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Universitäres Lernen und Lehren, Gespräche im Studium, Künstliche Intelligenz, Plagiarismus und Wissenschaftsfreiheit sind Fragen, unter denen sich die Beiträge des Hefts Veränderungen der akademischen Kultur angesichts der Digitalisierung zuwenden. Was sich verändert, hat aber nicht aufgehört, sich zu verändern. Konstruktivistisch gesprochen, wagen die Autorinnen und Autoren eine Beobachtung zweiter Ordnung. Ob wir nur in einem Durchgangsstadium sind oder schon eine andere Stufe von Entwicklung erreicht haben, ist jedoch auch davon abhängig, mit welchem Bewusstsein die Digitalisierung weiter angegangen wird. Das Heft will einen Beitrag dazu leisten, die Herausforderungen der Zukunft unter neuen Blickwinkeln kritisch zu reflektieren und die Ad-hoc-Digitalisierung während der Pandemie wissenschaftlich zu durchdringen.
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Seitenzahl: 268
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Vorwort
Editorial: Akademische Kultur und Wissenschaftsfreiheit angesichts der Digitalisierung von Lehren und Lernen
Ines Langemeyer, Ernst Schraube & Peter Tremp
Studentisches Lernen und die Widersprüchlichkeit digitaler Zerstreuung
Ernst Schraube
Parallel- und Alternativhandlungen Studierender während der Onlinelehre: ein Kulturwandel
Ilona Esslinger-Hinz
Gelingen Diskussionen im digitalen Studium? – Über die Bedeutung von Gesprächen für das wissenschaftliche Lernen
Ines Langemeyer, Juliane Strohschein & Nadja Schlindwein
Die Black Box der Verbindung zwischen Lehre und (Fach-)Wissenschaft in der Digitalität
Eileen Lübcke & Alexa Brase
Plagiarismus in Zeiten Künstlicher Intelligenz
Anika Limburg, Margret Mundorf, Peter Salden & Doris Weßels
Forschendes Lernen in der universitären Online-Lehre
Jennifer Grüntjens
Exploring the transition to the digital age in higher education teaching
Maria Tulis, Eline Leen-Thomele, Julius Möller, Martina Feldhammer-Kahr, Manuela Paechter & Eva Jonas
Die technologieverliebte Hochschule: Was folgt aus dem KI-gestützten Lernen für den traditionellen Bildungsauftrag
Alice Watanabe & Tobias Schmohl
Deutungsräume des digitalen Lernens
Clemens H. Cap & Wolfgang Sucharowski
Überlegungen zur Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit mit einem besonderen Augenmerk auf die digitale Lehre
Ines Langemeyer
Die Zeitschrift für Hochschulentwicklung – Rückblick und Analyse
Martin Ebner, René Krempkow & Olaf Zawacki-Richter
Als wissenschaftliches Publikationsorgan des Vereins Forum Neue Medien in der Lehre Austria kommt der Zeitschrift für Hochschulentwicklung besondere Bedeutung zu. Zum einen, weil sie aktuelle Themen der Hochschulentwicklung in den Bereichen Studien und Lehre aufgreift und somit als deutschsprachige, vor allem aber auch österreichische Plattform zum Austausch für Wissenschafter:innen, Praktiker:innen, Hochschulentwickler:innen und Hochschuldidaktiker:innen dient. Zum anderen, weil die ZFHE als Open-Access-Zeitschrift konzipiert und daher für alle Interessierten als elektronische Publikation frei und kostenlos verfügbar ist.
Ca. 3.000 Besucher:innen schauen sich im Monat die Inhalte der Zeitschrift an. Das zeigt die hohe Beliebtheit und Qualität der Zeitschrift sowie auch die große Reichweite im deutschsprachigen Raum. Gleichzeitig hat sich die Zeitschrift mittlerweile einen fixen Platz unter den gern gelesenen deutschsprachigen Wissenschaftspublikationen gesichert.
Dieser Erfolg ist einerseits dem international besetzten Editorial Board sowie den wechselnden Herausgeberinnen und Herausgebern zu verdanken, die mit viel Engagement dafür sorgen, dass jährlich mindestens vier Ausgaben erscheinen. Andererseits gewährleistet das österreichische Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft durch seine kontinuierliche Förderung das langfristige Bestehen der Zeitschrift. Im Wissen, dass es die Zeitschrift ohne diese finanzielle Unterstützung nicht gäbe, möchten wir uns dafür besonders herzlich bedanken.
Zur Ausgabe:
Universitäres Lernen und Lehren, Gespräche im Studium, Künstliche Intelligenz, Plagiarismus und Wissenschaftsfreiheit sind Fragen, unter denen sich die Beiträge des Hefts Veränderungen der akademischen Kultur angesichts der Digitalisierung zuwenden. Was sich verändert, hat aber nicht aufgehört, sich zu verändern. Konstruktivistisch gesprochen, wagen die Autorinnen und Autoren eine Beobachtung zweiter Ordnung. Ob wir nur in einem Durchgangsstadium sind oder schon eine andere Stufe von Entwicklung erreicht haben, ist jedoch auch davon abhängig, mit welchem Bewusstsein die Digitalisierung weiter angegangen wird. Das Heft will einen Beitrag dazu leisten, die Herausforderungen der Zukunft unter neuen Blickwinkeln kritisch zu reflektieren und die Ad-hoc-Digitalisierung während der Pandemie wissenschaftlich zu durchdringen.
