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Endlich fort aus dem Elternhaus! Frei sein! Sascha, der Zwölfjährige, jubelt. Sein Onkel bringt ihn von Moskau nach St. Petersburg, denn er hat Beziehungen zum Zaren. Alexander I. hat für seine und die Söhne aus höchsten Adelsfamilien in Zarskoje Selo sein Lyzeum eingerichtet Was Sascha dort tatsächlich erwartet, ahnt der Junge nicht. Doch, was ihn nicht umbringt, macht ihn stark. Und eines Tages wird Sascha – der große russische Dichter Alexander Puschkin – in aller Welt bekannt sein. LESEPROBE: Modest Korf, den das Heimweh tüchtig plagt, fragt den Inspektor höflich, wo man Pferde mieten könne. "Wozu wollen Sie denn jetzt schon Pferde mieten? Das Lyzeum werden Sie doch erst in sechs Jahren verlassen." "Dürfen wir denn nicht nach Hause?" "Ich sagte es, in sechs Jahren." "Aber mal sonntags... ?" "Nein." Pilezki schüttelt den Kopf. "Und in den Ferien?" "Ihre Ferien werden Sie hier verbringen, unter unserer Obhut." "Zum Neujahrsfest! Wenigstens zum Neujahrsfest!" "Das werden wir gemeinsam feiern, wie es Seine Majestät wünscht. Sie sind Zöglinge seines Lyzeums. Vergessen Sie das nie." Dem Zaren sind die Jungen in seiner eingeschneiten Sommerresidenz längst gleichgültig. Er tanzt auf Bällen in Sankt Petersburg. Pilezki weiß das sehr genau. Pilezki beobachtet die Jungen, die sich auf dem Korridor niedergeschmettert um ihn scharen. Küchelbecker schlenkert hilflos mit den Armen. Modest Korf wischt sich Tränen aus den Augenwinkeln. Heulsuse! nennt ihn Sascha im Stillen und grinst. Pilezki hüstelt. Ist denn dieser Puschkin mit nichts zu erschrecken? Der scheint sich zu freuen, dass er nicht zu den Eltern darf. Sogar der schläfrige Delwig wirkt betroffen. Natürlich dürfen Ihre Eltern Sie hier an den Sonntagen für eine Stunde besuchen. Vormittags, nach dem ersten Spaziergang", mildert Pilezki das harte Gesetz. Eine Stunde! Als wenn es von Moskau nach Petersburg ein Katzensprung wäre! Eine Nachtfahrt. Sascha grinst abermals. Seine Mutter sehnt sich nicht nach ihm, und eifersüchtig, wie sie ist, wird sie dem Vater nicht erlauben, allein zu reisen. So ein herzloser Bengel, folgert Pilezki. Oder hat er nicht zugehört? Häufig hört er nicht zu. Wo treibt sich Puschkin in Gedanken herum? Auch Professor Kunizyn beobachtet, dass der Zögling Puschkin seinem Unterricht nur mangelhaft folgt und sich selten vorbereitet. Krummrückig hockt Sascha auf seiner Bank, nagt an der Feder, starrt abwesend vor sich hin und kritzelt dann hastig etwas in sein Heft. Was notiert er?
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Seitenzahl: 234
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Brigitte Birnbaum
Alexander in Zarskoje
ISBN 978-3-86394-073-7 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1980 bei Der Kinderbuchverlag, Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2011 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
In diesem Sommer werde ich nicht zur Großmutter nach Sacharowo fahren. Die Koffer sind gepackt. Die Reiseorder liegen bereit. Aber ich werde nicht nach Sacharowo fahren. Ich nicht! denkt Sascha, kaum dass er die Augen öffnet. Er hebt den Kopf vom Kissen, schaut hinüber zum zweiten Bett, in dem, wenige Schritte entfernt, sein Erzieher schläft.
Und dir entkomme ich! triumphiert Sascha. Nun kannst du Lwowka mit deinen arithmetischen Regeln quälen! Oder Olga ängstigen.
Der Mann schnarcht. Sonst ist es still im Haus. Es kann also noch nicht sechs Uhr sein. Vielleicht ist es noch nicht einmal fünf. Vielleicht erst vier.
Ein Sonnenstrahl rutscht über die staubigen Dielen bis vors Bett des Schnarchers.
Sicher ist es doch schon fünf Uhr, überlegt Sascha. Trotzdem hätte ich noch genügend Zeit, mich vorher von der Moskwa, vom Kreml mit seinen alles überragenden Türmen, von der Straße, in der ich geboren wurde, zu verabschieden. Wer weiß, ob ich jemals wieder hierher zurückkehre... Plötzlich schlägt sein Herz härter. Sascha hört nur noch sein Herz, nicht mehr das Schnarchen.
Erneut springt ein Sonnenstrahl ins Zimmer, dieses Mal bis auf Saschas Bett, und legt sich wärmend auf seine kleine braune Hand. Saschas Hände sind dunkler als die anderer Kinder. Auch sein Gesicht ist nicht so blass wie die Gesichter seiner Geschwister. Und nicht nur jetzt im Sommer. Bei Sascha verrät sich die Hautfarbe seines Urgroßvaters, des Mohren Hannibal.
Sascha entzieht dem Sonnenstrahl seine Hand, eine Hand, die sich nichts fortnehmen lässt. Das hatte vor ein paar Tagen der Schnarcher spüren müssen. Es gelang ihm nicht, dem Jungen ein Zettelchen zu entwinden, das dieser während der Unterrichtsstunde beschrieben hatte, obwohl es nichts zum Notieren gab.
