Albtraum der Knaben - Sara Palmer - E-Book

Albtraum der Knaben E-Book

Sara Palmer

3,8

Beschreibung

"Albtraum der Knaben" basiert auf wahren Begebenheiten, die sich zwischen 1998 und 2016 ereigneten. Der Roman erzählt aus der Perspektive einer ehemaligen Lebensgefährtin des Täters. Trotz der wahren Hintergründe, sind die Namen und - teilweise - die Schauplätze geändert, um die Anonymität der Beteiligten zu wahren. Ein Teil des Buches ist fiktiv.

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Vorwort zum Roman

„Albtraum der Knaben“ ist eine Geschichte, die sich in ähnlicher Art und Weise zwischen 1998 - und 2016 zugetragen hat.

Die Taten ereigneten sich vorwiegend in Augsburg und Hannover, wo der Täter auch seine Wohnsitze hatte. Der Prozess fand in Augsburg vor dem Landgericht statt. Im März 2016 wurde dort auch das Urteil verkündet.

Trotz einiger Gemeinsamkeiten mit der wahren Geschichte, ist der Roman – in Teilen – natürlich fiktiv. Die Namen und manche Schauplätze wurden zum Schutz der Anonymität geändert. Einige Personen und Schulen, die in der Geschichte erwähnt werden, gibt es – und gab es – nicht.

Zur Autorin:

„Sara Palmer“ ist ein Pseudonym.

Weitere Bücher und geplante Neuerscheinungen von ihr, sind am Ende des Buches aufgeführt.

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Sonderbare Begegnungen

Augsburg, Sommerferien 2008

Teil 2: Als es begann

Hannover, 30. September 1998

Augsburg 2008, nach dem Vorfall in Nürnberg

Teil 3: Erste Ermittlungen

Hannover, 1. Oktober 1998

Augsburg, 30. Oktober 2008

Kripo Hannover, 1998

Augsburg, 31. Oktober 2008

Hannover, November 1998

Teil 4: Verdächtige Anzeichen

Augsburg, Juli 1993

Teil 5: Die Bestie im Mann

Augsburg, Winter 1999

Kripo Augsburg, nach der Tat

Nesselwang (Allgäu)

Teil 6: Opfer-Suche

Augsburg 2008

Augsburg, nach der Rückkehr aus Nesselwang

Teil 7: Dunkle Familien-Geheimnisse

Hannover, in den 1980ern

Augsburg, Sonntagabend bei Petra

Teil 8: Das Profil

Augsburg, April 2010

Augsburg ‐ Zentrum

Teil 9: „Kriegsrat“

Augsburg, Staatsanwaltschaft

Königsbrunn, Königstherme

Königstherme, fast zeitgleich

Beim Bademeister

Therme, wenige Minuten danach

Polizei Augsburg, einen Tag danach

Augsburg, Petras Wohnung

Teil 10: Treibjagd

Augsburg, Stadtpark

Kommissariat Augsburg, drei Stunden später

Teil 11: Verblassende Erinnerungen

Augsburg, ein Sonntag im Juli 2014

Einige Stunden später

Teil 12: Das Spiel ist aus

Augsburg, 14. Oktober 2014

Teil 13: Erdrückende Beweislast

Kripo Augsburg, Mitte Oktober 2015

Teil 14: Der Prozess

Landgericht Augsburg, Jugendkammer, 23.11.2015

Teil 15: Das Urteil

Landgericht Augsburg, 10. März 2016

TEIL 1

Sonderbare Begegnungen

Augsburg, Sommerferien 2008

Als Felix – mein zehnjähriger Sohn – mir eine sonderbare Frage stellte, als wir gerade aus Nürnberg zurückkehrten, dachte ich mir nichts dabei. Noch nicht.

Aber bevor ich Ihnen seine Frage mitteile, sollten Sie wissen, dass wir auf einem Ausflug in der fränkischen Metropole waren. Harry – mein Lebensgefährte – hatte Felix bei seinem zehnten Geburtstag versprochen, mit ihm in den Tierpark nach Nürnberg zu fahren. Acht Wochen waren seitdem vergangen, und endlich hatten wir alle vier Zeit gemeinsam dort hinzufahren. Wir „vier“, das sind: Patrick, mein dreizehnjähriger Sohn aus meiner ersten nennenswerten Liaison, die bereits erwähnten Felix und Harry, sowie ich, die Mutter der beiden Jungs, Sara.