Seit der Ausgabe 9/3 ist die ZFHE auch in gedruckter Form erhältlich und beispielsweise über Amazon beziehbar. Als Verein Forum Neue Medien in der Lehre Austria freuen wir uns, das Thema „Hochschulentwicklung“ durch diese gelungene Ergänzung zur elektronischen Publikation noch breiter in der wissenschaftlichen Community verankern zu können.
In diesem Sinn wünschen wir Ihnen viel Freude bei der Lektüre der vorliegenden Ausgabe!
Martin Ebner und Hans-Peter Steinbacher
Präsidenten des Vereins Forum Neue Medien in der Lehre Austria
Ines LANGEMEYER1 (Karlsruhe), Ernst SCHRAUBE (Roskilde) & Peter TREMP (Luzern)
Wenn man in hundert Jahren zurückblickt auf unsere Zeit, dann, wenn die Quantencomputer das binäre Rechnen abgelöst haben, wenn das Internet unmodern und durch chaotisierende Bots unbrauchbar geworden ist, welche Geschichten werden über uns und unsere Großtechnologien erzählt werden? Wird die Digitalisierung dann noch dargestellt werden als das Nadelöhr, durch das alles hindurch muss: das Lehren, das Lernen, überhaupt die ganze Wissenschaft und damit auch die akademische Kultur? Wenn die Digitalisierung nicht mehr so erscheint, als müsste man mit ihr alles neu erfinden, wie wird sie dann gedeutet? Vielleicht als das große Hindernis, vor dem sich alles staute, während nur weniges passieren konnte? Man muss sich einmal vorstellen, wie viele beliebt gewordene Komposita von heute, wie „digitales Lernen“ und „digital Humanities“, sich merkwürdig anhören werden, wenn die Großtechnologie des binären Rechners einmal ihren gesellschaftlichen Einfluss verloren und ihre Obsoleszenz eingesetzt hat.
In der heutigen Zeit kann man sich die Digitalisierung noch nicht als einen alten Hut vorstellen. Vielmehr haben die Erfahrungen der Covid-19-Pandemie den Einsatz digitaler Medien in der Lehre wie auch im Studium ungemein befördert und unabdingbar erscheinen lassen. Damit hat sich nicht nur in den Hochschulen die Praxis des Lehrens, Lernens und Studierens verändert, sondern auch das Selbstverständnis darüber. Um sich dieser Geschichte, von der wir Teil sind, bewusst zu werden, ist Reflexion wichtig.
Diese Reflexion ist mitten in der beschleunigten digitalen Transformation der Universitäten zu entwickeln, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie sich die akademische Kultur verändert hat. Dass dies schwierig ist, hängt damit zusammen, dass eine gegebene Kultur immer ein Gewebe von sozialen und materiellen Praktiken ist, das den Kontext unseres Bedeutens, Interpretierens und Schlussfolgerns bildet. Sie ist ein way of life (Raymond Williams), nicht abstrakt gegeben, sondern hervorgebracht in den multiplen Situationen, in denen wir leben und handeln. Kultur wird in diesen Momenten zwar greifbar, aber wir begreifen sie nicht sofort. Wir brauchen eine Distanzierung oder eine Verfremdung, um ein Bewusstsein von ihr zu entwickeln. Sie kann im Spiegel plötzlicher Veränderungen leichter studiert werden als in der „Normalität“, weil Selbstverständliches nicht mehr selbstverständlich ist. Mit ein wenig Abstand von den Lockdowns, ohne sie ganz vergessen zu haben, ist die Chance da, darüber nachzudenken, was wir an uns als den Akteur:innen der akademischen Kultur erfahren haben, aber auch, was mit uns geschehen ist, wie wir sozusagen „Produkte“ dieser Geschichte geworden sind. Haben sich verbreitete Vorstellungen und daraus hergeleitete Denk- und Handlungsmuster entscheidend verändert?
Eines der Denkmuster stellt sich die Universität gern romantisch-idealisierend vor. Ein erhabenes Gebäude. Durch das prunkvolle Eingangsportal gehen Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und viele Gäste ein und aus. Durch Seminare, Vorlesungen, Vorträge etc. sowie durch Labore und Institute gibt es ein Innenleben: die Wissenschaft. Die Leere des Gebäudes wird ausgefüllt durch eine umtriebige, ständig auf Erkenntnissuche sich befindende Gemeinschaft.
Für die Digitalisierung gibt es eine ähnliche idealisierende Vorstellung. Digitalisierung ist die unschuldige Bereitstellung einer Infrastruktur. Sie ist ebenfalls „leer“, geöffnet zur freien Nutzung. Sie lässt sich beliebig und nahezu unbegrenzt mit Inhalt auffüllen. Es gibt kein Regal, das am Ende keinen Platz mehr hat oder bei dem das Brett durch die Last von Büchern und Papieren bricht. Die Infrastruktur erscheint damit neutral und robust, zumindest gegenüber dem „Füllmaterial“. Für die Nutzer erscheint sie zuallererst bequem und in einer Zeit des social distancing als einziger Ausweg: Erschaffen ist ein leichter Zugang zu allen erdenklichen Informationen und Wissensbeständen und wir als User sind eingeladen, uns darin mit kreativen Ideen auszuleben.
Solche Vorstellungen von Universität und Digitalisierung beruhen auf einem bestimmten Raumbegriff, der weitgehend dem euklidischen entspricht. Raum als ein unbescholtener Ort, dem eine reine Behälterfunktion zukommt, kann man keine Eigenschaften zusprechen. In diesem Raum kann alles Mögliche stattfinden, so die Denkweise. Sie macht eine grundsätzliche Trennung zwischen Ort und Praxis, zwischen geographisch-baulicher Stätte einschließlich Infrastruktur und den menschlichen Begegnungen und Beziehungen, die sich durch das Handeln der Menschen zu einer bestimmten Zeit manifestieren. Daraus leitet sich auch die Vorstellung eines Möglichkeitsraums ab – und dieser wird nicht selten mit Freiheit gleichgesetzt.
