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„Alissas Feuermal“ ist eine zärtliche, spannende Liebesgeschichte zwischen dem jungen Mädchen und einem Spätaussiedler-Jungen aus Kasachstan. Gregor ist chronisch krank und hat nicht nur wegen der Sprache große Schwierigkeiten, sich in Deutschland zu Recht zu finden. Alissa ist keine Schönheit nach den Klischee-Vorstellungen unserer Massenmedien. Doch was ist Schönheit? Richtet sie sich wirklich nur noch nach Äußerlichkeiten? Die Liebe zwischen den beiden jungen Menschen ist eine Liebe im Dunkeln. Das ‘Sich gegenseitig nicht Sehen‘ kann beide vorübergehend etwas vor der eigenen Realität bewahren, zwingt sie aber, sich mit ihrem Anderssein auseinanderzusetzen. Doch dann kommt es ganz anders. Sehr behutsam gibt uns das Buch einen Einblick in die Schwierigkeiten von Menschen, die schicksalhaft am Rande leben müssen: In ihrem Aussehen Benachteiligte, Kranke, Behinderte, Blinde, Menschen, die unter Rassismus zu leiden haben, Spätaussiedler und Asylanten, auch solche, die ein besonders großes Herz für Tiere haben. Es gesteht auch diesen Menschen das Recht auf ihr individuelles Glück zu. „Alissas Feuermal“ weckt Verständnis und stellt elementare Fragen. Es hilft uns, " ja" zu sagen zu unserem eigenen Ich und fordert uns auf, für eine wahrhaft menschlichere, multikulturelle Gesellschaft zu kämpfen, in der Platz und Würde für alle ist. Das Buch ist für Jugendliche ab 12 Jahren geeignet.
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Seitenzahl: 154
Volker Schmidt
Eine Liebesgeschichte für alle,die anders sind, wie jeder von uns
Äußere Schönheit ist vergänglich.Innere Schönheit spiegelt sich inallem, selbst über den Tod hinaus.
Volker Schmidt
Ein Dank zu Beginn:
"Alle Menschen in unserer Gesellschaft sind gleich wertvoll und alle verdienen die gleiche Beachtung und Liebe, seien sie nun behindert, blind, krank, seien es Hilfe suchende aus der Ferne oder sonst irgendwie vom Schicksal gezeichnete, oder seien es einfach Menschen, die anders sind als die anderen, so wie wir alle."
Wenn dieses Buch dazu beitragen kann, dass viele Menschen diesen Gedanken mit Leben erfüllen, dann hat es für alle, die an seiner Entstehung beteiligt waren, seinen Sinn erfüllt und das ist für uns der größte Dank.
Volker Schmidt
Impressum
Originalausgabe
1.Auflage 2016
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
Alle Rechte vorbehalten, kein Text des Werkes darf in irgendeinerForm ohne schriftliche Genehmigung des Verlags oder des Autorsreproduziert oder verbreitet werden.
Verantwortlich für die Inhalte: Volker Schmidt, Landvogt HeinrichStraße 10, 91602 Dürrwangen
Satz und Umschlagsgestaltung: Hans Schmutterer OberkemmathenUmschlagsmotiv: Heide Büttner, Freiburg
Bilder: Mathematische Mandelbrotmengen, bearbeitet
ISBN e-Book 978-3-7345-3159-0
ISBN Taschenbuch 978-3-7345-3157-6
ISBN Hardcover 978-3-7345-3158-3
Volker Schmidt ist studierter Biologe, Geograph, Pädagoge und freier Journalist bei einer großen regionalen Tageszeitung. Sein literarisches Engagement gilt neben der Pressearbeit der Bewusstmachung der heute in vieler Weise problematischen Entwicklung von Natur, Mensch und Gesellschaft. Seine Bücher sind aktuell animierend und oft zugleich märchenhaft, wobei sein verständlicher Umgang mit den Inhalten Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen fasziniert.
Neben seinen Büchern schreibt Volker Schmidt umweltkritische Gedichte und Kurzgeschichten. Wegen seiner hintergründigen, bissigen Umweltlyrik hat ihn der Süddeutsche Rundfunk nicht zu Unrecht als „Robin Hood mit spitzer Feder“ bezeichnet.
