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Gerade hatte Bärbel Moltor im Schwimmwettbewerb den 1. Platz belegt. Das bedeutete die Fahrkarte zu den Bezirksmeisterschaften. Das Mädchen träumte von weiteren Siegen, von der höchsten Stufe auf dem Siegertreppchen und reagierte enttäuscht, dass Mutter und Stiefvater aus dem Städtchen bei Magdeburg berufsbedingt nach Mecklenburg ziehen werden, aufs Dorf, natürlich ohne Schwimmhalle. Da freute sie sich über die Einladung der Eltern ihres verstorbenen Vaters, die Sommerferien bei ihnen in West-Berlin zu verbringen. Bärbel hoffte auf beste Trainingsmöglichkeiten dort und auf so manches Interessante. Doch ein bestimmter Tag im August veränderte ihr Leben und ihr Verhältnis zu den Großeltern. LESEPROBE: Unvermutet sprach Thomas hastig auf Bärbel ein: „Pass auf! Alles noch mal! Siehst du da vorn? Das ist schon die Mauer." Bärbel nickte. Ihre Lippen waren trocken, und in den Augen flackerte die Angst. Sie sah weiter vor sich Stacheldrahtgewirr. Thomas sprach schon weiter: „Schnell jetzt! Gleich rechts um die Ecke steht die Ruine. Da flitzen wir rein. Ich helf dir auf das Fenster, aufs mittelste, hörst du!" Er zischte seine Worte Von da, vom Hochparterre, musst du springen. Weit! Sonst bleibst du hängen. Spring ganz weit!" „Tom, du schreibst mir doch, ja?", Bärbels Stimme bebte und war heiser. Klar!" Für Thomas war alles wie ein Abenteuer im Kino. Wie oft hatte er sich schon gewünscht, ein tolles Ding zu drehen. Sie liefen um die letzte Hausecke. Bärbel sah nicht nach rechts und nicht nach links. Da war die Ruine! Sie wussten nicht, dass von drüben schon zwei Feldstecher auf sie gerichtet waren. Irgendwo, weiter weg, auf dieser Seite, rief jemand etwas mit tönender Stimme. Unter Bärbels Schuhen polterten Steine, knirschten Sand und Mörtel. Sie keuchte, fühlte Thomas' Hände im Rücken, die sie über den Geröllberg hinüberstießen. Sie presste mit der linken Hand die Tasche mit dem Mecky an sich und krallte die rechte ins bröckelnde Mauerwerk, um sich zu stützen. Nach Atem ringend, standen sie endlich vor der mittleren Fensterhöhle. Mannshoch lag die Öffnung über Bärbels Kopf. „Los!", fauchte er und fügte hinzu: „Mach's gut. Bist ein feiner Kerl!" Er hielt die Hände zu einer Muschel auf sein rechtes Knie, damit sie mit dem Fuß hineinsteige. In diesem Augenblick fühlte sie keine Angst mehr. Sie sah ihm in die Augen und flüsterte: „Danke für alles - Tom!" Ihre Stimme war kläglich.
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Seitenzahl: 162
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Brigitte Birnbaum
Reise in den August
Nach einer wahren Begebenheit frei erzählt
ISBN 978-3-86394-072-0 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1967 bei Der Kinderbuchverlag Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
„Auf die Plätze! Los!"
Dieser von fünf Mädchen fiebernd erwartete Befehl brach sich an den Kachelwänden der Schwimmhalle. Fast gleichzeitig federten die Schwimmerinnen von den Startblöcken ab und tauchten in das grünliche Wasser der Fünfundzwanzigmeterbahn. Ich bin nicht flach genug aufgekommen, durchzuckte es Bärbel, ich muss aufholen. Kräftig stieß sie die Arme vor. Aufpassen bei der Wende. Gut abgekommen. Ich muss es schaffen! Ich muss... sonst...! hämmerte es in ihrem Kopf. Wieder eine Wende. Heute fällt die Entscheidung in der Trainingsgruppe. Ich muss es schaffen.
Die letzte Wende wurde angesteuert. Bärbels Körper krümmte sich zusammen und schnellte erneut ab. Sie sah, dass der Kopf ihrer rechten Nachbarin sich eine halbe Länge vor ihr aus dem Wasser hob und wieder versank... Nicht nachlassen. „Bär-bel! Bär-bel! Tempo! Tempo!"
