto zwar nur eineinhalb Stunden, doch die Uhren ticken dort ganz anders. Mit Rio oder São Paulo will ich gar nicht erst anfangen, das kann man nicht vergleichen.

In Mogeiro erkennt man den Fortschritt am ehesten an den neueren Modellen der Autos, die hier herumfahren. Und dass es überhaupt mehr geworden sind. Oder an den moderneren Landmaschinen, mit denen die Felder bearbeitet werden. Obwohl manche der Bauern, die nur kleine Felder haben, vieles noch auf die traditionelle Art und Weise erledigen, mit Pferden oder Rindern, so wie ich das aus meiner Kindheit kenne.

Das Internet ist auch so ein Zeichen des Fortschritts, wie überall, wo man hinkommt auf der Welt. Smartphones und Tablets und diese ganzen Erfindungen, ohne die die Kids heutzutage nicht mehr auskommen – ich sehe das doch auch an meinen eigenen. Was soll man dazu sagen? Am besten gar nichts. Sonst verdrehen die jungen Leute sowieso bloß die Augen und denken sich, dass die Alten eben alt sind und sowieso keine Ahnung haben. Andererseits, was hätte ich gemacht, wenn es das alles schon in meiner Jugend gegeben hätte? Wahrscheinlich hätte ich auch ständig mit den Augen am Display geklebt und mich nicht darum geschert, was meine Eltern davon halten.

Ob ich dann Fußballer geworden wäre? Gute Frage.

Aber was die Eltern angeht: Wir wurden noch anders erzogen, zu mehr Respekt den Erwachsenen gegenüber. Wie es in der Bibel steht, im vierten Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren. Vater und Mutter zuallererst, aber auch die anderen, Großeltern, Onkel, Tanten. Ehren und achten und schätzen.

Was Vater und Mutter sagten, war in unserer Familie Gesetz … und Punkt! Da wurde nicht herumdiskutiert oder irgendetwas infrage gestellt.

Vater sprach nicht viel mit uns. Nicht auf die Art, dass längere Dialoge daraus entstanden wären. Er arbeitete hart, von morgens bis abends, sodass wir ihn sowieso kaum zu sehen bekamen. Außer an den Wochenenden, aber da schwang er auch keine großen Reden. Wenn er etwas sagte, dann meistens, um uns Kindern Anweisungen zu erteilen, was wir zu tun hatten oder wie wir uns benehmen sollten. Kurz und bündig, ohne ewige Erläuterungen, fast wie Befehle. Und dann erwartete er, dass wir seine Worte befolgten. Das taten wir besser auch. Sonst konnte es passieren, dass er Argumente nachlieferte, für die er keine Worte benutzte und die wir so schnell nicht vergaßen – handfeste sozusagen. Doch meistens erinnerte uns vorher schon sein strenger Blick daran, wie viel Respekt wir vor ihm hatten und dass wir besser auf ihn hörten. Dieser Blick konnte einem Angst machen.

Oft sagte er auch einfach nur: „Schaut mich an, dann wisst ihr, wie ihr es machen, wie ihr leben sollt.“ Er meinte damit, dass man alles, was man erreichen will, nicht mit viel Gerede, sondern mit Arbeit schafft. Man muss nur fleißig sein. Und sich als Mensch korrekt verhalten, die Regeln beachten. Das war seine Art, uns die Werte zu vermitteln, die er für wichtig hielt. Das meiste davon ist auch angekommen, nicht unbedingt direkt in dem Moment, aber mit der Zeit. Was nicht heißt, dass wir nicht trotzdem manchen Blödsinn anstellten.

Jedenfalls muss man sich dieses moderne Zeug wegdenken, komplett, um in die Zeit meiner Kindheit einzutauchen. In das Mogeiro vor vierzig Jahren. Man muss sich so ziemlich alles wegdenken, was anderswo zum normalen Leben gehörte: Wir hatten ein Dach über dem Kopf, das schon, aber kein fließendes Wasser und dementsprechend bloß ein Plumpsklo. Nur als Beispiel. Wir hatten am Anfang auch kein Auto, nicht einmal Fahrräder. Der erste motorisierte fahrbare Untersatz, den Vater sich zulegte, war ein Motorrad. Eine alte Maschine, die ihm jemand für wenig Geld überließ. Vielleicht hat er auch irgendetwas gegen sie eingetauscht oder den vereinbarten Preis abgearbeitet.