Volker Schmidt ist verheiratet, hat vier erwachsene Kinder und lebt zusammen mit seiner Frau in einem naturnahen kleinen Rosenparadies im Frankenland.
Zu den Bildern:
Die bunten Bilder in "Alissas Feuermal", von denen Gregor immer wieder spricht, stellen gefärbte geometrische Figuren dar, welche sich durch die zeichnerische Umsetzung bestimmter mathematischer Formeln ergeben. Das besondere an ihnen ist, dass sie sich bis ins unendlich kleinste Detail immer wieder aus sich selbst heraus wiederholen. Solche Strukturen kommen heute öfters in der digitalen fraktalen Kunst vor, sind aber auch in der Natur immer wieder anzutreffen. Der amerikanische Mathematiker Beniot B. Mandelbrot hat sie als 'Mandelbrotmenge' beschrieben und gilt als der Vater der fraktalen Geometrie.
Für Gregor und auch für dieses Buch sind die Fraktale nicht nur mathematische Faszination, sondern auch Ausdruck für das allumfassende Schöne, welches jedem Wesen dieser Erde gleichwertig innewohnt.
Gitte war ausgegangen. "Komme ziemlich spät zurück“, hatte sie für Alissa auf einen Zettel auf dem Küchentisch geschrieben. "Essen im Kühlschrank, blaue Schale, Mikrowelleneinstellung: maximale Leistung, 3 Minuten. Mach's gut, mein Schatz, ich hab‘ dich lieb." Früher hatte dann auf dem Zettel immer noch gestanden: „Ich rufe später mal an“. Diese Bemerkung fehlte jetzt aber. Leider, denn Alissa hatte kein Handy mehr, auch kein Smartphone und so musste sie eben eine Weile ohne dieses unterhaltsame und wichtige Hilfsmittel auskommen. Ihr schönes, teures Smartphone hatte sie beim Schulausflug verloren und das kleine rote Handy, welches ihr Gitte als Ersatz gekauft hatte, war in der Schule geklaut worden. Kein Wunder, dass Gitte sauer war, denn besonders viel Geld hatten die beiden sowieso nicht zur Verfügung und schließlich hätte Alissa ja auch besser aufpassen können. Sie hoffte nun, dass sie vielleicht zu Weihnachten ein neues bekommen würde, aber bis dahin war es noch lang. Wirklich sehr schade, denn so ganz ohne Handy fühlte sich Alissa ziemlich isoliert von ihren Schulkameradinnen und eben auch von Gitte, falls es einmal irgendetwas zu besprechen gab.
Alissa war oft allein zu Hause. Für eine Dreizehnjährige war das zwar nicht gerade toll, aber sie konnte damit schon klar kommen. Gitte, ihre Mutter, arbeitete den ganzen Tag, und dass sie sich dann abends gern mit Bekannten traf, das konnte Alissa schon verstehen. Theo, ihren Vater, kannte sie nur von einem Bild, auf dem er, fröhlich lächelnd, ein Glas in der Hand, zusammen mit Gitte abgebildet war. " Es gibt ihn nicht mehr, er ist nicht mehr da“, hatte Gitte Alissa immer wieder geantwortet, wenn diese nach ihm fragte.
„Theo war ein wunderbarer Mann und bestimmt wäre er dir auch ein guter Vater und ein toller Kamerad gewesen“, hatte Gitte Alissa wiederholt erklärt. „Aber der Alkohol, erst Wein und Bier, dann Schnaps, dann alles durcheinander. Dein Vater trank, bis er eines Morgens nicht mehr aufwachte und ich dachte immer, ich könnte ihn mit meiner Liebe von seiner Sucht befreien. Dass es dich gibt, mein Schatz, hat er nie erleben dürfen."
