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Eine zweite Chance zu Weihnachten!
Bevor die reisebegeisterte Isla Wakefield sich im neuen Jahr in ihr nächstes Abenteuer stürzt, kehrt sie über die Weihnachtsfeiertage zu ihrer Adoptivfamilie nach Port Serenity zurück, denn die atemberaubende Landschaft Alaskas ist ideal, um sich zu entspannen und Kraft zu tanken. Wäre da nicht Aaron Segura, der Rettungsschwimmer der Coast Guard und leidenschaftliche Spaßbremse. Er hat kein Verständnis für risikofreudiges Verhalten, vor allem nach dem tragischen Verlust seiner Schwester. Bei jeder Begegnung zwischen Isla und Aaron verwickeln sich die beiden in hitzigen Diskussionen und können sich auf nichts einigen. Doch dann verliert Isla bei einem waghalsigen Kletterausflug ihr Gedächtnis, und das gibt den beiden die Chance, sich noch einmal völlig neu zu kennenzulernen und das Weihnachtsfest zu einem unvergesslichen zu machen ...
»"Diese prickelnde Romance geht ans Herz. Pures Weihnachtsvergnügen!« LORI WILDE
BAnd 2 der Coast-Guard-Alaska-Serie von Bestseller-Autorin Jennifer Snow
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Seitenzahl: 470
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Jennifer Snow bei LYX
Leseprobe
Impressum
JENNIFER SNOW
Coast Guard Alaska
UNVERGESSLICHE WEIHNACHTEN
Roman
Ins Deutsche übertragen von Michaela Link
Bevor die reisebegeisterte Isla Wakefield sich im neuen Jahr in ihr nächstes Abenteuer stürzt, kehrt sie über die Weihnachtsfeiertage zu ihrer Adoptivfamilie nach Port Serenity zurück, denn die atemberaubende Landschaft Alaskas ist ideal, um sich zu entspannen und Kraft zu tanken. Wäre da nicht Aaron Segura, der Rettungsschwimmer der Coast Guard und leidenschaftliche Spaßbremse. Er hat kein Verständnis für risikofreudiges Verhalten, vor allem nach dem tragischen Verlust seiner Schwester. Bei jeder Begegnung zwischen Isla und Aaron verwickeln sich die beiden in hitzigen Diskussionen und können sich auf nichts einigen. Doch dann verliert Isla bei einem waghalsigen Kletterausflug ihr Gedächtnis, und das gibt den beiden die Chance, sich noch einmal völlig neu zu kennenzulernen und das Weihnachtsfest zu einem unvergesslichen zu machen …
Für alle Bonusmamas und Bonuspapas, Adoptiv- und Pflegeeltern und alle positiven Rollenvorbilder – ihr seid die Liebe, und mit euch ist die Welt ein besserer Ort.
Bei den ersten Takten von »I’ll Be Home for Christmas« bekam sie eine Gänsehaut, denn der Text des Songs hatte für sie eine besondere Bedeutung.
Zu Hause. Das hier war ihr Zuhause.
Doch als sie mitten in dem eleganten Ballsaal des Sealena-Hotels in ihrer kleinen Heimatstadt stand, um den einhundertzwanzigsten Geburtstag der mythischen Meeresschlangenkönigin zu feiern, musste sich Isla Wakefield beim Anblick der geschmackvoll gekleideten Gästeschar immer noch daran erinnern, dass sie hierher gehörte, dass sie eine von ihnen war.
Es war der Samstag vor Thanksgiving, und das Hotel, das sich im Besitz ihrer Familie befand, war für die Feiertage geschmückt. Sie hatten sich für ein Winter-Wunderland-Motto entschieden, das perfekt zu dem Wetter in Port Serenity, Alaska, in dieser Jahreszeit passte. Schnee und Eis bedeckten derzeit die kleine Küstenstadt. So hingen funkelnde weiße Lämpchen in Eiszapfenform von der Decke herab, während auf den frisch gebügelten weißen Leinentischdecken warme Teelichter flackerten. Der Raum war dekoriert mit großen aufblasbaren Christbaumkugeln in Silber und Weiß, während Kunstschneebälle als Tischschmuck dienten. Überall begegneten ihr vertraute Gesichter. Gäste in festlichen Abendkleidern und Anzügen schlenderten umher, lachten und genossen die feierliche Atmosphäre.
Natürlich war die Hauptattraktion im Saal eine große Eisskulptur, die Sealena darstellte. Diese Version von Port Serenitys mythischem Aushängeschild trug zu Ehren der Weihnachtszeit eine Weihnachtsmütze und wirkte vollkommen ungerührt davon, dass sie das Rampenlicht derzeit mit einem weiteren mythischen Wesen teilen musste. Der Weihnachtsmann mochte ihr zu dieser Zeit im Jahr die Show stehlen, aber dank Sealena, der nachgesagt wurde, dass sie die Boote auf See beschütze, hatte sich die verschlafene Kleinstadt schon vor Jahren in ein beliebtes Touristenziel verwandelt, und sowohl Einheimische als auch Touristen verehrten sie gleichermaßen.
Isla spielte mit dem halbmondförmigen Anhänger ihrer Halskette, und als eine Kellnerin mit einem Tablett voller Sektgläser mit gefrorenen Cranberries darin vorbeikam, nahm sie sich ein Glas. Der Alkohol würde ihr helfen, sich zu entspannen. Sie trank einen Schluck und erkannte sofort den teuren Prosecco – das Lieblingsgetränk ihres Vaters. In diesem Moment entdeckte sie ihn auch – am anderen Ende des Ballsaals im Gespräch mit dem Bürgermeister der Stadt. Er trug einen Anzug, den ein Herrenschneider maßangefertigt hatte, gestikulierte lebhaft, während er sprach, und der Bürgermeister schien seinen Worten aufmerksam zu lauschen. Isla hätte gewettet, dass es um Golf ging. Ihre Eltern verbrachten den Winter in Florida und hatten dieses Hobby erst kürzlich für sich entdeckt. Sie waren dieses Jahr nur hergekommen, um die Weihnachtszeit und das historische Event zu Sealenas Ehren zu feiern.
Abgesehen von dem Motto und dem Anlass für das Fest ging es hier eigentlich darum, die Gemeinschaft zu feiern. Es wurden die Männer und Frauen geehrt, die das ganze Jahr über die örtlichen Geschäfte betrieben, und vor allem die Mitglieder der hier ansässigen Station der Coast Guard, die hart arbeiteten, um die Sicherheit auf den Gewässern zu gewährleisten. In diesem Jahr war die Stimmung spürbar gelöst im Vergleich zu ähnlichen Veranstaltungen in der Vergangenheit. Ihr Bruder Dex und Skylar Beaumont hatten jüngst die Kluft zwischen ihren Familien mit ihrer Liebe überbrückt und schließlich einer Fehde ein Ende gesetzt, die sich über vier Generationen hingezogen hatte, sodass die Atmosphäre weitaus lebendiger und freundlicher war als in den Jahren zuvor.
Isla schüttelte den Kopf. Eine Beaumont und ein Wakefield zusammen.
Nachdem sie jahrzehntelang immer wieder die Geschichte gehört hatte, wie die Freundschaft ihrer beider Ururgroßväter ein jähes Ende gefunden hatte, weil der Beaumont den Wakefield wegen Schmuggelei verbotener Waren nach Alaska ins Gefängnis gebracht hatte, hätte sie nie gedacht, dass sie diesen Tag einmal erleben würde.
Oder dass es für sie selbst okay wäre.
Aber ihr Bruder wirkte sehr glücklich, und Skylars Anwesenheit in seinem Leben erleichterte es Isla, die Welt so zu bereisen, wie sie es sich wünschte. Außerdem gelang es ihr nun besser, Dex nicht mehr mit einem Übermaß an Fürsorge zu überschütten. Seit dem Frühling war sie bereits in Australien gewesen, in Kalifornien und in Südafrika. Über die Feiertage war sie nach Hause gekommen und hatte nun genug Zeit, um sich zu überlegen, wohin sie ihr nächstes Abenteuer führen sollte.
Allerdings musste sie dem Gespräch über ihre Zukunft ausweichen, das ihr Dad über kurz oder lang beginnen würde, sobald er die Chance dazu bekam. Jetzt winkte er ihr quer durch den Saal und bat sie damit zu der Gruppe von Männern und Frauen hinzu, mit denen er plauderte und die sie aus seiner Kanzlei kannte. Er war Rechtsanwalt und schon halb im Ruhestand, aber er behielt immer noch die Kontrolle über die Aktivitäten der Kanzlei in Port Serenity und übernahm jedes Jahr ein oder zwei Fälle – für gewöhnlich hochkarätige, die ihm Lob und Anerkennung eintrugen. Er war einer der Besten in seinem Job und half vielen Unschuldigen, Gefängnisstrafen oder unfairen Urteilen zu entgehen, und es war kein Geheimnis, dass er sich wünschte, sie möge in seine Fußstapfen treten.