Der universitäre und digitale Raum jedoch ist mehr: Er entsteht nicht nur durch die Bebauung und die Infrastruktur, sondern auch durch soziale und kulturelle Praxis. Ein solcher Raum kann niemals leer oder eigenschaftslos sein. Er birgt nicht durch seine Leere Freiraum, sondern umgekehrt: er ist in seiner Entstehung und Ausformung durch menschliche Praxis konstituiert. Er bestimmt nicht den Ort, sondern die Lage der Menschen, wie sie sich und ihr Leben vorstellen, erträumen und entwerfen. Er kann bestimmte Entwicklungen zulassen, manche wahrscheinlich machen und andere erschweren. Der soziale Raum der akademischen Kultur wird in der Digitalisierung anders strukturiert. Wer heute beispielsweise aus weltbekannten, einschlägigen Werken passende Zitate anbringen kann, tritt damit nicht gleich als ein Gebildeter in Erscheinung – jeder kann sich heute von einer Suchmaschine mit einem Fund eines Bonmots beschenken lassen. Dasselbe gilt für statistische Daten. Wenn alles schnell verfügbar ist, kann das alles nichts Besonderes mehr sein. Das Forschen, das Publizieren, das Diskutieren, das Überprüfen etc. erfährt im Digitalen, seinem Unendlichkeitsraum und seiner Beschleunigung, eine andere Resonanz.
Indem wir dieses Tun reflektieren, wird es mitunter neu erfunden. Als Freiraum hat, wenn jeder über einen Zugang zu allem verfügt, die freie Wahl eines Inhalts nicht mehr dieselbe Bedeutung wie der Raum, in dem man um Selbstbestimmung und Freisein ringt. Der freie Raum ist dann ein Ausgangspunkt, um einen freien Willen bilden und bewusstes Handeln zeigen zu können. Er ist mit einem Erleben von Sinnhaftigkeit und Vernunft verbunden.
Die Pandemie hat für diese Einsicht in die Raumerfahrung ein neues Bewusstsein entstehen lassen. Im Alltag vor dem Bildschirm machte sich insbesondere in strengen Lockdown-Phasen das Gefühl der Isolation breit, das sich allmählich mit dem Verlust von Alltagsstruktur und sozialer Geborgenheit mischte. Je nach Ausstat tung des häuslichen Arbeitszimmers, was bei Studierenden oft auch das Schlaf- und Wohnzimmer war, zog neben dem digitalen Lernen auch Eintönigkeit und Hilflosigkeit ein. Der Bildschirm bot für viele kein Ambiente, sich durch Begegnungen in akademischen Kontexten selbst neu erfahren zu können. Neue Freundschaften konnten ohne Orte der physischen Begegnung nicht entstehen. Auf der anderen Seite gab es vor allem im akademischen Milieu dank der Konferenz-Tools auch mehr Austausch über die regionalen Grenzen hinweg. Links führen nicht mehr nur zu Fußnoten und Wikipediaeinträgen, sondern brachten die Menschen miteinander direkt in Verbindung.
Fragen von akademischen Freiräumen lassen sich deshalb nicht sinnvoll ergründen, wenn sie von Räumen aus gedacht werden, die scheinbar in ihrer ersten Stunde als leere und stationäre Räume existierten, so als könnten wir hier als Privatpersonen einziehen und sie nach unserem Gusto bewohnen. Ist ein Raum aber als sozialer und kultureller Ort gedacht, entsteht Freiheit durch gemeinsames Handeln und durch Lernen: durch ein Lernen an der Geschichte, an den Widersprüchen und an den Fehlern der (wissenschaftlichen) Praxis, sodass sich eine eigenständige und selbstbestimmte Form des Handelns entwickelt.
Wenn man über Digitalisierung, akademische Freiheit und wissenschaftliches Lehren und Lernen nachdenkt, sind daher Vorstellungen von universitärem und digitalem Raum als leerem Behälter irreführend. Vielmehr sind Praxen wie Forschen, Lehren und Lernen grundlegend davon bestimmt, dass Traditionen, Beschränkungen, Zwänge und Konstellationen vorgefunden werden. Wer auch immer sich hier auf die Suche nach Neuem begibt, etwas Eigenes finden möchte, muss sich mit dem Vorgefundenen auseinandersetzen, um sich – gegebenenfalls – Raum zu verschaffen und Bedeutungsstrukturen zu verändern. Doch wie vertraut sind uns die Räume? Soziale Räume existieren durch menschliches Tun, nicht bloß darüber, dass Menschen in ihnen etwas tun. Sie sind durch die Art und Weise, wie Menschen dieses Tun pflegen, bedeuten und entwickeln immer auch politisch-kulturelle Räume. Und deshalb geht das vorliegende Themenheft der Frage nach, wie sich Räume akademischer Kultur durch die Digitalisierung veränder(te)n.