Traurig schaute Gitte nach diesen Worten lange ins Leere. Sie hatte schon öfters ins Leere geschaut, denn Alissa hatte diese schmerzliche Frage nach Theo wieder und immer wieder gestellt, so, als müsse sie, die Tochter, jedes Mal bei ihrer Frage und Mutters immer gleicher Antwort noch ein Stück mehr vom tragischen Schicksal ihres Vaters begreifen. Aber es war wohl auch ein Stück unstillbarer Sehnsucht nach etwas, das Alissa nie erlebt hatte und nie würde erleben können, das da ganz tief in ihr nagte und von dem sie hoffte, dass es durch ihr wiederholtes Fragen erträglicher werden könnte. „Vater, was ist ein Vater? Wie fühlt es sich an, einen Vater zu haben?“
Hähnchenbrust, Rosenkohl, Kartoffelpüree, eigentlich ein Leibgericht von Alissa und doch, der Kloß im Hals, der sie heute wieder ganz besonders drückte, der sogar ein paar Tränen in ihre Augen presste, dieser Kloß war auch mit dem Rosenkohl nicht ganz hinunterzuschlucken.
Ja, der Kloß im Hals. Warum hatte Miriam sie nicht auch eingeladen zu der Party am Freitagabend, wo doch so viele von ihren Klassenkameradinnen hingingen? Und Jungs sollten auch kommen, ganz tolle. Katja hatte sie vorige Woche auch nicht gefragt und Sarah damals auch nicht und einmal, als Helen ihren Geburtstag feierte, da hätte sie dabei sein sollen, aber zwei Tage vorher kam dann doch noch eine Absage. "Unsere Wohnung ist doch zu klein für so viele“, hatte Helen, sich entschuldigend, gesagt, "und überhaupt, es passte gerade nicht so richtig."
Alissa war traurig. Freilich, in der Schule waren alle nett zu ihr, und die anderen ließen sie sogar die Hausaufgaben abschreiben, wenn sie diese einmal vergessen hatte. Aber nach der Schule..., wie gesagt, Alissa war oft allein.
Den Teller, Messer und Gabel, das Colaglas spülte Alissa gleich unter dem fließenden heißen Wasser ab und stellte alles zum Abtropfen in den Geschirrständer. Lustlos ging sie ins Badezimmer hinüber, um sich die Zähne zu putzen. Der Kloß im Hals war immer noch da, verschwand einfach nicht.
Alissa sah Gittes offenen Lippenstift, ihr ganzes Make-up- Set auf der Ablage liegen. Versonnen begann sie sich zu schminken. Zartgrüner Lidschatten, ein wenig brauner Augenbrauenstift, die Lippen dick mit Rot nachgezogen, Wimperntusche und dann griff sie zum Abdeckstift. Mit breiten Strichen begann sie über ihr Gesicht zu malen, drei- viermal über die gleiche Stelle und immer weiter über ihr halbes Gesicht. Mehrmals musste sie den Stift nachspitzen, doch es half nichts, es war immer noch zu sehen, es schimmerte immer noch durch. Es ließ sich einfach nicht verbergen.
Quer über Alissas ganzes Gesicht zog sich ein breites dunkel-himbeerfarbenes Feuermal. Das linke Auge, die Nase, die rechte Wange, ein Teil des rechten Mundwinkels und sogar noch ein Stück des rechten Ohres waren von diesem scharf umrandeten dunklen Rot bedeckt, von diesem grässlichen Rot, das Alissas Gesicht so anders machte.
Alissa hatte eigentlich ein blasses, fast weißes Gesicht, in welchem gerade deshalb dieses Feuermal ganz besonders stark hervortrat. Ihre Augen waren grau-grün. Sie waren ganz klein, mit kurzen, fast weißen Wimpern und diese Wimpern standen alle leicht schräg und ungeordnet in den verschiedensten Richtungen, als hätten sie gar nichts miteinander zu tun.
Lächeln, Alissa traute sich kaum zu lächeln, denn jedes Mal, wenn sie ihre Lippen zu einem Lächeln öffnete, sah man ihre Zähne. Es waren gelbe Zähne, die so weit auseinander standen, dass man fast denken konnte, dass in den Zahnlücken jeweils noch ein Zahn fehlte, der vielleicht noch wachsen würde. Aber nein, bei Alissa kamen keine Zähne mehr, sie hatte nur so wenige, schon von Kind an.