Saschas Hand schiebt die Bettdecke beiseite. Er richtet sich hoch, greift zum Schemel nach seinen Hosen, findet nur Hemd und Strümpfe und Leibwäsche. Die Hosen fehlen.
"Ausgerechnet die Hosen!", knurrt er wütend. Ohne Strümpfe hätte er durch Moskau laufen können, sogar barfuß. Aber doch nicht ohne Hosen! Arina wird sie genommen haben, um sie vor der Reise gründlich auszubürsten.
Arina... sie wird mir als einzige fehlen. Ach, wenn ich nur schon unterwegs wäre! Schon in Twer oder noch besser in Nowgorod. Sascha wirft sich rücklings in die Kissen. Das Holzbett knarrt.
"Alexander Sergejewitsch, warum schlafen Sie nicht?", fragt ihn sein Erzieher. Er fragt es französisch. Er spricht mit dem Jungen nur französisch, wie mit allen in diesem Haus. Nur mit den Dienstboten radebrecht er russisch.
Sascha schweigt, schließt aber auch nicht die Augen, um sich schlafend zu stellen. Dass alle, bis auf die Eltern und den Onkel, den Zwölfjährigen mit "Sie" anreden, ist selbstverständlich. Man hat schon Sie zu ihm gesagt und sich bis zum Gürtel vor ihm verneigt, als er noch gar nicht laufen konnte. Er ist eben der junge Herr.
"Warum schlafen Sie denn nicht?", pariert er verärgert.
Der Franzose antwortet dem Jungen mit einem hasserfüllten Blick. Ein schrecklicher Knabe!
"Was soll nur aus Ihnen werden, Alexander Sergejewitsch?", sagte der Mann, jedoch nicht bedauernd, sondern im Befehlston.
Sascha lacht und zeigt seine weißen Zähne. Er schleudert sich aus dem Bett, rennt zum Fenster, zerrt an der Hanfschnur, die vor der Scheibe baumelt, und öffnet die Lüftungsklappe. Ruckartig verschwindet der schnurrbärtige Kopf seines Erziehers unter dem Zudeck. Den geringsten Lufthauch fürchtet der Franzose. Sascha nutzt dies aus, denn er hat keine Lust auf eine Moralpredigt. Heute Morgen schon gar nicht.
Wo werde ich in der nächsten Nacht schlafen? In einem weißbezogenen Bett gewiss nicht. Saschas Gedanken eilen ihm voraus, derweil er sich wieder hinlegen muss und warten, bis ihm die Kinderfrau seine Hose bringt. Eine zweite Hose und der hausgeschneiderte Sonntagsanzug sind im Reisegepäck verschnürt. Der Junge wusste auch gar nicht, in welcher Truhe er nach seinen Kleidern suchen sollte. Braucht er etwas, ist er gewohnt, sich an Arina zu wenden. Ab morgen wird er es nicht mehr tun können. Nein, ab heute nach dem Frühstück schon nicht mehr.
Zum Frühstück erscheint heute die Mutter. Sascha staunt. Sie hat sich sogar ankleiden und frisieren lassen. Gewöhnlich verlässt sie bis mittags ihr Schlafzimmer nicht, und wenn, nur im Morgenrock und ungekämmt und um das Gesinde und die Kinder herumzukommandieren.
Noch mehr wundert sich Sascha, dass die Mutter dem Vater auf seine Frage, ob sie gut geträumt habe, antwortet. Gestern Abend hatten sich die Eltern wieder einmal heftig gestritten. Unbeherrscht ereiferte sich der Vater, und die Mutter warf ihm die volle Wasserkaraffe vor die Füße. Nach solchem Zank spricht die Mutter meistens wochenlang nicht mit ihrem Mann, übersieht ihn, als sei er überhaupt nicht anwesend. Heute tun sie schön miteinander. Mutter lächelt liebenswürdig, und Vater nennt sie "mon ange". Mein Engel.
Erst jetzt bemerkt Sascha, dass der Vater seinen neuen Frack trägt. Sie werden mich doch nicht bis zur nächsten Poststation begleiten, denkt der Junge, und sein Gesicht verfinstert sich. Mürrisch blickt er auf seinen Teller und schlingt die Speisen hastig herunter. Das Essen ist weder besonders schmackhaft angerichtet, noch wird es reichlich aufgetragen. Seit dem Winter gibt's nur eingesalzenes Fleisch, das von ihren Gütern aus Boldino und Michailowskoje geschickt wird. Obwohl genügend Geld für frisches Fleisch vorhanden sein müsste, denn man hat einige von den tausend Leibeigenen verkauft. Das übrigens bot den Anlass zum gestrigen Streit. Der Vater hatte sich von einem Gärtner getrennt, den die Mutter behalten wollte.
Sascha trinkt seinen Tee mit viel Zucker.
"Alexander Sergejewitsch, belieben Sie, nicht zu schlürfen!", vermahnt ihn halblaut der Franzose, der ihm gegenübersitzt.
Sofort schaut die Mutter ihren ältesten Sohn drohend an. Der Vater will sich ihre gute Laune erhalten und schmeichelt: "Seelchen? Hatte mein Bruder nicht versprochen, mit uns zu frühstücken?"
Wenn Onkel Wassili nur schon hier wäre, wünscht Sascha ungeduldig und stellt sein Glas neben den Teller. Aber der Onkel weiß, wie bei uns gekocht wird. Sascha lächelt.