Bärbel hörte nicht, wie ihre Kameradinnen sie anfeuerten. Das Rauschen des Wassers und die Rufe der anderen Mädchen verschmolzen zu einem seltsamen Murmeln, mächtiger und lauter als das Tönen einer großen Muschel. Bärbel kämpfte, obwohl sie spürte, dass ihre Stöße schwerfälliger wurden. Dann schlug sie an - als Erste.
Erschöpft kletterte sie aus dem Becken. Sie atmete heftig; ihre braunen Augen strahlten, wenn auch nur für einen Augenblick, denn über ihre Freude fiel, von niemand gesehen, ein Schatten. Eine Freundin warf ihr den Bademantel über. Bärbel ergriff die Hände, die sich ihr entgegenstreckten. Matt ließ sie sich auf einem Startblock nieder und schüttelte das Wasser aus ihren kurzen, dunklen Haaren. Eine Badekappe verachtete sie. Ich hätte nie gewonnen, nie! Nur die Wut hat mich so angetrieben, gestand sich die Dreizehnjährige und wischte mit dem Frotteeärmel durchsichtige Tröpfchen von den Wimpern. Die Trainerin trat zu ihr, packte sie bei beiden Schultern, und fast schrie sie: „Bärbel, ich gratuliere! In vierzehn Tagen bist du also in Magdeburg. Mädchen, in dir steckt was. Du musst nur ruhiger werden." Sie umarmte Bärbel und sagte gedämpfter: „Am Start warst du mir heute zu nervös."
Bärbel nickte. Sie erhob sich und streifte sacht die Hände der Älteren ab. Gemeinsam gingen sie zu den Kabinen. Ob ich es ihr sage? überlegte Bärbel. Ich müsste mit ihr sprechen. Aber sie schwieg aus Angst, dass sie dann vielleicht die Fahrkarte zu den Bezirksmeisterschaften an die Zweitbeste verlor. Eine halbe Stunde später sprang Bärbel Moltor in einer Querstraße im Herzen der Stadt vom Fahrrad. Sie schulterte das Rad und trug es in den Keller ihres Wohnhauses. Treppauf nahm das Mädchen mit seinen kräftigen Beinen die Stufen in langen Sätzen. Bärbel betrat die Wohnung. Der Vater war schon da. An der Garderobe im Korridor hatte er, sorgfältig wie immer, seinen Popelinemantel auf einen Bügel gehängt. In der Küche wurde mit Geschirr geklappert.
Zuerst lief Bärbel ins Wohnzimmer, wie stets, wenn sie dort den Vater vermutete. Als sie aber den mittelblonden, grauäugigen Mann hinter dem Schreibtisch sitzen sah, blieb sie an der Schwelle stehen. Und als er von seinen Notizen aufblickte, um sie etwas zu fragen, trat sie hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Walter Tapenhagen presste beide Fäuste gegen sein Gesicht. Sie begreift es nicht, dachte er bedrückt, vielleicht hat sie ausgerechnet heute gesiegt und fürchtet, dass es das erste und das letzte Mal war.
Von den Bratkartoffeln zum Abendbrot hatte Bärbel nur wenig gegessen. Sie kauerte mit angezogenen Beinen im Sessel, die Arme um die Lehne geschlungen, und starrte auf den Bücherschrank, auf Vatis Bücher, die ihr den Rücken zukehrten.
Ihr erster Vater hatte keine Bücher gelesen. Selten hatte sie ihn gesehen. Er war Lokomotivführer auf einem Schwerlastzug und daher viel unterwegs. Wenn er nach Hause gekommen war, schlief er meistens. Bärbel durfte nur auf Zehenspitzen umherschleichen. Freundinnen konnten sie in jener Zeit kaum besuchen. Der Vater starb ganz plötzlich. Bärbel kam darüber hinweg. Eines Tages erzählte ihr die Mutter von einem neuen Vater. Schnell fasste sie zu dem fremden freundlichen Mann Vertrauen. Die Mutter heiratete ihn. Ein letztes Fünkchen Fremdheit hatte Bärbel bisher gehindert, Walter Tapenhagen zu ärgern oder gar mit ihm zu streiten. Er hatte sie aber auch noch nie mit so komischen Einfällen behelligt wie heute. Nach Mecklenburg! Aufs Land! „Die Partei erwartet, dass ich die MTS übernehme", hatte er ihr erklärt und unwiderruflich hinzugefügt: „In drei Wochen ziehen wir nach Barnow."