Alissa schaute in den Spiegel. Sie sah ihr kräftig, fast grell geschminktes Gesicht und war traurig, wieder einmal traurig. Der Kloß in ihrem Hals wurde unerträglich groß. Alissa musste einfach weinen und das Weinen half den Kloß aufzulösen, wenigstens für einige Zeit.
Wegen ihrer Zähne hatte Gitte sie schon wiederholt zu trösten versucht: „Du weißt doch, dass du später einmal in jede Zahnlücke einen neuen Zahn bekommen wirst, ein Implantat. Aber das geht doch erst, wenn deine beiden Kiefer voll ausgewachsen sind, damit die neuen dann auch perfekt passen und die gelbe Farbe wird dann auch verschwinden, da haben die Zahnärzte bestimmt auch eine Möglichkeit.“ „Wie lange das wohl noch sein wird“, hatte sich Alissa schon öfters gefragt. „Wann sind diese blöden Kiefer denn endlich ausgewachsen? Hoffentlich bezahlt das dann auch die Krankenkasse, denn so viel Geld könnte Gitte bestimmt nicht selber aufbringen.“ Gittes Trost war also nur ein halber Trost „und außerdem“, dachte Alisa weiter, „ich will jetzt genau so schön sein wie alle die Anderen, ich will nicht mehr warten müssen auf irgendwann.“
"Du bist mein Kind, mein Schatz“, hatte Gitte oft zu ihr gesagt, wenn Alissa einmal wieder zu sehr weinte“, Ich habe dich lieb, so wie du bist. Die Schönheit des Menschen, mein Kind, ist nicht ins Gesicht, sie ist in die Seele geschrieben."
Einmal hatten Gitte und Alissa zusammen in den Spiegel geschaut: „Hast du es schon bemerkt, “ sagte Gitte liebevoll zu ihrer Tochter, "Dein Feuermal, es sieht genau aus wie ein Fisch, nein, wie ein roter Delphin. Hier, links, der Schnabel, der Kopf, der runde Rücken, die Schwanzflosse am rechten Ohr, und sieh nur hier, der braune Leberfleck. Ist er nicht genau wie ein lächelndes Auge?" Gitte nahm Alissa fest in den Arm und streichelte ihr glattes braunes Haar.
"Delphine, Alissa, kennst du das Geheimnis der Delphine?" Alissa schüttelte den Kopf." Ich will es dir erzählen“, sagte Gitte an jenem Abend. "Komm, wir setzen uns zusammen auf die Couch."
Die Mutter legte ihren Arm um Alissa und begann: "Schon vor mehr als zweitausend Jahren zierten Bilder wunderschöner Delphine griechische Vasen und Bodenmosaike. Man fand den Delphin auf dem Kampfschild des starken Helden Odysseus, auf Münzen und als goldene Broschen. Verzauberte Menschen und Spielgefährten der Meeresgötter sollen die Delphine gewesen sein.
Der oberste Meeresgott, Poseidon, schickte einen seiner Delphine als Liebesboten zu seiner angebeteten Amphitrite und als diese später seine Gemahlin war, fuhr sie auf einem wunderschönen weißen Muschelboot über die Wogen des Meeres. Gezogen wurde ihr Kahn von goldenen Delphinen.
Delphine galten wegen ihrer Geschicklichkeit, ihrer Klugheit und Stärke als die Könige der Meere. Sie waren auch ein Symbol menschlicher Liebe und Achtung untereinander. Niemand durfte sie töten. Sie sind auch zum Wappentier der französischen Könige geworden. Jeder erstgeborene Sohn des Herrschers bekam am Hof den Beinamen "Dauphine".
Delphine gehen sehr liebevoll und hilfsbereit miteinander um. Sie sind sehr klug und scheinen die Nähe der Menschen oft regelrecht zu suchen. Auch haben sie Menschen schon ganz freiwillig beim Fischfang geholfen, mit Badenden gespielt und Kinder auf ihrem Rücken spazieren getragen.
