Alaska Love - Winter in Wild River - Jennifer Snow - E-Book
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Alaska Love - Winter in Wild River E-Book

Jennifer Snow

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Beschreibung

Die majestätische Winterwelt Alaskas, dramatische Rettungsaktionen, eine idyllische Kleinstadt und die ganz große Liebe


Das Letzte, was Erica Sheraton gebrauchen kann, sind freie Tage. Als Ärztin im Alaska General Hospital in Anchorage bleibt ihr kaum Zeit zu schlafen - geschweige denn, sich über ihr verkorkstes Liebesleben Gedanken zu machen. Doch ausgerechnet über Weihnachten wird sie in den Zwangsurlaub geschickt. Bei ihrer besten Freundin, die in dem kleinen Städtchen Wild River ein Outdoor-Unternehmen führt, will sie die Tage mit Skifahren und Schneetouren verbringen. Statt auf der Piste findet sie sich jedoch bald als Teil des Search-and-Rescue-Teams wieder, das dringend auf eine Medizinerin angewiesen ist. Bei den Einsätzen gerät sie immer wieder mit Reed Reynolds aneinander, der das Team führt - und der ihr Herz bei jeder Begegnung schneller schlagen lässt. Doch wie soll es eine Zukunft für den rauen Bergretter aus Wild River und die erfolgreiche Ärztin aus der großen Stadt geben?

"Eine gelunge Mischung aus heißer Liebesgeschichte, atemberaubenden Rettungsmissionen und spritzigen Dialogen. Perfekt für Fans von Small-Town-Romances!" PUBLISHERS WEEKLY

Auftakt der romantischen und sexy Serie um die Bergretter von Wild River von Bestseller-Autorin Jennifer Snow

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

1

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Epilog

Die Autorin

Die Romane von Jennifer Snow bei LYX

Leseprobe

Impressum

JENNIFER SNOW

Alaska Love

WINTER IN WILD RIVER

Roman

Ins Deutsche übertragen von Michaela Link

Zu diesem Buch

Das Letzte, was Erica Sheraton gebrauchen kann, sind freie Tage. Als Ärztin im Alaska General Hospital in Anchorage bleibt ihr kaum Zeit zu schlafen – geschweige denn, sich über ihr verkorkstes Liebesleben Gedanken zu machen. Doch ausgerechnet vor Weihnachten wird sie in den Zwangsurlaub geschickt. Bei ihrer besten Freundin, die in dem kleinen Städtchen Wild River ein Outdoor-Unternehmen führt, will sie die Tage mit Skifahren und Schneetouren verbringen. Statt auf der Piste findet sie sich jedoch bald als Teil des Search and Rescue Teams wieder, das dringend auf eine Medizinerin angewiesen ist. Bei den Einsätzen gerät sie immer wieder mit Reed Reynolds aneinander, der das Team führt – und der ihr Herz bei jeder Begegnung schneller schlagen lässt. Doch wie soll es eine Zukunft für den rauen Bergretter aus Wild River und die erfolgreiche Ärztin aus der großen Stadt geben?

Für alle Mitglieder von Rettungsorganisationen auf der ganzen Welt, die selbstlos ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um andere in Zeiten der Not zu retten – ich danke euch!

1

Dr. Erika Sheraton hatte die Arme voller Patientenakten und legte den Kopf in den Nacken, damit Darren, ihr Pre-Med-Praktikant, ihr einen doppelten Espresso einflößen konnte. Die heiße Flüssigkeit lieferte den sofortigen Adrenalinstoß, den sie brauchte, um den Rest ihrer Vierzehn-Stunden-Schicht durchzustehen.

Abendessen? Ein schneller Blick auf die Wanduhr über dem Schwesternzimmer offenbarte, dass es fast neun war. Ein spätes Abendessen.

»Wieso zittern Sie eigentlich nicht? Das war jetzt Ihr dritter in zwei Stunden.« Darren zerknüllte den Papierbecher und warf ihn im Vorbeigehen in eine Recycling-Tonne.

»Koffein hat schon lange keine Wirkung mehr auf mich. Jetzt geht es mir lediglich um den Geschmack«, antwortete sie, was nur halb ein Scherz war. Die doppelte Kursanzahl sowie durchgemachte Nächte auf dem College und dann im Medizinstudium hatten sie auf die langen Stunden vorbereitet, die sie jetzt als Chirurgin arbeitete, und Koffein war ihr bester Freund gewesen.

Der gut Zwanzigjährige sah aus, als könne er selbst eine Tasse gebrauchen, denn er konnte ein Gähnen nur mit Mühe unterdrücken. Sein dunkelblondes Haar stand ihm im Nacken zu Berge, als sei er in der allerletzten Minute aus dem Bett gesprungen, und seine haselnussbraunen Augen waren blutunterlaufen. Wenn er schon acht Stunden nach Beginn der Schicht müde war, würde er um Mitternacht noch einmal genauer über diesen speziellen Beruf nachdenken. Das Personal im Alaska General Hospital ruhte sich niemals aus. Durch die Drehtüren der Notaufnahme ergoss sich ein stetiger Strom von Patienten mit gebrochenen Knochen, Herzinfarkten und blutenden Wunden. Kein Tag ähnelte dem anderen. Die Unberechenbarkeit ließ Erika wachsam bleiben und hielt sie auf Trab.

»Nach dieser Visite müssen Sie für mich nach Mr Franklin sehen – er liegt im Aufwachraum. Seine Familie möchte wissen, wann sie ihn sehen kann.« Die gesamte Großfamilie des Mannes kampierte im Wartezimmer der chirurgischen Station – mindestens fünfzehn oder sechzehn Leute. Sie durften den Patienten nicht besuchen, weigerten sich jedoch alle, das Krankenhaus zu verlassen. Einer von ihnen übernahm stets die Aufgabe, die diensthabenden Krankenschwestern in den Wahnsinn zu treiben. »Machen Sie denen klar, dass nur die engste Familie hineindarf. Er braucht Ruhe.«

Darren nickte, aber ein zögerlicher Ausdruck erschien in seinen Augen, die von einem dunklen Brillengestell umrahmt waren.

»Was ist?«

»Es ist nur … na ja, sollten Sie nicht mit ihnen reden? Ich weiß, dass seine Frau sich bei Ihnen bedanken wollte …«

Erika schüttelte den Kopf. »Es wird Dank genug sein, wenn sie für seine cholesterin- und natriumarme Diät sorgt, die ich ihm verschrieben habe – und dass er nicht bald wieder auf meinem OP-Tisch landet«, sagte sie, während sie die oberste Akte ihres Stapels überflog.

»Okay, aber …«

Sie warf Darren einen Blick zu.

»Kein Problem. Ich sehe nach ihm.«

»Danke.« Erika ging weiter den Flur entlang zum nächsten Patienten, der eine hohe Priorität hatte.

»Vergessen Sie nicht, dass Ihr Vater Sie immer noch sprechen möchte«, sagte Darren, der Mühe hatte, mit ihrem Tempo mitzuhalten.

»Ich weiß.« Sie hätte gern auf die stündlichen Erinnerungen verzichtet. Ihr Vater bat sie selten während ihrer Visite um ihre Anwesenheit, also würde das, worum es sich auch immer handeln mochte, nichts Gutes sein. Wenn sie ihn lange genug hinhielt, würde er es vielleicht vergessen.

»Oberstes Krankenblatt – Mr Grayson. Ihm soll in einigen Stunden der Blinddarm herausgenommen werden«, sagte sie, als sie sich dem Zimmer des Mannes näherten.

Darren nickte und lächelte. »Dieser alte Knabe ist zum Brüllen komisch. Wussten Sie, dass er in den Achtzigern Zirkusartist war? Er hat Motorräder gefahren.«

»Nein.« Sie wusste, dass er mit seinem entzündeten Blinddarm viel zu lange gewartet hatte, bevor er hergekommen war. Ihr waren seine Vitalzeichen bekannt und dass er in einer Stunde für die Operation vorbereitet werden würde. Die Kenntnis persönlicher Details aus dem Leben eines Patienten machte ihren Job nicht leichter und garantierte auch keinen besseren Ausgang einer OP. Sie balancierte die Akten auf einem Arm und griff sich in die Tasche, um ein neues Paar steriler Handschuhe herauszuholen.

»He, kann ich mit Ihnen reden, bevor wir hineingehen?«, fragte Darren und hielt sie vor der Tür auf. Er starrte auf das Karomuster der Bodenfliesen.

Verdammt. »Sie wollen mich darum bitten, zu einem anderen Arzt wechseln zu dürfen.« Er war nicht der erste Praktikant, der wechselte. Sie hatte ihn einen Monat lang halten können – ein neuer Rekord.

Ein weiterer Praktikant wirft die Flinte ins Korn.

Er nickte, offensichtlich erleichtert darüber, dass er das Thema nicht selbst zur Sprache zu bringen brauchte. »Sie sind unglaublich, Dr. Sheraton, und ich empfinde es als ein solches Glück, dass ich die Gelegenheit hatte, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, aber Sie sind außerdem sehr beschäftigt und unabkömmlich …«

Die Worte versetzten ihr einen Stich, der allerdings nichts Neues war. Sie hatte die gleiche Ansprache von Praktikanten ebenso wie von Geliebten gehört. In der einen Gruppe löste sich das Problem unmittelbar nach den klinischen Semestern von selbst … Praktikanten und Assistenzärzte wurden vom Krankenhaus eingeteilt und entzogen sich damit ihrer Kontrolle.