Zu mir: Ich war – im Jahr 2008 – einunddreißig Jahre alt. Zehn Jahre zuvor, wurde ich zum zweiten Mal ungewollt schwanger. Meine damalige Affäre – mehr war es leider nicht – hatte mich, nachdem ich „ihn“ mit dem Schwangerschaftstest konfrontierte, verlassen. „Verlassen“ ist vielleicht etwas übertrieben, denn eigentlich waren wir nie richtig zusammen. Wir hatten uns wenige Monate zuvor, in einer Discothek in Augsburg-Lechhausen erstmals gesehen. Oliver hatte das gewisse „Etwas“, das mich sofort schwach werden ließ. Hochgewachsen, fast eins neunzig, leicht gebräunte Haut, dunkles volles Jahr, und einen muskulösen Körper, der mich sofort anmachte. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es noch nie einen One-Night-Stand bei mir. Aber einmal ist immer das erste Mal, warum nicht bei so einem knackigen Bürschchen? Ich war gerade erst Anfang zwanzig – mit wenig Erfahrung – und Oliver schon neunundzwanzig. Ich dachte, vielleicht hätte er mehr Reife und Erfahrung als Gleichaltrige. Fehlanzeige! Vor ihm, gab es bei mir nur einen Mann, Patricks Vater. Eigentlich Junge, denn Andreas – mein „Erster“ – war damals genauso alt wie ich. Und mit siebzehn, sind die Jungs doch noch ziemlich unreif, und wenn ich ehrlich bin, auch voll daneben, vor allem was ihren geistigen Horizont betrifft. Und ausgerechnet von dieser Pflaume, ließ ich mich zum ersten Mal schwängern. Und so wurde Patrick gezeugt, aber seinen Milchbubi-Vater schickte ich lieber in die Wüste, weil er dauernd mit seinen Kumpels anderen Rockzipfeln hinterherlief. Meine drei besten Freundinnen, erzählten mir damals ähnliches bei ihren ersten Liebeserfahrungen. Nur Pleiten, Pech und Pannen, bei den triebgesteuerten Idioten.

So ist nur deshalb der Name Andreas in meinem Gedächtnis geblieben, weil er mich geschwängert und auch entjungfert hat, sonst hätte ich ihn bestimmt schon längst vergessen. Unterhalt zahlte er nie, weil er nicht konnte. Nur mit Hilfe meiner Eltern, kam ich einigermaßen über die Runden. Und als Patrick gerade zwei Jahre alt war, besuchte mich die Polizei. Zuerst dachte ich, der Erzeuger meines Sohnes hätte Landflucht begangen, aber es war noch tragischer: Andreas war mit seinem frisierten VW Golf, gegen einen Brückenpfeiler gedonnert! Er war, laut Aussage der Polizei, anscheinend sofort tot. Nehmen Sie`s mir bitte nicht übel, aber ich habe keine einzige Träne vergossen, sondern nur bedauert, dass er keine Lebensversicherung hatte, von dem ich und Patrick hätten profitieren können.

Dann kam wie erwähnt, Oliver. Oli ist bestimmt anders, dachte ich anfänglich. Er war bei der Bundeswehr in Landsberg stationiert, und hatte sich für acht Jahre als Zeitsoldat verpflichtet. Landsberg liegt ungefähr 45 Kilometer von Augsburg entfernt. Da Augsburg aber bestimmt achtmal so groß ist und viel mehr Nachtleben zu bieten hat, fuhr er häufig allein oder mit einigen Kameraden, zu „Streifzügen“ in das quirlige Augsburger Nachtleben. Und bei einem seiner „Streifzüge“, lernten wir uns schließlich kennen. Leider!

Zum damaligen Zeitpunkt war er bereits Feldwebel. Richtig schnittig sah er aus in seiner Uniform, besser als Tom Cruise in „Top Gun“, und mindestens einen Kopf größer. Der „Typ Mann“, der den meisten Frauen schnell mal den Kopf verdrehte, so auch mir. Aber eigentlich wollte er nur Eines, wie viele andere Männer auch in seinem Alter: BUMSEN!