"Warum grinst du?", fragt ihn die Mutter und klopft mit dem vergoldeten Löffelchen auf den Tisch. Ihre Stimme hat alle Freundlichkeit verloren.
Der Junge erhebt sich ungeschickt, reißt beinahe seinen Teller mit, der gegen das Teeglas klirrt. "Ich freue mich, Mama."
"Verständlich. In deiner Situation. Eine halbe Stunde vor der Reise. O wie beneidenswert! Aber du weißt es ja gar nicht zu schätzen."
Sascha darf sich wieder hinsetzen und weiter essen. Doch er ist satt. Er möchte aufstehen und das Zimmer verlassen, traut sich nicht, darum zu bitten, bleibt schließlich, weil man in diesem Raum am ehesten hört, wenn der Wagen vorfährt.
Unter dem Tisch berührt vorsichtig eine Hand Saschas Knie. Olgas Hand. Seine Schwester Olga. Sie tauschen einen raschen Blick. Olga verschluckt einen Seufzer. Olga ist schon vierzehn und trippelt immer noch wie ein kleines Mädchen. Sie hat die gleiche spitze Nase wie ihr Vater. Trotz dieser Nase wäre das Mädchen viel hübscher, wenn sie nicht so hässliche, kindlich geschnittene Kleider tragen müsste. Die Schwester tut Sascha leid. Er weiß, die Mutter möchte noch jung sein und bewundert werden, möchte ihre sechsunddreißig Jahre unter Schminke und Seide verstecken. Dabei stört eine erwachsene Tochter.
Der Vater glättet sein spärliches Schläfenhaar. "Wassili, dieser Langschläfer, lässt sich Zeit."
Papa kann wohl kaum erwarten, mich loszuwerden, denkt Sascha bitter. Er möchte aufspringen und hinauslaufen. Alle Farbe weicht aus seinem Gesicht. Er spürt einen Schmerz in sich. Es tut besonders weh, weil ihm der eigene Vater diesen Schmerz zufügt. Ist es in anderen adligen Familien ebenso?
Mitten hinein in Saschas Frage klappern eisenbeschlagene Hufe über Pflastersteine. Onkel Wassili fährt vor, um den Neffen abzuholen.
"Vergiss nie, dass du ein Puschkin bist, mein Sohn!", verlangt der Vater.
Sascha verspricht es, wenn auch mit verdüsterter Miene. Ihm wäre lieber gewesen, der Vater hätte ihm wenigstens fünf Rubel mitgegeben. Aber der lässt ihn ohne eine Kopeke in der Tasche abreisen.
"Man wird dort für dich sorgen. Sei stets höflich."
Sascha hört nicht mehr zu. Außerdem missfällt ihm, dass ihn die halbe Verwandtschaft und alle Hausgenossen lärmend zur Kutsche geleiten, die ihm ein bisschen schäbig dünkt. Während die Diener das wenige Gepäck verstauen, verabschiedet sich der Junge. Der Mutter, die ihre trockenen Augen mit einem nach Veilchen duftenden Spitzentüchlein betupft, küsst er ungerührt die Hand wie einer Fremden. Linkisch verbeugt er sich vor dem Franzosen, umarmt die weinende Olga, drückt Lwowuschka, das Brüderchen, das nun ausgeschlafen hat und gern mitfahren möchte. Dann tritt er zur abseits stehenden Arina. Mit einem Taschentuch trocknet sie echte, stumme Tränen, die unaufhaltsam über ihre Wangen rinnen. Sie bekreuzigt ihn, küsst ihn auf die Schulter. Sascha nimmt ihr Taschentuch und putzt sich die Nase. Arina möchte ihrem Saschenka Mut zusprechen, aber schon stürzt er zur Kutsche und springt auf.
"Adieu!", ruft der Vater ihm nach.
Der Kutscher schnalzt mit der Zunge. Die Pferde ziehen an. Der Ruck wirft Sascha beinah dem Onkel auf den Schoß. Sascha wendet sich um und winkt. Eigentlich winkt er nur Arina, der barfüßigen Frau im groben Bauernrock und dem weißen Kopftuch über den grauen Haaren. Sie lächelt traurig. Sascha will sie trösten, versucht, Kutschengedröhn und das Bimmeln der Glöckchen am Pferdegeschirr mit seiner Stimme zu übertönen. Dem Onkel klingt's wie ein Jubelschrei.
Diese wilde Freude flößt Wassili Lwowitsch Puschkin beinah Angst ein. Erschrocken betrachtet er den Neffen. Wie kann sich der Junge nur so fröhlich von seinen geliebten Eltern trennen? Von den Geschwistern. Von seinem Zuhause. Alles Vertraute gibt er frohen Herzens auf? Hat Alexander etwa nicht begriffen, was ihn erwartet? Der Ärmste weiß doch, dass ich ihn zu einer Prüfung nach Sankt Petersburg bringe. Zu einer Prüfung vor dem Minister Graf Rasumowski. Besteht er, wird er gemeinsam mit den beiden Brüdern Seiner Majestät am Lyzeum von Zarskoje Selo erzogen. Lockt ihn das Leben bei Hofe so? Nahe beim Zaren, nahe dem Tod. Dieses Sprichwort müsste der Junge doch kennen.
Wassili Lwowitsch packt Sascha an der Jacke, bemüht, den Jungen zu sich auf den Sitz zu ziehen. "Um Himmels willen! Willst du Tollkopf hinausstürzen!" Von nun an fühlt er sich voll und ganz verantwortlich für den Neffen.