Bärbel blies die Luft durch die Nase und wandte sich von den Büchern ab, als seien sie schuldig. Ihre weiße Pantolette rutschte dabei vom Fuß. Pantoletten, dachte sie, werde ich dort nicht tragen können. Im vergangenen Herbst beim Ernteeinsatz in unserer Paten-LPG bin ich sogar mit Gummistiefeln stecken geblieben. Und dann - in einem Haus wohnen, das zur Hälfte Kuhstall ist. Und wo sollte sie trainieren? Vielleicht im Dorfteich, gemeinsam mit den Enten? Bärbel schluckte. Seit drei Jahren trainierte sie. Auch in diesem Sommer verzichtete sie wieder darauf, ins Ferienlager zu fahren. Sie wollte sich auf die Bezirksmeisterschaften vorbereiten. Und jetzt, da sie es geschafft hatte, da sie zu den Schnellsten gehörte, sollte sie alles aufgeben?
Nein! Nein! Sie trommelte mit den Fäusten auf die Sessellehnen. Ich ziehe nicht mit! Warum ist Mutti nur einverstanden? Sie verliert ja nichts. Sie kann auch dort im Konsum Brot und wer weiß was sonst verkaufen. Nur an sich haben sie gedacht, nur an sich. Ich bleibe hier. Vielleicht ist im Internat noch ein Platz frei, überlegte Bärbel angestrengt und drehte ihre kurzen Stirnhaare zu spitzen Hörnchen. Der Direktor unserer Schule wird mich unterstützen. Vielleicht kann ich bei Marianne wohnen? Wenigstens für ein Jahr, bis ich die achte Klasse beendet habe. Allerdings, bei Marianne stehen schon vier Betten im Kinderzimmer. Wo soll ich schlafen? Bärbel grübelte nach einem Ausweg. Wer konnte ihr helfen? Die Großeltern? Nein, die wohnten in Westberlin. Muttis Schwester? Bärbel verwarf den Gedanken sofort wieder. Sollte sie noch zu ihrer Freundin laufen, sich mit ihr beraten? Bis die Eltern kämen, würde viel Zeit verstreichen. Sie waren zu einer Einwohnerversammlung. Versammlungen dauern stets bis tief in die Nacht. Dort brüten die Erwachsenen wahrscheinlich ihre feinen Pläne aus.
Bärbel sprang auf und stolperte über ihre Pantolette. Ärgerlich schleuderte sie sie mit dem Fuß beiseite. Erst jetzt bemerkte das Mädchen, dass es bereits dunkel geworden war und zu spät, um noch zu Marianne zu gehen. Bärbel humpelte auf nur einem Schuh ins Schlafzimmer, klappte das Wandbett auf und strich mechanisch die Kissen glatt. Kaum, dass sie sich ausgestreckt hatte, schlief sie.
Sie träumte von einer großen fremden Stadt mit einer modernen Schwimmhalle. Aber sie durfte nicht hinein. Ein Mann verlangte Eintrittsgeld von ihr. „Lassen Sie mich doch ein. Ich muss trainieren." Sie flehte. Aber der Mann lachte laut und verächtlich. Bärbel erwachte. „Was für einen Blödsinn man zusammenfantasiert", murmelte sie vor sich hin und reckte sich behaglich, „nicht trainieren dürfen." Plötzlich fiel ihr der gestrige Abend ein. Bärbel schloss wieder die Augen. Nach einer Weile blinzelte sie zu den Ehebetten hinüber. Doch darin lagen nur auseinander gebreitete weißbezogene Kissen. Die Eltern mussten bereits zur Arbeit gegangen sein. In der Wohnung blieb es still. Nur der Wecker tickte. Es wurde für Bärbel Zeit, aufzustehen, denn sie hatte mit ihrer Freundin verabredet, heute Vormittag einen Korb Wäsche zur Heißmangel zu tragen.
Sie kaute noch an ihrem Frühstücksbrot, da erschien Marianne, ein langaufgeschossenes Mädchen mit dünnen, hellen Haaren. „Was ist denn mit dir? Hat dich einer geärgert?", fragte sie sofort, als sie Bärbels griesgrämige Miene bemerkte. „Etwa dein Vater?"
„Ja", und Bärbel klagte der Freundin, die sich neben sie auf das Küchenfensterbrett hockte und mit von der Schnitte abbiss, ihr Leid.