Was wir hatten, also unser Vater, war ein Pferdewagen. Und ein Pferd. Beides brauchte er für die Arbeit auf dem Feld. Um den Boden zu pflügen und zu eggen und was noch alles gemacht werden musste. Natürlich auch, um später die Ernte einzubringen.

Soviel ich weiß, hatte er bereits ein Pferd, als ich geboren wurde. Es können auch zwei oder drei gewesen sein. In meiner Erinnerung waren jedenfalls schon immer Pferde da.

Wenn Vater eins kaufte, auch später, dann immer eine Stute. Heute ist das anders, aber damals kostete so ein Pferd nicht viel. Trotzdem ließ er die Stute, sobald die richtige Zeit gekommen war, von einem Hengst decken, damit Nachwuchs gezeugt wurde. So kam er zu einem neuen Pferd, das noch günstiger war, ihn praktisch gar nichts kostete. Den Hengst, den er für die Begattung brauchte, lieh er sich von einem Bekannten. Er hatte viele Freunde, und alle, die Pferde hielten, machten es genauso.

Die Felder, auf denen Vater arbeitete, gehörten uns nicht. Sie wurden ihm von Farmern, die Ländereien besaßen, für drei oder vier Jahre verpachtet, auch mal für länger. In dieser Zeit konnte er sie nutzen, um Geld zu verdienen und damit seine Familie zu ernähren. Er pflanzte und säte, hier Mais, dort Bohnen, hauptsächlich aber baute er Erdnüsse und Ananas an. Senhor Pedro da Cruz Silva aus Mogeiro – unser Vater – war bekannt dafür, von allen Landarbeitern in der Region die meisten Erdnüsse zu liefern. Den größten Teil der Ernte verkaufte er an Geschäfte oder an Betriebe, die sie weiterverarbeiteten.

Eigentlich hätte Vater nicht Pedro, sondern Trabalho heißen sollen – Arbeit. Das wäre passender gewesen. Kaum ein Tag, an dem er nicht mit dem ersten Hahnenschrei aus dem Bett stieg. Meistens war es noch gar nicht richtig hell. Er ging in die Küche, trank einen starken Kaffee und steckte sich eine seiner geliebten Cigarros de palha an, bei denen der Tabak in ein getrocknetes Maisblatt gerollt war, ohne Filter. Dann machte er sich auf den Weg, zu Fuß oder mit dem Pferdewagen, je nachdem, wie weit das Feld entfernt war, welche Arbeiten er für den Tag geplant hatte und was er dafür dorthin transportieren musste, welche Gerätschaften und so. Später nahm er auch das Motorrad. Und noch später einen alten Pickup, den er von irgendwem günstig bekommen hatte. Ich glaube, es war ein Fiat. Fiorini oder wie das Modell hieß. Dieser Kleine, der in Brasilien gebaut wurde, unten im Südosten, in der Nähe von Belo Horizonte.

Mittags kehrte Vater vom Feld zurück, aber nur, um rasch das Essen hinunterzuschlingen, das Mutter ihm zubereitete, uns allen. Es kamen einfache Sachen auf den Tisch, was man auf dem Land so aß, hauptsächlich Reis, Bohnen und Fleisch – Hähnchen, Rind, Schaf oder Schwein, das variierte. Manchmal gab es auch Fisch. Und abends häufiger Couscous, die brasilianische Variante, die im Unterschied zur afrikanischen gelblich aussieht, weil sie aus Maismehl gemacht wird. Doch vorher war Vater längst wieder auf dem Feld. Es kam selten vor, fast nie, dass er sich eine längere Mittagsruhe gönnte. Ich sehe ihn noch vor mir: Nach dem Essen genüsslich eine Cigarro und schon stiefelte er los, arbeitete weiter, bis die Sonne unterging.