Sie tat so, als hätte sie die Geste nicht bemerkt. Vor diesem Gespräch brauchte sie definitiv mehr Zeit, außerdem war sie hier, um sich zu amüsieren. Jedenfalls so gut sie konnte. Diese förmlichen Events waren zwar schon immer Teil ihres Lebens gewesen, aber sie hatte sich nie recht wohl dabei gefühlt. Sie zog Wanderstiefel und Jeans Abendkleidern und hochhackigen Schuhen jederzeit vor.
»Hey, Schwesterchen!«, sagte Dex und trat neben sie, Skylar an seinem Arm.
»Hey«, begrüßte sie ihn, ließ sich von ihm umarmen und warf dabei einen Blick auf Skylars Kleid. Das eng anliegende, bodenlange schwarze Designer-Abendkleid war nicht nach Islas Geschmack, aber es stand der Kapitänin der Küstenwache perfekt und betonte ihre makellose Figur. Isla wusste, dass Skylar insgeheim ihre Wahl begutachtete: ein Minikleid in weihnachtlichem Rot.
»Du siehst wunderschön aus«, sagte Isla aufrichtig.
»Du auch«, entgegnete Skylar, und ihre Schultern entspannten sich ein wenig.
Anscheinend würden sie sich weiterhin an die unausgesprochene Abmachung halten, die Vergangenheit ruhen zu lassen, nachdem sie sich zuvor jahrelang nicht gut verstanden hatten. Das war auf jeden Fall das Beste, denn der riesige Klunker an Skylars linkem Ringfinger erinnerte sie daran, dass sie bald eineFamilie sein würden.
Familie. Gehörte sie wirklich zur Familie?
Instinktiv wanderte Islas Hand wieder zu dem Anhänger um ihren Hals, und sie nahm einen schnellen Schluck Prosecco, bevor sie mit dem Kopf auf den Ring deutete.
»Nochmals herzlichen Glückwunsch, ihr zwei.«
Sie war auf einer Klettertour in den Bergen Kaliforniens gewesen, als ihr Bruder angerufen und ihr die schöne Neuigkeit mitgeteilt hatte. Nur gut, dass sie in dem Moment angeseilt gewesen war. Obwohl sie gewusst hatte, dass die beiden, die schon in der Highschool ein Paar gewesen waren, wieder zueinander gefunden hatten und mittlerweile auch zusammenlebten, war deren Beziehung in Islas Augen noch nicht gefestigt genug gewesen. Sie hatte sich ein wenig Sorgen gemacht, Skylar könnte ihre Meinung noch ändern und eine dauerhafte Rückkehr in ihre Heimatstadt doch ablehnen.
»Danke«, sagte Skylar und klammerte sich noch ein wenig fester an Dex. Ihr Bruder küsste seine Verlobte mit einer solch zärtlichen Zuneigung auf die Stirn, dass Isla hastig den Blick abwandte. Ihr Bruder war definitiv der Romantiker in der Familie. Als seine heimliche Ex-Freundin Port Serenity verlassen hatte, um die Akademie der Küstenwache zu besuchen, hatte er sich jahrelang nach Skylar gesehnt.
Isla dagegen nahm amouröse Beziehungen eher locker.
»Neues Tattoo?«, fragte Dex und schaute auf ihren Arm, wo die Tinte noch frisch war.
Die Worte You’re fine, keep going waren mit schwarzer Tinte auf die Innenseite ihres Unterarms gestochen. Es war eins ihrer persönlichen Mantras, wenn Herausforderungen außerhalb ihrer Möglichkeiten zu liegen schienen. In letzter Zeit hatte sie sich zur Erinnerung mehrere solcher Sprüche tätowieren lassen. Durch die Tatsache, dass die Worte in ihre Haut eindrangen, waren sie schwerer zu ignorieren.
Sie nickte. »Das hab ich in Südafrika machen lassen, am Tag vor meinem Rückflug.«
Andere Leute sammelten Nippes als Souvenirs von den Orten, die sie besuchten. Isla zog es vor, ihre Erlebnisse durch Tattoos festzuhalten. Sie wusste, dass ihr Bruder kein großer Fan von Tätowierungen war, aber er nickte zustimmend.
Sie und Dex waren so unterschiedlich, wie Geschwister nur sein konnten. Während sie äußerliche Veränderungen mochte und auch regelmäßig ihren Kleidungsstil und ihre Haarfarbe wechselte, blieb Dex lieber berechenbar und seinem Stil treu. Er hatte seit seinem sechsten Lebensjahr denselben Haarschnitt. Doch trotz ihres unterschiedlichen Wesens standen sie einander sehr nahe und konnten sich immer auf den anderen verlassen.
Es sei denn, es ging um die Frage, wo sie wohnen sollte, während sie zu Hause war.
Sie schaute ihn gespielt verärgert an und sagte: »Ich kann immer noch nicht glauben, dass mein Schlafzimmer jetzt einem Hund gehört.«
Dex hatte kürzlich einen Hund bekommen, der ihm bei seiner Epilepsie zur Seite stehen sollte, und Shaylah, eine wunderschöne Schäferhündin, fühlte sich sehr wohl in Islas ehemaligem Schlafzimmer auf der Yacht der Familie, wo Dex und jetzt auch Skylar lebten.
Dex lachte, und in seinen blauen Augen stand ein neckisches Funkeln. »Sie hält das Zimmer sauberer, als du es je getan hast.«
Isla versetzte ihm einen spielerischen Schlag. Ihre Unordentlichkeit war kein Geheimnis. Während Dex durchorganisiert und strukturiert war, herrschten bei ihr eher Chaos und Durcheinander. In ihrer Jugend hatte sie einen Handel mit ihm geschlossen: Sie hatte ihm jede Woche die Hälfte ihres Taschengeldes gegeben, damit er ihr Zimmer in Ordnung hielt, während sie draußen die Wildnis erkundet hatte. Das zusätzliche Geld war ihm gerade recht gekommen, um Skylar ausführen zu können, und sie selbst war nicht gezwungen gewesen, an einem herrlichen Samstag im Haus zu bleiben. Ein fairer Handel in ihren Augen.
Die festliche Musik verstummte abrupt, und aus dem Mikrofon auf der Bühne drang ein ohrenbetäubendes Pfeifen. Isla zuckte leicht zusammen, drehte sich um und sah, wie Aaron Segura die Bühne betrat.
»Hallo, alle miteinander«, sagte er, nachdem er gegen das Mikrofon geklopft hatte. »Ich hoffe, ihr habt einen tollen Abend. Ich dachte, da wir heute alle hier zusammen sind, wäre es vielleicht ein guter Zeitpunkt für einige schnelle Informationen zum Thema Sicherheit im Winter.«
Ein Murren wurde in der Menge laut, und Isla seufzte.
Er war so eine Spaßbremse.
Es gab niemanden auf Erden, der nerviger war als Aaron Segura. Sein Nachname, der sicher bedeutete, war absolut passend: Er wurde diesem Ruf fraglos gerecht. Er war der selbst ernannte Sicherheitsbeauftragte in Port Serenity, und zwar seit sie Teenager waren, und er hatte es sich zur Mission gemacht, Einheimische ebenso wie Touristen bei jeder sich bietenden Gelegenheit über mögliche Gefahren für Leib und Leben hier in dieser dünn besiedelten Gegend zu informieren und zu belehren.
Zu schade, dass er so langweilig war, denn eigentlich war er richtig heiß.
Er trug seine US-Navy-Uniform, sein kurzes hellbraunes Haar war an den Seiten zurückgegelt, und mit genau der richtigen Menge an Bartstoppeln erregte er mühelos die Aufmerksamkeit jeder Frau hier im Saal. Seltsamerweise ging er nicht oft aus. Wahrscheinlich verschreckte er die Frauen mit Lektionen über Safer Sex, noch bevor sie das Dessert gegessen hatten.
»Wie ihr alle wisst, verdreifachen sich zu dieser Jahreszeit die Such- und Rettungseinsätze wegen Unfällen in den weiter abgelegenen Waldgebieten, auf dem Eis, auf den Wanderwegen …«, fuhr Aaron fort. »Nur das Revier der Küstenwache bekommt noch mehr Notrufe. Und trotz unserer größten Bemühungen kommt auf drei erfolgreich gerettete Personen ein tödlich Verunglückter.«
Die Stimmung im Saal sackte augenblicklich in den Keller.
»Das Einhalten von Sicherheitsmaßnahmen, während man Spaß hat«, – er sagte das Wort, als wäre es ein störender Fremdkörper auf seiner Zunge, »kann die Anzahl von Hilferufen verringern, die bei uns eingehen, und mit dafür sorgen, dass für die wirklich gefährlichen Situationen ausreichend Notfallretter zur Verfügung stehen. Leben hängen davon ab. Das Leben eurer Familien und Freunde hängt davon ab.«
Heilige Scheiße, Aaron, merkst du denn gar nichts mehr?
Isla stupste Dex mit großen Augen an und deutete mit dem Kopf Richtung Bühne. »Tu irgendetwas, bevor er anfängt, Statistiken herunterzurasseln«, zischte sie.
»Er hat nicht ganz unrecht«, murmelte Skylar, um ihr Crewmitglied zu verteidigen, aber selbst sie sah so aus, als hielt sie Aarons Timing für wirklich miserabel.