Viele Hochschulen setzen sich mit dieser Frage auseinander und haben entsprechende Untersuchungen durchgeführt und Folgerungen abgeleitet. Von manchen wird vermutet, dass (nicht-digitale, physische) Präsenz ein Kernelement akademischer Kultur darstellt. Es wird auch diskutiert, dass eine Dominanz von bloßem Wissenstransfer über digitale Technologien noch einmal die „Lernifizierung“ von Bildung (Gert Biesta) beförderte, d. h. eine Kanalisierung des Geschehens auf abtestbare Ergebnisse von Lehr-Lern-Interaktionen. Andere sprechen hingegen von einer „post-digitalen Bildung“, womit die Blickrichtung umgedreht wird, dass ohnehin wesentliche Teile des Lebens von der Digitalisierung durchzogen sind und insofern nur noch der Ausfall digitaler Dienste und Funktionen ins Bewusstsein dringt. Bislang ist offen, wie sich im Zuge der Digitalisierung des universitären Raumes die Hochschulkultur der Zukunft denken lässt, ob etwa insgesamt die Pluralität der Wissenschaften, ihre Erkenntnisformen und ihre reflexiv-selbstkritische Praxis leiden oder sich bereits neue vielversprechende kulturelle Entwicklungen abzeichnen. Angesprochen sind damit Reflexionen der Institution Wissenschaft, die in theoretischen und bildungsphilosophischen Argumentationen und in essayistischen Gedankengängen der Heftbeiträge vorliegen. Insbesondere aber wenden sich die Beiträge den Realisierungsformen von Lehren und Lernen in digitalen Settings zu. Einige gehen dicht ans Geschehen heran, manche arbeiten empirisch dazu, andere suchen wissenschaftstheoretische Anknüpfungen und beleuchten die Veränderung von Gesprächen und Diskussionen. Sie erkunden nicht nur Beschränkungen, sondern auch, wie sich hier neue Möglichkeiten einer reflexiven Wissenschaftspraxis eröffnen.
Zudem ergeben sich auch rechtliche Fragen: Welche Aktivitäten dürfen in digitaler Form gespeichert werden? Wie gewahrt man die Privatsphäre, wenn Arbeitsund Lernräume im eigenen Zuhause sind? Wie können Prüfungen sachgerecht und datenschutzrechtlich korrekt durchgeführt werden? Und was macht dies alles mit unserer akademischen Kultur? Einige Beiträge wenden sich unter diesem Gesichtspunkt der Wissenschaftsfreiheit und dem Plagiarismus zu.
Darüber hinaus stellen sich auch grundsätzlichere Fragen zu Verständnis und Praxis der verfassungsrechtlich garantierten akademischen Freiheit angesichts digitaler Transformationsprozesse. Diese Freiheit schützt nicht zuletzt eine diskursiv-offene Hochschulkultur. Was nun, wenn alles (auch das Vorläufige, Unfertige und zum Ausprobieren Artikulierte) aufgezeichnet wird, wenn alles aus dem Kontext dieser Kultur herausgelöst werden kann, wenn Praktiken in Datenspuren gespeichert sind und wenn alles zu „Open Science“ strebt?
Das vorliegende Heft hat Autorinnen und Autoren zu Beiträgen eingeladen, um die jüngsten Veränderungen von akademischer Kultur und Digitalisierung zu beleuchten und zu reflektieren.
Das Sichtbarmachen und die Reflexion dieser Veränderungen erfordert nicht nur eine, sondern vielfältige Weisen des wissenschaftlichen Denkens und Forschens. Und dies zeigt sich in sehr unterschiedlichen Schreibkulturen. Die publizierten Beiträge sind daher nicht einem einzigen Standard wissenschaftlicher Forschung verpflichtet, sondern erfahren bewusst eine Würdigung heterogener Formen des Schreibens und Denkens von unterschiedlichen Standpunkten und Perspektiven.
Das Heft möchte anregen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Bewusstsein bilden über den jetzigen Entwicklungsprozess, der mit der Pandemie eine Beschleunigung erfuhr. Denn die Pandemie-Erfahrung muss als Chance gelesen und genutzt werden, die Prozesse genauer zu analysieren.
Prof. Dr. Ines LANGEMEYER || Karlsruher Institut für Technologie, Institut für Berufspädagogik und Allgemeine Pädagogik || Hertzstr. 16, D-76187 Karlsruhe
URL https://www.ibap.kit.edu/lehr-lernforschung/
Prof. Dr. Ernst SCHRAUBE || Universität Roskilde, Institut für Mensch und Technik || Universitetsvej 1, DK-4000 Roskilde
www.ruc.dk/~schraube
Prof. Dr. Peter TREMP || PH Luzern, Zentrum für Hochschuldidaktik || Sentimatt 1, CH-6003 Luzern
www.phlu.ch
1 E-Mail: [email protected]
Ernst SCHRAUBE1 (Roskilde)
Zusammenfassung
Die historisch neue Situation digitaler Verbundenheit von Subjekt und Welt stellt Studierende heute vor neue Herausforderungen. Eine zentrale Problematik dabei bildet digitale Zerstreuung. Auf der Grundlage studentischer Erfahrungsberichte wird der Begriff der Zerstreuung vertieft und Begründungsfallen beim forschenden Lernen in digitalen Lern-Lehr-Verhältnissen werden beschrieben. Zudem wird die Relevanz der Entwicklung einer akademischen Kultur hervorgehoben, in der nicht nur die Bedeutung digitaler Technologien für die Aktivität des Lernens reflektiert wird, sondern auch der Umgang mit ihnen.