Nur an den Wochenenden, da ging er nicht aufs Feld. Das machte keiner, also machte er es auch nicht. Stattdessen suchte er sich zu Hause eine Beschäftigung, räumte den Hof auf, fegte den Boden, strich Wände, reparierte etwas. Oder er ging mit seiner Schrotflinte auf die Jagd, um Lambús zu schießen, die wir dann aßen. Lambús sind eine spezielle Art von Steißhühnern, die in der Gegend stark verbreitet waren. Ich glaube, die stammen noch von irgendwelchen Urvögeln ab. Braun-graues Gefieder, die beste Tarnung. Sehen konnte man die Viecher tatsächlich nur schwer, dafür machten sie immer ordentlich Musik. Die Laute klangen wie Flötentöne, mal höher, mal tiefer, und waren weit zu hören.

Außer der Schrotflinte besaß Vater auch einen Revolver, Kaliber .38 oder so. Aber damit ging er nicht jagen. Der Revolver war eher so ein Cowboyding, um im Notfall die Familie verteidigen zu können. Waffen sind gerade mal wieder ein großes Thema in Brasilien. Bolsonaro, der ehemalige Präsident, hatte das entsprechende Gesetz gelockert. Man bekam leichter eine Erlaubnis und durfte mehr Waffen besitzen, sechs oder so. Sportschützen sogar noch mehr, ich glaube, bis zu dreißig. Lula, einer von Bolsonaros Vorgängern, der aktuell wieder am Ruder ist, steuert genau in die entgegengesetzte Richtung. Er will, dass weniger Waffen im Umlauf sind. Jeder kann dazu seine Meinung haben. Fakt ist, dass die Kriminalität in den letzten Jahren zugenommen hat. Viele Leute, normale Bürger, beschaffen sich Waffen, auch illegal, weil sie sich damit sicherer fühlen. Mein Ding ist das nicht, aber wer seine Knarre richtig beherrscht, hat im Ernstfall wahrscheinlich schon einen Vorteil. Ich weiß, in Deutschland wird das Thema anders gesehen. Die Gesetze sind viel strenger. Aber die Verhältnisse sind auch ganz anders als in Brasilien.

Obwohl er so fleißig war, häufte Vater mit seiner Schufterei keine Reichtümer an. Nicht einmal von bescheidenem Wohlstand kann man sprechen. Wir waren nicht arm – nicht wie andere Familien in unserer Nachbarschaft, die oft nicht wussten, wie sie die Kinder satt bekommen sollten oder denen der Strom abgedreht wurde, weil sie ihn nicht mehr bezahlen konnten. Überfluss herrschte bei uns wie gesagt auch nicht. Für große Reisen oder so etwas war nie genug Geld da. Es gab zum Geburtstag oder zu Weihnachten auch keine teuren Geschenke. Aber wir kamen über die Runden. Irgendwie schafften es unsere Eltern, dass wir eine schöne Kindheit hatten. Ich war zufrieden und glücklich, hatte viel Spaß mit meinen Freunden, zumindest die meiste Zeit.

Das Schicksal – oder war es der liebe Gott? – hatte es so vorherbestimmt, dass ich in der Provinz, auf dem Land aufwachsen sollte. Noch dazu in einer der ärmsten Regionen des Landes. Aber dachte ich darüber jemals nach? Oder wünschte ich mir, woanders zu leben? Nicht, dass ich mich erinnern könnte. Es war gut so, wie es war. Ich kannte nichts anderes. Die Welt war für einen Jungen wie mich ein überschaubarer Ort. Es gab Mogeiro – und sonst erst mal nichts weiter.

HERÓIS E LIÇÕES

Helden und Lektionen

Den Mittelpunkt meiner kleinen Welt bildete das Haus unserer Familie. Ein einfacher Steinbau mit Ziegeldach und glatt verputzten Wänden. Wohnzimmer, Küche, Bad, Schlafzimmer der Eltern, zwei Kinderzimmer – eins für die Mädchen, eins für die Jungs, wir waren sieben Geschwister. Das Haus stand am Ortseingang. Es war das erste auf der linken Seite, wenn man auf der Landstraße von Osten kam – aus der Richtung, in die es erst zum Nachbarort Itabaiana geht, und von dort weiter nach João Pessoa. Und zum Meer.

Direkt neben unserem Haus lag eine Wiese. Die gehörte einem Farmer, der sie aber so gut wie nie nutzte, weder als Weide, noch um Heu zu machen. Dadurch war es eigentlich keine richtige Wiese. Ich würde sie eher als Brachland bezeichnen. Was wuchs, das wuchs, niemanden schien zu interessieren, ob Gräser aus dem Boden sprossen oder Unkräuter. An manchen Stellen wuchsen nicht einmal die. Da war nur blanke Erde, festgetreten und knochenhart. Von solchen Stellen sollte es bald immer mehr geben – nachdem wir den Platz für uns entdeckten, um darauf Fußball zu spielen.