„Klar bleibst du hier", bestimmte Marianne. Der Ton verriet, dass sie gewohnt war, über jüngere Geschwister zu herrschen. „Wir können doch nicht einfach auf dich verzichten... schade, dass deine Mutter einverstanden ist."
„Mutti erlaubt nie, dass ich allein hier bleibe."
„Du fährst eben mit und kommst heimlich wieder."
„Und dann werden sie mich zurückholen." Bärbel seufzte und dachte: Mutti wird weinen. Sie regt sich in der letzten Zeit überhaupt sehr leicht auf. Und Vati wird ganz ruhig mit mir sprechen. Das ist noch schrecklicher.
„Dann kommst du wieder, und dann werden sie dich hier lassen. Unsere Katze haben wir auch bei Bekannten gelassen, als sie immer wieder in unsere alte Wohnung zurücklief."
Bärbel musste trotz ihres Kummers lachen. „Ich bin doch keine Katze. Wie du dir das vorstellst! Wo soll ich denn wohnen, Mensch? Das Internat nimmt mich nicht auf, wenn die Eltern nicht einwilligen."
„Hm -", machte Marianne und zupfte an ihrer Nase, „bei uns ist es eng. Aber eventuell geht's doch. Oder weißt du, wir sind achtundzwanzig in der Klasse. Wenn du bei jeder nur eine Nacht schläfst, ist fast ein Monat herum."
„Nanni, du spinnst!"
Bärbel musste abermals lachen.
„Nee! Aber du lässt immer gleich den Kopf hängen. Was ausdenken muss man sich. Nun komm aber, sonst steht eure Wäsche noch morgen hier." Sie rutschten beide vom Fensterbrett, ergriffen den Korb und verließen die Wohnung.
An den folgenden Tagen fand man Bärbel Moltor mehr im Schwimmbad als zu Hause. Noch nie hatte sie so unermüdlich, so verbissen trainiert. Sie glaubte mit dem Sieg in Magdeburg ihre Eltern umstimmen zu können. Tapfer übersah sie die leeren Kisten, die eine Spedition ins Haus gebracht hatte, und die die Eltern mit Wäsche und Geschirr zu füllen begannen. Bärbel bereitete ihren Umzug auf eigene Weise vor. Heimlich hatte sie ein paar Bücher, die ihr gehörten, ihre Schultasche und die Mappen mit den sorgfältig eingehefteten Filmprogrammen zu Marianne geschafft. Ihr Fahrrad, das sie sonst höchst ungern aus der Hand gab, hatte sie Mariannes Schwester zu einer mehrwöchigen Radtour geliehen.
Frau Tapenhagen konnte sich im Wirrwarr des Packens kaum um ihre Tochter kümmern. Zwar spürte sie, dass Bärbel ihr auswich, dass ihr Mädel unzufrieden war und ein Geheimnis vor ihr zu haben schien, und wunderte sich, dass Bärbel nicht mehr gegen die Übersiedlung murrte, sondern dazu schwieg. Aber ihr fehlte die Zeit, darüber nachzudenken. Nur im Augenblick fiel ihr die Tochter wieder ein, als sie gerade deren Wintermantel aus dem Schrank nahm, um ihn einzupacken.
„Walter!", rief die Frau in den Korridor hinaus, wo ihr Mann mit wenigen Schlägen eine Holzkiste vernagelte. „Walter, heute Mittag kam ein Brief von meinen Berliner Schwiegereltern. Sie laden die Bärbel zu sich ein."
Walter Tapenhagen legte den Hammer aus der Hand. „Soso... die Moltors aus Westberlin haben sich gemeldet..." Er sprach nicht weiter, und Margarete Tapenhagen deutete sein Schweigen richtig.
„Warum sollte das Mädel nicht fahren? Es sind ihre Großeltern. Wer weiß, wie lange die alten Leutchen noch leben. Außerdem ist Bärbel bei unserem Durcheinander doch nur im Wege."
„Sie könnte ins Betriebsferienlager fahren. Der zweite Durchgang beginnt in wenigen Tagen. Ich wäre beruhigter." Er bückte sich nach einer Schachtel mit Nägeln.
„Walter, es sind die Eltern meines ersten Mannes." Frau Tapenhagen war in den Korridor gekommen. „Wenn es deine Eltern wären?"