»Ich meine, ich brauche einfach alles an Ausbildung, was ich bekommen kann, und mit Ihren vielen Patienten und Ihrer Forschungsarbeit …«

Sie brauchte keine Erklärung. Sie war beschäftigt. Zu beschäftigt, als dass ihr jemand auf Schritt und Tritt hätte folgen können. Diese Entwicklung war ihr absolut recht. »Ich verstehe.«

»Sie sind nicht sauer?«

»Nur darüber, dass ich mir von jetzt an meinen Kaffee selbst besorgen muss«, antwortete sie.

Der Scherz verfehlte sein Ziel, und die Augen des Praktikanten weiteten sich. »Das kann ich doch nach wie vor tun …«

Wow, war sie wirklich so Furcht einflößend? Sie war anspruchsvoll und erwartete von den Studenten, dass sie die gleichen Stunden ableisteten wie sie selbst. Sie mochte nicht die freundlichste Ärztin im Haus sein, nahm nach der Arbeit nicht an geselligen Aktivitäten teil und erinnerte sich kaum je an Geburtstage und dergleichen, aber sie vermittelte diesen Kandidaten der Medizin ein reales Bild von ihrer Zukunft. War das nicht der Grund, weshalb sie hier waren? »Das war ein Scherz, Darren.«

»Oh … natürlich.«

»Dr. Sheraton, melden Sie sich bitte in der Notaufnahme. Sofort.«

Als sie den Ruf über die Gegensprechanlage des Krankenhauses hörte, reichte sie Darren den Stapel mit Ordnern. »Messen Sie bitte seinen Herzschlag und Blutdruck«, sagte sie, bevor sie zu den Aufzügen rannte. »Und vergessen Sie Mr Franklin nicht.«

»Wird erledigt«, rief er ihr nach.

Die geruhsame Fahrt mit dem Aufzug sechsundzwanzig Stockwerke hinunter ins Erdgeschoss kam einem Tag im Spa für sie näher als irgendetwas sonst. Es war die einzige Zeit, zu der sie gezwungen war, sich einem anderen als ihrem eigenen, gewöhnlich halsbrecherischen Tempo anzupassen. Aber selbst diese halbe Minute dauerte zu lange. Sie gab ihr immerhin Zeit nachzudenken. Nachzudenken über ihre vorangegangenen Operationen, die Details im Geiste noch einmal durchzugehen – was gut gelaufen war, was schiefgelaufen war, was sie beim nächsten Mal besser machen konnte. Es machte sie zu einer besseren Chirurgin, sich ständig selbst infrage zu stellen, aber häufig vermittelte es ihr das Gefühl, als würde sie ihrem Potenzial gerade eben nicht gerecht werden. Als Alphatyp gab sie Versagen oder Selbstgefälligkeit wenig Raum.

Sie nahm ihr Handy aus der Kitteltasche, überflog ihren Zeitplan für den Rest des Abends und überlegte, was sie verschieben konnte, falls dieser Notfall ihre unmittelbare Aufmerksamkeit verlangte. Die Anzahl von Dingen mit dem Vermerk dringend trieb sie dazu, dem Aufzug den stummen Befehl zu übermitteln, sich schneller zu bewegen. Sie würde sich glücklich schätzen können, wenn sie um zwei Uhr morgens hier rauskam.

Eine Textnachricht von Darren blitzte auf.

Falls Sie Ihre Meinung in Bezug auf Mrs Franklin ändern sollten …

Sie würde ihre Meinung nicht ändern. Sie ignorierte die Nachricht ihres Praktikanten – ihres ehemaligen Praktikanten – und steckte das Telefon wieder weg.

Als der Aufzug bremste, holte sie tief Luft und erwartete, einen Wirbel des organisierten Chaos zu sehen, als die Türen sich öffneten. Tragen, blinkende Krankenwagenlichter und heulende Sirenen, Sanitäter und Krankenschwestern … stattdessen rannte sie praktisch ihren Vater über den Haufen.

Kein Notfall, einfach dieser Mann mit seinen einsachtundachtzig Körpergröße und seinem wie gewohnt neutralen Gesichtsausdruck. Es war unmöglich, ihren Vater zu durchschauen, da seine Miene nichts verriet. Seine Gefühle waren niemals zu stark oder zu schwach, sondern aufreizend gut ausbalanciert, ganz gleich unter welchen Umständen. Seine Gelassenheit und sein rationales Denken machten ihn zu einem fantastischen Vertreter seines Berufsstandes, aber manchmal war er als Vater einfach beschissen.

»Hey. Ich wollte dich gerade suchen gehen.« Irgendwann.

»Begleite mich ein Stück«, bat er, nickte und drehte sich auf dem Absatz um. Sie biss die Zähne so fest aufeinander, dass ihr Kiefer schmerzte. Das sah ihm so ähnlich – vorauszusetzen, dass sie auf seinen Befehl hin alles stehen und liegen lassen würde. Er mochte die chirurgische Abteilung des Krankenhauses leiten, aber er hatte oft keine Ahnung, wie hektisch ihr Terminplan war. »Können wir reden, während ich meine Visite absolviere? Darren ist …«

»Mehr als fähig«, unterbrach er sie und ging voran in Richtung seines Eckbüros im Erdgeschoss. »Und wie ich sehe, bittet er darum, einem anderen Arzt zugewiesen zu werden.«

Bei seinem Ton bekam sie schweißnasse Hände. Er sollte glücklich darüber sein, dass sie diese Praktikanten an ihre Grenzen trieb. Was sie nach ihrem Abschluss erwartete, war nichts für Hasenfüße. Besser, sie gewöhnten sich gleich jetzt an harte Tage und Nächte, in denen sie mit wenig oder ohne Schlaf auskommen mussten, von Koffein lebten und von Schokoriegeln, die an Halloween übrig geblieben waren, statt erst zu begreifen, dass sie dem nicht gewachsen waren, wenn bereits Menschenleben in ihren Händen lagen.

Bedauerlicherweise stimmte er ihren Ansichten nicht immer zu. Er wollte, dass die Praktikanten sich im Alaska General wohlfühlten, damit sie sich hier bewarben, sobald sie ihren Abschluss in der Tasche hatten. Das Krankenhaus war unterbesetzt, und von zusätzlichen Ärzten würden alle profitieren, aber Erika zog es vor, nur an der Seite der Besten zu arbeiten.

Ihr Vater betrieb eine Politik der offenen Tür – buchstäblich –, als er daher die Bürotür hinter sich schloss, wusste sie, dass der Chefarzt der Allgemeinen Chirurgie sie nicht hergerufen hatte, um über Dinnerpläne für Thanksgiving zu sprechen.

Sie betrachtete seinen Wandkalender, als sie Platz nahm. Zumal Thanksgiving vor einer Woche gewesen war.

»Dad, diese Sache mit den Assistenten ist einfach lächerlich …«

Er hob eine Hand. »Hier geht es nicht um deine Unfähigkeit, andere effektiv zu managen.«

Tritt in die Eingeweide ausgeführt und empfangen. Sie presste die Lippen zusammen.

Er öffnete seine Schreibtischschublade, reichte ihr einen Brief und setzte sich auf den weich gepolsterten Lederstuhl hinter seinem übergroßen Mahagoni-Schreibtisch.

Ihre Augen weiteten sich, als sie am oberen Rand der Seite das Logo der Krankenhausstiftung sah. »Ist das hier die endgültige Genehmigung der klinischen Studie durch den Vorstand?« Sie hatten vor sechs Monaten den Antrag gestellt, mit der Erprobung eines neuen Medikaments zu beginnen, das die Abstoßung körperfremden Gewebes unterdrücken sollte, und das nach jahrelanger Forschung, und jetzt warteten sie auf offizielles grünes Licht, um mit einer Testgruppe zu beginnen.

Würde Darren es sich noch einmal überlegen und bei ihr bleiben, wenn er erfuhr, dass er Teil eines medizinischen Durchbruchs sein konnte? Er war ihr in dem vergangenen Monat eine große Hilfe gewesen.

»Lies es einfach«, verlangte ihr Vater.

Sie überflog den Brief des Vorstands, und mit jedem Wort schwand ihre freudige Erregung, während ihre schlimmsten Befürchtungen geweckt wurden. »Empfohlener Urlaub? Was soll das?«

»Mir gefällt es auch nicht, aber der Vorstand überprüft seine Richtlinien und sorgt dafür, dass wir sie befolgen«, antwortete er. Die Schärfe in seiner Stimme legte die Vermutung nahe, dass er bei dieser Entscheidung überstimmt worden war. Er hielt definitiv nichts von Freizeit und hatte sie nie dazu ermutigt, sich eine solche zu gönnen. Ihr Leben war ihre Karriere, genau wie in seinem Fall.

»Aber die Freigabe der Studie müsste dieser Tage erfolgen, wir werden jetzt mit den klinischen Erprobungen des neuen Medikaments anfangen.« Ihr Vater und sein Team hatten fast drei Jahre geforscht, bis das Immunsuppressivum für eine Erprobung an organtransplantierten Patienten einsetzbar war, und sie hatten also endlich die Erlaubnis bekommen. Sie hatten ein Jahr lang rund um die Uhr gearbeitet, um das zu ermöglichen. Testpersonen, die eine Bewertung erlaubten, waren inzwischen bereit für die Erprobung.

Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für eine Pause.