Schlüsselwörter
Digitale Zerstreuung, forschendes Lernen, studentische Lebensführung, Begründungsfallen beim Lernen mit digitalen Technologien, akademische Kultur
Student learning and the ambivalence of digital distraction
Abstract
The historically new situation of the digital connectedness between subject and world poses new challenges for students today. Digital distraction represents a central problem in this context. Drawing on student experience reports, this paper examines distraction in the context of the digitalisation of learning. In doing so, the paper expands the concept of distraction and describes reasoning traps in inquiry-based learning in digital learning-teaching relations. Furthermore, we highlight the relevance of developing an academic culture which systematically addresses not only the significance of digital technologies in learning, but also how to deal with them.
Keywords
digital distraction, inquiry-based learning, student conduct of everyday life, reasoning traps in learning with digital technologies, academic culture
Die Digitalisierung erzeugt eine historisch neuartige Situation, die das Verhältnis von Subjekt und Welt fundamental verändert. Während Radio und Fernsehen die Welt ins Haus bringen (ANDERS, 1956/2018), bringen digitale Technologien die Welt zum Subjekt sowie das Subjekt zur Welt. Einerseits hat das Subjekt eine neue Form des Zugangs zur Welt, der Partizipation und des Einflusses auf andere, anderseits haben auch andere und die Welt eine neue Form des Zuganges und des Einflusses auf das Leben des Subjekts. Wie verändert sich in einer solchen neuen Situation zweiseitiger digitaler Verbundenheit und enormer Erweiterung der „Weltreichweite“ (ROSA, 2017, S. 22) die akademische Kultur und die Praxis des Lernens?
Wie bei jeder Handlung, so kann auch beim Lernen zwischen einem operativen und einem inhaltlichen Aspekt unterschieden werden (HOLZKAMP, 1993, S. 187ff., S. 248ff.). Der inhaltliche Aspekt ist die Bewegung von dem, dass ich etwas nicht weiß, verstehe oder kann, aber genauer wissen, verstehen oder können möchte, hin zu dem, dass ich es weiß, verstehe oder kann. Der operative Aspekt ist damit innerlich verbunden. Er umfasst die zeitliche Planung des Lernprozesses, die Suche und Beschaffung von Literatur, Lesen, Schreiben, oder mit anderen in Verbindung kommen, um mit ihnen über etwas sich auszutauschen und diskutieren zu können etc. In ihrer operativen Funktion sind Operationen nichts Festgelegtes; sie lassen sich lernend verändern.
Vieles spricht dafür, dass das Potenzial digitaler Technologien vor allem auf der operativen Dimension des Lernens, bei den planenden, beschaffenden und koordinierenden Aktivitäten liegt (HENDERSON et al., 2015; SCHRAUBE, 2023; SELWYN, 2014; SELWYN et al., 2020). Demgegenüber zeigen sich deren Grenzen im Bezug zur inhaltlichen Dimension des Lernens und dabei insbesondere im Problem digitaler Zerstreuung: ständig abgelenkt sein und sich verlieren im Netz der digitalen Verbindungen und die daraus resultierende Schwierigkeit, präsent zu sein und sich inhaltlich in die Lernproblematik zu vertiefen. Zerstreuung ist in der besonderen Situation zweiseitiger digitaler Verbundenheit angelegt und stellt für Studierende die Herausforderung dar, die mit der Digitalisierung der Praxis des Lernens einhergeht.
Im Folgenden beleuchte ich digitale Zerstreuung im Kontext universitären Lernens. Dazu beschreibe ich in einem ersten Schritt, wie Studierende selbst diese erfahren. Mein Blick ist dabei weniger auf das eher zufällige, inzidentelle Lernen, sondern auf das absichtliche, intentionale Lernen gerichtet; auf forschendes, problem- und weltorientiertes Lernen, bei dem die Studierenden nicht nur die Methode, sondern auch den Inhalt ihrer Lernaktivität mitbestimmen können, wie etwa bei Gruppenprojekten, Semester- oder Abschlussarbeiten (ANDERSEN & HEILESEN, 2015; HOLZKAMP, 1993; LANGEMEYER & SCHMID, 2017; MIEG & LEHMANN, 2017; SCHRAUBE & CHIMIRRI, 2015). Einsicht in die Perspektive der Studierenden gewähren qualitative Interviews, die ich in den vergangenen Jahren an der Universität Roskilde führte. In ihnen ging es darum, wie und für was Studierende digitale Technologien verwenden und inwieweit sie diese beim Lernen und Studieren als hilfreich oder auch als problematisch erfahren. Es entstand eine Fülle von Material, von dem ich hier nur Erfahrungsberichte bezogen auf digitale Zerstreuung vorstelle. Da ausschließlich Studierende von einer einzelnen Universität zu Wort kommen, geben die Berichte lediglich ein ausschnitthaftes Bild. Im Partikulären aber zeigen sich immer auch allgemeinere Zusammenhänge (BRINKMANN, 2012; HØJHOLT & SCHRAUBE, 2019; VALSINER; 2019).
Zerstreuung muss nicht unbedingt ein Problem sein. Im Gegenteil, sich ablenken zu lassen und mehrere Sachen auf einmal zu machen, hat durchaus eine wichtige Funktion. Auch beim Lernen kann es sinnvoll sein, mehrere Sachen auf einmal zu machen. Die Dinge weiterzudenken, ist weniger ein klar vorgezeichneter als vielmehr ein suchend-fluider Prozess. Dazu gehört, seine Gedanken in verschiedene Richtungen laufen zu lassen. Wenn es aber um die vertiefende Entwicklung der inhaltlichen Dimension der Lernhandlung geht, wird Zerstreuung zu einem Problem, das sich im Kontext der Digitalisierung der Praxis des Lernens in zugespitzter Form stellt. Genau darüber berichten die Studierenden. Dabei beschreiben sie digitale Zerstreuung in einer eigentümlichen Widersprüchlichkeit: für die einen scheint es kein Problem, für die anderen ein drastisches, und oft zeigt sich beides in einer Person.