Sascha lächelt spöttisch und herausfordernd. "Keine Angst, mein Onkel! Sie haben ja nicht Lwowuschka neben sich." Er setzt sich doch auf das sonnenheiße, fleckige Polster. Der Kutscher biegt in die Twersche Straße ein. Sand und getrocknete Pferdeäpfel wirbeln hoch, und der schlecht gefederte Wagen schüttelt seine Passagiere erbarmungslos. Aber Sascha jauchzt.
An einstöckigen Holzhäusern holpern sie vorbei, an der Residenz des Generalgouverneurs von Moskau und am Palais des Englischen Klubs. Mal dreht Sascha den Kopf nach rechts, mal nach links. Nichts möchte er versäumen. Hinter einem kunstvoll geschmiedeten Gitter bewachen steinerne Löwen die Tore eines roten Gebäudes. Wird er in Zarskoje Selo auch so bewacht wohnen? Oder werden dort die Torlöwen goldene Mähnen haben? Sicher. Und goldene Krallen.
Schlaff hängen die Blätter an den Bäumen der parkähnlichen Vorgärten. Die Julisonne brennt. Bei dieser Hitze werden die Pferde das Tempo nicht lange durchhalten, bedauert der Onkel und blickt am rotverbrannten Nacken des Kutschers vorbei auf ihre verfilzten Mähnen. Ihnen entgegen jagt eine Karosse, vor der ein Schnellläufer herrennt und schreit: "Vorsehn! Vorsehn!"
"Gäste für den Gouverneur", meint Sascha.
Die beiden Wagen hüllen sich gegenseitig in eine Wolke von Staub. Unwirsch klopft der Onkel an seinem Anzug herum. "Wir sollten das Verdeck runterklappen", verlangt er. "Kutscher...!"
"Aber nein!" Sascha fällt ihm in den Arm. "Das bisschen Dreck."
"Wir haben achthundert Werst vor uns, mein Lieber! Noch sind wir nicht aus der Stadt, und keiner unserer Freunde erkennt uns mehr."
"Ich hab hier keine Freunde", sagte Sascha hart. "Hatte nie welche."
"Alexander, was für Unsinn du schwatzt!"
"Unsinn, mein Onkel? Ah...! Semjon konnte Hütten aus Laub bauen wie kein zweiter, und der Wanja schnitzt Pfeifen. Pfeifen! Aber mit Gesindekindern durfte ich nicht spielen. Sie wissen, wie meine Mutter mich bestrafte, wenn ich's trotzdem tat."
"Und der Sohn eures verehrten Nachbarn, des Grafen...?"
"Der kann nicht mal mit dem Flitzbogen schießen, und von Gedichten versteht er auch nichts." Sascha schnauft verächtlich, vergisst ihn sofort wieder, denn sie nähern sich dem Peters-Schloss. Mit seiner hohen Mauer und den Ecktürmen gleicht es einer Burg. Hier rastet der Zar mit seinem Gefolge, wenn er Moskau besucht. Bevor er in den Kreml einzieht, ruht er sich hier hinter den spitzbogigen Fenstern aus. Heute wirkt das Peters-Schloss wie ausgestorben. Im Sommer erweist der Zar nie Moskau die Ehre. Im Sommer ist's ihm zu stickig in der Stadt. Im Sommer regiert er in Zarskoje Selo.
Warum er wohl seine Brüder in ein Lyzeum stecken will, überlegt Sascha. Der Zar könnte sich doch die besten Privatlehrer leisten. Warum in ein Lyzeum? Und dieses Lyzeum extra zu diesem Zweck einrichten. Oder werden solche Lyzeen jetzt modern?
Sascha könnte den Onkel fragen. Der Onkel ist eingenickt, und Sascha stört seinen Schlummer nicht.
Neben dem Peters-Schloss erstreckt sich ein riesiger Park, der sich allmählich in einen verwilderten Wald verliert, an den sich Wiesen schmiegen. Viele Werst weit hat sich die Erde mit Gras bekleidet. Sascha möchte in diesem Gras liegen, an einem Sauerampferblatt kauen und träumen. Wie schön es hier ist! Wie das duftet! So würzig duften nur Moskauer Wiesen. Moskau... Noch einmal will sich Sascha umwenden, muss sich aber am Sitz festklammern. Die linken Räder der Kutsche versacken in einem Schlagloch. Das Gefährt droht zu kippen.
"Pass auf, du verfluchter Hund!", beschimpft der unsanft geweckte Wassili Lwowitsch auf Russisch den Kutscher.
Der tut, als gelte das Geschrei nicht ihm, lenkt das Gespann aber etwas nach rechts. Jetzt belästigen den Onkel die Büsche am Straßenrand. Ihre Zweige peitschen ihm ins Gesicht. Wütend stößt er dem Kutscher mit dem Knauf seines Spazierstocks in den Rücken.
"Lassen Sie uns die Plätze tauschen, mein Onkel", bietet Sascha an. Doch der Kutscher hält bereits auf die Straßenmitte zu, und Wassili Lwowitsch beruhigt sich schnell.
Sascha blickt wieder zu den Wiesen hinüber. Solche Wiesen wird's auch in Zarskoje Selo geben, denkt er. Dort werde ich dann auch Freunde haben! Bestimmt werden sie etwas von Gedichten verstehen. Und die Prüfung? Sascha fürchtet sich nicht. Er hat die alten Griechen gelesen und die modernen französischen Schriftsteller. Einiges von Voltaire kennt er auswendig, fast den ganzen Roman "Zadig". Außerdem hat er so manches Gespräch über Kunst und Politik, das der Vater mit Bekannten führte, belauscht. Sascha wird schon zu antworten wissen.