Mit wir meine ich meinen Bruder Aderaldo und unsere Freunde, Jungs aus der Nachbarschaft. Als ich das erste Mal mitmachte, dürfte ich sechs oder sieben gewesen sein. Aderaldo spielte schon länger, er war fünf Jahre älter als ich. Und noch vor ihm hatte Antonio mit dem Fußballspielen angefangen, unser ältester Bruder. Er war nicht so talentiert wie Aderaldo, hatte aber einen richtig starken Schuss. Die Torhüter hätten sich am liebsten aus dem Staub gemacht, wenn er vor ihnen auftauchte und mit voller Wucht abzog. Antonio spielte aber kaum mit uns Kleinen, dafür war der Altersunterschied zu groß. Er wurde zehn Jahre vor mir geboren.

Fehlt noch der Vierte, unser jüngster Bruder: Alexandre. Er schlug etwas aus der Art, damals schon. Ein paarmal probierte er es, aber einem Ball hinterherzulaufen und dabei womöglich noch gefoult zu werden und mit dem Gesicht im Dreck zu landen, machte ihm keinen besonderen Spaß. Lieber blieb er zu Hause und steckte seinen Kopf zwischen die Seiten der Schulbücher. Er ging gern zur Schule, konnte stundenlang dasitzen, lesen und lernen. Noch etwas, das ihn von uns unterschied. Kein Wunder, dass er später Lehrer wurde. Alexandre war einfach nicht so wild wie wir. Allerdings auch nicht so robust. Er war oft krank. Dann behütete Mutter ihn immer wie eine Glucke.

Da ich gerade dabei bin, stelle ich gleich noch meine Schwestern vor: Angela, Adriana und Ana Maria. In der Reihenfolge wurden sie auch geboren. Mit Fußball hatten alle drei nichts am Hut. Mädchen durften in Brasilien lange kein Fußball spielen. Das hatte die Regierung verboten. Erst als das Militär nicht mehr an der Macht war, bekamen Frauen mehr Rechte. Meine Schwestern spielten mit Puppen oder irgendwelches Mädchenzeug. Und sie halfen Mutter bei der Hausarbeit – in der Küche, beim Saubermachen oder mit der Wäsche. Adriana zum Beispiel, die Zweitälteste, kochte oft die Mahlzeiten für unsere Familie, als sie etwas größer war.

Unsere Mutter, sie hieß Maria – Maria Gonçalves de Lima –, arbeitete als Krankenschwester. Zu der Zeit gab es in Mogeiro kein Krankenhaus wie heute, sondern nur eine medizinische Versorgungsstation. Dort kamen die Leute hin, wenn sie sich verletzt oder gesundheitliche Beschwerden hatten. Entweder konnte ihnen geholfen werden, oder es wurde ein Transport zu einem Krankenhaus in der nächsten Stadt organisiert.

Solange wir noch klein waren, kümmerte sich Mutter vor allem um uns. Ihre Arbeit erledigte sie aber trotzdem. Sie war eine Seele von Mensch, hilfsbereit und warmherzig. Auch wenn jemand zu Hause Hilfe brauchte, egal zu welcher Uhrzeit, machte sie sich gleich auf den Weg. Die Leute in Mogeiro mochten sie wirklich gern. Und sie liebte es, anderen zu helfen. Ich glaube, das war ihre Bestimmung. Darin ging sie auf. Ein guter Samariter, immer für andere da. Sogar dann noch, als ihr selbst übel mitgespielt wurde – vom Leben, wenn man das so sagen will, sie bekam eine schlimme Krankheit. Und leider auch von jemandem, den sie sehr liebte. Aber das kommt später.

Für mich war diese Maria Gonçalves de Lima eine Heilige. Das mag pathetisch klingen – ist mir egal. Ich weiß, dass meine Geschwister sie genauso verehrten. Das tun wir heute noch. Man hätte sich keine bessere Mutter wünschen können. Ich bin sehr dankbar, dass ich sie hatte. Ohne sie wäre mein Leben anders verlaufen, ganz anders.