Ihr Vater sah aus, als hätte er dem Krankenhausvorstand gegenüber das gleiche Argument vorgebracht. »Das Team wird damit fertig werden müssen.«

Also bedeutete empfohlen tatsächlich erzwungen. »Warum jetzt? Es geht mir gut. Ich brauche keine Auszeit.« Mit ihren neunundzwanzig Jahren brannte sie darauf, sich als eine der besten Chirurginnen im Staat zu erweisen. Angesichts ihres chirurgischen Erfolgsrekordes und der Forschungszeit, die sie in dieses neue Medikament investiert hatte, war sie ihrem Ziel sehr nah. Die Hilfe, die sie ihrem Vater leistete, dem Gewinn der Lister-Medaille einen Schritt näher zu kommen, stand ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. »Ich bitte dich, Dad, du weißt, dass ich zurechtkomme. Meine beiden letzten Operationen waren Eingriffe mit null Erfolgsaussichten …«

»Eingriffe mit minimalen Erfolgsaussichten.«

Erika presste die Lippen abermals zusammen und schluckte ihren Widerspruch hinunter. Es würde nichts nutzen. Drei Jahre Arbeit an der Seite ihres Vaters, und sie musste sich immer noch beweisen. Trotz zweier Operationen mit minimalen Erfolgsaussichten, die ihr geglückt waren, zweifelte er noch immer an ihren Fähigkeiten. Dass er ihr Forschungsteam mit Argusaugen beobachtete, hatte Erika in den Wahnsinn getrieben, aber schließlich hatte er widerstrebend zugestimmt, ihr zu erlauben, ihre eigenen klinischen Versuche mit dem Immunsuppressivum durchzuführen, und sie hatte törichterweise geglaubt, dass sie Fortschritte bei ihm machte.

Jetzt wurde sie dazu gezwungen, eine Pause einzulegen.

Was zum Teufel war eine Pause? Sie hatte keine mehr gemacht, seit sie mit der Uni begonnen hatte. Ihren Bachelor hatte sie ein Jahr früher als üblich erlangt, indem sie die doppelte Kurszahl belegt hatte. Danach hatte sie sich direkt an der medizinischen Fakultät beworben. Sie hatte ein Praktikum im Alaska General absolviert und sich kurz nach ihrem Abschluss eine Position dort gesichert. Sie konnte sich nicht an den letzten Tag erinnern, an dem sie freigehabt hatte, geschweige denn … sie warf einen Blick auf den Brief. Zwei Wochen?

Was zur Hölle sollte sie mit so viel Freizeit anfangen? Ihre Brust schnürte sich zusammen, und sie bekam kaum Luft. »Okay, vielleicht könnte ich ein paar Tage freinehmen, aber zwei Wochen sind verrückt.«

»Darren hat mir von der Einbahnstraße erzählt«, sagte ihr Vater.

Das letzte Mal, dass sie ihn nach Hause gefahren hatte … »Es war ein Versehen. Nichts weiter.« In eine befahrene Einbahnstraße einzubiegen – in die falsche Richtung … während der Hauptverkehrszeit … nach einer Achtzehn-Stunden-Schicht – hatte ihr und Darren einen Mordsschrecken eingejagt, aber sie hatte nicht die Absicht, das ihrem Vater gegenüber zuzugeben.

Hatte der Todesschreck etwas mit Darrens Bitte um einen neuen Arzt zu tun? Fand er tatsächlich, dass sie einen Burn-out entwickelte?

Dem war nicht so. In Wahrheit war sie an jenem Tag auf der Heimfahrt mit ihren Gedanken anderswo gewesen. Der 20. November. Der Jahrestag des Todes ihrer Mutter. Dieser Tag lastete jedes Jahr schwer auf ihr. Aber es würde mehr schaden als nutzen, wenn sie das ihrem Vater gegenüber erwähnte.

»Es ist ein Zeichen dafür, dass du zu hart arbeitest«, stellte er fest.

Wieder ein Unterton des Ärgers in seiner Stimme. Ihr Vater nahm Schwächen nicht wahr. Er glaubte daran, sich durchzukämpfen und hart zu arbeiten, um Erschöpfung und Stress zu überwinden. Sie hatte in seinen Augen versagt, und sie konnte nicht ehrlich zu ihm sein. Sie redeten niemals über ihre Mutter.

»Also kann ich nicht dagegen vorgehen?«, fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen, während sie sich darum bemühte, ihre Stimme ruhig zu halten. Das hier war nicht fair. Es war unnötig, doch ein Wutanfall würde nicht helfen.

»Die Entscheidung ist endgültig.« Er fuhr sich mit der Hand durch sein graumeliertes Haar, setzte sich seine Brille auf und griff nach einer Akte auf seinem Schreibtisch.

Sie war entlassen. »Wann tritt diese Verfügung in Kraft?«

»Unverzüglich. Dr. Hipstein ist damit beauftragt, deine Visite zu vollenden.«

Dr. Hipstein. Ein Veteran im Halbruhestand. Angestellte und Patienten liebten seine witzige, aufmunternde Art. Erika erhob sich und antwortete: »Okay, hm, dann seh ich dich in zwei Wochen.«

Er nickte, ohne aufzuschauen, als sie das Büro verließ und den Flur entlangging. Sie fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock und lehnte sich an die kühle Metallwand, während sie beobachtete, wie die Ziffern aufleuchteten. In ihrem eigenen Büro schloss sie die Tür hinter sich, schleuderte ihre Schuhe von den Füßen und legte sich auf die unbequeme Pritsche, die sie hereingerollt hatte, um während des Bereitschaftsdienstes ein wenig Schlaf finden zu können. Sie starrte auf den dunklen Fleck auf einer Kachel der abgehängten Decke über ihr und zwang sich, mehrmals tief durchzuatmen.

Zwei Wochen.

Es hätten genauso gut zwei Jahre sein können. Was zum Teufel sollte sie mit sich anfangen? Sie hatte keine Hobbys. Sie hatte keinen festen Freund. Sie hatte überhaupt keine Freunde, abgesehen von Kollegen, die eher Bekannte waren. Sie hatte kein Haustier. Verdammt, selbst ihre Zimmerpflanzen waren aus Plastik.

Als sie spürte, wie ihre Brust sich zusammenzog und eine Angstattacke drohte, zwang sie sich, tiefer zu atmen, was ihr aber kaum gelang. Urlaub. Sie hatte noch nie Urlaub gemacht. Niemals. Nicht einmal als Kind. Großgezogen von ihrem Vater, dem Workaholic, war sie niemals zu mehr gekommen als zu einem Campingausflug mit Cassie und ihrer Familie jeden Sommer …

Cassie.

Sie hatte ihre beste Freundin aus Kindertagen seit Jahren nicht mehr gesehen. In ihrer Jugend waren sie unzertrennlich gewesen, aber ihr Leben und ihre Karrieren waren der Freundschaft im Laufe der Zeit in die Quere gekommen. Ihre freigeistige Freundin war Reiseleiterin für Abenteuertouren und lebte immer noch in Wild River, ihrer beider Heimatstadt, während Erika im Krankenhaus in der City schuftete. Spaß und Freizeitaktivitäten hatten niemals einen Weg auf ihre Prioritätenliste gefunden. Der Erfolgsdurst verdrängte jeden Wunsch nach Entspannung. Irgendwann, wenn sie ihr Karriereziel erreicht hatte, würde sie ein wenig kürzertreten … das Leben genießen, aber fürs Erste war sie ausschließlich auf ihre Laufbahn konzentriert.

In dieser Sekunde hätte sie nicht einmal gewusst, wie sie hätte Spaß haben sollen, selbst wenn sie einen klaren Wegweiser zu diesem Ziel vor der Nase gehabt hätte.

Sie setzte sich aufrecht hin und schaute auf den Kalender an der Wand. Es war der 30. November, und das Wetter in diesem Herbst sorgte für hervorragende Skibedingungen auf den Hängen. Allerdings war es nicht so geeignet, um in den Bergen mit einem Auto herumzufahren. Sie würde es niemals zugeben, aber die gefährliche Situation in der Einbahnstraße hatte sie ein wenig nervös gemacht, was Autofahren betraf.

Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie konnte auch den Zug nehmen.

Schließlich ging sie zu ihrem Computer und rief die Abfahrtzeiten der Züge nach Wild River für den nächsten Tag auf. Es war eine Fahrt von weniger als zwei Stunden. Die Berge waren nicht allzu weit von der Stadt entfernt.

Doch die Suche nach einem Quartier für eine so lange Zeit erwies sich als eine Herausforderung. Die Skisaison war bereits weit im Voraus ausgebucht, und da in dieser Woche die Feiertagsaktivitäten in der Kleinstadt begannen, konnte kein Hotel und keine Frühstückspension ihr eine Unterkunft für zwei Wochen anbieten.

Das hätte ich als Erstes überprüfen sollen.

Sie öffnete Facebook und ging direkt auf Cassies Seite.

Wann hatten sie das letzte Mal miteinander gesprochen? Tatsächlich miteinander gesprochen, keine schnellen Facebook- oder WhatsApp-Nachrichten mit dem Wortlaut Frohe Weihnachten oder Alles Gute zum Geburtstag? Wann hatten sie das letzte Mal ein richtiges Gespräch geführt?

Während sie die jüngsten Fotos ihrer Freundin von winterlichen Camping- und Wanderausflügen in den Bergen durchblätterte, Gruppenaufnahmen von glücklich aussehenden Adrenalin-Junkies beim Heliskiing … versiegte ihre ohnehin schon zerbrechliche Zuversicht, was diese Idee betraf. Hatten sie überhaupt noch irgendetwas gemeinsam? Als Teenager waren es ihre Unterschiede gewesen, die sie miteinander verbunden hatten. Sie war fleißig und fokussiert gewesen – genau das, was Cassie gebraucht hatte, um das Unterrichtspensum in der Highschool zu bewältigen. Jemanden, der dafür sorgte, dass sie in die Schule ging und ihre Hausaufgaben erledigte. Erika hatte ihrer Freundin Nachhilfe in Mathe und Physik gegeben und dafür gesorgt, dass ihre Zensuren gut genug waren, um ohne Verzug ihren Abschluss zu machen. Und als Gegenleistung hatte ihre lebenslustige Freundin Erika beigebracht, wie man sich ab und zu entspannte und Spaß hatte. Cassie hatte sie gezwungen, Pausen einzulegen, selbst wenn das bedeutete, dass sie ihr für einige Stunden ihre Lehrbücher hatte stehlen müssen, und ohne sie hätte Erika überhaupt kein Privatleben gehabt.