So diskret wie möglich winkte Dex Aaron auf der Bühne zu, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, und sandte gleichzeitig zwei Handzeichen: den hochgereckten Daumen und ein Zeichen für: »Mach Schluss!«
Glücklicherweise verstand Aaron den Wink. Er räusperte sich verlegen.
»Schön, also, wie dem auch sei … Sorgt dafür, dass ihr mit warmer, gut sichtbarer Kleidung auf die Wetterbedingungen vorbereitet seid und nehmt, wann immer das möglich ist, Leuchtraketen mit. Informiert euch über das Wetter, bevor ihr aufbrecht, und behaltet es im Auge, damit ihr merkt, wenn sich die Situation verändert. In den abgelegenen Waldgebieten sieht es nachts ganz anders aus.« Er wirkte, als wollte er noch mehr sagen, beschloss aber, es dabei bewenden zu lassen. »Also, ich wünsche euch eine schöne – und, was noch wichtiger ist, sichere – Weihnachtszeit«, fügte er hinzu. Der darauffolgende Applaus drückte weniger Zustimmung als vielmehr Erleichterung darüber aus, dass er endlich die Bühne verließ. Die Musik setzte wieder ein, und die Gäste versuchten, die feierliche Ausgelassenheit zurückzugewinnen, die gerade einen gewaltigen Dämpfer erhalten hatte.
Isla beobachtete, wie Aaron sich auf der anderen Seite des Raums mit einer Hand durchs Haar fuhr und er erleichtert tief durchatmete. Na so was! Er war tatsächlich nervös gewesen! Bei einem Mann, der sich wagemutig aus Hubschraubern herabließ, um Menschen in todesverachtenden Aktionen aus offenen Gewässern zu retten, war seine deutlich sichtbare Angst vor dem Reden in der Öffentlichkeit eine Überraschung.
Sie würde sich diese Kleinigkeit gut merken, um sie gegen ihn zu verwenden, wenn sie sich das nächste Mal ein Wortgefecht lieferten.
Sie brauchte nicht lange zu warten, da er sich kurz darauf zu ihnen gesellte, genau in dem Moment, in dem sie Dex und Skylar ihre Pläne für den Winter eröffnete, den sie zu Hause verbringen wollte.
»Die Eiskletterexpedition bei den Wasserfällen des Hidden Glacier ist ein absolutes Muss.«
»Ich finde die Wasserfälle schöner, wenn sie rauschen,« bemerkte Skylar und warf einen verführerischen Seitenblick auf Dex.
»Sollen wir ihr erzählen, was wir bei den Wasserfällen tun?«, fragte Dex und legte Skylar einen Arm um die Taille. Das Rot auf Skylars Wangen wurde so intensiv wie die Farbe von Islas Kleid.
Isla stieß einen Würgelaut aus, als plötzlich Aaron neben sie trat. »Ekelhaft!«
Sie dachte nicht gern über das Sexleben ihres Bruders mit Skylar nach. Im Gegensatz dazu war das männliche Aftershave, das Aaron trug, keineswegs abstoßend. Der Duft von Tanne und Minze stieg ihr in die Nase, und sie genoss ihn insgeheim. Der Mann mochte eine Nervensäge sein, aber er roch immer wahnsinnig gut. Stark und frisch, wie die Wildnis Alaskas …
Aber dann musste er den Mund aufmachen.
»Weißt du, Eiswandern ist genauso umwerfend und erheblich …«
»Sicherer?«, beendete Isla seinen Satz und wandte sich mit einem wenig beeindruckten Grinsen ihm zu.
Verdammt, dieses sexy Kinngrübchen war ehrlich verschwendet an diesen Mann.
»Ja«, antwortete er, und es schien ihn nicht zu stören, dass sie seine Meinung zu dem Thema offensichtlich nicht im geringsten schätzte.
»Ich denke, ich werde bei meinem ursprünglichen Plan bleiben«, verkündete sie.
»Weißt du, wie viele Menschen sich jedes Jahr beim Eisklettern verletzen? Das Wetter ist unberechenbar, und das direkte Sonnenlicht, das mittags auf den Hidden Glacier trifft, ist gefährlich.«
Aus dem Augenwinkel sah Isla, dass Dex und Skylar sich langsam abwandten. Derlei Szenen waren ihnen nur allzu vertraut, daher ließen sie sie allein, damit sie sich nach Herzenslust zanken konnten.
»Deshalb findet die Expedition ja frühmorgens statt.«
»Das bringt nur andere Herausforderungen mit sich«, entgegnete Aaron mit einem Nicken, bewaffnet mit weiteren Informationen. »Eisige Temperaturen zum Beispiel, vor allem in den Senken zwischen den Berghängen. Sie können erheblich tiefer fallen als erwartet.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Deshalb bereitet man sich ja auf alles vor.«
»Ob man vorbereitet ist oder nicht, es passiert trotzdem jede Menge Mist«, konterte er mit starrer Miene.
»Hör mal, ich trainiere seit sechs Monaten und bin auf der ganzen Welt geklettert. Ich bin in der besten Form meines Lebens.«
Sie spannte ihren beeindruckenden Bizeps an. Es stimmte. Sie war athletisch gebaut und immer schon fit gewesen, aber im vergangenen Jahr hatte sie ihr Training auf ein ganz neues Level gehoben. Sie war anspruchsvolle Felswände hinaufgeklettert und hatte Gipfel bestiegen, die bedingungslosen Einsatz und Disziplin erforderten – besonders beim Kraft- und Konditionstraining in der Vorbereitung, das für sicheres und erfolgreiches Klettern unabdinglich war. Bei ihrer geringen Körpergroße musste sie oft härter trainieren als die größeren, massigeren Kletterer, aber ihr gefiel diese Herausforderung.
Aarons Blick wanderte über ihren Körper, und hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie möglicherweise Bewunderung darin gesehen. »Du wirst meine Meinung zu diesem Thema nicht ändern.«
Oder seine Meinung über sie. Sie kannten einander seit dem Kindergarten und waren zu ihrer beider Pech bis zu ihrem Highschoolabschluss in derselben Klasse gewesen. Es war fast, als hätten die Lehrer sie absichtlich zusammengesteckt, um herauszufinden, ob sie sich jemals miteinander arrangieren würden. Oder wahrscheinlich fanden sie es amüsant zu beobachten, wie die beiden sich ständig wegen nichts und wieder nichts furchtbar stritten.
Sie wusste, dass er sie für wild, verwegen, laut und starrsinnig hielt. Sie wusste, dass er wusste, dass sie ihn für langweilig, berechenbar, nervig und provokant hielt.
Keiner der beiden verbarg seine Gefühle für den anderen. Tatsächlich war es erfrischend zu wissen, wo genau sie standen. Es gab keine falschen Schmeicheleien oder geheucheltes Interesse, wenn sie mit Aaron sprach, anders als bei den Männern, die so taten, als wäre sie faszinierend, nur um ihr an die Wäsche gehen zu können.
»Nun, es schmeichelt mir, dass du dir Sorgen um mich machst«, sagte sie grinsend.
Er öffnete den Mund, um die Behauptung zu bestreiten, sagte dann aber nur: »Ich mache mir um alle Menschen in Port Serenity Sorgen.«
Das war die Wahrheit. Und auch wenn er nervig war, Aaron hatte allen Grund, sich wegen der Gefahren bei Extremsportarten Sorgen zu machen. Seine Schwester war im Teenageralter während der Weihnachtsferien bei einem Unfall mit einem Schneemobil tödlich verunglückt. Isla kannte die Details nicht, aber sie erinnerte sich daran, dass er nach ihrem Tod einen Monat lang nicht zur Schule gekommen war. Da der Jahrestag ihres Todes bevorstand, vermutete sie, dass die Weihnachtszeit immer noch schwierig für ihn war.
Also war Isla ein wenig nachsichtig mit ihm – nur ein klein wenig.
»Ich sag dir was. Wenn die Wetterbedingungen an diesem Tag nicht großartig sind oder ich mich nicht in Topform fühle, werde ich stattdessen nur eiswandern.«
»Nein, wirst du nicht«, sagte er und klang dabei einerseits frustriert, aber zugleich lag ein respektvoller Unterton in seiner Stimme, die in dem Moment von den Eröffnungstakten eines Weihnachtsklassikers von Justin Bieber übertönt wurde.
Sie lachte, dann wandte sie sich ab und schlug den Weg zur Tanzfläche ein. »Du kennst mich viel zu gut«, rief sie über ihre Schulter.
Sie warf einen schnellen Blick zurück, um zu schauen, ob er ihr vielleicht folgte.
Wie sie nicht anders erwartet hatte, tat er es nicht.
Das Eis musste mindestens zehn Zentimeter dick sein fürs Eisfischen.
Welcher Teil davon war für Touristen so schwer zu verstehen? Nur weil dies Alaska war, bedeutete das nicht, dass die Gegebenheiten immer günstig für diese beliebte Winteraktivität waren. Und doch gab es in jeder Weihnachtszeit mindestens einen Notruf, weil eine Person ins Eis eingebrochen war.
