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Macht, Magie und Megaspannung – diese Urban-Fantasy ist vielschichtig, düster und cool! Was mit unheimlichen Tarotkarten begann wird zum magischen Kampf ums Überleben. Die Mamsell ist zurück! Aber um die rachsüchtige Tarot-Figur endgültig zu bannen, muss Maeve mehr über sie erfahren. Also taucht sie immer öfter in die magische Parallelwelt ein, in der die Mamsell existiert – ausgerechnet in den Gemäuern von Maeves alter Schule. Es ist eine faszinierend gefährliche Dimension und in vielerlei Hinsicht ein Problem: Denn erstens gewinnt in der echten Welt die reaktionäre Brigid-Sekte wieder an Macht. Zweitens ist Maeves Clique der »Begabten« in ganz Irland verstreut. Und drittens wird Maeve langsam, aber sicher – und vielleicht unaufhaltsam – selbst zur Mamsell. Der furiose Abschluss der Urban-Fantasy-Trilogie mit dem übersinnlichen Twist! Alle Bände der Serie »All Our Hidden Gifts«: All Our Hidden Gifts 1 – Die Macht der Karten All Our Hidden Gifts 2 – Die Kraft der Talente All Our Hidden Gifts 3 – Das Haus der Magie
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Caroline O’Donoghue
All Our Hidden Gifts – Das Haus der Magie
Aus dem Englischen von Christel Kröning
Die Mamsell ist zurück! Aber um die rachsüchtige Tarot-Figur endgültig zu bannen, muss Maeve mehr über sie erfahren. Also taucht sie immer öfter in die magische Parallelwelt ein, in der die Mamsell existiert – ausgerechnet in den Gemäuern von Maeves alter Schule. Es ist eine faszinierend gefährliche Dimension und in vielerlei Hinsicht ein Problem: Denn erstens gewinnt in der echten Welt die reaktionäre Brigid-Sekte wieder an Macht. Zweitens ist Maeves Clique der »Begabten« bald in ganz Irland verstreut. Und drittens wird Maeve langsam, aber sicher – und vielleicht unaufhaltsam – selbst zur Mamsell.
Der furiose Abschluss der Urban-Fantasy-Trilogie mit dem übersinnlichen Twist!
Alle Bände der Serie »All Our Hidden Gifts«:
All Our Hidden Gifts 1 – Die Macht der Karten
All Our Hidden Gifts 2 – Die Kraft der Talente
All Our Hidden Gifts 3 – Das Haus der Magie
Wohin soll es gehen?
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Viten
Für die unbeliebten Hauptfiguren
Teil 1
1. Kapitel
Was einem niemand übers Verfluchtsein sagt: Viel stärker als die anfängliche Angst nimmt man etwas ganz anderes wahr, nämlich Schönheit. Die Welt ist unglaublich schön, wenn man davon ausgehen muss, dass einem nicht mehr viel Zeit in ihr bleibt.
Die Farben leuchten viel kräftiger. Selbst an diesem Abend im Dezember, da es tagsüber schon kaum richtig hell wird, vereinen sich kühler Flussnebel und die Lichter der Stadt zu einem phosphoreszierenden, goldblauen Schimmer. Ganz Kilbeg ist eine Schmuckkiste, vor der man geblendet die Augen zusammenkneifen muss. Die Stadt pulsiert in meinen Adern.
Sechsunddreißig Tage sind vergangen, seit zwei Frauen meinetwegen den Tod gefunden haben. Eine, die mich umbringen, eine, die mir das Leben retten wollte.
Nachdem ich bei Nuala geklingelt habe, werde ich von Fiona mit den Worten begrüßt: »Da bist du ja endlich.« Egal, wie früh ich dieser Tage dran bin, Fi ist immer bereits vor mir da. »Komm rein, die Sitzung vom Weltuntergangsclub hat schon angefangen.«
Ich folge ihr in die Küche, und da sind sie alle: Manon beugt sich über einen dicken Packen A4-Blätter, Nuala holt irgendwas aus dem Ofen, Roe schält einen Apfel, und Lily lässt auf der Küchenzeile die Beine baumeln.