2.1 Digitale Zerstreuung aus studentischer Perspektive
Die Studierenden schildern Zerstreuung als eine Problematik, die sich durch die unterschiedlichen Kontexte ihres Lernens zieht und von der sie selbst betroffen sind oder andere Studierende, oder als ein Problem von anderen, das dadurch auch zu ihrem eigenen wird.
„Die Schwierigkeit mit der Digitalisierung ist definitiv sich abzukoppeln und präsent zu sein. Denn da ist einfach die ganze Zeit parallel irgend etwas los, in den sozialen Medien, oder E-Mail, oder es gibt gerade irgendetwas Arbeitsmäßiges oder Studienmäßiges, was ich tun könnte. Das passiert manchmal auch bei einer Vorlesung, wo man sich inhaltlich vertieft, und etwas verstehen will, aber da läuft gerade auch etwas auf Facebook oder mit E-Mail, weil man vor seinem Computer sitzt. Es besteht die Möglichkeit, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein.“ (Sofie; alle Namen der Studierenden sind anonymisiert; Übersetzungen vom Autor)
„Ich kann sehen, dass es meinen Mitstudierenden manchmal schwerfällt, sich zu konzentrieren. Die müssen ständig auf Facebook sein, dann müssen sie nur kurz auf Twitter, und dann müssen sie nur kurz – Instagram usw. Die sind einfach drauf, rund um die Uhr. Ab und zu muss man versuchen, mal abzuschalten. Sonst brennt einem doch das Hirn durch.“ (Murad)
„Als wir am Projekt arbeiteten, waren richtig viele, die ständig Facebook oder sonst was checken mussten, und das war ziemlich nervig. Wir haben uns doch zu einem Treffen verabredet und die Idee ist, dass wir miteinander arbeiten, und wir müssen arbeiten und wir müssen schreiben. Es macht keinen Sinn, wenn die die ganze Zeit abgelenkt sind, und es war nicht, weil es irgendetwas Wichtiges gab, irgendwas Inhaltliches, was sie unbedingt sehen mussten. Nein, es ging einfach darum, was ihre Freunde gerade tun und was sonst so in der Welt los ist.“ (Elaine)
Zwei unterschiedliche Ausprägungen der Zerstreuung werden von den Studierenden beschrieben. Einerseits Zerstreuung als punktuelle Unterbrechung oder kurze Ablenkung von einer Lernaktivität. Andererseits als Multitasking und neben der Lernaktivität gleichzeitig mit anderen Aktivitäten beschäftigt zu sein, also etwa eine Vorlesung anzuhören und gleichzeitig E-Mails zu erledigen und den Newsfeed von Facebook im Blick zu haben.
Manche Studierende sehen Ablenkung und Multitasking nicht als besonders problematisch. Gleichzeitig im physischen wie im digitalen Raum präsent zu sein, sei ein typischer Zustand von heute, den es schlicht anzunehmen gälte.
„Wir werden ständig bombardiert. Aber ich weiß nicht, ob das ein Problem ist. Vielleicht muss man nur lernen, so eine Art verteilter Konzentration zu entwickeln. Ich bin es gewohnt, ziemlich oft SMS, E-Mails und Facebook-Benachrichtigungen zu bekommen, weil ich viel ehrenamtlich arbeite und mir ständig Leute mit allen möglichen Fragen schreiben. Manchmal rufen sie mich auch in dringenden Angelegenheiten an. Ich glaube, ich habe mich einfach an diese Vermischung von digitalem und physischem Raum gewöhnt. Und ich glaube, das ist genau das, was jetzt passiert. Und manchmal ist es vielleicht etwas problematisch. Aber es stabilisiert sich auch ein wenig, indem wir Strategien finden, wie wir gleichzeitig in einem digitalen und einem physischen Raum präsent sein können.“ (Louis)
Die meisten Studierenden aber beschreiben Zerstreuung als ein problematisches Phänomen. Zerstreuung behindere inhaltliche Vertiefung einschließlich Dialog und Zusammenarbeit. Ständige Unterbrechung reiße einen aus dem Lernprozess heraus. Es beeinträchtige sie, sich auf die Dinge richtig einzulassen, und behindere das ernsthafte Gespräch mit sich selbst und mit anderen sowie die Vertiefung in den Lerngegenstand.
„Ich finde es schade, wenn man mit den Dingen nicht richtig in die Tiefe kommt. Wir diskutieren zum Beispiel gemeinsam, ich und meine Studienkameraden. Aber nicht alle können mitmachen, weil manche von etwas anderem völlig aufgesaugt sind, etwa was auf Facebook passiert. Ich finde es einfach schade, dass wir nicht auf eine tiefergehende Weise über die Dinge diskutieren. Dass man völlig oberflächlich bleibt, und dann ist es vorbei, und dann geht es einfach weiter. Jetzt gehe ich einfach auf Facebook und sehe nach, was da los ist. Ich finde es schade, dass das alles so abrupt aufhört. Irgendwas geht da verloren. Man müsste einfach mehr in die Tiefe.“ (Saida)
Zudem beschreiben manche Studierende, wie es auch die Ausbildung ihres Denkens beeinflusst.