Und fast jedes Mal wäre es vermeidbar gewesen, wenn sich jemand vorher bei der Küstenwache nach der Dicke des Eises erkundigt hätte.
Und wie kam man auf die Idee, mit einem Schneemobil aufs Eis zu fahren?
Dieser spezielle Notruf ärgerte ihn. Eine Familie aus Seattle, die ihren Urlaub hier verbrachte, war mit ihrem Schneemobil aufs Eis gefahren und hatte ungefähr sechzig Meter vom Ufer entfernt ihr Lager aufgeschlagen. Das Eis hatte das Gewicht nicht tragen können, und das Schneemobil war eingebrochen. Das Eis war daraufhin in alle Richtungen gesplittert, sodass der Vater und seine beiden Kinder nicht sicher an Land zurückkehren konnten.
Ein einziger falscher Schritt, und es würde extrem gefährlich werden.
Aaron wartete in kompletter Ausrüstung an der offenen Tür des MH-65 Helikopters, bereit, sich über der betreffenden Stelle abzuseilen. Als sie sich dem Unglücksort näherten, konnte er sehen, wie das Schneemobil durch eine immer breiter werdende Lücke in den Eisschollen verschwand. Die Familie hatte ein kleines Zelt und mehrere Klappstühle aufgestellt, zusammen mit der Angelausrüstung und einer Feuertonne, deren Feuer aber gelöscht worden war.
Der Vater und seine Kinder kauerten sich in der Mitte einer Eisscholle zusammen, die unsicher und unberechenbar aussah. Ihnen blieben bestenfalls Minuten, bevor das Eis erneut wegbrechen konnte. Falls sie ins Wasser fielen, würde innerhalb von drei Minuten Unterkühlung einsetzen und sein Job dadurch erheblich erschwert werden. Er zog es vor, ein eisiges Bad zu vermeiden falls möglich.
Sekunden später ließ Aaron sich hinunter, während Dwayne, sein Kollege und Hubschrauberpilot, den Airbus Dauphin direkt über ihm im Ruhemodus schweben ließ. Die winterliche Kälte war auf dem Meer schlimmer, und der Wind erschwerte einen stetigen, ruhigen Abstieg. Die dadurch verursachten Schwingbewegungen machten das Ganze zu einer Herausforderung, aber er landete vorsichtig auf dem Eis und suchte auf dem unsicheren Terrain Halt, bevor er über sich nach dem Korb griff, der als Nächstes heruntergelassen wurde. Ein kurzer Blick bestätigte, dass der Mann und seine Kinder noch da waren. Er schätzte die beiden auf etwa acht und vierzehn. Außerdem bemerkte er einen großen Husky, der aus seinem Versteck im Zelt aufgetaucht war.
Niemand hatte den Hund erwähnt.
Damit hatten sie zu viel Gewicht für einen einzigen Flug. Sie alle sahen verängstigt aus und wollten das gefährliche Eis so schnell wie möglich verlassen, aber sie würden nicht zusammen fliegen können.
»Geht es allen gut? Keine Verletzungen?«, fragte Aaron schnell und musste dabei den Lärm des Hubschraubers übertönen. Wenn jemand verletzt war, würde er seinen Plan noch einmal überdenken müssen. In dem Fall war ein vertikaler Aufstieg vielleicht nicht möglich.
Glücklicherweise schüttelte der Vater den Kopf. »Uns geht es gut. Uns ist nur kalt, und wir haben Angst.«
Nun, zumindest verstanden sie den Ernst ihrer Lage. Vielleicht würden sie es sich jetzt zweimal überlegen in einer ähnlichen Situation. »Okay, wir setzen das kleinere Kind mit dem Hund zuerst in den Korb«, brüllte er.
Das kleine Mädchen wirkte nervös und schüttelte den Kopf, und ihre blonden Zöpfe unter ihrer Wintermütze flogen hin und her. Auf ihren Wangen sah Aaron Tränen, die in der eisigen Luft bereits auf ihrem Gesicht gefroren waren. Sie klammerte sich an ihren Vater und betrachtete die lange, Furcht einflößende Strecke bis hinauf zum Hubschrauber. Die sich drehenden Hubschrauberblätter genügten, um jeden Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen.
Ihr älterer Bruder legte tröstend einen Arm um seine kleine Schwester, und Aarons Brust schnürte sich zusammen. Er wollte sie beschützen, wie ein älterer Bruder das tun sollte.
Er räusperte sich, und sein Ton war ruhig, während er sich dem Kind vorsichtig näherte und eine Hand ausstreckte. »Komm, es wird alles gut. Tatsächlich macht es sogar Spaß.« Sein beruhigendes Lächeln gefror fast auf seinem Gesicht, denn der kalte Wind wehte weiter unbarmherzig über sie hinweg.
Das Krachen des Eises um sie herum erinnerte sie alle an die Dringlichkeit der Lage, und er bedeutete dem kleinen Mädchen näher zu kommen.
»Vielleicht sollte ich als Erster raufgehen«, schlug der Vater vor. »Um ihr zu zeigen, dass es gar nicht so schlimm ist.«
Aaron hielt eine Hand hoch. »Das jüngste Kind und der Hund«, entschied er energisch. Das kleine Mädchen musste vielleicht noch ein wenig ermutigt werden, aber der Hund stand zu Aarons Füßen, bereit zum Aufbruch. Er bückte sich, um das Tier in den Korb zu heben, und bemerkte die Hundemarke auf dem Halsband mit der Aufschrift Smoky. Der Hund wog eine Million Kilo, als er ihn in den Korb wuchtete. Dann streckte er die Hände erneut nach dem kleinen Mädchen aus. »Es ist okay. Smoky ist schon im Korb. Du wirst nicht allein sein.«
Sie schaute zu ihrem Vater auf, der nickte, und sie ging widerstrebend auf den Korb zu. Aaron half ihr hinein und benutzte das Funkgerät, um oben Bescheid zu sagen. »Erste Person gesichert. Fertig zum Hochziehen.«
Der Korb setzte sich in Bewegung und glitt aufwärts, und die Augen des Kindes weiteten sich vor Angst.
»Es ist alles okay. Nimm deinen Hund in die Arme. Schau nicht hinunter.«
Das kleine Mädchen befolgte seine Anweisungen, und er beobachtete, wie sie sicher hochgehoben und in den Hubschrauber gezogen wurden, wo Miller, sein Crewmitglied, sie beide im Hubschrauber anschnallte.
Ein weiteres Krachen erklang, als ein Teil der Eisscholle sich vom Rest abtrennte und davondriftete. Er betrachtete das Eis, und sein Herz raste. Er konnte das Wasser unter sich sehen. Die Natur war vollkommen unberechenbar, vor allem hier auf dem gefrorenen Meer. Ihnen blieb nur noch sehr wenig Zeit.
Der Korb kehrte zurück, und er deutete auf das ältere Kind. »Du bist der Nächste.«
Der Teenager zögerte nicht. Er kletterte hinein, und Aaron schickte den Korb nach oben.
»Okay. Wir werden warten«, vermeldete er über Funk dem Hubschrauber.
»Warten?« Der Vater wirkte panisch, als er näher kam, und seine Züge verdüsterten sich. »Was meinen Sie damit, warten?«
»Der Hubschrauber ist voll.« Aaron hielt seine Stimme ruhig, trotz der ernsten Lage. Die Eisscholle war jetzt nur noch circa neunzig Zentimeter breit und einen Meter zwanzig lang. Nacheinander glitten die Angelausrüstung und das Zelt ins Meer. Er biss unwillkürlich die Zähne zusammen.
Neben den menschlichen Opfern und Verletzten hatten Rettungsmissionen wie diese auch gewaltige Auswirkungen auf die Umwelt. All dieser Müll, der so seinen Weg ins Meer fand, hätte sich vermeiden lassen.
Der Mann sah aus, als wollte er darüber streiten, aber es war nutzlos, da der Hubschrauber bereits in Richtung Wache davonflog. Er schaute ihm nach, die Sorge grub sich tief in seine Gesichtszüge.
Sosehr er sich über das gedankenlose Handeln des Mannes ärgerte, tat er Aaron doch auch leid. Er fühlte sich mit Sicherheit schuldig, weil er das Leben seiner Kinder in Gefahr gebracht hatte.
»Keine Sorge. Ihren Kindern geht es gut, und der Hubschrauber sollte in weniger als zehn Minuten zurück sein.«
Er betrachtete das Eis. Große Risse bildeten sich weiter in alle Richtungen um sie herum. In zehn Minuten konnte mit der Eisscholle viel passieren, aber er sprach seine Sorge nicht laut aus.
Die Struktur krachte unter seinen Stiefeln, und das Eis zwischen ihnen teilte sich. Schnell zog er an der Jacke des Mannes, um ihn in Sicherheit zu bringen, bevor er abtrieb. Aarons Herz raste, als die nun kleinere Scholle auf der Oberfläche des Wassers auf und ab hüpfte.
Das war knapp. Zu knapp.
Er war Rettungsschwimmer, zog es aber vor, zu dieser Zeit des Jahres trocken zu bleiben, wenn das Wasser so kalt war.