Ihr Blick fiel auf ihr entblößtes Handgelenk an der Manschette ihres weißen Kittels. Die schwachen Linien eines Tattoos schimmerten durch ihren Tattoo-Concealer hindurch. Das Wort Freundin war nur leserlich, weil sie wusste, was dastand.

Das Beste- und das Freundin-Tattoo waren ihrer beider Geschenk füreinander gewesen, als Erika fortgegangen war, um in Anchorage die Universität zu besuchen. Sie hatten einander versprochen, nicht zuzulassen, dass das Leben ihrer Freundschaft in die Quere kam. Erika trug ihr Tattoo mittlerweile fast immer verdeckt. Sie sollte es wirklich entfernen lassen – wirkte so etwas nicht unprofessionell bei einer Ärztin? –, aber wann immer sie einen Termin machte, sagte sie ihn später wieder ab.

Sie öffnete den Messenger und zögerte. Sollte sie wirklich zwei Wochen in Wild River verbringen? Würde ihre Freundin sich freuen, von ihr zu hören?

Sie stieß den Atem aus und begann zu tippen. Es gab nur eine Methode, um das herauszufinden.

2

Nach einer siebenunddreißigstündigen Suche verkrampfte Reeds Magen sich von Minute zu Minute mehr. Der Anruf der Staatspolizei, dass eine Zehnjährige am Rand des Wild Canyon Peak vermisst wurde – sie war auf einem Campingausflug mit ihren Eltern mit Schneeschuhen unterwegs gewesen –, hatte über fünfzig freiwillige Rettungskräfte sofort auf die Beine gebracht. Der November in diesen Bergen war kalt und unberechenbar, und sie hatten Mitte des Monats bereits eine kleine Lawine gehabt.

Reed zog seinen Schal hoch und justierte seine Stirnlampe neu. Um halb sieben war es bereits stockdunkel draußen, was die Suche erschwerte und seine Zuversicht dahinschwinden ließ. Der bitterkalte Wind, der seit Einbruch der Nacht aufgefrischt hatte, drang durch seine Thermojacke, und die anderen Mitglieder der Crew in seiner Nähe – die die Wege abschritten, auf denen das junge Mädchen zuletzt gesehen worden war – sahen so müde und ängstlich aus, wie er sich fühlte. Sie erreichten einen kritischen Punkt, und sein einziger Trost war das Wissen, dass das Mädchen die richtige Kleidung für das Wetter trug. Ihre Eltern gaben an, sie hätte einen Schneeanzug an, außerdem Handschuhe, Mütze und Schal.

Schnee knirschte unter seinen Stiefeln, als er sich dem Rand einer Schlucht näherte und in die Weite spähte, in der Hoffnung, das Mädchen zu sehen. Schneeverwehungen verschlechterten die Sicht in dieser Gegend. Sein Mund fühlte sich an wie Schmirgelpapier, aber er legte keine Pause ein, um etwas zu trinken. Noch nicht. Nur in festgelegten fünfminütigen Ruhephasen. Er schaute auf seine Armbanduhr. Noch neun Minuten, bis sie eine Pflichtpause machten. Dann sah er sich in der Umgebung um, trat langsam einige Schritte vor … seine zehn Jahre Erfahrung beim Search and Rescue Team von Wild River schärften seine Sinne und fokussierten sie, trotz des Schlafmangels und dem unbarmherzigen und unberechenbaren Wetter in dieser Höhe.

Als er sich dem Abgrund näherte, sah er einen orangefarbenen Schal, der sich rechter Hand an einem Zweig verheddert hatte. Beinahe hätte er vor Erleichterung geseufzt, dass sie sich in dem Bereich befanden, in dem das Kind vielleicht war. Aber die Nähe des Schals zum Rand der Schlucht ließ seinen Puls rasen. Die hohe Kante und die steil abfallende Wand waren trügerisch … die glatten Felsen ein gewaltiges Risiko.

»Orangefarbener Schal gesichtet«, sagte er in sein Funkgerät. »Nähere mich vorsichtig dem Rand des Wild Canyon Peak und hoffe, mehr sehen zu können.« Nachdem er einen Karabiner in seinen Gürtel gehakt und das Seil an dem Baum befestigt hatte, ging er auf den Abgrund zu.

Es war dunkel, und das Licht, das der Schnee reflektierte, hinderte ihn daran, in der Tiefe etwas zu erkennen, daher schaltete er die Taschenlampe aus und ließ den Blick über den felsigen Vorsprung gleiten. »Rebecca!«, rief er, und seine Stimme hallte vom Berg wider.

Von rechts näherten sich mehrere andere Retter. Er bedeutete ihnen zurückzubleiben, als ein Schneeblock unter seinem rechten Fuß nachgab und ihn stolpern ließ. Wegen des unsicheren, trügerischen Bodens hatte das Kind vielleicht nicht bemerkt, wie nah es dem Abgrund gewesen war.

»Rebecca!«, rief er abermals und trat näher an den Rand heran. Mit schimmerndem Reif bedeckte Felsen waren wie Glas unter seinen Stiefeln. Er spähte über den Rand, und ihn schauderte, als er den mehr als dreihundert Meter tiefen Abgrund betrachtete. Niemand konnte einen Sturz dort hinunter überleben.

»Hallo.«

Das Geräusch war kaum hörbar in dem heulenden Wind, aber es durchströmte ihn heiß, als er sich einer Stelle etwa sechs oder sieben Meter unter ihm auf der rechten Seite zuwandte. Er schaltete die Taschenlampe wieder ein und leuchtete die Umgebung aus. Da war sie. Sie kauerte auf einem kaum zwanzig Zentimeter breiten Vorsprung, den Kopf an den Berg gelehnt, die Augen fest geschlossen. Der Wind umpeitschte sie mit solcher Wucht, dass Reed befürchtete, er könnte sie jede Sekunde von dem Vorsprung herunterwehen.

Die Uhr tickte. Sie mussten sich beeilen.

»Hey, Rebecca. Ich werde zu dir kommen und dir helfen. Bleib einfach genau dort, wo du bist. Du machst das ganz großartig.« Er konnte unmöglich wissen, ob das stimmte oder nicht, er konnte ihr Wohlergehen aus dieser Entfernung nicht abschätzen, aber er musste sie beruhigen. Es war ein essenzieller Teil der Rettungseinsätze, Erleichterung und ein Gefühl von Sicherheit zu übermitteln. Wenn eine gefährdete Person glaubte, jetzt in Sicherheit zu sein, wirkte sie besser an ihrer eigenen Rettung mit.

»Ich habe Rebecca gefunden. An der Wand des Wild Canyon Peak. Sie ist ansprechbar«, sagte er ins Funkgerät, während sich zwei Mitglieder der Crew näherten, nachdem sie sich selbst mit ihren Seilen gesichert hatten.

»Wie gehen wir vor?«, fragte Wade Baxter, einer der Anführer des Rettungsteams.

In diesem Monat war Reed der oberste Anführer des Teams, daher gab er den Ton an. »Ich werde mich zu ihr abseilen, sie auf Verletzungen untersuchen und mir ansehen, wie wir sie hochholen können. Haltet eine Trage bereit für den Fall, dass wir eine brauchen.«

Der Mann nickte und winkte zwei andere Mitglieder der Rettungsmannschaft heran, die die Trage hinter sich durch den Schnee zogen.

»Frank, kannst du mich sichern?«

»Ja.« Der ältere Mann, der seit über fünfundzwanzig Jahren Mitglied des Teams war, war die beste Person, die Reed in diesem Moment an seiner Seite haben konnte. Seit er im Ruhestand war, nahm er nur noch selten an Rettungseinsätzen teil, aber wenn es um ein Kind ging, allein und verirrt, mussten alle Helfer mit von der Partie sein.

Reed begann mit dem Abstieg. »Rebecca, ich komme zu dir. Bleib, wo du bist. Entspann dich einfach und beweg dich nicht.«

Ihr Nicken war kaum wahrnehmbar.

Er sah, dass sie mehrere Zweige umklammerte, die aus dem Berg ragten. Sie hatte ihren rechten Handschuh und ihren Schal verloren, aber davon abgesehen war ihre Haut bedeckt und geschützt vor den Elementen. Gott sei Dank. In dieser Kälte bekam man binnen Minuten Frostbeulen.

Seine eigenen Wangen – das einzige Stück Haut, das nicht verhüllt war – brannten im Wind. Sie mussten damit rechnen, dass ihre rechte Hand ärztlich versorgt werden musste. Seine Stiefel rutschten auf den Steinen, und mehrere davon gaben unter ihnen nach und polterten bis zur Sohle der Schlucht hinunter.

Er seilte sich immer weiter ab, bis er den Vorsprung erreichte. Da er nicht darauf vertraute, dass dieser ihrer beider Gewicht tragen würde, blieb er daneben hängen. »Hey. Ich heiße Reed. Kannst du bitte die Augen öffnen?« Sie sollte wissen, dass sie in Sicherheit war, dass sie ihm vertrauen konnte … aber er würde ihre Mithilfe benötigen, um sie beide so schnell wie möglich von hier wegzubringen.

»Nein.«

Er sah mehr die Bewegung ihrer Lippen, als dass er das Wort hörte.

»Höhenangst?«

Sie nickte.

»Okay. Nun, ich bin direkt vor dir. Also, mach einfach die Augen auf und schau genau geradeaus. Du wirst mein blödes Grinsen sehen«, sagte er.

Langsam öffneten sich ihre Augen, und das Entsetzen darin schnürte ihm die Brust zusammen. Er ignorierte die Was-wäre-wenn-Szenarien, die ihm durch den Kopf gingen, und rief sich zur Vernunft.