"Hiääh!", ruft der Bussard, der über den Wiesen kreist. "Hiääh!" Es klingt, als lache er Sascha aus. Sascha achtet nicht drauf.
Seit einer Stunde säumen nur Wiesen ihren Weg. Wiesen, die nie gemäht werden. Da sagt der Kutscher plötzlich über die Schulter nach hinten: "Im nächsten Dorf müssen wir das Gewitter abwarten, Euer Hochwohlgeboren."
"Welches Gewitter?", fragt Sascha.
"Es wird eins geben, junger Herr."
"Gewitter", murrt Wassili Lwowitsch. "Kein Wölkchen am Himmel. Der Kerl will nur seine Pferde schonen."
Die Wolken ballen sich rascher zusammen, als es dem Onkel lieb ist. Als die Kutsche das nächste Dörfchen erreicht, zucken Blitze über den Himmel.
"Gütiger Gott!", flüstert Wassili Lwowitsch und presst die Hände gegen seine Ohren. "Man kann ja erschlagen werden. Rasch, zum Herrenhaus!" Trotz seines dicken Bauches klettert der Onkel dann hurtig aus dem Wagen und läuft mit seinen kurzen, dünnen Beinen über den Hof.
Sascha rettet sich vor den schweren Tropfen des losbrechenden Regens unters Vordach der nächsten Bauernhütte, wo schon zwei kleine Mädchen Schutz gefunden haben. Scheu mustern sie den fremden Jungen, der sogar im Sommer Schuhe trägt und Strümpfe und unter der Jacke ein weißes Hemd mit Spitzen am Kragen. Verzückt starrt die ältere auf die blanken Schnallen an Saschas Schuhen.
Der Regen fällt feiner und dichter, stiebt unters niedrige Vordach und scheucht die Kinder in die Hütte. Sascha sieht nur das Heiligenbild in der verrußten Ecke, vor dem ein Flämmchen flackert. Im Raum ist's finster, und erst als ein Blitz zur offenen Tür hereinleuchtet, erkennt der Junge die am roh behauenen Tisch hockenden Menschen, alte und jüngere. Sascha weiß nicht, was er zu ihnen sagen soll. Er ist nicht gewohnt, Besuche zu machen. Stumm verharrt er neben dem Eingang.
"Setzt Euch, junger Herr", fordert ihn jemand aus der Dunkelheit auf.
Wohin setzen? denkt Sascha. Es ist kein Stuhl da, nicht mal ein wackliger Schemel. Keine Truhe, kein Bett.
Stroh raschelt. Die beiden kleinen Mädchen kauern sich in die Schütte auf dem gestampften Lehmboden. Sascha will ihnen folgen, da faucht es ihn wütend an. Er ist auf die Katze getreten.
"Treibt sich der Satansbraten schon wieder bei uns rum?", schimpft dieselbe männliche Stimme, die Sascha zum Platznehmen einlud.
"Wo soll die Arme hin, Väterchen. Bei dem Wetter, 's ist auch eine Kreatur Gottes", antwortet eine Frau vom Ofen her.
Und wieder schweigen alle, lauschen ängstlich auf den Donner, hoffend, dass er bald leiser und ferner klingen möge. Ununterbrochen trommelt der Regen gegen die Ochsenblase vor der Fensteröffnung.
Ob unsere Leibeigenen auf Vaters Gütern ebenso hausen? fragt sich Sascha beklommen. In Sacharowo bei Großmutter Maria Aleksejewna haben doch alle Häuschen Glasscheiben oder...? Ja, ja, sie haben Glasscheiben! Noch nie war Sascha bei so armen Leuten zu Gast. "Mach, dass er ihnen nicht das Dach über dem Kopf anzündet!", bittet er das Heiligenbild. Arina lehrte ihn, wenn ein Gebet aus dem Herzen kommt, wird's erhört. Dieses kommt aus tiefstem Herzen.
Das Unwetter tobt bis zum Abend. Schlagartig ist dann der Himmel klar und die Luft frisch und kühl. Erlöst strömen alle hinaus auf den aufgeweichten Hof. In den Pfützen baden Enten, und vor dem Herrenhaus streitet der Onkel mit dem Kutscher. Wassili Lwowitsch verlangt, unverzüglich weiterzufahren.
"Euer Hochwohlgeboren, das ist nachts gefährlich."
"Anspannen!", befiehlt Wassili Lwowitsch barsch.
"Umgebrochene Bäume könnten den Weg versperren, die Brücken unterspült sein, Euer Hochwohlgeboren..."
"Sofort anspannen! Wir haben einen halben Tag verloren!" Im Zorn schielt Wassili Lwowitsch etwas. "Ah! Alexander Sergejewitsch!" Er winkt den Neffen herbei, den er in den letzten Stunden beinah vergessen hatte. "Alexander Sergejewitsch! Wo hast du gesteckt? Rede! Ich vergehe vor Sorge um dich, und du...!" Er droht Sascha mit dem Finger. "Dass du mir nicht noch mal von der Seite weichst! Verstanden?"
Sascha runzelt die Stirn. Des Onkels Atem riecht nach Wein.
Bevor der Junge wieder in den Wagen steigt, tritt er zum Brunnen, schöpft von dem bräunlichen Wasser und trinkt. Es schmeckt fade.