Die Frage, die uns alle beschäftigt, lautet: Sind wir tatsächlich schuld am Tod von Heather Banbury und Schwester Assumpta, oder war es doch bloß ein Unfall? Und: Schert das die Mamsell überhaupt oder lässt sie eben einfach Köpfe rollen, Schuld hin oder her?
»Die Krux ist«, sagt Nuala gerade und winkt mit dem Kochlöffel in meine Richtung, »dass die Mamsell Rache übt, ohne zu urteilen. Somit können wir sie auch nicht umstimmen. Man muss sie sich wie ein Aufziehspielzeug denken. Stimmts, Maeve?«
Kann sein, aber darf ich vielleicht erst mal den Mantel ausziehen? »Seit wann begrüßt mich hier eigentlich niemand mehr?«, frage ich verschnupft. »Bin ich tot oder so?«
»Noch nicht«, antwortet Manon versonnen und streicht eine Zeile gelb an. »Aber vielleicht schon bald.«
»Und auch dir von Herzen ein Joyeux Noël.«
Schon drei Mal trat die Mamsell, soweit wir wissen, während der letzten dreißig Jahre in Erscheinung. Das erste Mal beschwor Nualas große Schwester Heaven sie herauf, um sich und ihre kleine Schwester vor dem gewalttätigen Vater zu schützen. Der Vater starb. Jedoch auch Heaven musste dabei ihr Leben lassen.
Das zweite Mal rief Aaron die Mamsell, damit sie ihm und den anderen beim Ausbruch aus dieser erzchristlichen Entzugsklinik half. Was sie tat. Jedoch nahm sie Aaron im Austausch den besten Freund. Matthew Madison. Ein Tod, den Aaron drei fehlgeleitete Jahre lang in den Fängen der Kinder Brigids zu büßen versucht hatte.
Und das dritte Mal: Lily. Eine verpfuschte Tarot-Session, die in Chaos endete und uns alle zusammenführte.
Wer weiß, was ein viertes Mal auslösen würde? Wer würde der Mamsell diesmal zum Opfer fallen, wer würde verschont? Aaron ist nicht geblieben, um es herauszufinden.
Als ich mich zu Roe hinunterbeuge, um ihm ein Küsschen auf die Wange zu geben, löst sich der dicke Schal, den ich mir um den Hals gewickelt hatte.
»Hallo«, sagt Roe und schmiegt sich an mich. »Du bist ja ganz kalt.«
»Hi«, begrüßt mich auch Lily, die sich auf der Küchenzeile jetzt hingekniet hat. Ihre Füße hängen halb in der Spüle, aber darauf achtet sie gar nicht, weil sie konzentriert etwas mit Acrylfarbe ans Fenster malt. Ein … aufwendig verschnörkeltes Schwein oder so, mit roten und grünen Kringeln im Gesicht.
»Was ist das?«
»Ein Eber. Ein Jul-Eber.«
»Logisch.«
Lily streicht sich eine Strähne ihrer blonden Haare aus dem Gesicht. »Weihnachtsbaum und Konsorten sind doch langweilig. Lieber was Heidnisches, dachte ich mir. Für die Wintersonnenwende.«
»Ah«, mache ich. »Deswegen der Jul-Eber.«
Lily lächelt in sich hinein und malt weiter. »Ganz genau.«
Nachdem Lily und ich die Mamsell heraufbeschworen hatten, war sie bereits nach wenigen Tagen erschienen. Und wir hatten es ja nicht einmal beabsichtigt. Mein Zweites Gesicht in Kombination mit dem Magiebrunnen unter Kilbeg und dem pulsierenden Hass, den Lily und ich damals füreinander empfanden, waren genug gewesen, um den Rachedämon auf den Plan zu rufen. Dass Dorey mir mit der Mamsell gedroht hat, ist nun fast einen Monat her. Doch bisher: nichts.