Das Kind retten, alle sicher nach Hause bringen. Einfach. Und doch keine leichte Aufgabe. Erwarte das Unerwartete.

»Das machst du großartig«, sagte er ihr. »Bist du verletzt?«

»Meine Hand hat wehgetan, aber jetzt nicht mehr …«

Erfrierungen. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät.

»Und mein Bein.«

Er schaute auf ihre Beine, wo ihre Schneeschuhe noch immer von ihren Füßen baumelten. Das rechte Bein war in einem geradezu grotesken Winkel verbogen. Benommen und im Moment unter Schock stehend konnte sie die Schwere der Verletzung nicht spüren, was gut war. Er verabscheute die Vorstellung, dass sie so lange allein hier draußen gewesen war, voller Angst und unter Schmerzen. Mit ruhiger Stimme sprach er in sein Funkgerät. »Wir werden die Trage benötigen. Lasst sie links herunter.«

»Ist mein Bein gebrochen?«, fragte sie und riskierte einen Blick darauf.

»Ja.« Er würde nicht lügen. Sie musste vorbereitet sein auf das, was als Nächstes kam. »Aber wir werden es im Handumdrehen wieder in Ordnung bringen. Am Ausgangspunkt des Wanderwegs steht ein Krankenwagen bereit. Nur noch ein paar Minuten … und deine Eltern sind dort …«

»Nein!« Sie zuckte zurück und klammerte sich an die Zweige. Neue Furcht zeichnete sich in ihren Zügen ab.

»He, immer mit der Ruhe. Halt still.« Er hatte das schon früher erlebt. Kinder, die sich verirrt hatten, machten sich überraschend große Sorgen, dass ihre Eltern zornig sein würden. Er wusste, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt war, er musste nur mit ihr darüber sprechen. Das junge Paar drehte vollkommen durch – vor Sorge um ihre Tochter. Erleichterung würde ihr einziges Gefühl sein, wenn sie sicher zu ihnen zurückgebracht wurde. »Deine Mom und dein Dad sind nicht sauer. Sie machen sich Sorgen und haben dich lieb. Sie können es gar nicht erwarten, dich in die Arme zu nehmen.« Die Wiedersehen nach Rettungseinsätzen waren das einzige beständige Element dieses Jobs.

Dem kleinen Mädchen rannen Tränen über die Wangen. »Ich sollte bei der Gruppe bleiben«, flüsterte sie.

»Es kommt vor, dass man sich verirrt. Es ist nicht deine Schuld.« Er schaute nach oben und sah, dass die Trage sich näherte. Links davon seilte Wade sich am Berg ab. Ungefähr zwei Minuten entfernt. Adrenalin schoss durch seine Adern, als er sich im Geiste auf das vorbereitete, was als Nächstes kam – sie von dem Felsvorsprung herunter und auf die Trage zu befördern, um sie dann zu dem bereitstehenden Krankenwagen zu bringen, der auf sie wartete.

»Ich habe wirklich Angst«, murmelte sie und schaute zu der Trage hinauf.

»Darf ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragte er sie.

Sie nickte.

»Als ich ungefähr in deinem Alter war …« Er war fast fünfzehn gewesen, aber er wollte, dass sie sich mit ihm identifizierte. »Meine Mom ist mit meiner Schwester, unseren besten Freunden und mir nur eine Meile von hier entfernt campen gewesen. Ich habe beschlossen, kurz vor Einbruch der Dunkelheit eine Wanderung durch den Wald zu machen, und mich dann verirrt.« In Wirklichkeit war er nicht allein gewesen, aber so funktionierte die Geschichte besser.

Rebeccas Augen weiteten sich.

Er schaute hinauf. Die Trage war ungefähr anderthalb Meter entfernt. »Ich dachte, ich würde den Weg zurück zum Lager kennen, aber als ich mich in Bewegung setzte, habe ich mich nur immer mehr verirrt.« Die Wahrheit war, dass er den Weg sehr wohl gekannt hatte. Wenn er nicht mit der nervigen, besserwisserischen besten Freundin seiner Schwester unterwegs gewesen wäre – die darauf beharrte, dass der Weg zurück zum Lager in die entgegengesetzte Richtung führte – und wenn er nicht Gentleman genug gewesen wäre, nicht zuzulassen, dass sie allein loszog und sich verirrte, wäre er nicht mit ihr über Nacht im Wald gestrandet, während sie darauf warteten, dass der Suchtrupp sie fand.

Erika Sheraton. Er hatte im Lauf der Jahre ungezählte Variationen dieser Geschichte erzählt, aber der tiefe Ärger auf sie, den er empfand, war immer derselbe.

»Die Nacht brach herein, und ich wusste immer noch nicht weiter, daher dachte ich wirklich gründlich über das nach, was ich aus einem Überlebenstraining wusste, an dem ich teilgenommen hatte …« Er konnte das hier genauso gut zu einer Weiterbildungsmaßnahme machen. »Ich habe mich daran erinnert, dass es das Beste sein würde, einen Baum auf einer offenen Lichtung zu suchen und neben ihm zu bleiben. Und ihn zu umarmen, wenn ich nervös wurde …« Eine Erinnerung an Erika, die in jener Nacht vor fünfzehn Jahren angstvoll in seinen Armen gezittert hatte, blitzte in seinen Gedanken auf, und er verlor den Faden und wusste nicht mehr, was er gesagt hatte. Sie war nervig gewesen, bis zu dem Augenblick, als sich die Dunkelheit herabgesenkt hatte, als sie müde und hungrig gewesen waren und er herausgefunden hatte, dass sie sich vor der Dunkelheit fürchtete. In diesem Moment hatte er einen Blick auf ein ganz anderes Mädchen erhascht …

Natürlich war ihre verletzliche Seite wieder verschwunden, sobald sie gerettet waren.

»Wie lange waren Sie dort?«, fragte Rebecca zitternd und mit bebender Stimme. Sie stand offenbar unter Schock.

»Nur eine einzige Nacht, aber es war Furcht einflößend, und ich war sehr erleichtert, als die Retter uns fanden … mich fanden«, korrigierte er sich. »Und jetzt helfe ich anderen Kindern, die Hilfe brauchen.«

»Ich bin froh, dass Sie mich gefunden haben«, sagte sie in dem Moment, als die Trage sie erreichte. »Was ist das?« Die Angst kehrte in ihre Stimme zurück.

»Es ist eine Art Liege. Sie wird mir helfen, dich sicher den Berg hinaufzubringen, ohne deinem Bein wehzutun.« Ohne ihm allzu viel wehzutun.

»Wie wollen Sie es angehen?«, fragte Wade, der neben ihm baumelte.

»Ich werde mich näher heranbewegen und sie mit einem Seil sichern für den Fall, dass dieser Vorsprung beschließt, nicht zu halten«, sagte er so leise und gelassen wie möglich. »Dann musst du die Trage näher heranschieben. Das rechte Bein ist gebrochen, und ich kann im Moment nicht herausbekommen, ob sie irgendwelche weiteren Verletzungen hat.«

Wade nickte. »Verstanden.«

Reed drehte sich zu Rebecca um. »Okay. Mein Freund Wade und ich werden dich in Sicherheit bringen, und du musst genauso tapfer sein, wie du es allein hier draußen gewesen bist, okay?«

Sie nickte. »Und Sie sind sich sicher, dass meine Eltern nicht sauer sind?«

Er lächelte. »Schätzchen, glaub mir … wenn du in diesem Jahr irgendetwas Verrücktes auf deiner Weihnachtswunschliste stehen hast, wird ungefähr jetzt in einer Stunde der beste Zeitpunkt sein, um darum zu bitten.« Er zwinkerte ihr zu, und ihre blauen Lippen verzogen sich zu einem winzigen Lächeln.

Es wurde Zeit, sie nach Hause zu bringen.

3

Erika war seit sechs Minuten in Wild River und bereute jetzt schon diesen impulsiven Schritt. Was der Grund dafür war, warum sie sonst nie etwas Impulsives tat. Während sie auf dem Bahnsteig wartete, fühlte sie sich absolut deplatziert. Ihre Lederstiefel mit den dünnen, sieben Zentimeter hohen Absätzen und ihr schicker Wintermantel aus Kaschmir nahmen sich lächerlich aus zwischen den Skianzügen und Winterstiefeln der anderen Reisenden. Sie besaß nichts mehr in dieser Art. Sie verließ Anchorage nur selten.

Ihr großer Koffer enthielt fast nur schicke Kleidungsstücke, aber ihr war so, als ob sie zumindest eine Jeans eingepackt hatte. Sie hoffte es jedenfalls.

Sie holte bewusst tief Atem und betrachtete ihre Umgebung. Sie war nicht mehr in Wild River gewesen, seit sie fortgegangen war, um die Universität zu besuchen. Die Stadt, die sich zwischen die Chugach und Talkeetna Mountains schmiegte, war klein und hatte nur zweitausend Einwohner. Außerdem war sie atemberaubend schön mitten zwischen schneebedeckten Gipfeln und der unberührten Wildnis, aber sie war auch Erikas Vergangenheit, und ihr war jetzt schon ein wenig klaustrophobisch zumute.

Als Erika ihre beste Freundin hinter dem Lenkrad eines riesigen SUVs mit dem Logo der Snow Trek Tours auf der Tür entdeckte, winkte Cassie ihr zaghaft zu, was Erika nicht gerade in ihrer Entscheidung bestätigte, hierhergekommen zu sein. Als der Wagen vor ihr bremste, öffnete Erika die Heckklappe, stellte ihren Koffer hinein und stieg dann auf der Beifahrerseite ein. »Hey …«

»He!« Cassie beugte sich zu einer Umarmung vor, genau im gleichen Moment, in dem Erika eine Hand ausstreckte. Ihre Finger piksten ihrer Freundin die Brust, und Cassie wich zurück. »Oh … okay … wir geben uns die Hand.«

Erika ließ die Hand im gleichen Moment sinken, in dem Cassie danach griff. »Wir brauchen nicht … tut mir leid, das war blöd.«

Cassie nickte und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. »Wollen wir einfach losfahren?«

»Ja«, murmelte Erika.