»Scheiße«, murmelte der Mann und fuhr sich mit einer Hand über seinen dicken Bart, in dem Eiszapfen hingen. »Danke.«
Sie warteten die zehn langen Minuten ab, ohne zu sprechen, und beobachteten das Eis, während sie sich im Geiste darauf vorbereiteten, wenn nötig sehr schnell zu reagieren. Als Aaron den Hubschrauber in der Ferne auftauchen sah, überkam ihn Erleichterung, und einen Moment später schwebte der Hubschrauber über ihnen. Wieder wurde der Korb hinabgelassen, und der Mann sprang schnell hinein, ohne einen Moment zu zögern.
Aaron befestigte sich an den Seilen und sandte einen Funkspruch hinauf. »Wir sind so weit.«
Sobald er wieder in der Sicherheit des Hubschraubers angekommen war, setzte er sich neben den Vater, legte ihm eine Thermojacke um die Schultern und holte tief Luft. Seine Ansprache zum Thema Sicherheit sowie ein Tadel lagen ihm auf der Zunge.
Allergisch gegen Spaß und dagegen zuzusehen, wie andere welchen haben.
Islas häufiger Spott hallte genau in diesem Moment in seinem Kopf wider, und er presste die Lippen zusammen. Verdammt, Isla trieb ihn total in den Wahnsinn, vor allem weil sie ständig in seinem Kopf auftauchte, unerwartet und ungebeten und viel zu häufig. Ihre spitze Zunge und dieser messerscharfe Verstand beschworen immer wieder einen Streit herauf. Sie war gnadenlos, wenn sie glaubte, im Recht zu sein, und ihre Unfähigkeit, auf die Stimme der Vernunft zu hören – auf ihn –, ärgerte ihn maßlos.
Zudem war es ihm völlig unbegreiflich, warum er überhaupt etwas auf ihre Meinung gab.
»Sorgen Sie einfach von jetzt an dafür, dass Sie sich bei der hiesigen Küstenwache erkundigen, bevor Sie raus aufs Eis gehen, okay?«, sagte er nur und vermutete, dass eine Moralpredigt an den Mann ohnehin verschwendet gewesen wäre.
Der Mann zitterte unter der Thermodecke, und seine Lippen bebten, als er fragte: »Mit wem kann ich darüber reden, mein Schneemobil aus dem Meer zu bergen?«
Offenbar war es nicht genug, dass die Küstenwache ihn und seine Familie gerettet hatte.
Touristen.
»Tja, Mann, das Ding können Sie vergessen.«
Würde diese Zeit des Jahres denn niemals einfacher werden?
Der typische Weihnachtstrubel tat Aaron immer in der Seele weh. Warum lebte er nicht in einer Stadt, die die Dekoration auf ein respektables Minimum beschränkte? Zu dieser Jahreszeit verwandelte Port Serenity sich stets in die Kulisse eines Weihnachtsfilms, und sein grinchmäßiges Herz konnte es kaum ertragen. Die Geschäfte konkurrierten um die aufwendigste Schaufensterdekoration, und die Stromkosten der Stadt für die Straßenlaternen, die komplett mit weißen Lichterketten umwickelt waren, schnellten in die Höhe. Der große Weihnachtsmann und die acht Rentiere, die in der Nähe des Büros des Bürgermeisters über der Straße hingen, versperrten seiner Meinung nach eine angemessene Sicht auf die einzige Verkehrsampel in der Stadt. Aber seine Petition, den in die Jahre gekommenen Weihnachtsschmuck in den Ruhestand zu schicken, war bei der Stadtratssitzung im vergangenen Jahr abgelehnt worden, daher wusste er, dass es sinnlos war, das Thema noch einmal zur Sprache zu bringen.
Er hatte die Weihnachtszeit nicht immer verabscheut … Aber es war auch alles ganz anders gewesen, als seine jüngere Schwester noch gelebt hatte. Amy hatte die Feiertage geliebt. Sie hatte den Weihnachtsschmuck herausgeholt, sobald Halloween vorbei war. Ihr Elternhaus war das Festlichste im ganzen Viertel gewesen, mit vielfarbigen Lichtern, großen aufblasbaren Figuren und einer Familie von Schneemännern auf dem Rasen. Sie hatte immer darauf bestanden, dass sie ihren Weihnachtsbaum schon am Tag nach Thanksgiving aufstellten, und sie hatte bei allen Einkäufen und beim Geschenkeverpacken geholfen, und es kümmerte sie nicht, dass sie alle Geschenke kannte, ihre eigenen eingeschlossen. Sie war eine echte Weihnachtsfanatikerin gewesen, sodass Aaron kaum atmen konnte beim Anblick all der Lichter und des Weihnachtsschmucks. Besonders wenn er die Weihnachtsmusik hörte, die sie so geliebt hatte.
Jene Winterferien vor zehn Jahren kamen ihm so vor, als wäre es erst gestern gewesen. Aaron würde den Unfall mit dem Schneemobil, der Amy und Blake, Aarons besten Freund, das Leben gekostet hatte, niemals vergessen können. Er würde sich niemals gestatten, ihn zu vergessen. Sie hatte mit seinem Freund mitfahren wollen. Sie war so verknallt gewesen in Blake. Aaron hätte darauf bestehen sollen, dass sie stattdessen bei ihm mitfuhr. Er hätte sie beschützen müssen.
Er konnte nicht zurück in die Vergangenheit und die Entscheidung ändern, die er an diesem Tag getroffen hatte. Eine Entscheidung, die letztendlich dazu geführt hatte, dass er sowohl seinen Freund als auch seine Schwester verloren hatte, als das Schneemobil gegen einen Baum prallte. Aber er konnte versuchen zu verhindern, dass andere Familien eine ähnliche Tragödie durchlitten.
Der Unfall war die treibende Kraft hinter seiner Entscheidung gewesen, sich nach seinem Abschluss der Coast Guard anzuschließen. Er hatte sich schon während der Highschool als Freiwilliger an Rettungsmissionen vor Ort beteiligt und jedes Sicherheitstraining und jeden Erste-Hilfe-Kurs absolviert, an dem er teilnehmen konnte. Nach der Highschool war er dann nach North Carolina gegangen für die Ausbildung zum Rettungsschwimmer bei Einsätzen mit dem Rettungshubschrauber. Das Programm dauerte vierundzwanzig Wochen und hatte eine achtzigprozentige Abbruchquote, weil viele Kandidaten einfach scheiterten an der nötigen körperlichen Fitness, den vielen Stunden Schwimmtraining, den extremen Übungen zum Wasservertrauen, aber auch an dem Unterricht im Klassenzimmer. Aaron hatte sich durch alles hindurchgekämpft, angetrieben vom Schmerz und dem Bedauern angesichts der Vergangenheit, wann immer es wirklich hart wurde, und er hatte an Amy gedacht, wenn er am liebsten alles hingeschmissen hätte. Es gab andere Positionen, für die er sich hätte bewerben und ausbilden lassen können, aber er wollte den Job machen, den nicht alle anderen machen konnten. Er wollte sich auf die harten, unberechenbaren, fast unmöglichen Missionen vorbereiten, die von ihm sein Bestes abverlangen würden. Mittlerweile gehörte er zu einer Elitetruppe hochspezialisierter Offiziere der Küstenwache, und er bemühte sich ständig, noch mehr zu lernen und sich weitere Fähigkeiten anzueignen. So hatte er gerade erst einen siebenwöchigen Höhenrettungskurs in Kalifornien absolviert, wo er für Höhlenrettungen und Hilfeleistungen an Klippen ausgebildet worden war.
Er wollte für absolut alles ausgebildet sein.
Semper paratus. Immer bereit.
Er ging über die Main Street, den Kopf eingezogen in seinem Thermowintermantel, der Schnee knirschte unter seinen Füßen, und einige Minuten später öffnete er die Tür der Port Serenity Highschool. Seine Brust schnürte sich noch mehr zusammen, als er die Schule betrat, die er und Amy besucht hatten. Sie war immer gern zur Schule gegangen, vor allem während der Weihnachtszeit. Sie war die stellvertretende Leiterin des Winterfestausschusses gewesen und hatte ihr Schließfach mit Girlanden und Lichterketten geschmückt. Sie hatte jedes Jahr eine Spielzeugspendenaktion organisiert und ehrenamtlich nach der Schule bei der örtlichen Suppenküche gearbeitet. Sie hatte eine außerordentlich starke karitative Ader gehabt.
Er holte tief Luft, als er sich der offenen Tür der Turnhalle näherte. Seine alljährliche Ansprache an die Schüler zum Thema Sicherheit in den Winterferien sollte in fünf Minuten anfangen, und die Schüler hatten sich bereits in der Turnhalle versammelt und saßen auf dem Boden. Gerade richtete der Direktor das Wort an sie und versuchte sie vor der Präsentation zur Ruhe zu bringen.
Er mochte nicht der spannendste Redner sein, aber es war wichtig, die Kinder aufzuklären, da den Eltern nicht immer bewusst war, was nicht nur an der Küste, sondern auch in den abgelegenen Waldgebieten alles passieren konnte. Die Winter- und Frühlingsferien waren die Jahreszeit, in der sie die meisten Rettungseinsätze hatten. Wenn Aarons Ansprache auch nur einen einzigen Schüler daran hindern konnte, ein unnötiges Risiko einzugehen, war es die Mühe wert.