So oft und viel wie möglich, zu jedem Zeitpunkt, an jedem Ort, zu Wasser, Lande und weiß Gott wo. Seine Potenz war außerordentlich gut. Oft wurde es mir sogar zu viel, und ich war froh, wenn er mal für ein paar Tage auf einem Manöver oder Lehrgang verschwand. Damals dachte ich noch, er wäre nicht nur an meiner Vagina interessiert, sondern auch an mir als Person. Aber ich war nur ein Auffangbecken seiner Ergüsse, er hat mich bestimmt nie richtig geliebt. Es kam, wie es kommen musste: Nachdem er wieder einmal eine Ladung in meinen Unterleib gespritzt hatte, blieb meine Periode aus, und ich ging – leicht verspätet – zum Frauenarzt. Dort bekam ich die Gewissheit: Schwanger im dritten Monat! Es war nicht sein letzter Schuss, sondern einer der ersten gewesen. Warum bestand ich nicht auf ein Kondom, und ließ mich überreden, es ohne zu tun? Sicher, ich hätte mir auch die Pille verschreiben lassen können, aber ich verließ mich auf meinen Kalender und kreuzte die fruchtbaren Tage akribisch an. Wenn mich Oliver an diesen Tagen „nehmen wollte“, konnte ich ihn dazu überreden, es ihm mit meinen flinken Händen zu besorgen. Mit dem Mund war mir damals wirklich noch zu ekelig.

Vier Tage später – nachdem ich Oli das Ergebnis schonend präsentierte – habe ich, zwei Stunden nach Verkündung der Nachricht, nie wieder was von ihm gesehen und gehört. Vermutlich war er auf sowas vorbereitet. Die Stimme seines Mobiltelefons spulte immer wieder die gleiche Leier ab, nämlich „dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar sei“, und das unentwegt. Auf meine vielen SMS kamen keinerlei Reaktionen mehr. Als ich in der Artillerie-Kaserne in Landsberg anrief, wurde mir mitgeteilt, dass dort kein Soldat mit diesem Namen existiere. Ich schlug das Telefonbuch und die Gelben Seiten auf, rief alle Kasernen an, die dort verzeichnet waren, von Füssen bis nach Mittenwald. Aber nirgends, gab es dort einen Zeitsoldat mit dem Namen „Oliver Bläuel“. Das Schwein hatte mich hemmungslos angelogen, und ich doofe Kuh war darauf hereingefallen, wie viele naive Mädchen im Teenageralter. Alles Weitere kennen sie ja. Felix kam gesund und munter, sechs Monate später auf die Welt. Wenigstens hatte mir der charakterlose Idiot, einen kerngesunden, schönen Jungen geschenkt, den ich nicht mehr missen möchte. Und jetzt daheim in Augsburg – zehn Jahre später – stellte mir mein Sohn Felix, die sonderbare, fast beängstigende Frage: „Mama, mir tut mein Popo weh! Möchtest du ihn mal anschauen?“

Meine Schweißporen öffneten sich, und ich ahnte furchtbares. Denn wir nahmen uns in Nürnberg zwei Zimmer: Ich und mein älterer Sohn Patrick, sowie Harry und Felix das andere Hotelzimmer.

TEIL 2

Als es begann

Hannover, 30. September 1998

„Mami, kann ich noch im Hof unten spielen?“, fragte der sechsjährige Jonas seine Mutter, als sie langsam den Tisch für das Abendbrot deckte.

„Aber du kommst sofort, wenn ich aus dem Fenster schreie. Hast du verstanden? In einer halben Stunde kommt dein Vater aus der Werkstatt, dann sitzt du hier am Küchentisch.“ Energisch stemmte die junge Frau beide Hände in die breiten Hüften.

„Versprochen, Mami.“

Dann sprang der Kleine aus dem Zimmer. Es war Ende September, und Jonas war seit knapp einem Monat in der 1. Klasse der Wittelsbach-Schule. Es war ein herrlicher Herbsttag mit Temperaturen um die fünfundzwanzig Grad, und das noch am späten Nachmittag. Gerlinde Koschwitz war froh, dass der Junge endlich in der Schule war. Mit ihrem Mann Peter hatte sie besprochen, nach seiner Einschulung wieder als Teilzeitkraft bei der Drogeriemarktkette Rossmann anzufangen. Vor Jonas Geburt, hatte sie dort schon zehn Jahre lang als Verkäuferin gearbeitet, zuletzt als stellvertretende Filialleiterin.