Als Cassie ihren Wagen vom Bahnhof weglenkte, schaute Erika sehnsüchtig auf die Parkbucht der Abreisezone im Seitenspiegel.

Sie hatte sich seit der Buchung der Reise ein Dutzend Mal selbst ausgeredet, das Ganze abzublasen, und die Kontaktaufnahme mit Cassie am Abend zuvor hatte mehrere Gläser Wein erfordert. Ihre Freundin hatte ziemlich überrascht gewirkt, als sie auf Erikas Facebook-Nachricht geantwortet hatte, aber sie hatte sie eingeladen zu bleiben, so lange sie wollte. Erika hatte nicht erwähnt, dass diese spontane Ferienreise nicht ihre Idee gewesen war. Ganz ehrlich, sie hätte bereits in einem Zug zurück nach Hause gesessen, wenn der nächste Zug nach Anchorage nicht erst in einigen Tagen gefahren wäre.

Und nun breitete sich auch noch dieses peinliche Schweigen aus. Offensichtlich waren die zehn Jahre zwischen ihnen ungefähr zehn Jahre zu viel gewesen.

Erika begann unter ihrem Mantel zu schwitzen und hatte plötzlich das Gefühl, als hätte sie sich von einer Fremden auflesen lassen.

Was lächerlich war. Sie waren beste Freundinnen gewesen. Sie hatten ihre tiefgründigsten Geheimnisse miteinander geteilt. Die Zeit konnte sie beide nicht so sehr verändert haben, oder?

Sie räusperte sich und wickelte sich den Schal vom Hals, als ein Schwall warmer Luft sie erreichte. »Also … lebst du gern hier?«

»Ja.« Cassie sah sie an. »Und du – bist du glücklich in der Stadt?«

»Meine Wohnung ist nur wenige Häuserblocks vom Krankenhaus entfernt, das ist also sehr praktisch.«

Cassie nickte.

Schweigen.

»Du bist Reiseleiterin für Abenteuertouren?«

»Mir gehört eine Bergabenteuer-Firma.«

»Sie gehört dir? Wow.«

Cassie warf ihr einen fragenden Blick zu.

Erikas Gesicht wurde heiß. »Nicht wow in dem Sinne, dass ich nicht gedacht hätte, du könntest es zu einer eigenen Firma bringen … sondern wow, weil ich beeindruckt bin … ein eigenes Geschäft zu führen ist wirklich hart und bedeutet eine Menge Arbeit …« Gott, sie machte es immer schlimmer. »Es ist einfach so, dass ich mich für dich freue.« Halt einfach die Klappe, Erika.

»Ich weiß, was du meinst … glaube ich jedenfalls«, entgegnete Cassie und schaute über ihre Schulter, als sie die Fahrspur wechselte.

Abgesehen von der Tatsache, dass das blonde Haar ihrer Freundin jetzt schulterlang war und ihr nicht mehr über den Rücken fiel, sah sie genauso aus wie bei ihrem Abschluss in der Highschool. Mit ihren knapp einssechzig hatte Cassie eine kompakte, athletische Figur gehabt … Erika hatte ihre Freundin immer um ihre kecken Brüste mit Körbchengröße B und ihren muskulösen Körper beneidet. Erika hatte Teenager-Bustiers übersprungen und war gleich in Doppel-D’s hineingewachsen, sobald sie in die Pubertät gekommen war, und ohne den Stress ihres Jobs und ihren Terminplan, der zu hektisch zum Essen war, würde sie hundert Kilo wiegen. Sie brauchte nur an einen altbackenen Donut im Schwesternzimmer zu denken, und sie nahm zu.

Und im Gegensatz zu den dunklen Ringen, die Erika verzweifelt mit Concealer zu verdecken versuchte, war Cassies Haut immer noch glatt und faltenfrei. Wenn die Leitung ihrer eigenen Firma stressig war, merkte man es der entspannten, unbeschwerten Haltung ihrer Freundin jedenfalls nicht an.

»Hast du um diese Jahreszeit viel zu tun in deiner Firma?«, fragte Erika.

Da die Feiertage nahten, würde es in den Bergen bald nur so wimmeln von Familien, die das Weihnachtsfest genossen. Wild River rühmte sich des besten ganzjährig geöffneten Skiresorts in Alaska. Bedauerlicherweise war das dazugehörige Fünf-Sterne-Hotel bis Neujahr vollkommen ausgebucht.

Cassie nickte. »Im Sommer und Herbst haben wir am meisten zu tun. Die Wintermonate sind in der Regel etwas ruhiger, weil die Familien hauptsächlich deshalb hier sind, um auf die Hänge zu gehen, aber wir haben trotzdem mit Schneemobilen und Schneeschuhtouren reichlich zu tun.« Ihr Gesichtsausdruck trübte sich ein wenig.

»Ist alles in Ordnung bei dir?« Es mochten Jahre vergangen sein, aber sie konnte noch immer in Cassies Gesicht lesen.

»Ja, es geht mir gut … jetzt wieder. Erst gestern Abend hatten wir einen Rettungseinsatz wegen eines kleinen Mädchens, das sich bei einer Schneeschuhtour verirrt hatte.«

Sofort wurde Erika zurückgerissen in die Zeit ihres eigenen Missgeschicks in den Bergen, als sie über Nacht im Wald festgesessen hatte … zusammen mit Cassies Bruder Reed. Selbst heute noch schauderte es sie bei der bloßen Erinnerung an den Zwischenfall, den sie gewöhnlich verdrängte. Jener Tag war einer der schlimmsten ihres Lebens gewesen.

»Es geht ihr gut. Sie haben sie gefunden«, sagte Cassie ein wenig schroff, als Erika schwieg.

»Ja … das ist großartig. Eine Erleichterung.« Erikas Stimme verlor sich. Dieses Wiedersehen verlief nicht gut. Wie sie hatte erwarten können, dass sie einfach dort weitermachen würden, wo sie aufgehört hatten, war ihr schleierhaft. Warum war sie mit dem Zug hergekommen? Sie hätte mit ihrem eigenen Wagen herfahren sollen, damit sie nicht hier festsaß, auf Gedeih und Verderb dem Bahnfahrplan ausgeliefert.

Wobei das genau der Grund war, warum sie es getan hatte.

Als sie Cassies Handgelenk-Tattoo bemerkte – das Wort Beste sichtbar unter dem Ärmel ihres Mantels –, beschloss sie, es noch einmal zu versuchen. Ihre Tattoos waren einst mehr als bloße Worte gewesen, und ihre gemeinsame Geschichte musste etwas bedeuten. »Also … deine Firma – wie viele Angestellte arbeiten für dich?«

»Ich habe ein Team von sechs Tourenführern während der Saison, wenn mehr los ist, und vier während des Winters.«

»Hast du ein Büro?«

»Ja, auf der Main Street.«

»Wie lautet der Name des Geschäftes?«

»Snow Trek Tours.«

»Stimmt, ja. Das Logo auf der Autotür …« Erika öffnete auf ihrem Handy die Suchmaschine und tippte den Namen ein.

»Glaubst du mir nicht?«, fragte Cassie und schaute auf das Handy, als die professionell aussehende Website der Firma erschien.

Erika schloss die Website und schüttelte den Kopf. »Entschuldige. Recherche ist eine Angewohnheit von mir, das ist alles.« Obwohl sie die Facebook-Seite ihrer Freundin vielleicht hätte ein wenig genauer recherchieren sollen. Oder sie hätte sich früher bei ihr melden sollen. Aber ihr Interesse war aufrichtig. »Was bietet die Firma sonst noch an? Abgesehen von Touren mit Schneeschuhen und Schneemobilen?« Snow Trek Tours konnte sich unmöglich allein mit diesen Aktivitäten halten, und Cassie hatte gesagt, dass im Sommer viel los sei.

»Winter-Camping ist um diese Jahreszeit ziemlich beliebt, bevor die Temperaturen unter null sinken … außerdem Firmenveranstaltungen – wir betreuen eine Menge Teambildungskurse für Führungskräfte.«

Erika nickte. »Ich kann mir vorstellen, dass du eine gute Haftpflichtversicherung brauchst.«

Ein Ruck durchlief sie, als Cassie den SUV abrupt vor einer Ampel abbremste. »Das fühlt sich langsam ein wenig wie eine Befragung an«, bemerkte sie.

»Entschuldige.« Unbeholfenheit im Zwischenmenschlichen war ein Ausdruck, der ihr spontan in den Sinn kam, wenn sie sich selbst beschrieb. Sie hatte immer Mühe gehabt, mit anderen Kindern zurechtzukommen, und nach ihrem jetzigen Fehlen eines Freundeskreises zu urteilen, hatte diese Neigung sich in ihrem Erwachsenenleben verstärkt. Trotz ihres beruflichen Erfolgs oder vielleicht gerade deswegen fiel es Erika schwer, Kontakt zu Menschen zu finden und ein Gespräch zu führen, das nicht mit der Arbeit zusammenhing.

Ein großer Teil ihrer Identität war mit ihrer Karriere verwoben, und außerhalb der vertrauten Umgebung eines Operationssaals wusste sie nicht recht, wer sie war.

Aber dies war Cassie – ihre beste Freundin … zumindest war sie es einmal gewesen. Erika konnte sich entspannen. Sie konnte sie selbst sein … zumindest so weit, wie es einer normalen Person am nächsten kam.