»Keine Sorge, sie beißen nicht«, bemerkte eine Frau hinter ihm.
Als er sich umdrehte, sah er Trina Clarkson, eine Lehrerin der achten Klasse den Flur herunterkommen. Er zwang sich, seine ehemalige Klassenkameradin anzulächeln. Trina war hübsch, mit dunklen Locken und strahlend grünen Augen. Sie war freundlich und geduldig und besaß eine energische Persönlichkeit, die sie zu einer perfekten Lehrerin für hormongesteuerte, renitente Teenager machte.
»Hallo, Trina«, begrüßte er sie.
»Schön, dich zu sehen. Du warst schon seit einer ganzen Weile nicht mehr beim Bowling.«
Er senkte verlegen den Kopf. »Man hat mich aus der Mannschaft geworfen.«
Sie lachte. »Was? Warum? Du warst ihr bester Spieler.«
»Genau das war anscheinend der Grund. Die Liga hat mehrheitlich entschieden, dass ich eine Saison aussetze – um einer anderen Mannschaft eine Chance auf die Trophäe zu geben.«
Er hatte acht dieser Trophäen. Als Teenager war er der Mannschaft beigetreten, um seinem Dad einen Gefallen zu tun, weil sie zu der Zeit einen vierten Spieler gebraucht hatten. Doch dann war er wirklich gut im Bowlen geworden und hatte mit der Zeit Gefallen gefunden an diesem wenig anspruchsvollen Sport. Es war ein gewaltiger Kontrast zu dem extremen Stress, den er seinem Körper in seinem Berufsalltag zumutete. Sein Dad hatte mit dem Spielen aufgehört, als seine Eltern nach Florida gezogen waren. Sie hatten das harte Winterwetter und die unversöhnliche Wildnis hinter sich gelassen – zusammen mit den unzähligen Erinnerungen an Amy und ihr früheres Familienleben.
Aaron sah nichts Falsches in ihrer Entscheidung, aber er selbst hatte beschlossen, in Port Serenity zu bleiben. Aufgrund einer grimmigen Loyalität seiner Heimatstadt gegenüber war Fortgehen für ihn keine Option. Er hielt Kontakt zu seinen Eltern, soweit das der Zeitunterschied zuließ, und im Laufe der vergangenen drei Jahre waren seine Crew-Kollegen zu seiner Familie geworden.
Trina schüttelte den Kopf. »Nun, was mich betrifft, ich vermisse es, dir dabei zuzusehen, wie du einen Strike nach dem anderen wirfst«, sagte sie kokett.
Ich vermisse es, auf deinen Hintern zu starren, schwang definitiv in ihrem Ton mit.
Er räusperte sich, wusste aber nicht recht, was er antworten sollte. Flirten war nicht wirklich seine Stärke, und er mochte Trina zwar, wollte ihr aber keine falschen Hoffnungen machen. Er hatte bemerkt, wie sie ihn beim Bowling ansah und wann immer sie einander in der Stadt über den Weg liefen, und er wollte sie nicht zu etwas ermutigen, das er nicht erwidern konnte. Unglücklicherweise gab es wirklich niemanden in Port Serenity, zu dem er sich hingezogen fühlte …
Ein Bild von Isla in diesem irre heißen roten Kleid auf der Sealena-Party blitzte in seinen Gedanken auf, aber er verdrängte es sofort. Isla gehörte auf jeden Fall in die Kategorie: ansehen, aber nicht anfassen. Er war klug genug, sich nicht die Finger zu verbrennen.
»Ich finde es wirklich toll, dass du immer wieder das Sicherheitstraining hier machst«, wechselte sie das Thema, da sie sein Unbehagen zu spüren schien.
Nach Amys Tod hatte er alle Sicherheitstrainings für die Wildnis belegt, die er finden konnte, und dann hatte er daraus eine eigene informelle Präsentation entwickelt, um die wesentlichen Inhalte zu vermitteln.
Er nickte. »Alljährliche Wiederauffrischungen können Leben retten«, antwortete er und hoffte, dass dieser Satz nicht so lahm klang, wie Isla es ihm oft vorwarf.
Warum um alles in der Welt war ihm das wichtig? Und warum kam ihm Isla in letzter Zeit überhaupt so oft in den Sinn?
Sie war sechs Monate fort gewesen, und in dieser Zeit hatte er kein einziges Mal an sie gedacht. Okay, vielleicht doch ein paarmal, aber nicht so oft wie seit der Feier in der vergangenen Woche. Daran war nur dieses rote Kleid schuld. Und sie hatte absolut recht mit der Behauptung, sie sei in Topform …
»Aaron?« Trina wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht.
»Entschuldige, was?«
»Ich habe dich gefragt, ob du am 9. Dezember frei bist.«
»Für eine weitere Präsentation?«
Sie wirkte ein wenig nervös, als sie antwortete: »Nein, es ist ein Samstag … An diesem Abend ist die Weihnachtsfeier für die Schulmitarbeiter. Ich wollte dich fragen, ob du gern mit mir hingehen würdest.«
»Oh, ich stehe nicht wirklich auf Weihnachtspartys.«
Das war zwar nur teilweise der Grund für seine Absage, aber es stimmte. Er hatte das Sealena-Event nur deshalb besucht, weil man es von den Mitgliedern der Coast Guard erwartet hatte. Aber normalerweise schwänzte er alle anderen Weihnachtsfeiern in der Stadt.
»Glaub mir, es wird nicht mal eine richtige Party. Es sind nur sechzehn Kolleginnen und Kollegen, und wir essen im Lehrerzimmer Fingerfood, trinken billigen Wein und beklagen uns über den Mangel an finanziellen Mitteln …« Sie hielt inne und lachte. »Das macht dir die Sache kaum schmackhafter, hm?«
Tatsächlich klang es besser als eine große, schicke Party, aber trotzdem …
»Hör mal, es braucht kein Date oder so etwas zu sein«, beteuerte sie schnell. »Ich hasse es einfach, allein hinzugehen. Greg neigt dazu, weibliche Singles anzumachen, wenn er zu viel Zucker intus hat.«
Aaron kannte Greg nicht sehr gut, aber er konnte Trinas Wunsch nach einem Puffer verstehen. »Also wäre ich im Wesentlichen dein Bodyguard?«
Sie legte den Kopf schräg und grinste. »Es ist wirklich dein Ding, Leute zu beschützen, hm?«
Sie spielte also diese Karte aus, und unglücklicherweise funktionierte es. Er seufzte. »Okay, ich werde mit dir hingehen.«
»Ich meine, nur wenn es niemand Bestimmtes gibt, mit dem du dich triffst«, sagte sie, als wollte sie ausloten, ob er Single war.
Nein. Es gab niemand Bestimmtes. Es hatte niemals wirklich jemand Bestimmtes gegeben. Er war in der Vergangenheit ab und zu ausgegangen – größtenteils mit Touristinnen, die hier Urlaub machten –, aber er hatte es noch nie mit einer Frau ernst gemeint. Es war nicht leicht, in einer Kleinstadt eine Partnerin zu finden. Keine Frau brachte sein Herz wirklich zum Rasen oder stellte eine Herausforderung dar oder löste auch nur einen Hauch von sexueller Anziehung bei ihm aus …
Ein gewisses rotes Minikleid zählte nicht.
»Aaron?«
Er blinzelte. »Ja?«
»Ich habe gefragt, ob du jetzt reingehen willst?«, wiederholte sie mit einem sanften Lächeln.
»Oh ja. Das wollte ich. Das will ich.«
Isla Wakefield durfte nicht so viel Raum in seinem Kopf einnehmen und seine Leidenschaft dafür trüben, die Bewohner von Port Serenity zu beschützen. Er hoffte, dass sie niemals Grund haben würde, seine Gewissenhaftigkeit zu würdigen.
Er folgte Trina in die Turnhalle, gerade als Rektor Parks, ein relativ kleiner, rundlicher Mann mit Halbglatze, der schon Rektor gewesen war, als Aaron noch die Schule besucht hatte, ihn ankündigte.
»Wir können uns glücklich schätzen, dass Aaron Segura von der Küstenwache wieder einmal bei uns ist und uns über Sicherheitsrisiken in den Winterferien aufklärt«, sagte er.
Ein kollektives Stöhnen kam von der Gruppe Teenager, und Aaron grinste. Niemand wollte sich das hier anhören, was ihn jedoch nicht daran hindern würde, seinen Vortrag zu halten. Das Thema war zu wichtig.
Außerdem war er kein Vollidiot. Er griff in seine Tasche und holte eine Tüte mit zweihundert Zuckerstangen heraus. Dann reichte er die Tüte dem Jungen in der ersten Reihe. »Teil die hier bitte für mich aus«, sagte er.
Der Zuckerrausch würde sie zumindest wach halten.
Diese Jahreszeit würde für Isla immer eine besondere Bedeutung haben.