„Meine Eltern kennen wir, Gretel. Diese Leute kennen wir nicht. Deine Bindung zu ihnen ist nur lose. Sagtest du nicht einmal, dass sie eine Kneipe besäßen? Eine kleine Stehbierkneipe?"
„Ja, und?" Sie sah ihn an und dachte: Es ist nicht wegen der Kneipe.
Die gleichen dunklen Augen hat sie wie das Mädel, ging es ihm durch den Sinn. Aber sehen sie immer alles ganz und gründlich? „Wir wollen Bärbel selbst entscheiden lassen", erwiderte er, fest damit rechnend, dass sein Wort und sein Rat wie bislang bei der Stieftochter galten.
Abends erzählte die Mutter Bärbel von der Einladung der Großeltern. Ein lauernder Blick zum Vater hinüber, und das Mädchen bemerkte, dass er es lieber sähe, wenn sie ins Ferienlager führe. Sie entschied: „Ich fahre nach Berlin!" Ein wenig schämte sie sich, weil sie sich seit Tagen so trotzig zeigte. Doch sie wehrte sich gegen die Scham.
Die Julinacht stand im Zimmer, warm und dunkel. Bärbel richtete sich langsam und lautlos in ihrem Bett auf und schlug die Decke zurück. Behutsam tastend schlich sie durchs Zimmer, am Fenster vorbei, hinüber zum Bett des Vaters. Phosphorgrün leuchteten die Ziffern des Weckers, der auf seinem Nachtschränkchen stand. Es war ein Uhr. Beruhigt huschte Bärbel zurück in ihr Bett. Sie streckte sich aus und schloss die Augen. Noch drei Stunden, dachte sie, und dann...
Ein grauer Schimmer lag im Raum. Die Nacht wich dem Morgen. Bärbel drehte sich auf den Bauch und bettete den Kopf auf den Unterarmen. Sie wartete auf das Klingeln des Weckers. Die Mutter erwachte von dem Schrillen nie. Und der Vater überhörte es womöglich auch? Plötzlich überkam sie ein seltsames Gefühl. Allein war sie noch nie verreist. Sie barg das Gesicht im Kopfkissen.
„He! Raus aus den Federn, oder glaubst du, der Zug wartet auf dich?", hörte Bärbel eine Stimme über sich und spürte durch das dünne Nachthemd eine Hand auf ihrer Schulter. Sie hob den Kopf. Walter Tapenhagen stand, fertig angekleidet, über Bärbel gebeugt. Das Mädchen schrak hoch und starrte ihn verwundert an. Sie hatte noch einmal fest geschlafen.
„Ja, ja", stotterte sie, noch immer verwirrt, „wie spät..."
„Du schaffst es noch." Der Vater beruhigte sie.
Mit einem Satz sprang Bärbel aus dem Bett und stürzte an ihm vorbei ins Bad. Den Frühsport vergaß sie heute. In der Eile zerschlug sie das Zahnputzglas. Waschen und Kämmen verrichtete sie hastig, aber gründlich.
Den Frühstückstisch hatte die Mutter in der Küche gedeckt. Auch sie war schon ausgangsfertig angezogen.
Bärbel trank nur ihre Milch.
„Kind, du musst etwas essen", bat Frau Tapenhagen, „dir schmeckt es doch sonst."
Das Mädchen schüttelte ablehnend den Kopf. Wie vor jedem Wettkampf war auch jetzt ihr Magen wie zugeschnürt.
„Bärbel", mahnte der Vater.
Bärbel blickte an ihm vorbei. Sie erhob sich und verließ die Küche. Durch den Türspalt guckte sie ins Wohnzimmer. Der Bücherschrank war leer, der Schreibtisch abgeräumt. Der Teppich lehnte zusammengerollt und verschnürt an der Wand. Die Gardinen lagen zusammengelegt auf einem Sessel. Heftig schlug Bärbel die Tür zu und ging ins Schlafzimmer. Vor dem runden Spiegel der Frisiertoilette blieb sie stehen. Sie nickte sich selbst zu, als müsse sie sich Mut machen. „Dreizehn Jahre hat hier mein Bett gestanden", flüsterte sie, „wenn ich von den Großeltern zurückkehre, werden hier fremde Menschen wohnen."