Aber Erika fiel nichts anderes zu sagen ein, und einen Moment später beugte Cassie sich vor und schaltete den Sender mit Feiertagsmusik lauter, der gerade Rockin’ Around the Christmas Tree spielte.

Sehr gut.

Erika schaute aus dem Fenster, während sie über die Main Street fuhren. Der spätnachmittägliche Himmel warf einen wunderschönen Schimmer über die Stadt, die bereits für die bevorstehenden Tage geschmückt war. Lichter und Girlanden schlangen sich um Laternenpfähle, und die Schaufensterauslagen der Läden wetteiferten miteinander darum, welche die kunstvollste war. Die Geschäfte veranstalteten jedes Jahr einen Wettbewerb, und die Leute konnten für ihre Favoriten stimmen. Als Erika ein Kind gewesen war, war ihre Mutter mit ihr in der Woche vor Weihnachten zum Einkaufen auf die Main Street gefahren, und sie waren immer übereinstimmend der Meinung gewesen, dass das Antiquariat – Wrinkled Pages – die beste Auslage hatte. Sie hatten bei dieser Gelegenheit heiße Schokolade getrunken und im Hobbyladen einen neuen Zugbausatz für ihren Vater gekauft – er hatte damals Modelleisenbahnzüge gesammelt –, und sie hatte sich jedes Jahr auf seine gespielte Überraschung gefreut, wenn er das Geschenk auspackte. Weihnachten mit ihrer Mutter war voller Leben gewesen, etwas, das es zu feiern galt, und der traditionelle Einkaufsausflug hatte sich in ihr Gedächtnis eingemeißelt.

Die Weihnachtszeit in Wild River war magisch, und die Blicke aus dem Fenster erinnerten sie daran, dass dies die Zeit der Wunder war. Wer ein Medizinstudium überlebt hatte, konnte auch einen Urlaub überleben.

Aber ihre Freundin war sehr still.

Dachte Cassie darüber nach, ob sie sie am Straßenrand hinauswerfen sollte?

Sie stieß einen langsamen, ruhigen Atemzug aus, bevor sie fragte: »Gibt es in der Nähe eine Bar?« Es war noch vor fünf, wurde aber bereits dunkel, da die Tage zu dieser Jahreszeit kurz waren, also war es akzeptabel, etwas zu trinken, oder? Es würde ihr vielleicht helfen, sich ein wenig zu entspannen. Jedenfalls helfen, Abstand zu gewinnen.

Cassie nickte nachdrücklich, als sei auch sie zu dem Schluss gekommen, dass Alkohol möglicherweise in dieser Woche ihr einziger Retter war. »Ich kenne genau das richtige Lokal.«

»Denk nicht mal daran, diese spendierten Drinks stehen zu lassen.«

Reed lachte. »Wenn du heute Abend mit einem sturzbesoffenen Barkeeper einverstanden bist, werde ich sie alle runterkippen.« Der Strom von Glückwünschen war nach jeder erfolgreichen Rettungsmission der gleiche, aber der Einsatz gestern hatte allen einen tieferen Seufzer der Erleichterung entlockt. Rebecca hatte sich das Schienbein und den Oberschenkelknochen gebrochen und sich Erfrierungen an den Fingern ihrer rechten Hand zugezogen, wie er es vorausgesehen hatte, aber sie war an diesem Nachmittag aus dem Wild River Community Hospital entlassen worden.

Der Besitzer der Bar, Tank – mit diesem liebevollen Spitznamen versehen wegen seiner Größe von einem Meter dreiundneunzig und seinen gut hundert Kilo knackigen Muskeln – zögerte, dann zuckte er die Achseln, bevor er auf sein Büro hinten in The Drunk Tank zuging. »Das ist mir egal. Vergiss nur nicht, das Lokal abzuschließen.«

»Du gehst?«, fragte Reed, während er mehrere Bierflaschen öffnete und sie vor Wade und Tyler auf den Tresen stellte – auch Tyler war als Bergretter an der Suche des vergangenen Abends beteiligt gewesen.

Tank drehte sich um und streckte eine zitternde Hand aus.

Reed nickte. »Verstanden.« Tank unterstützte das Search and Rescue Team als Hilfskraft schon viel zu lange. Er hätte sich inzwischen um eine volle Mitgliedschaft bewerben sollen, kam aber nicht über seine anhaltende Angst nach den Rettungseinsätzen hinweg. Zugegeben, die Aktionen, die nicht erfolgreich verliefen, hinterließen ihre Narben, und man brauchte einige Zeit, um sich davon zu erholen, aber die erfolgreichen spornten Reed an.

Tank – der größte Softie auf dem Planeten – hatte es da schwerer. Vor allem wenn Kinder involviert waren. Als alleinerziehender Vater war Tank bei der gefühlsbeladenen Wiedervereinigung zwischen Rebecca und ihren Eltern am vergangenen Abend sofort von der Bildfläche verschwunden.

Reed machte sich Sorgen, dass Tank als Hilfskraft aktiv war, obwohl er so viele andere Verpflichtungen hatte, namentlich Kaia, aber sie hatten jeder ihre Gründe, warum sie zur Crew gehörten. Und sie brauchten definitiv jedes Mitglied.

»Okay, schnapp dir deinen Rucksack und lass uns nach Hause gehen«, sagte Tank und tauchte mit seinem Mantel wieder auf.

Kaia kletterte von dem Barhocker herunter, schlüpfte in ihren Mantel, stopfte ihr dunkles Haar unter ihre Mütze und schnappte sich den Wonder-Woman-Rucksack, der eine Million Jahre alt war, von dem zu trennen sie sich jedoch weigerte. »Bye, Reed. Danke für die Schokomilch.«

»Immer gerne.« Er winkte, als sie den Raum verließen, und richtete seine Aufmerksamkeit auf Wade und Tyler. »So weit alles gut bei euch?«

»Ja. Ich meine, gestern Abend war brutal, aber es hat ein gutes Ende genommen. Darauf kommt es an«, antwortete Wade.

»Werde ich jetzt zum Anführer befördert?«, fragte Tyler und stützte sich mit einem Ellbogen auf den Tresen.

Es war erst das dritte Mal an diesem Tag, dass er diese Frage gestellt hatte.

»Du bist seit einem Jahr beim Team. Halte durch, beweise auch in Zukunft deine Fähigkeiten, dann wirst du bald den Rest von uns herumkommandieren«, sagte Reed. Tyler war eins der besten Teammitglieder, die er hatte, definitiv einer derjenigen, die am härtesten arbeiteten. Aber er war auch jung und impulsiv, und Reed konnte seinen Entscheidungen nicht zur Gänze vertrauen. Doch er wusste, dass der Mann auch andere Ambitionen hatte. Er hatte sich bei der freiwilligen Feuerwehr von Wild River beworben. Wenn Reed nicht bald dafür sorgte, dass er befördert wurde, würde er vielleicht weiterziehen. Reed würde es fuchsen, ihn zu verlieren. Gute, qualifizierte Teammitglieder waren schwer zu finden und noch schwerer zu halten. Das Team hatte Glück – sie alle standen sich so nah wie eine Familie. Sie achteten aufeinander, während der Rettungseinsätze und auch außerhalb.

»Wie geht es Cassie?«, erkundigte Wade sich.

»Ganz gut. Rebeccas Familie hat ihr versichert, dass sie Snow Trek Tours nicht für das Geschehene verantwortlich machen werden. Sie haben Mikes Rat zuwidergehandelt.« Der Tourenführer, der der Familie zugewiesen worden war, hatte einen anderen Weg vorgeschlagen wegen des unberechenbaren Terrains, aber sie hatten auf der Wanderung für erfahrenere Bergsteiger bestanden. Sie übernahmen die volle Verantwortung für das, was passiert war.

Trotzdem wusste er, dass seine Schwester während der Rettungsaktion genauso gestresst und besorgt gewesen war wie alle anderen. Ihre Firma genoss in Wild River einen beachtlichen Ruf, und das, so wusste er, lag daran, dass bei ihr die Sicherheit ihrer Klienten und Angestellten immer an erster Stelle kam.

Als er sie jetzt in die Bar treten sah, nickte er lächelnd.

Doch das Lächeln verging ihm, als er bemerkte, dass sie nicht allein war. Er blinzelte in die schwache Beleuchtung der Bar.

Echt jetzt?

Das Mädchen, das ihm erst in der vergangenen Nacht durch den Kopf gegangen war, kam mit seiner Schwester auf ihn zu. Bedauerlicherweise war sie kaum mehr ein Mädchen. Bekleidet mit einem rot-schwarz karierten Kaschmirmantel, den ein Ledergürtel an ihrer schmalen Taille festhielt, einer roten Mütze auf ihrem mokkafarbenen Haar und sieben Zentimeter hohen unpraktischen, aber sexy Lederstiefeln an den Füßen war sie definitiv kein kleines Mädchen mehr.

Was zum Teufel machte sie hier?

Tyler und Wade überließen den Frauen ihre Barhocker und winkten ihnen zu, als sie zu einem Tisch gingen.

»Man sieht sich, Jungs«, sagte Reed. Dann drehte er sich zu seiner Schwester um und fügte hinzu: »Hey, Cass, wer ist deine Freundin?« Er wischte den Tresen vor ihnen ab und legte zwei neue Bierdeckel hin.

Seine Schwester warf ihm einen Blick zu, der einem Flehen um Hilfe ähnelte … oder einem Flehen nach etwas Starkem. Offensichtlich war dieser Besuch für sie eine ebenso große Überraschung wie für ihn. Er griff nach dem teuren Premium Wodka und hielt die Flasche hoch.