Kannst du dir vorstellen, Alissa, als Schiffbrüchiger ganz allein weit draußen auf dem Meer zu sein, um dich nur Wasser, Himmel und Hoffnungslosigkeit? Kannst du dir vorstellen, dass dann, wenn du am Verzweifeln bist, wenn dich der letzte Mut gerade verlässt, auf einmal ein Wunder geschieht? Kannst du dir vorstellen, dass dann plötzlich mehrere große Delphine unter dir erscheinen, die empfinden, dass du in Todesangst bist, die dann ihre Leiber eng aneinander pressen sodass sie unter dir zu einem lebendigen Floß werden? Delphine retten dich, tragen dich behutsam aus der Gefahr bis an die nächste stille Küste.
Alissa, das ist keine alte Sage, keine Phantasiegeschichte, das hat sich schon in verschiedenen Teilen des Meeres so zugetragen. Russen, Japaner, Australier, Griechen, Neuseeländer, Amerikaner und viele andere haben ein solches Glück schon erlebt. Ja, Delphine verstehen die Menschen. Sie sind wunderbare, geheimnisvolle Wesen, sind ganz besonders unter allen Tieren, und auch dich, mein Schatz, begleitet ein solcher Delphin durchs Leben."
Gitte versuchte immer wieder auf verschiedenste Weise, Alissa Mut zu machen, sie zu überzeugen, dass sie nicht schlechter war als alle ihre Kameradinnen, nur weil ihr Gesicht anders war, anders seit dem ersten Tag ihres Lebens. Und trotzdem, Alissa konnte sich einfach selbst nicht gefallen. Immer wieder ging sie an den großen Spiegel im Badezimmer und versuchte mit Abdeckcremes, Puder und Schminke den roten Delphin einfach zuzudecken, nicht mehr da sein zu lassen und so tat sie es eben auch dieses Mal.
Alissa betrachtete im Spiegel immer noch ihr bemaltes Gesicht. Ohne Schminke gefiel sie sich nicht. Aber diese bunte Maske konnte sie auch nicht ertragen.
Dreizehn Wattepads und sehr viel Creme waren nötig, um all die Farbe wieder zu beseitigen, um Alissa wieder ihr eigenes Gesicht zu geben, das Gesicht mit den weit auseinander stehenden Zähnen, den kleinen grau-grünen Augen, mit den kurzen Wimpern und dem roten Delphin, das Gesicht, das Alissa selbst hässlich fand.
Friedrich war ein sehr alter Mann. Seine neunzig Jahre hatte ihm die Zeit ins Gesicht geschrieben und auch seine weißen Haare und seine hageren Knochenhände verrieten jedem, dass er ein Greis war.
Sein Zimmer war die geräumige Dachmansarde eines alten Hauses. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein kleiner Kleiderschrank und eine Kommode, auf der eine elektrische Herdplatte stand, zwei Teller, Tassen, etwas Besteck. Ein Eisschrank war auch da, ein kleiner Blechmülleimer, so einer mit Pedal zum Drauftreten, damit er sich öffnete. Das Klo, in dem es auch ein Waschbecken und eine Dusche gab, teilte sich Friedrich mit drei Bauarbeitern und einem Studenten, welche vorübergehend in anderen Zimmern wohnten.
Eines war für Friedrich ganz besonders wichtig, nämlich sein Radio. Von morgens bis zur Nacht begleitete es ihn durch den Tag und öfters vergaß er auch es abzuschalten, wenn er das Haus verließ. Früher hatte 'Fridi' noch die Punktschrift-Zeitung des Blindenverbandes gelesen. Er hatte sich auch immer wieder Leih- Hörkassetten schicken lassen und ab und zu kam auch eine ältere Frau vorbei, die ihm vorlas. Doch mit der Zeit war ihm das alles irgendwie zu umständlich geworden und so beschränkte er sich nur noch auf sein Radio.
Ja, Friedrich Wendel war blind und doch wollte er nie als Kranker oder gar als Behinderter behandelt werden. "Blinde, „ sagte er manchmal zu Alissa, "Blinde sind Staatsbürger, die besser hören, einen feineren Geruchsinn, einen empfindlicheren Tastsinn, ein besseres Gespür für die Dinge haben. Wir haben die Schönheit der Welt als Kinder sehen dürfen und die Bilder dieser Schönheit sind in uns, für immer, verstehst du? Wir brauchen jetzt gar nicht alles zu sehen, und im Übrigen: Blinde können alles fühlen, fast alles“, verbesserte er sich dann mit einem weisen Lächeln im Gesicht.