„Mein Denken ist in gewisser Weise richtig fragmentiert geworden. Ich habe das an mir selbst bemerkt und beobachtet, und es ist, also ob ich ständig herumspringe. Zum Beispiel fällt es mir manchmal schwer, meine Gedanken an einem Ort zu halten und mich wirklich nur auf eines zu konzentrieren. Ich glaube, das kommt von Facebook. Denn da springt man ständig, man scrollt runter in den aktuellen Nachrichten, und jedes Mal, wenn du weiter nach unten scrollst, gibt es neue Nachrichten. Verschiedene Nachrichten, also wiederum, dein Fokus wechselt ständig von einer Sache zur anderen. Die ganze Zeit. Die Aufmerksamkeit wird völlig zerstreut. Man konzentriert sich auf viele Dinge gleichzeitig und man gewöhnt sich tatsächlich daran, auf diese Weise zu denken, auch im Alltag. Weil man gelernt hat, dass man ständig und schnell den Fokus wechseln muss.“ (Elaine)
Je nach Problemverständnis versuchen die Studierenden auf unterschiedliche Weise die Zerstreuung in den Griff zu bekommen. Manchmal scheint es nur eine Frage, sich an diesen Zustand zu gewöhnen; einfach seine Aufmerksamkeit auf mehrere Dinge zu verteilen oder anzuerkennen, dass es ein Leben auch außerhalb der Welt des Studierens gibt.
„Ich denke, es geht einfach darum, nicht frustriert zu sein, wenn man von seinem Hauptschwerpunkt abweicht. Denn wenn man anfängt, sich darüber zu ärgern, dann wird es meiner Meinung nach zu einem Problem. Es stört mich nicht, wenn die Leute ab und zu kurz auf ihr Handy schauen. Dann gibt es natürlich einige Leute, die ständig damit zugange sind, und dann schon. Ich weiß nicht, wir reden einfach darüber und finden was heraus. Es könnte ja etwas Wichtiges sein. Ich weiß, dass ich manchmal eine Nachricht oder eine E-Mail erhalte, die ziemlich dringend ist, und ich muss sofort reagieren. Ich denke, es geht auch darum zu akzeptieren, dass wir ein Leben außerhalb dieser Blase haben. Und man muss herausfinden, wie man die Menschen, mit denen man in der Gruppe zusammen ist, respektieren kann, ohne dabei zu sehr sich zu verlieren.“ (Louis)
Für die meisten Studierenden aber bildet der Umgang mit der Zerstreuung eine echte Herausforderung. Sie beschreiben, wie sie sich im Verhältnis zu sich selbst sowie zu ihren Mitstudierenden um Abgrenzung vom digitalen Maschinenpark bemühen, regelrecht um Präsenz kämpfen. Sie suchen Strategien, wie man individuell und kollektiv die digitale Verbundenheit in den Griff bekommen könnte, etwa durch die Schaffung einer Arbeitsumgebung mit erhöhter Schwelle den Versuchungen der digitalen Welt zu erliegen.
„Wenn ich arbeite, kann ich nicht zu Hause sein. Ich muss an einem ganz anderen Ort sein. Zum Beispiel in einem Buch-Café, in der Bibliothek oder an einem anderen Ort. Einem Studienmilieu. Es muss ein Studienmilieu um mich herum geben, damit ich nicht gestört werde. Denn zu Hause, ständig findet man etwas anderes, was man tun kann, und das stört mich ungemein. Daher arbeite ich an einem anderen Ort, und dann sitze ich da, und sage ich zu mir selbst: ‚Jetzt bin ich hierhergekommen, um zu arbeiten. Jetzt sehe ich, dass es um mich herum Menschen gibt, die auch arbeiten. Die ernsthaft und ambitioniert aussehen, und so muss ich diese Position oder Rolle irgendwie nachahmen.‘ Und dann checke ich vielleicht nur kurz, um anzufangen, mein Facebook-Profil. Oder vielleicht habe ich es im Zug gemacht, bevor ich ankam. Dann weiß ich, dass ich es einmal gecheckt habe. Ich muss das jetzt nicht mehr machen. Jetzt muss ich mit meiner Arbeit weiterkommen. Wie auch immer, manchmal passiert es. Manchmal geht man einfach von seiner Arbeit weg und geht zurück zu Facebook. Es ist ein bisschen seltsam, aber es kommt vor, dass man einfach – vielleicht sieht man es als eine Art Pause. Nun habe ich es mir verdient. Nun habe ich es verdient, mich ein wenig zu entspannen und weg mit all der Arbeit, und jetzt habe ich es verdient, bisschen auf Facebook zu sein und einfach anzukucken, wozu ich Lust habe“. (Saida)
„Ich mache mir meine eigenen Strategien. Zum Beispiel, wenn ich an meiner Masterarbeit schreibe. Ich habe festgestellt, dass es zu Hause einfach nicht geht. Wenn ich zu Hause bin, bin ich zu schnell online. Ich fange an, nach allem möglichen zu suchen. Daher ist es besser für mich, woanders zu sein, wo auch andere sind, und ich das Gefühl zu haben, ‚okay, jetzt bin ich in einer Bibliothek. Da sind viele, die sich konzentrieren. Ich tue dasselbe. Ich gehe nicht ins Internet‘. Ja, und das höre ich von vielen! Manchmal schließe ich mein Handy auch in einem Schrank ein. Zum Glück weiß ich in der Bibliothek nicht, wie ich ins Web komme, außer mit meinem Handy.“ (Rosa)
„In der Projektarbeit ist es notwendig, zu reden und zu diskutieren. Und sich gegenseitig zu verstehen, Probleme aufzugreifen und Zusammenhänge zu erfassen. In Gruppensitzungen, zumindest in einer, war ich sehr streng und sagte: ‚Wir brauchen mindestens 15 Minuten, in denen kein digitales Zeug auf dem Tisch liegt. Denn ich kann nicht mit euch reden, wenn ihr ständig auf den Bildschirm glotzt oder den Bildschirm vor euch habt. Ich weiß, dass ihr mir nicht zuhört, weil ihr nicht auf meine Fragen antwortet.‘ Wir mussten also Vereinbarungen miteinander in der Gruppe treffen. Das war für einige richtig schwierig. Einige waren professionelle Blogger. Einige hatten eine Arbeit, bei der sie ständig online sein mussten. Ständig verbunden! Aber wenigstens haben sie die 15 Minuten geschafft. Und das hat zumindest ein bisschen mehr Diskussion erzeugt.“ (Mads)