Die Pferde haben es nicht eilig. Der Wald, durch den sie fahren, strömt Feuchtigkeit aus und einen schwachen Geruch nach Pilzen und Moder. Gegen Mücken und Nachtkühle wickeln sich der Onkel und Sascha in Lederdecken. Tiefschwarze Nacht umfängt sie. Hier zwischen den Tannen wird es rascher dunkel als auf dem freien Feld.
"Huuh hu hu huhhuhhuhhuh", balzt ein Wildtäuber irgendwo im Geäst.
Sascha erschrickt über das heulende Gegurr. Wenn's gar kein Wildtäuber ist? Vielleicht signalisiert ein Räuber seinen Kumpanen mit verabredeten Zeichen, dass sich eine Kutsche nähert. Hatte nicht der Fuhrmann behauptet, es sei gefährlich, nachts zu reisen?
"Onkel, haben Sie Ihren Degen mit?", flüstert Sascha.
"Meinen Degen? Wozu?"
"Zum Fechten natürlich!"
"Ich will mich in Petersburg mit Worten duellieren, mit meiner Kunst, mit meinen Versen Schlachten gewinnen, nicht mit dem Degen." Der Onkel kichert.
Sascha ist nicht lächerlich zumute. Ihn fröstelt vor Erregung. Er ist nicht bereit, sich bei einem Überfall kampflos zu ergeben. Er wird sich wehren. Aber womit? Wie? Das hätte ihm lieber der Franzose beibringen sollen, anstatt ihn mit Arithmetik vollzustopfen. Was nützt ihm jetzt, dass er weiß, wie man den Umfang eines Kreises berechnet. Mit dieser Formel kann er keine Räuber in die Flucht schlagen. Und auf den Onkel scheint in solcher Situation auch kein Verlass. Hoffentlich trägt der Kutscher eine Pistole bei sich.
Der Kutscher pfeift vor sich hin.
Will der uns die Banditen auf den Hals locken? Ist er etwa ihr Verbündeter? Vielleicht sogar der leibliche Bruder des Räuberhauptmanns ? Sascha vergisst, dass die Kummetglöckchen und das Hufgetrappel viel weiter hallen. Er sitzt stocksteif und späht in die Finsternis. Ihm zerspringt fast das Herz. Was schimmert dort zwischen den Stämmen? Plötzlich bleiben die Pferde stehen, eins prustet kopfschüttelnd. Sascha schnellt hoch, verheddert sich in seiner Decke, schreit: "Mir naaach."
"Aaach!", echot es traurig.
Wassili Lwowitsch fährt aus dem Halbschlaf auf. "Was ist passiert? Wo ist der Kutscher?"
Der Kutscher ist verschwunden.
"Eh!", ruft Wassili Lwowitsch herrisch grob.
"Minütchen, Euer Hochwohlgeboren. Gleich geht's weiter. Oi... oi... ein... ein halbes Bäumchen... der Blitz hat's gefällt und uns vor die Füße geworfen..." Der Mann schnauft unter der Last, die er aus dem Weg zerrt.
Auch Sascha schnauft, ringt nach Luft. Der Junge lehnt sich zurück ins Polster und schließt die Augen. Er schämt sich. Hat sich vor Räubern gefürchtet. Ja, aber warum sollte es in diesen Wäldern keine geben? Und wenn sie eine Kalesche anhalten, dann nicht, um die Fahrgäste zum Tee ans Lagerfeuer einzuladen. Sascha erinnert sich an die Leute in der Hütte. Solch arme Menschen müssen doch stehlen und plündern, wollen sie im Winter nicht erfrieren oder verhungern, denkt er. Wie begehrlich die Kleine seine Schuhe angestaunt hatte! Sicher wird er auch in Petersburg mit diesen Schuhen Eindruck machen. Beim Minister in Sankt Petersburg... Sascha spürt, wie ihm der Onkel die Decke umlegt. Oder tut's der Kutscher? Oder gar Arina? Jeden Abend kam sie an sein Bett, befühlte seine Stirn und deckte ihn zu. Sie kam auch, wenn es die Mutter verboten hatte. Und die Mutter verbot es immer, wenn sie Sascha bestrafen wollte. Gerade dann tröstete Arina ihn. Im Winter legte sie ihm einen angewärmten Ziegel ins Bett. Gingen die Eltern aus, blieb Arina bei Sascha und erzählte Märchen. In solchen Stunden war er für sie nicht der junge Herr, sondern ihr kleiner Sohn. Seine Hand nahm sie... Niemand nimmt Saschas Hand. Knirschend mahlen wieder die Räder den Sand. Ob wir noch viele Wälder passieren müssen?
Nicht nur in Wäldern lauern für Reisende Gefahren. Kurvenlos durchschneidet die verhältnismäßig breite Straße die Ebene. Die Pferde haben es leicht. Sie traben, ohne dass der Kutscher sie anfeuern muss. Sascha rekelt sich gelangweilt. Den dritten Tag sind sie nun schon unterwegs. Auf der nächsten Poststation werden sie erneut die Pferde wechseln und, während der Kutscher den Wagen schmiert, zu Mittag essen. Und hoffentlich Kwass trinken. Drei, vier, fünf Becher kühlen, schäumenden Kwass. Saschas Mund ist völlig trocken. Gerade will der Junge den Onkel fragen, ob die nächste Station endlich Twer sein wird, das berühmte Twer, da lähmt ihn ein Geräusch, und Sascha sieht, wie sie rechts ein Rad überholt. Hopsend rollt es ein paar Meter neben ihnen her und kippt dann in den Straßengraben. Im selben Moment fliegt der Onkel im hohen Bogen durch die Luft. Sascha klammert sich mit beiden Händen an Seiten- und Rückenlehne fest, duckt sich. Ein ungeheurer Ruck reißt die Kutsche nach links. Sie rutscht quer auf die andere Straßenseite und prallt gegen einen Baum. Vorn rasen die Pferde mit schleifender Deichsel weiter. Ein bisschen benommen schaut sich Sascha nach dem Onkel um. Wassili Lwowitsch sitzt auf einem Stoppelfeld. Eine Kamillenblüte hängt über seinem Ohr. Er wackelt mit dem Kopf wie eine von Olgas Puppen. Erst als Sascha auf ihn zuläuft, bricht Wassili Lwowitsch in Wehgeschrei aus: "Oi, oi, oi! Keinen heilen Knochen hab ich mehr im Leib! Oi, oi, oi! Du Hundesohn, du verdammter!", kreischt er, als sich ihm der Kutscher nähert. "Wie konnte das passieren?"