Dabei hatte sich Dorey sehr deutlich ausgedrückt – und sehr elegant, wie die Feenkönigin, die einem glitzrig lächelnd einen faulen Handel unterschiebt. Die Kinder Brigids wollen totale Kontrolle über den Kilbegbrunnen und werden alles tun, was dafür nötig ist. Also, alles, außer uns eigenhändig zu töten. Denn Mord bringt einem magisch gesehen mehr Ärger als Nutzen, wie wir wissen. Jeder Schaden, den man jemandem zufügt, fällt dreifach auf einen selbst zurück. Aber: Steht einem das Recht auf Rache zu, kann man einfach die Mamsell die Drecksarbeit machen lassen.
Wo also steckt sie?
»Sie übt Rache, ohne zu urteilen, so weit waren wir schon«, greift Manon Nualas Einwurf auf. »Nur wissen wir ja immer noch nicht genau, ob die Brigidskinder überhaupt ein Recht auf Rache geltend machen können.«
»Wir haben Heather Banbury umgebracht«, wirft Roe tonlos ein.
»Haben wir nicht«, widerspricht Fiona ungewohnt piepsig. »Ihr Tod war ein Unfall.«
»Aber er hat sie ereilt, während sie magisch an uns gebunden war«, gibt Nuala zu denken. »Wären allerdings die Kinder Brigids nicht zum Tennisplatz gekommen, wäre sie noch am Leben. Sie sind also im Grunde gleichermaßen schuld, wenn man es so sehen will.«
»Wer sieht das so?«, fragt Lily, ohne ihre Malerei zu unterbrechen.
»Keine Ahnung.« Nuala wirft die Hände empor. »Der große kosmische Abakus, der Kugel für Kugel Gerechtigkeit portioniert?«
»Das Gericht«, sagt Fiona und hält eine Tarotkarte hoch. Ich mag die Einzige hier mit dem Zweiten Gesicht sein, mit dem Tarot aber ist Fi mittlerweile genauso geschickt. Sie mischt einmal durch und klopft den Stapel zweimal auf dem Tisch zurecht.
In dem Augenblick, fast wie eine Antwort, klopft es an die Hintertür zur Küche, und jenseits der Scheibe ist das Aufflattern von Elsterfedern mit orangefarbenen Spitzen zu sehen. Fiona streckt die Hand nach der Klinke aus.
»Das Ding hat hier drin nichts zu suchen«, sagt Manon und rümpft die Nase.
»Red nicht so über Paolo«, nimmt Fi ihren Liebling in Schutz und macht ihm auf. An diese Elster hat Fiona genauso schnell ihr Herz verloren wie an Manon, und natürlich sind zwei solche Leidenschaften im Leben unmöglich miteinander zu vereinbaren.
Manon schaudert. »Ich hasse Vögel.«
Paolo hüpft herein und flattert auf den Wasserhahn der Spüle. Lil nimmt ihre Füße aus dem Weg. Mit dem Schnabel stochert Paolo auf der Suche nach ein paar Wassertropfen am Hahnende herum.
»Darf ich ihm ein Schälchen hinstellen, Nuala?«, fragt Fiona.
»Darfst du, Liebes.«
»Fionnuala!«, protestiert Manon. Sie redet öfters mal so gestelzt mit ihrer Mutter, weil die sie ja als Kind verlassen hat. »Fin.«
»Manny«, erwidert Nuala beruhigend. »Er tut doch nichts.«
»Ich mag ihn nicht.«
Weil ich direkt neben dem Geschirrschrank stehe, hole ich Paolo ein Schälchen heraus. Er kriegt sogar das gefilterte Wasser aus dem Kühlschrank von mir. Ich spüre zwar nicht, was Paolo denkt oder fühlt, vermute aber, dass er gefiltertes Wasser bevorzugt. Er ist schließlich Fionas magischer Vertrauter, und Fiona hat nun mal einen Sinn für die feineren Dinge.
Sie lässt den Blick auf ihm ruhen, und nachdem er getrunken hat, lässt er sich auf ihrer Schulter nieder.