2.2 Warum ist digitale Zerstreuung ein Problem?
Die Erfahrungsberichte zeigen, dass aus der Perspektive der Studierenden Zerstreuung im Kontext des Lernens ein echtes Problem darstellt. Andere Studien, die die Erfahrungen der Lernenden mit digitalen Technologien untersuchen, kommen zu ähnlichen Ergebnissen (AAGARD, 2015). Eine ganze Reihe von Untersuchungen, die aus der Perspektive der Lehrenden und der Bildungsinstitutionen die Digitalisierung der pädagogischen Praxis beleuchten, beschreiben digitale Zerstreuung ebenfalls als ein gravierendes Problem und zeigen auf der Grundlage eingehender empirischer Analysen, wie die Veränderung der Aufmerksamkeit in digitalen LernLehr-Verhältnissen durch ständige Unterbrechungen und Multitasking die Entwicklung von Lernprozessen in ihren unterschiedlichen Aspekten schwerwiegend behindern (GAZZALEY & ROSEN, 2016; MEIER SØRENSEN, 2018; TURKLE, 2015). Dennoch ist nicht vorschnell außer Acht zu lassen, dass Aufmerksamkeit eine dynamische Fähigkeit ist, die ein breites Spektrum an Ausprägungen umspannt. Sie reicht von konzentrierter, über schwebender und distributiver Aufmerksamkeit bis hin zur völligen Zerstreutheit. Das alltägliche Leben und Lernen in und mit der Welt erfordert, abhängig von der Aktivität, um die es geht, das gesamte Spektrum der menschlichen Aufmerksamkeit. Wie William STERN vor bald einem Jahrhundert erklärt:
„Das Leben fordert beides: Zuspitzung und Ausbreitung, Haftenlassen und Wandernlassen der Aufmerksamkeit, Ablenkbarkeit und Widerstand gegen Ablenkungen. Es wäre für den höchst konzentrierten Archimedes besser gewesen, wenn er durch den sich nähernden Kriegslärm von seinen mathematischen Grübeleien sich hätte ablenken lassen; stattdessen sah er in den hereindringenden Kriegern nur unliebsame Störungen seiner Kreise – und er wurde erschlagen ... Je mehr eine zunehmende Zivilisation den Menschen in eine verwirrende und fortwährend wechselnde Fülle von Ereignissen und Gegenständen setzt, die für ihn lebensbedeutend werden können und daher seine Aufmerksamkeit erfordern – um so mehr bedarf er der Verteilungs- und Wechselfähigkeit dieser Aufmerksamkeit; sonst kommt er zum Erliegen.“ (STERN 1935/1950, S. 675)
STERN widerspricht der Vorstellung, dass die menschliche Psyche sich in jedem Zeitpunkt ausschließlich nur auf eine Sache zu konzentrieren vermag. Die Aufmerksamkeit, erläutert er, kann sich auf einen, aber auch auf zwei oder mehrere Brennpunkte richten, und er unterscheidet entsprechend zwischen unifokaler, bifokaler sowie multifokaler Aufmerksamkeit. Die bi- und multifokale Aufmerksamkeit kann in zwei Hauptformen auftreten. Entweder verteilen sich die Brennpunkte der Aufmerksamkeit innerhalb einer komplexen Gesamttätigkeit, wie etwa beim Klavierspielen, bei dem die verschiedenen Bewegungen der rechten und linken Hand gleichzeitig beachtet werden müssen. Oder es werden zwei verschiedene, voneinander unabhängige Tätigkeiten gleichzeitig vollzogen. Hier spricht Stern von einer Spaltung der Aufmerksamkeit und einer Mehrfachhandlung. Als Beispiel dafür nimmt er eine Person, die während eines Telefongespräches mit X gleichzeitig an einem Brief an Y weiterschreibt.
„Jener Mann, der zugleich korrespondiert und telefoniert, unterbricht zwar die Schreibtätigkeit nicht während des Sprechens, aber er organisiert sein Doppeltun doch so, dass er die neuen Gedankenformungen, die jeweilig für einige Sekunden Schreibstoff liefern sollen und besondere Aufmerksamkeitsgipfelungen verlangen, vorwiegend in jene Zeitpunkte verlegt, in denen das telefonische Gespräch geringere Aufmerksamkeit erfordert – und umgekehrt.“ (STERN, 1935/1950, S. 665)
Aus Sterns subjektpsychologischer Perspektive ermöglicht die Ganzheit der Person die Verteilung oder Spaltung der Aufmerksamkeit.
„Da die Ganzheit der Person immer und überall unitas multiplex ist, besteht kein Widerspruch zwischen der Mehrheit von Einstellungsrichtungen bzw. Energiebrennpunkten auf der einen und der personalen Einheit auf der anderen Seite.“ (STERN, 1935/1950, S. 664).