Als Jonas zwei Minuten später im Hinterhof ankam, wunderte er sich, dass Holger und Ralf nicht da waren, seine beiden besten Freunde. Gewöhnlich trafen sie sich fast jeden Tag, sofern es nicht regnete. Holger war bereits in der zweiten Klasse, und Ralf war – wie er – in der gleichen Klasse der Wittelsbach-Schule.

Aber noch viel verwunderlicher als ihre Abwesenheit, war dass, was er auf der kleinen Schaukel sah: Einen Mann! Jonas konnte sein Alter nicht genau bestimmen, aber auf jeden Fall viel älter als er, und bestimmt zwei Köpfe größer. Vielleicht zwanzig oder dreißig? Oder sahen etwa so, schon vierzigjährige aus? Das konnte nicht sein. Papi wurde doch erst vierzig, hatte ihm Mami kürzlich erzählt, damit er auch wisse, wie alt seine Eltern waren. Und Papi sah doch schon deutlich älter aus, als der jugendlich wirkende Typ auf der Schaukel.

„Na, Kleiner. Ist das dein Lieblingsspielplatz?“, fragte der dunkelhaarige Typ, und stoppte die Schaukel mit seinen langen Beinen. Vage erinnerte sich Jonas an dass, was ihm seine Mutter schon häufig gesagt hatte: Ignoriere fremde Männer, vor allem die, die du nicht kennst! Aber bevor er genauer über diesen Satz nachdachte, warf ihm der Fremde schon einen Schokoriegel zu, den er aus der Brusttasche gezogen hatte. Vor Überraschung, rutschte ihm der Riegel durch die Hände und fiel auf den Rasen. Jonas bückte sich und hob ihn auf.

„Duplo! Magst du doch bestimmt, oder?“, fragte der Mann.

Jonas betrachtete ihn, und dachte sich, dass von ihm wohl bestimmt keine Gefahr ausgehen würde, zumal auch bald seine Freunde eintreffen mussten.

„Ja“, antwortete er schüchtern. Irgendwie sah der Mann aus, wie einer seiner Lehrer, den er die letzten Wochen zu Gesicht bekommen hatte. Und Lehrer waren ja gute Menschen, warum dann dieser Mann nicht auch?

„Wie heißt du?“, fragte der Mann und kam langsam auf ihn zu.

„Jonas“, antwortete der Kleine, und öffnete dabei die Verpackung des Schokoriegels.

„Wie alt bist du, Jonas?“

„Sechs, aber ich werde bald sieben“, antwortete der Junge kauend.

„Möchtest du noch mehr Riegel? Oder vielleicht ein paar Gummibärchen? Ich hab vorher eine ganze Tüte davon gekauft.“ Der Mann stand jetzt direkt vor ihm und sah ihn grinsend an.

Warum nicht? dachte sich Jonas. Mami sagte zwar immer, dass zu viel Süßes, schlechte Zähne gibt, aber seine Mutter wollte ja nur, dass er „ihr“ Essen aß. Und das schmeckte ja auch nicht immer. Und wenn`s nicht schmeckt, konnte es ja auch nicht so gut sein, oder? Außerdem konnte er ja seinen Freunden später einen Teil davon schenken. Deshalb nickte er nur.

„Gut, dann komm schnell mit. Mein Auto steht vorne auf der Straßenseite, in der Nähe eures Türeingangs.“

Erst jetzt sah Jonas, dass der Fremde ein Käppi trug, mit „Uncle Sam“- Aufdruck. Er kannte den Namen und Schriftzug, weil es bei seinem Vater fast genauso auf einem T-Shirt stand.

„Ich muss aber gleich zum Abendessen. Und wenn Mami aus dem Fenster ruft und ich nicht da bin, muss ich früher ins Bett gehen.“

„Jonas, du bist in zwei Minuten wieder da. Ich muss selber gleich fahren, und außerdem hören wir auf der anderen Seite auch, falls deine Mutter dich ruft.“

Was natürlich nicht stimmte.