Die Mutter rief sie. Bärbel antwortete nicht. Schnell ergriff sie den Mecky, der auf ihrem Nachttisch thronte. Den buntbekleideten Igelmann hatte Walter Tapenhagen auf dem Rummelplatz als Preis geschossen und seiner Tochter geschenkt. Aus Trotz hatte sie ihn hier lassen wollen. Nun stopfte sie ihn eilig zu den Frühstücksbroten in ihr Bastkörbchen, während sie den Eltern die Treppen hinab folgte.
Unten vor dem Haus wartete ein Taxi. Der Vater hatte es bestellt. So früh am Morgen fuhr noch keine Straßenbahn, und zu Fuß hätten sie über eine halbe Stunde laufen müssen. Bärbel saß das erste Mal in einem Taxi, die Mutter neben ihr, der Vater vorn neben dem Fahrer. Es tat ihr beinahe leid, dass sie zu den Eltern in der letzten Woche so unfreundlich gewesen war, und sie legte ihre Hand auf den Arm der Mutter. Frau Tapenhagen lächelte und blickte ihre Tochter an.
Dann sagte sie: „Du, Bärbel, ich war gestern in deiner Schule. Ich habe dich abgemeldet."
Bärbel zog die Hand zurück. „Abgemeldet? Einfach abgemeldet?" Ihre dunklen Augen wurden finster. „Nun gehöre ich dort nicht mehr hin?"
„Du wirst in die Barnower Schule gehören, vielleicht sogar in die Jugendsportschule der Kreisstadt."
„Und vom Schwimmklub hast du mich auch abgemeldet?"
„Da will Vati heute vorbeigehen."
Um Bärbels Mund zuckte es, aber sie sagte kein Wort. Das Taxi bog um eine Ecke. Das Bastkörbchen fiel um, und der Mecky rutschte Bärbel auf den Schoß. Am liebsten hätte sie ihn aus dem Fenster geworfen, hinaus auf die Straße. Doch sie schob ihn zurück zu den Frühstücksbroten und bedeckte ihn mit einer Zeitung.
Walter Tapenhagen wandte sich zu seiner Frau um. Sie runzelte die Stirn und sah ihn ratlos an. Beide waren erstaunt, weil ihre Tochter sich nicht auflehnte. Sie hatten damit gerechnet. Deshalb sagten sie es ihr erst jetzt in den letzten Minuten vor der Reise. Aber Bärbel schwieg und spähte angestrengt aus dem Fenster, als müsse sie sich die Häuser und die Läden mit ihren Schaufenstern gut einprägen.
Auch auf dem Bahnsteig, auf dem nur wenige Menschen umherstanden, blieb Bärbel schweigsam und tat, als lausche sie aufmerksam der Mutter. „Ich bitte dich, Bärbel, sei vernünftig bei Moltors. Tu, was dir Oma sagt, und vergiss nie zu danken! Versprich mir, dass du uns keinen Kummer machen wirst, ja?"
Bärbel nickte. Sie vermied es, der Mutter in die Augen zu sehen, nicht nur, weil ihr die betulichen Ermahnungen zuwider waren, sondern weil ein Schuldgefühl in ihr aufstieg.
„Sperr die Augen gut auf, dass dir in Berlin nichts passiert", riet der Vater, „und wenn es dir dort nicht gefällt, schick ein Telegramm, dann hole ich dich früher ab als vereinbart."
„Es wird mir dort schon gefallen", erwiderte Bärbel überzeugt. Sie schlenkerte ihr Bastkörbchen hin und her. „Du brauchst mich überhaupt nicht abzuholen. Ich find allein wieder her."
Die Antwort des Vaters wurde vom Lautsprecher übertönt.
„Achtung! Zum D-Zug nach Berlin bitte einsteigen. Die Türen schließen!"
Flüchtig gab Bärbel den Eltern die Hand und drückte der Mutter einen Kuss auf die Wange. Sie stieg ein und suchte das Abteil auf, in dem der Vater vorhin ihren Koffer ins Gepäcknetz gelegt hatte. Sie versuchte, das Fenster zu öffnen. Es klemmte. So winkte sie hinter der Scheibe. Ganz sacht fuhr der Zug an und rollte langsam aus der Halle. Auf dem Bahnsteig blieben neben ein paar anderen Leuten die Eltern zurück. Der Vater zwinkerte Bärbel lächelnd zu. Es schien ihr, als habe er traurige Augen. Er hatte seinen Arm um Muttis Schulter gelegt. Beide winkten, Mutti mit einem weißen Taschentuch. Bärbel ließ ihre Rechte sinken. Sie lächelte nicht zurück. Sie öffnete den Mund, wie um etwas zu rufen - aber da lag der Bahnsteig schon weit hinten. Der Zug rumpelte über Weichen. Er zerschnitt scheinbar Schienenstränge, alle überquerend, bis er den einen gefunden hatte, den einzig richtigen für seinen Weg.