"Gnade, Euer Hochwohlgeboren, Gnade!", bittet der Kutscher, aber nicht unterwürfig, sondern eher sachlich. "Der Splint muss nicht fest gesessen haben."
"Der Splint muss nicht fest gesessen haben", äfft ihn Wassili Lwowitsch nach. "Jetzt sitzen wir fest! Du Idiot! Nicht eine Kopeke zahle ich dir! Nicht eine Kopeke... Wie weit ist's bis zum nächsten Schmied?"
Der Kutscher kratzt sich die Brust. "Wir haben Glück, Euer Hochwohlgeboren, nur an die fünfzehn Werst."
"Wie? Fünfzehn Werst? Fünfzehn Werst...", jammert der Onkel. Er greint wie ein kleines Kind. Sascha will ihm auf die Beine helfen. Aber Wassili Lwowitsch wehrt ab und reibt sich die Knie. "Oi, Sascha, Bester!" Er stöhnt wie unter großen Schmerzen. "Ich glaub, ich sterbe. Dieser Mörder."
Der Mörder stampft zurück zur Straße, die Pferde zu holen, die stehen geblieben sind und sich verwundert umschauen.
"Mein Onkel!", fleht Sascha. "Lieber Onkel, stützen Sie sich auf mich. Versuchen Sie, sich zu erheben. Vielleicht naht dort schon Hilfe."
Kaum gewahrt Wassili Lwowitsch die mit sechs Rappen lang bespannte Equipage, der zwei hochbeladene Britschkas folgen, springt er munter auf seine dünnen Beine und putzt sich Erde und Strohreste von seiner Hose.
Alles nur Theater! Er hinkt nicht einmal, stellt Sascha fest und ärgert sich, dass ihm der Onkel eben noch bitter leid tat.
Mühsam bringt der fürstliche Kutscher den Zug zum Halten, denn er kann an dem querstehenden dreirädrigen Wrack nicht vorbei.
"Mama, ein Unfall! Un malheur!", verkündet ein Mädchen, das ein Hündchen auf seinem Schoß wiegt und sich aus der Equipage neigt.
"Schrecklich, die Unglücklichen", bedauert eine dicke Dame und blinzelt unter ihrem Sonnenschirm hervor.
"Pardon, Durchlaucht, wie ungemein peinlich, so vor Sie hintreten zu müssen", sprudelt Wassili Lwowitsch, reckt sich auf die Zehenspitzen und überreicht ihr die Kamillenblüte.
Vielleicht kennt er die Fremde, die nach ihrem Aufwand zu urteilen, von höchstem Adel sein muss. Sechsspännig dürfen nur Angehörige der ersten Rangklassen fahren. Vielleicht sind sich der Onkel und die Dicke auf einem der Moskauer Bälle begegnet. Sascha betrachtet sie, ihre blassgesichtige Gesellschafterin und das lachlustige Mädchen, das ihm zuzwinkert, mit undurchdringlicher Miene.
"Zu gütig, zu gütig, meine verehrte Fürstin", hörte er den Onkel lispeln. Die Dame bietet ihm bis zur nächsten Station einen Platz in ihrer blauen, lackglänzenden Equipage an. Aber Sascha bemerkt etwas Verächtliches in ihrem Ausdruck.
"Dem Herrn Sohn macht es sicher Spaß, zu den Dienern auf den Bock zu klettern", fügte sie hinzu.
Der Onkel fühlt sich geschmeichelt, denn er hat keine Kinder.
"Dem Herrn Sohn macht's Spaß, mit dem Kutscher zu Fuß zu gehen", sagt Sascha böse. Er deutet eine Verbeugung an, stolpert dabei rückwärts und rudert mit den Armen wie ein landender Vogel mit den Schwingen. Das Mädchen quiekt spöttisch. Unter Peitschenknall braust die Equipage samt Onkel davon. Die beiden Britschkas schaukeln hinterher.
Am inzwischen gewendeten Wrack befestigt der Kutscher mit geübten Handgriffen die Deichsel, schiebt den beim Anprall herausgerissenen Stift wieder ein. Sascha streichelt die Pferde.
"Junger Herr, Ihr hättet mitfahren sollen. Ich bin ein ehrlicher Mensch. Ich stehle Euer Gepäck nicht."
Hat ihn der Hochmut der Fürstin gekränkt, die Worte des Mannes verletzen den Jungen.