Sie nickte, dann legte sie Mantel und Schal ab. »Mach einen Doppelten draus. Das ist Erika … du erinnerst dich an sie, nicht wahr?« Sie hängte ihren Mantel über den Hocker, bevor sie daraufkletterte.

Erika sah sich noch immer in der Bar um, als hätte sie noch nicht entschieden, ob sie bleiben wollte.

»Ähm … Erika.« Er tat so, als denke er nach. »Stimmt, ja, ich erinnere mich – wie ist es dir ergangen?«

Sie sah ihn endlich an, mit gefurchter Stirn. »Sind wir uns schon mal begegnet?«

Unglaublich. Er hatte sie ja auch nur eine Nacht lang im Wald in den Armen gehalten, damit sie keine Panikattacke bekam.

»Du musst dich doch an meinen Bruder erinnern. Reed«, sagte Cassie und bedeutete ihm, sich mit ihrem Drink zu beeilen.

Erika klappte der Unterkiefer ein Stück herunter.

Los geht’s. Er wusste, dass er sich im Laufe der Jahre verändert hatte. In der Highschool war er hochgewachsen und schlaksig gewesen … mager traf es eigentlich eher. Zu Hause hatte es nicht immer reichlich zu essen gegeben, und seine Aktivitäten in jeder Sportart, die er kostenlos betreiben konnte, hatte ihn die Kalorien schneller verbrennen lassen, als er sie seinem Körper zuführen konnte.

Glücklicherweise hatte er das Gewichtheben entdeckt. »Schwer zu glauben, dass dieser Brocken derselbe Bursche ist wie damals, hm?«, fragte er, als Erika ihn weiterhin anstarrte.

Ihr ungläubiger Gesichtsausdruck wurde schnell von einem missbilligenden, fassungslosen abgelöst. »Gehört dir diese Bar?«

»Nein. Ich bin nur hier, um die Gäste zu üppigen Mengen Alkohol und schlechtem Benehmen zu ermutigen«, antwortete Reed mit verkrampftem Kiefer. Binnen Sekunden hatte sie es geschafft, dass er sich wieder wie der Teenager fühlte, der keine Ahnung hatte, ob er es jemals zu irgendetwas bringen würde. Im Laufe der Jahre war sein Selbstbewusstsein zusammen mit dem Umfang seiner Bizepse gewachsen. Nur sehr wenig erschütterte ihn, wie war es also möglich, dass diese Frau, die er seit Jahren nicht gesehen hatte, ihn derart aufregte? Zweifellos war ihre Geschichte Teil des Grundes.

»Er macht die besten Cranberry-Martinis in Wild River. Setz dich doch«, sagte Cassie und deutete auf den Barhocker neben ihr.

»Oder lass es.« Reed zuckte die Achseln, als Erika zögerte.

Sie ignorierte ihn und betrachtete den Barhocker. Dann griff sie nach einer Serviette und wischte die Sitzfläche ab, bevor sie ihren Mantel auszog, sich hinsetzte und den Mantel auf ihren Beinen ausbreitete. Vorbereitet auf einen schnellen Abgang, wenn nötig.

»Wow«, murmelte er, während er Alkohol in den Shaker goss.

Als er Cassies verzweifelte Miene sah, goss er ein wenig mehr als sonst hinein. Dann griff er in den Kühlschrank, ignorierte den geöffneten Karton mit Cranberrysaft und schnappte sich einen neuen, verärgert über sein Verlangen, Ms Besserwisser mit frischem zu versorgen. »Und, Erika, wie ist es dir ergangen?« Sein zweiter und letzter Versuch, höfliche Konversation zu betreiben.

Sie wickelte ihren roten Schal ab, ließ ihn aber um ihre Schultern baumeln. Der Kontrast des roten Schals vor dem weißen Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt lenkte seinen Blick hinunter auf ihren Oberkörper. Die Wölbung ihrer weich aussehenden, vollen Brüste, die im Ausschnitt zu sehen war, erinnerten ihn an Sommertage, in denen seine Augen, verborgen hinter einer Sonnenbrille, auf nichts anderem geruht hatten. Sie war schon immer eine Nervensäge in einem umwerfenden Körper gewesen. Anscheinend hatte sie immer noch die gleiche Wirkung auf ihn. Der Schritt seiner Jeans saß unbehaglich eng.

»Ich bin jetzt Chirurgin«, lautete ihre Antwort auf seine Frage.

Und bescheiden. Er grinste und spürte, dass der Ständer zwischen seinen Beinen langsam verschwand. »Beeindruckend. Das ist so etwas wie eine Ärztin, oder?«

»Machst du dich über mich lustig?«

Er schüttelte den Kopf und warf Eis in den Mixer. »Ganz und gar nicht.« Er schnappte sich zwei Martinigläser von der hinteren Wand und inspizierte sie, nur um sie ein klein wenig zu ärgern. »Sauber genug«, urteilte er und gab die rote Flüssigkeit in die Gläser. Dann griff er nach mehreren Zitronenscheiben und hängte eine in Cassies Glas.

Erika streckte eine Hand aus. »Für mich keine, danke. Die Leute niesen und fassen die Garnierungen an, die auf der Arbeitsfläche liegen«, sagte sie. »So viele Bazillen.« Sie schauderte.

»Nein … die hier liegen erst seit maximal einer Woche draußen«, erwiderte Reed und steckte eine Zitronenscheibe auf ihr Glas, bevor er es ihr reichte.

Sie öffnete den Mund und klappte ihn dann wieder zu, als verschlucke sie eine kesse Antwort.

Ein Jammer. Er hätte sie gern gehört. In ihr musste mehr stecken als dieses frostige Äußere … obwohl er dafür nur ein einziges Mal und auch nur kurz einen Beweis gesehen hatte.

Cassie, die neben ihr saß, nahm die Zitronenscheibe vom Glasrand und genehmigte sich einen großen Schluck von ihrem Drink.

»Was führt dich nach Wild River?«

»Ein Urlaub«, antwortete Erika gepresst. Sie ließ den Blick durch die Bar wandern, und er war noch nie so stolz auf die kitschigen Weihnachtsdekorationen gewesen. Der angewiderte Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie das an einem Bierhahn befestigte, in den Schnee pinkelnde Nikolausfigürchen sah, war jeden Penny wert, den das Ding gekostet hatte.

»Die meisten Leute finden das witzig«, bemerkte er und schob seiner Schwester ein Schälchen mit Nüssen hin.

»Wirklich? Ich kann mir nicht vorstellen, warum«, sagte Erika und nippte an ihrem Drink.

Er wartete ab, ob er ihr schmeckte, verärgert darüber, dass es ihm wichtig war, aber sie ließ ihn hängen und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Umgebung. Sie schaute über ihre Schulter in den hinteren Teil des Raums.

»Die Toiletten sind in der Ecke gegenüber, hinter den Billardtischen auf der linken Seite.«

»Ich komme zurecht.« Sie schlug die Beine übereinander und saß offenbar unbehaglich auf dem Hocker.

Ach ja. Bazillen. »Wie lange bleibst du?«

»Zwei Wochen.«

Cassie verschluckte sich prustend und besprühte ihn mit klebrigem Cranberrysaft. Er griff nach einer Serviette, wischte sich den Unterarm ab und reichte ihr eine für ihr Gesicht.

»Zwei Wochen? Wow«, sagte Cassie und stopfte sich eine Handvoll Nüsse in den Mund.

Erika nickte. »Oder auch nicht … ich weiß es noch nicht.«

Wie peinlich. Offensichtlich lernten seine Schwester und ihre ehemals beste Freundin schnell, dass Freundschaften es manchmal nicht bis ins Erwachsenenalter schafften.

»Wer war das kleine Mädchen, das ich habe weggehen sehen, bevor wir hereingekommen sind?«, fragte Erika.

»Das war die Tochter des Besitzers«, antwortete Reed und sah seine Schwester an. Wie erwartet standen Cassie bei der bloßen Erwähnung von Tank ihre Gedanken ins Gesicht geschrieben. Seine Schwester und sein Freund schlichen seit Jahren umeinander herum. Viel zu lange schon. Er wusste nicht recht, was zwischen ihnen vor sich ging, abgesehen davon, dass Cassie immer vollkommen außer sich war, wenn Tank sich in der Nähe aufhielt. Sie passte oft für Tank auf Kaia auf. Die beiden waren seit Jahren befreundet. Er hatte den Verdacht, dass der Status des Mannes als alleinerziehender Vater der Hauptgrund sein könnte, warum noch nichts zwischen den beiden lief.

»Er bringt seine Tochter mit hierher?« Erika nahm noch einen Schluck von ihrem Drink.

»Bis in der Bar viel los ist, ja.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Haben Sie eine Meinung zu dem Thema, Frau Doktor?« Er lehnte sich an den Tresen. Sie war seit fünf Minuten hier und hatte es bereits geschafft, die Bar herunterzumachen, den Besitzer der Bar und ihn. Sie hatte eine Begabung dafür, Menschen zu vergraulen. Hatte sie schon immer gehabt, aber aus irgendeinem Grund ärgerte es ihn jetzt mehr als früher.

Damals hatte sie einen Grund dafür gehabt, sie alle zu verurteilen. Sie waren arm gewesen, hatten in einem beschissenen Stadtteil gelebt und abgelegte Kleider von Kindern getragen, mit denen sie in die Schule gegangen waren. Wild River war klein genug, dass jeder in die Angelegenheiten eines jeden eingeweiht war, also war der Versuch zu verbergen, wie sehr sie als Kinder zu kämpfen gehabt hatten, unmöglich gewesen. Aber er und Cassie hatten es beide weit gebracht.

»Genau genommen ist es ein Dr. med.«

Er stieß einen langen, trägen Atemzug aus.

»Und ich finde einfach, dass eine Bar kein angemessener Ort für ein Kind ist.«