Aber die Verlockung für den Kleinen war einfach zu groß, und Jonas trabte hinter dem Mann her. Als sie durch den Hinterhof zur Straßenseite liefen, kam ihnen Frau Timmermann entgegen. Jonas kannte die alte Frau, weil sie sich schon zweimal beschwert hatte bei seiner Mutter, weil er angeblich zu laut mit seinen Freunden war. Eine bösartige Frau, fand er. Sie sah ihn nur kurz an, und würdigte auch dem Fremden keinen Blick. Jonas sah nicht, dass sich der Mann die Schirmmütze noch tiefer ins Gesicht zog und etwas schneller ging. Allerdings lief der Fremde nicht vor zum Haupteingang, sondern in eine kleine Seitengasse, die in eine Einbahnstraße mündete.

„Wir sind schon da, Jonas“, sagte der Fremde und nahm ihn an der Hand. „Siehst du den weißen BMW? Dort hab ich den ganzen Kofferraum voll, mit lauter leckeren Sachen. Ich schenk dir auch noch fünf Mark.“

Jonas ließ sich an der Hand führen, und wunderte sich über gar nichts mehr. Dieser Mann meinte es gut mit ihm, er sah auch sehr vertrauenerweckend aus, mit seinen rehbraunen Augen und der kleinen Nase. Manche Leute mögen halt gerne kleine Kinder, so wie seine Oma und Opa, von denen er auch ständig was bekam. Auch letzte Woche in der Metzgerei, bekam er ein knackiges Würstchen, als er mit seiner Mutter beim Einkaufen war. Und diesen Mann hinter der Wurst-Theke, hatte er damals auch zum ersten Mal gesehen.

Dann standen sie vor dem schneeweißen BMW, dahinter stand nur noch ein kleiner roter VW Polo. Der Mann öffnete den Kofferraum und holte eine zerknüllte Plastiktüte hervor. Der kleine Jonas sah ehrfürchtig auf die Tüte, und konnte es kaum noch erwarten, die vielen Süßigkeiten in den Händen zu halten. Mann, würden Ralf und Holger vielleicht Augen machen. Der Mann mit der Mütze, griff mit der rechten Hand in den Beutel und zog was daraus hervor. Aber Jonas erkannte sofort, dass das keine Süßigkeiten waren. Das sah irgendwie total anders aus. Vielleicht ein neues Spielzeug? Dann ging alles auf einmal blitzschnell. Der Mann presste seine Hand mit einem Tuch, auf den Mund des Jungen. Bevor Jonas schreien konnte, wurde bereits alles dunkel um ihn. Keine fünf Sekunden zappelte er noch, dann hing er schlaff wie ein Sack Kartoffeln, in den Armen des Mannes. Der Mützen-Mann sah sich kurz um, hob den Jungen hoch, schmiss ihn in den Kofferraum und fuhr unbemerkt davon.

Augsburg 2008, nach dem Vorfall in Nürnberg

Haben Sie schon einmal die Genitalien, Ihres zehnjährigen Sohnes, genauer unter die Lupe genommen? Zuletzt tat ich das, als Felix gerade sechs geworden war. Meinen ersten Verdacht verwarf ich wieder. Es war unmöglich, dass Harry sich Felix genähert hatte. Erstens war er nicht schwul und zweitens kein Pädophiler. Eher ein warmherziger Typ, immer wie ein Vater zu Felix, und außerdem noch Arzt. Kinderarzt nämlich, im Augsburger Krankenhaus.