"Verzeiht, junger Herr. Ich wollte Euch nicht beleidigen." Für einen Kutscher geziemt es sich nicht, über seine Herrschaften nachzudenken. Er ist nur verpflichtet, sie schnell und sicher ans gewünschte Ziel zu bringen und gehorsam alle Grobheiten zu dulden, sonst entlohnt man ihn mit Prügel oder Gefängnis. Doch dieser kraushaarige Bursche, der den Pferden die lästigen Fliegen vertreibt, zwingt ihn zum Grübeln. Er benimmt sich völlig ungewöhnlich. Wird's einmal schwer im Leben haben, dieser kleine Herr Puschkin. Wird sich leicht den Hals brechen mit seiner steifen Verbeugung. So denkt der Kutscher und sagt mitleidig: "Fünfzehn Werst sind ein beschwerlicher Weg."
Sind mehr als sechzehntausend Schritte, rechnet sich Sascha aus und schweigt noch immer. Er presst seine Schulter gegen den Pferdeleib und zuckt zusammen. Seine Schulter schmerzt. Hat er sich doch verletzt? Etwa das Schlüsselbein gebrochen? Womöglich nimmt der Zar keine Invaliden am Lyzeum auf. Vor Schreck wird Sascha schwarz vor Augen. In Gedanken hört er des Onkels Stimme: "Dass du mir nicht noch einmal von der Seite weichst! Verstanden?"
Sascha lacht.
Das Pferd schnuppert an seiner Jackentasche.
"Ich hab nichts für dich, mein Lieber." Sascha bückt sich, will Gras vom Grabenrand rupfen. Aber da meldet sich wieder der Schmerz in der Schulter. Der Junge beißt die Zähne zusammen. Niemand darf etwas merken. Wie soll er sonst vor dem Minister die schriftliche Prüfung bestehen.
Den Herren, die ich sonst fahre, tun die Gäule selbst dann nicht leid, wenn ich sie zuschanden jage, sinnt der Kutscher, auf ihren Befehl zuschanden jage. Dieser aber füttert sie und redet mit ihnen. Unglaublich! Wo hat dieser adlige Sohn die russischen Worte gelernt? Er spricht, wie unsereins spricht.
Den Jungen beobachtend, hat der Kutscher ein Beil vorgekramt. Mit ihm entfernt er sich, um im nahen Gehölz eine kleine Birke zu fällen. Den zweimal armdicken Stamm bindet er mit Baststricken unter die beschädigte Achse. So verhindert er, dass sie über die Straße schleift. Er lädt das Rad auf und lächelt Sascha hilflos an.
"Nun, gehen wir!", sagt Sascha gebieterisch, froh, dass er nicht in dem rüttelnden Wagen sitzen muss. Seine Schulter würde ihn tüchtig peinigen.
Sauber gewaschen und rasiert, erwartet Wassili Lwowitsch an der Poststation seinen Neffen. "War die Fürstin charmant!", schwärmt er. "Sie kannte sogar Verse von mir!... Auswendig!... aber du mit deiner tollpatschigen Verbeugung!" Der Onkel ringt die weißen, fleischigen Hände. "Wenn dir das bei Hofe passiert!"
Dann passiert's, denkt Sascha. Bestimmt passiert's. Verschwitzt, die Schuhe voller Straßenstaub und Schmiederuß auf dem Hemd steht er mit finsterem Gesicht vor dem Onkel.
"Wie du aussiehst!"
"Nach fünfzehn Werst Fußmarsch würden Sie genauso aussehen, mein Onkel."
"War denn das nötig, Alexander Sergejewitsch? Eigentlich müsste ich dir zürnen. Warum diese Unfreundlichkeit gegen die reizende Fürstin? Sehr unklug, mein Lieber!"
Dass er es nicht versteht. Schade, denkt Sascha. Dann werde ich ihm lieber nicht erzählen, was ich eben Schreckliches bei der Schmiede erlebte. Der Onkel würde meine Abscheu auch nicht begreifen.
"Wirklich, äußerst unklug, mein Lieber. Sie verkehrt bei Rasumowski und hätte vielleicht ein gutes Wort für dich bei ihm eingelegt."
"Auch ohne Fürsprache werde ich meine Prüfung beim Minister bestehen." Vorsichtig betastet Sascha seine schmerzende Schulter. Sie ist geschwollen.
Kaum hat Sascha am Tisch der Postmeisterin inmitten durchreisender Händler, Hunger und Durst gestillt, lässt Wassili Lwowitsch anspannen. Obwohl der Junge müde ist, hätte er gern noch ein bisschen mehr von Twer, der größten Stadt zwischen Moskau und Sankt Petersburg, gesehen. Hier, wo die Twerza in die Wolga fließt, legt schon seit Jahrhunderten jeder an, der auf dem Wasserwege vom Baltikum zum Orient will. Und von hier brach der Kaufmann Afanassi Nikitin 1466 nach Indien auf. Sascha hat sein Buch REISE ÜBER DREI MEERE gelesen. Der Onkel auch. Der aber gedenkt nicht Afanassis. Wassili Lwowitsch bekreuzigt sich vor der an der Straße liegenden Kirche, denn gleich neben dem Putjewoi-Palais überqueren sie die Wolga. Dumpf poltern Räder und Hufe über die Holzbohlen. Unter ihnen strömen die Fluten meerwärts. Hätten wir auf der Brücke das Rad verloren, denkt Sascha, wäre der Onkel ins Wasser gefallen.
"Können Sie schwimmen, Onkel?", erkundigt sich Sascha und malt ihn sich strampelnd und prustend dort unten in den Wellen aus.
Verneinend schüttelt Wassili Lwowitsch den Kopf.
"Keine Angst, mein Onkel. Alle Splinte sitzen fest. Der Schmied hat's nachgeprüft."