Hinter Bärbel wurde geräuschvoll die Abteiltür aufgeschoben. Schwatzend traten zwei junge Frauen ein und machten es sich bequem. Auch Bärbel setzte sich, ohne die beiden weiter zu beachten. Sie blickte mit zusammengekniffenen Augen in die feurig glühende Sonne, die neben dem Zug einherzueilen schien. Auf den Wiesen schimmerte Frühtau. Bärbel bewunderte die Glitzertropfen, die an den Halmen, Blättern und Blüten hingen. Um besser sehen zu können, stand sie auf. Dabei riss sie mit ihrem weiten Rock das Bastkörbchen um. Sie stellte es wieder zurecht, zog die Zeitung hervor und setzte sich wieder. Morgensonne und Wiese waren vergessen. Vorsichtig faltete das Mädchen das bereits zerknitterte SPORTECHO auseinander, um erneut zu lesen, was sie Wort für Wort kannte:
PACKENDE KÄMPFE IN DER MAGDEBURGER SCHWIMMHALLE
Nach packendem Zweikampf konnte Ute Nock nur knapp ihre Klubkameradin Bärbel Moltor über 100 m Brust bezwingen.
Die Zeitangaben überflog Bärbel, sie wusste sie auswendig. „Durch die spurtstarke Bärbel Moltor gelang es ihrer Staffel, den Sieg mit nach Hause zu nehmen."
Vor zwei Tagen war es gewesen. Nelken hatte man ihr bei der Siegerehrung überreicht. Und in der Zeitung schrieb man über sie. Stolz lehnte sich Bärbel zurück. Was wohl die Großeltern sagen würden? Sorgfältig strich sie die Falten ihres rosa getupften Sommerkleides zurecht.
Die Zeitung auf dem Schoß, schaute sie wieder aus dem Fenster. Schrebergärten drängten sich eng aneinander. Sie kündeten von der Nähe einer größeren Stadt.
In Berlin werde ich weitertrainieren, schwor sich Bärbel, jeden Tag. Und wenn ich zurückkomme, werde ich einen neuen Rekord aufstellen, und ich werde nicht mehr nach Mecklenburg müssen.
Zwischen fremden Taschen und Koffern lehnte Bärbel im Gang. Draußen huschten Signale und Warnzeichen vorbei. Ein Schild kündigte den Ostbahnhof an. Obwohl Bärbel genau wusste, dass ihre Fahrkarte im Portemonnaie steckte, sah sie hastig noch einmal nach. Gebremst kroch der Zug in die düstere Halle. Als eine der ersten sprang Bärbel auf den Bahnsteig. Nachströmende Reisende, von Eile getrieben, schoben das Mädchen zur Seite oder stießen sie vor sich her. Es strebte auf den Zeitungskiosk zu, an dem es auf die Großmutter warten sollte. So war es vereinbart.
Donnernd lief auf dem gegenüberliegenden Gleis ein Zug ein. PARIS-NORD las Bärbel an den Wagen. Sie bestaunte die weitgereisten Waggons, die sie aber gleichzeitig wohlgefällig daran erinnerten, dass die französischen Schwimmerinnen nicht die Schnellsten waren. Doch schon in derselben Sekunde dachte sie besorgt: Wo bleibt nur Oma?
Sie traute sich nicht, den Koffer abzustellen. Auch den Henkel ihres Körbchens umklammerte sie krampfhaft. Wenn mich Oma nun hier nicht findet? Bärbel reckte sich auf die Zehenspitzen, um die Umstehenden zu überragen. Ihr Herz klopfte, als wäre sie eben eine Hundertmeterstrecke geschwommen. Wo bleibt nur Oma? Noch nie hatte sich Bärbel so verlassen gefühlt wie hier unter den vielen lärmenden Menschen.
„Endlich, Bärbel, endlich!", rief plötzlich eine große, nicht mehr ganz schlanke Frau neben dem Mädchen. Bärbel hatte die Großmutter nicht kommen sehen und wandte sich erschreckt und erfreut zugleich um.