Dort tat er alles Menschenmögliche, um Kindern ein besseres und gesunderes Leben zu ermöglichen. Dazu schob er sogar jede Menge Überstunden. Oft wenn wir am Wochenende was vorhatten, musste er für einen Kollegen einspringen oder er hatte einen Notfall. Nicht nur, dass die Kinder einen Unfall oder womöglich eine Krankheit hatten, oft wurden sie sogar von ihren eigenen Eltern geschlagen, gequält und missbraucht. Besonders schlimme Fälle haben ihn auch schon in seinen Träumen verfolgt. Manchmal wachte er schweißgebadet auf, und zitterte dann minutenlang wie Espenlaub. Eigentlich war er für diesen Job viel zu zartbesaitet und sensibel. Es wirkte sich sogar auf unser Liebesleben aus. Ich erzähle es ungern, es ist mir sogar fast peinlich, aber Harry hatte – fast immer – Erektionsprobleme. Auch bei jüngeren Männern ist das heutzutage nichts Ungewöhnliches, vor allem, wenn sie ständig unter Stress und Strom stehen. Es gab zwar seit geraumer Zeit „Viagra“, aber Harry verweigerte beharrlich diese blauen Pillen, er sagte, die Nebenwirkungen könnten sogar zu Leberschäden, Herzinfarkt oder womöglich Krebs führen. Er musste es ja wissen, schließlich war er Mediziner. Ich sah es deshalb als meine Pflicht an, ihn über die Entzündung von Felix zu informieren.

Er schob bei seiner Visite, die Pobacken des Jungen auseinander, und tastete dann mit Latexhandschuhen an der Öffnung seines Hinterns.

„Eindeutig eine kleine, aber harmlose Entzündung. Kein Grund sich Sorgen zu machen, Sara“, sagte er und strich Felix eine Salbe auf die entzündete Stelle. „In ein - bis zwei Tagen ist es wieder verheilt. Wie fühlst du dich, Felix?“

„Schon, okay“, antwortete Felix, dem die Sache sichtlich peinlich war. Ich musste ihn vorher fast stundenlang überreden, dass er sich von Harry inspizieren ließ. Hätte er es verweigert, wäre ich mit ihm natürlich zu einem anderen Arzt gegangen, und hätte meinem Partner nichts davon erzählt.

„Woher kommt diese Entzündung, Harry?“, fragte ich.

„Da gibt’s verschiedene Möglichkeiten“, erwiderte er. „Es könnte vom Stoff seiner Schlafanzughose gekommen sein. Oder, vielleicht sogar von der Toilette des Hotelzimmers. Dort reicht oft schon eine mäßige Reinigung aus, dass man sich sowas einfängt. Vielleicht waren auch Milben im Bettbezug. Die Bakterien und Keime sind heutzutage fast überall zu finden. Was glaubst du, wie höllisch wir im Krankenhaus bei diesen Keimen aufpassen müssen? Allein im Jahr 2007, gab es fast zweihundertsiebzigtausend Fälle von Infektionen in den deutschen Krankenhäusern. Gott sei Dank, gab`s bei uns im Krankenhaus noch keinen solchen Fall. Zumindest seit ich dort arbeite.“ Dann zog er seine Latexhandschuhe wieder aus und schmiss sie weg.

Ich gab mich mit dieser Antwort zufrieden, da sie mir plausibel erschien. Zumindest einigermaßen, schließlich bin ich keine Expertin auf diesem Gebiet. Eines jedoch hatte ich Harry verschwiegen; Felix zeigte es mir kurz nach seiner Frage, und bestand darauf, dass ich es auf keinen Fall erwähnte. Mein Sohn hatte nämlich noch eine zweite Verletzung, und das konnte definitiv von keiner Entzündung stammen: Er hatte am Penis, eine ca. ein Zentimeter lange Schürfwunde, als ob er sich dort mit dem Nagel aufgerissen hätte. Ich sprühte nur ein Desinfektionsspray darauf und klebte ein Pflaster darüber. Auch dafür musste es eine schlüssige Erklärung geben. Harry konnte es nicht gewesen sein, dass beteuerte Felix mehrfach. Also hakte ich die Sache ziemlich schnell wieder ab. Vielleicht hatte mein Sohn selbst zu hart „Hand angelegt“, um seinen jungen Körper zu testen? Kinder kommen oft auf die verrücktesten Ideen, die Erwachsene nur schwer nachvollziehen können.

TEIL 3

Erste Ermittlungen

Hannover, 1. Oktober 1998

„Frau Koschwitz, ist Ihnen in den letzten Wochen oder Monaten, ein Mann hier in unmittelbarer Umgebung aufgefallen, der Ihnen irgendwie merkwürdig vorkam?“, fragte Kommissar Luck und sah die junge Frau mit den rotgeweinten Augen aufmerksam an.