Und das lag nicht nur an den bevorstehenden Feiertagen. Die Main Street in Port Serenity war zu dieser Jahreszeit ein Winterwunderland, und wann immer sie durch die vertrauten Straßen ging, umgeben von den Bildern und Klängen der Weihnachtszeit, erinnerte sie sich an das erste Mal, als sie das alles erlebt hatte.
Als sie vier geworden war und die Wakefields sie adoptiert und mit nach Hause nach Port Serenity genommen hatten, hatte sie das beste Weihnachtsgeschenk ihres Lebens bekommen. Bis zu diesem Punkt hatte sie in Kinderheimen und Pflegefamilien gelebt und nie richtig Weihnachten gefeiert. Da sie so jung war, hatte sie nicht einmal gewusst, was für eine besondere Jahreszeit es war, aber jenes Jahr war einfach magisch gewesen. Sie hatte eine Familie mit einem tollen älteren Bruder geschenkt bekommen, und das war mehr als genug gewesen.
Sie hatte bei einem Ausflug den Weihnachtsmann kennengelernt, Schlittschuhlaufen gelernt, ihren ersten Weihnachtsbaum geschmückt, Weihnachtskekse gebacken und war am Weihnachtsmorgen aufgewacht, und es hatten Geschenke unter dem Baum gelegen … Isla hatte gedacht, ihr kleines Herz würde vor Glück explodieren.
Doch zwei Sekunden später war sofort wieder die Angst dagewesen, das alles zu verlieren.
Diese Jahreszeit zeigte ihr nur immer wieder, wie viel Glück sie hatte. Und sie wollte das auf jedwede ihr mögliche Art zurückgeben. Auf ihre eigene Weise. Vor sich hin summend ging sie durch die Straßen im Stadtzentrum, eingemummt in ihren warmen Wintermantel, mit Schal, Mütze und Fäustlingen. Sie schlenderte langsam über den Bürgersteig und ließ den Blick über die Schaufensterauslagen in allen Geschäften wandern, die sich im Besitz der Wakefields befanden. Ihre adoptierten Vorfahren hatten mit der Vermarktung der Sealena-Legende nicht nur die Stadt neu erfunden, sie hatten auch Arbeitsplätze für sehr viele Einheimische geschaffen. Sealenas Mythos lockte Besucher aus der ganzen Welt an, und die Meeresschlangenkönigin kurbelte zweifellos die Wirtschaft an.
Kein Mitglied ihrer Familie führte tatsächlich eins dieser Geschäfte selbst, sondern stellte stattdessen Arbeitsmöglichkeiten für andere Familien in der Stadt bereit. Die Walters hatten schon immer die Sealena-Buchhandlung und das Sealena-Museum betreut, vor dem sie jetzt stand und Carly anlächelte, die gerade bunte Lichter im Fenster aufhängte. Die Apotheke und der Supermarkt wurden von den Grielys geführt, und die Cranstons arbeiteten, seit Isla denken konnte, im Spirituosen- und Weinladen.
Es erfüllte sie definitiv mit einem gewissen Stolz, eine Wakefield zu sein, und die Chancen, die damit einhergingen, würde sie niemals als selbstverständlich betrachten.
Unglücklicherweise wusste sie, dass ihre Dankbarkeit für ihren Dad nicht einmal annähernd genug war.
Alle sagten, sie seien sich sehr ähnlich: halsstarrig, willensstark, streitlustig und leidenschaftlich. Schlüsselzutaten für eine fantastische Anwältin, sagte ihr Dad. Aber sie war sich nicht sicher, ob ein Kampf für Gerechtigkeit wirklich das war, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte.
Sie kam aus dem staatlichen Jugendhilfesystem. Sie war ein Opfer von Ungerechtigkeit geworden, und außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie ihr Leben damit verbringen wollte, sich ständig herumzustreiten. Die Zankereien mit Aaron Segura waren eine Sache. Vor Gericht um irgendetwas zu kämpfen, wenn es um Menschenleben ging, das war etwas ganz anderes.
Bald jedoch würde sie etwas unternehmen müssen und etwas mit einer Zukunftsperspektive anfangen. Ihre Eltern unterstützten ihre Reisen und ihre Bemühungen, sich selbst zu finden, aber so langsam machten sie sich Sorgen, dass sie sich einfach so durchs Leben treiben ließ. Sie fürchteten, dass sie es ihr zu leicht gemacht hatten und sie jetzt den Wert harter Arbeit nicht erkannte.
Es war ihr unmöglich, anderen zu erklären, dass es ihr schwerfiel, Entscheidungen über ihre Zukunft zu treffen, wenn es noch so viele unbeantwortete Fragen bezüglich ihrer Vergangenheit gab.
Als sie einen Häuserblock weiter das Jugendzentrum der Gemeinde betrat, schüttelte sie sich, als ein Hitzeschwall aus der Tür quoll. Sie stampfte mit den Füßen auf, um den Schnee von ihren Stiefeln abzuschütteln, und sah sich um. Gruppen von Kindern spielten Basketball, Tennis und Hockey in der Sporthalle. Die Kunsträume waren voller jüngerer Kinder, die Weihnachtsbasteleien herstellten, und im Schauspielraum probte eine Gruppe junger Theaterfans für das Krippenspiel, das kurz vor Weihnachten im Stadttheater aufgeführt werden sollte.
Überall im Jugendzentrum war Mariah Careys Weihnachtsalbum zu hören, und Isla summte die Melodien mit, während sie sich aus ihrer Winterkleidung schälte und zum Kletterraum ging. Er war die jüngste Errungenschaft des Zentrums, nachdem ein anonymer Spender im vergangenen Jahr die Mittel dafür zur Verfügung gestellt hatte.
»Hey, Isla!«, begrüßte sie der Programmkoordinator des Zentrums und streckte den Kopf durch den Türrahmen.
»Hallo, Phillip«, antwortete sie mit einem Lächeln.
Er trug einen hässlichen Weihnachtspulli, und an seinem Ohr baumelte ein Schneeflockenohrring. Die Kids im Zentrum liebten ihn heiß und innig, und er sorgte dafür, dass diese Jahreszeit auch für diejenigen schön und besonders wurde, bei denen zu Hause vielleicht keine weihnachtliche Stimmung herrschte.
»Ich war das ganze Jahr hindurch besessen von deinen Instagram-Posts.«
Das wusste sie. Er hatte jedes Foto und jedes Video kommentiert, das sie während ihrer Reisen und Abenteuer gepostet hatte. »Ich habe mich über deine vielen Kommentare gefreut.«
Er errötete leicht. »Tut mir leid, ich glaube, ich habe meine Träume durch dich gelebt.« Er kam mit seinem Rollstuhl in den Raum gerollt und betrachtete die Felswand. »Letzte Woche habe ich es bis ganz nach oben geschafft«, berichtete er stolz.
»Das ist absolut großartig. Freut mich für dich, Phillip. Du wirst wieder draußen am Berg sein, bevor du weißt, wie dir geschieht, und dann werde ich Kommentare auf deinem Instagram-Account hinterlassen.«
Er nickte energisch. »Auf jeden Fall.«
»Sieht so aus, als hätten sich viele Kinder für den Kurs eingetragen«, bemerkte sie und betrachtete die Anmeldeliste an der Wand.
»Die Felswand ist der Hit. Ich wünschte, ich wüsste, wem ich die zu verdanken habe«, fügte er hinzu und musterte sie argwöhnisch.
Sie zuckte die Achseln, und in dem Moment hörten sie das Telefon in seinem Büro am anderen Ende des Flurs klingen.
»Gerade noch mal davongekommen«, sagte er.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, rief sie ihm nach, als er sie stehen ließ, um den Anruf entgegenzunehmen.
Ihr eigenes Telefon kündigte eine neue Textnachricht an. Sie war von Dwayne.
War toll, dich neulich Abend zu sehen. Dieses Kleid – der Hammer!
Isla seufzte. Sie hatte schon damit gerechnet, dass sich ihr Ex melden würde, nachdem er sie auf dem Sealena-Event gesehen hatte. Obwohl er versucht hatte, sich cool zu geben und Abstand zu wahren, hatte sie mehr als einmal an dem Abend seinen Blick gespürt. Sie hatte ihm kurz quer durch den Raum zugewunken, aber gesprochen hatten sie nicht miteinander. Es würde unmöglich sein, ihm während dieser Jahreszeit in der Stadt aus dem Weg zu gehen, denn es gab zu viele festliche Veranstaltungen, und sie verkehrten im gleichen Freundeskreis. Im Grunde wollte sie ihm auch gar nicht unbedingt aus dem Weg gehen. Sie hatten sich durchaus einvernehmlich getrennt. Anfang des Jahres waren sie drei Monate zusammen gewesen, aber sie hatte die Beziehung beendet, als sie wieder auf Reisen gegangen war. Sie hatte es damit begründet, dass Fernbeziehungen nichts für sie wären, und das entsprach zum Teil der Wahrheit, aber es war auch eine Ausrede. Sie mochte Dwayne – er war witzig und interessant, und außerdem sexy, erfolgreich und tollkühn als Hubschrauberpilot für die Küstenwache. Damit entsprach er definitiv ihrem Anforderungsprofil und besaß alle Eigenschaften, nach denen sie bei einem Mann immer Ausschau hielt. Aber irgendetwas hatte gefehlt.