Alissa war vom Wesen des Blinden fasziniert. Sie war immer wieder erstaunt, wie gut er zurechtkam und sie hörte ihm gern zu.
An Fridis Zimmer, Alissa durfte Friedrich als einzige so nennen, waren es andere Dinge, die sie besonders mochte. In erster Linie war es das große Fenster, welches nach Südwesten schaute. Es ließ viel Sonne herein und man hatte einen wunderbaren Blick von hier über die ganze Stadt mit ihren tausend Dächern, mit den belebten Straßen, dem silbernen Fluss, den ehrwürdigen Kirchtürmen und mit dem Rauchballett über den unzähligen Schornsteinen, wann immer die Menschen ihre Wohnungen beheizten. Alissa stand oft an diesem Fenster. Sie begann dann zu träumen und ihre Phantasie ließ sie zu einer Königin werden, die herrschend über ihren Staat blickte.
Weiße Tauben hatten das Dach über Fridis Mansarde offenbar zu ihrem Lieblingsplatz erkoren. Der ganze Schwarm saß oft dort oben aufgeplustert im Windschatten des Giebels und sonnte sich. Wenn Alissa das Fenster öffnete, erschraken die Vögel jedes Mal. Mit laut klatschenden Flügeln warfen sie sich in die Luft und dann jagte der ganze weiße Schwarm in weiten Kurven über die Stadt. Alissa spann ihren Traum mit den Tauben weiter. Sie fühlte sich wie im Märchen. Stolz wie eine Königin blickte sie auf ihre Boten, auf ihre Diener. Sie rief ihnen in Gedanken Befehle zu und gab ihnen ihre Hoffnungen, ihre Träume, ihre Sehnsüchte mit auf den Weg. Und wenn die Boten dann zurückkamen, die weißen Vögel, gab es für sie weder Lob noch Tadel der Herrscherin. Majestätisch nickte die Königin dann ihrem Hofstaat zu, zufrieden mit ihren Diensten.
Fridis Fenster war für Alissa das Tor zum Träumen, zum Glücklich-Sein. Für Friedrich waren das Fenster, die Sonne und der weite Blick über die Stadt ohne Bedeutung. Er war blind. Das Fenster öffnen hieß für ihn frische Luft hereinlassen, den Regen, den Herbst oder auch den Rauch riechen, die Stimmen der Stadt lauter hören, die Weite der Landschaft erahnen.
Friedrich verließ sein Zimmer und das alte Haus, jede Woche einmal. Er ging dann zwar nicht zum Einkaufen oder in ein Speiserestaurant. Das war nicht nötig, denn seine Schwester kam mehrmals in der Woche vorbei, brachte Essen, frische Wäsche und reinigte auch das Geschirr und sein Zimmer. Nein, Friedrich ging in das Tanzlokal an der Ecke. Frisch gewaschen, rasiert, sauber gekleidet, legte er die gelbe Armbinde mit den drei schwarzen Punkten an, nahm seinen weißen Stab und machte sich auf den Weg. Er brauchte fast keine Hilfe, denn er kannte jeden Schritt auswendig: den engen Gang nach vorn bis hin zur knarrenden Treppe, hinunter bis zur Haustür, nach links, nach dreizehn Schritten wieder nach links und dann ziemlich lange geradeaus, immer nahe an den Hauswänden entlang. Nach der zweiten Querstraße kam dann die Ampel mit dem Piepston für Blinde, die Friedrich immer sagte, wann das Fußgängergrün kam, und dann war er auch schon dort, beim "Ball der einsamen Herzen". Die Bedienung kannte ihn. Sie half ihm bereitwillig, an einem der Tische Platz zu nehmen, wobei sie öfters ein vermittelndes Wort sprach, wenn an diesem Tisch schon ein paar andere Leute saßen. Friedrich bestellte dann ein Glas Wein, lauschte der Musik und den Gesprächen an den Nachbartischen und summte fröhlich die eine oder andere Melodie mit, die er kannte.