Höchstwahrscheinlich lag es an ihr. Nicht an ihm. Sie war einfach nicht in der Lage gewesen, sich ihm zu öffnen und eine echte Verbindung zuzulassen … wie eigentlich mit noch keinem Mann. Würde ihr das jemals gelingen? Oder waren oberflächliche Beziehungen alles, wozu sie in der Lage war?
Sie schrieb zurück.
Danke! Ich fand’s auch toll, dich zu sehen.
Einfach. Platonisch.
Die Punkte hüpften, während er schrieb, dann erschien seine Nachricht.
Ein paar von uns wollen nächste Woche zum Heliskiing fahren. Bist du dabei?
Verdammt, er wusste, wie man sie in Versuchung führte.
Heliskiing war eine ihrer Lieblingswintersportarten. Dwaynes Familie gehörte eine Firma in Port Serenity, die Hubschraubertouren anbot. Dort hatte Dwayne das Fliegen gelernt, als Guide für den Familienbetrieb, bevor er sich bei der Küstenwache beworben hatte.
Seine Familie konkurrierte mit ihrer um den Titel der reichsten Familie in der Stadt und war schon seit Generationen im Hubschraubergeschäft.
Aufgrund dieser Gemeinsamkeit glaubte Dwayne, dass sie so gut zusammenpassten. Er behauptete, er habe Probleme mit Beziehungen gehabt, weil er sich nie sicher war, ob die Frauen wirklich auf ihn standen oder nur auf sein Geld aus waren. Bei Isla wusste er, dass er sich keine Sorgen machen brauchte. Er fand, dass sie sich hervorragend ergänzen würden. Ein Powercouple …
Vielleicht. Ziemlich viel los mit der Familie, aber ich werde dir Bescheid geben.
Nachdem sie geantwortet hatte, steckte sie das Handy weg.
Sie wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen, dass sie wieder zusammenkommen könnten, aber der Skiausflug würde Spaß machen. Solange Dwayne klar war, dass sie nur Freunde waren.
Sie ging in den Geräteraum und holte die Klettersachen für die Gruppe Kinder, die gleich zu einer Trainingsstunde kommen würden. Eine Kindheit und Jugend in Alaska bedeuteten unglaubliche Möglichkeiten und die erstaunlichsten Abenteuer in der freien Natur, aber sie wollte, dass diese Kids richtig klettern lernten, bevor sie sich in die Berge wagten. Es war existenziell wichtig für die Sicherheit draußen in der unberechenbaren Wildnis, dass man die notwendigen Klettertechniken vorher in einer kontrollierten Umgebung erlernte.
Während sie die Geschirre überprüfte, klingelte ihr Handy und kündigte ihr eine neue E-Mail an, und ihr Herz raste, als sie sah, dass die Nachricht von Hunter Investigations in Anchorage kam. Mit leicht zitternden Händen öffnete sie die E-Mail und las die Nachricht.
Tut mir leid, Isla. Die Spur war eine Sackgasse.
Mitchell Hunter war kein Mann vieler Worte, und er kam immer gleich zur Sache. Meistens wusste sie das zu schätzen, aber manchmal wünschte sie, der Privatdetektiv würde ihr die Misserfolge ein wenig schonender beibringen. Sie hatte ihn vor zwei Jahren engagiert, aber er hatte noch nichts gefunden, was ihr half, ihre Vergangenheit zu ergründen.
Sie griff sich an den Hals und suchte Trost in dem halbmondförmigen Kettenanhänger, einem Geschenk ihrer leiblichen Mutter. Der Anhänger stellte die einzige Verbindung zu den frühen Jahren ihrer Kindheit dar.
Eine Gruppe von Jugendlichen kam lärmend herein, bekleidet mit Wintersachen und ausgerüstet mit schweren Rucksäcken, und Isla steckte das Handy schnell weg. Sie zwang sich zu einem strahlenden Lächeln und schüttelte die enttäuschenden Neuigkeiten ab, während sie sie begrüßte.
»Hallo, Leute! Wie war’s in der Schule?«
»Langweilig«, sagte Adam Griely, ein Elftklässler, und schleuderte seinen Rucksack von den Walking Dead gegen die Wand. »Wir haben unseren jährlichen Winterferiensicherheitsvortrag bekommen.« Sein Tonfall implizierte ein Augenrollen.
Mehrere der anderen Jugendlichen stöhnten ebenfalls, als sie hereinkamen.
»Hey, zumindest hat Officer Segura uns Süßigkeiten mitgebracht«, bemerkte Ariana, eine Zehntklässlerin, die an einer Zuckerstange leckte.
»Er musste uns mit Zucker wach halten«, warf ein anderer Junge ein, River.
Isla verbarg ein Grinsen. Also hielt Aaron noch immer seine Vorträge in der Schule. Auch wenn sie ihn gerne aufzog, hielt sie sein Engagement für die Schule doch für eine sehr gute Sache.
»Es sind wichtige Informationen«, erklärte sie den Teenagern.
Sie machte etwas Ähnliches. Wenn auch auf eine witzigere und fesselndere Weise …
»Ich verstehe, dass wir die Gefahren und Risiken kennen müssen, aber dieser Typ hat nur gesagt: ›Tu das nicht‹ und ›tut dies nicht‹«, sagte Adam und zog seine Jacke aus, unter der ein Shirt mit der Aufschrift Santa Slays All Day zum Vorschein kam.
Also war Aarons Methode vielleicht nicht die beste Herangehensweise für Teenager. Ihrer Erfahrung nach taten sie häufig genau das Gegenteil von dem, was man ihnen vorschrieb. Sie hatte in diesem Alter selbst genug rebelliert. Isla erteilte Ratschläge gern, ohne belehrend zu wirken.
»Ja, zumindest bringst du uns bei, wie wir uns schützen können, statt uns einfach nur zu sagen, wir sollen irgendwas nicht tun«, meinte Ainsley und griff nach einem Geschirr.
Isla lächelte und zerzauste die langen, widerspenstigen Haare des jungen Mädchens. »Nun, nicht alle sind so cool wie ich. Also, jetzt legt diese Zuckerstangen weg und lasst uns anfangen.«
In voller Winterkletterausrüstung machte Isla in ihrem Zimmer im Sealena-Hotel Kniebeugen. Dann ließ sie sich zu einer Reihe von Push-ups auf den Boden nieder. Sie hatte in einem beliebten Kletterblog gelesen, dass Training in voller Montur half, den Körper auf die Exkursion vorzubereiten, und sie war fest entschlossen, so gut vorbereitet wie nur möglich zu sein.
Sie mochte Aaron damit aufziehen, aber auch für sie kam Sicherheit an erster Stelle.
Als sich die Achtsamkeits-App auf ihrem Handy meldete, seufzte sie. Sie hatte an diesem Morgen keine Zeit für ihre tägliche Meditation, aber sie griff nach dem Gerät, machte die empfohlenen Atemübungen und wiederholte im Geiste das Mantra.
Lass vergangene Erfahrungen nicht deine heutigen Reaktionen bestimmen. Lebe im Augenblick, analysiere die Umstände und lass dich nicht von emotionalen Vermutungen hinreißen.
Die App war eine neue Sache, die sie gerade ausprobierte. Ein anderer Abenteurer hatte sie ihr im vergangenen Jahr empfohlen, als Isla während einer Vertrauensübung mit der Gruppe eine peinliche Panikattacke überfallen hatte. Sie fühlte sich nicht wohl damit, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen, und in dieser Situation hatte sie sich entblößt und verletzlich zeigen müssen. Sie zog es vor, die Freundschaften, die sie auf ihren Reisen knüpfte, leicht und oberflächlich zu halten … Sie erlaubte es nur sehr wenigen Menschen, sich ihr zu nähern … aber dann riss sie sich ein Bein aus mit ihrem übertriebenen Beschützerinstinkt – wie man an ihrer Beziehung zu Dex sah.
Na schön, es gab einige Dinge, an denen sie arbeiten musste. Wer hatte so etwas nicht? Und obwohl sie sich eingestand, dass die täglichen Übungen sie bei einigen persönlichen Themen unterstützten, half ihr am meisten, wenn sie sich in der Natur aufhielt.
Sie packte ihre Ausrüstung zusammen und wählte sorgfältig nur die wirklich notwendigen Dinge aus. Unnützer Ballast konnte genauso nachteilig sein wie das Fehlen von etwas, das sie dringend brauchte – ein Irrtum, dem viele Amateure zum Opfer fielen. Sie packte ihre Steigeisen zusammen mit ihren Eispickeln in den Rucksack, dazu ein Sicherungsgerät und ein Seil, dann zog sie den Reißverschluss zu.
Sie war abmarschbereit.
Draußen vor dem Fenster lag die Küste noch immer in tiefer Dunkelheit, aber der Tag versprach perfektes Wetter nur knapp unter dem Nullpunkt. Ein bewölkter Himmel würde sicherstellen, dass sie sich keine Sorgen wegen des direkten Sonnenlichts zu machen brauchten, vor dem Aaron sie so eindringlich gewarnt hatte.