»Und?«, frage ich und versuche, mir nicht zu große Hoffnungen zu machen. »Hat er Neuigkeiten?« Paolo ist nämlich sozusagen unsere kleinen Drohne, die die Stadt von oben auskundschaftet.
Fi legt den Kopf schief und schließt die Augen. Die Elster berührt sie nicht, spielt nicht mit ihren Haaren oder so, doch es ist offensichtlich, dass die beiden kommunizieren.
»Nein«, antwortet Fi und macht blinzelnd die Augen wieder auf.
»Bist du sicher?«, frage ich. »Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß, was Paolo weiß. Er hat ihn nicht gesehen. Und die Kinder Brigids im Übrigen auch nicht.«
»Tun wir immer noch so, als würde er nicht zu ihnen gehören?« Von dem Apfel, den Roe schält, hängt mittlerweile ein so langer Streifen Schale herunter, dass der fast den Boden berührt. »Ich meine, sehen wir den Tatsachen ins Gesicht. Er ist zu ihnen zurückgekehrt.«
»Was macht dich so sicher?«, frage ich. »Hast du irgendwelche Beweise dafür?«
Aber er hat ja nicht unrecht. Dass Aaron nach dem Gespräch mit Dorey am Tag von Schwester Assumptas Beerdigung verschwunden ist, lässt womöglich nur zwei Schlüsse zu: Verrat oder Feigheit. Und auf Aaron, den Ex-Meistermanipulator des rechtskonservativen Kinder-Brigids-Kults, könnte beides zutreffen. Andererseits hatte er doch den Mut und die Charakterstärke gehabt, die Brigidskinder zu verlassen und seine Weltsicht radikal zu überdenken. Oder war das alles nur Show?
Wo bist du, Aaron?
Als Roe und ich Aaron zum ersten Mal gemeinsam trafen, mussten wir miterleben, wie er uns und die anderen Teenager beim KB-Treffen durch perfide Psychoquälereien in seinen Kult hineinzwingen wollte. Auf der anschließenden Rückfahrt im Bus haben Roe und ich uns gestritten. Er sagte, dass Aaron und ich im Grunde zwei Seiten derselben Medaille wären.
Der Vorwurf hat mich damals tief gekränkt, aber wie sich herausstellte, hatte Roe auch da gar nicht so unrecht. Aaron und ich sind zwei Zweite Gesichter. Wurden beide geboren, um die Magie unserer jeweiligen Heimat zu beschützen, und haben darin beide versagt. Je öfter ich mir das durch den Kopf gehen lasse, desto mehr verstört es mich. Bin etwa auch ich zu jenem gewaltsamen, herzlosen, raubtierhaften Vorgehen fähig, das ich an Aaron beobachtet habe? Vor allem wenn man bedenkt, dass vielleicht nur unsere Lebensumstände einen Unterschied ausmachen. Dass meine liberale, Kunst liebende Familie mich mit Tarotkarten umhertänzeln ließ, wohingegen Aarons evangelikale Eltern ihn wegsperrten, sobald sein Zweites Gesicht sich zeigte.
Zurückkehren soll er also nicht nur, weil wir ihn brauchen, um die Kinder Brigids zu bekämpfen. Seine Gegenwart soll mir die Gewissheit geben, dass wir verschieden sind. Und den Trost, dass wir uns gleichen.
»Paolo hat schon wieder neue Plakate entdeckt«, sagt Fiona plötzlich. »Ein Junge wird vermisst.«
»Wie heißt er?«, frage ich.
»Keine Ahnung. Paolo kann ja nicht lesen.«
Das »du Schlaumeier« schwingt sehr deutlich mit.
»Aber ›vermisst‹ kann er lesen?«
»Er kann es sich denken.«
Nuala stellt eine Tasse Tee vor Fiona. »Wo denn, Fi?«
Fi schließt wieder die Augen. Versucht zu sehen, was Paolo gesehen hat. Schlängelt sich genau wie ich beim Gedankenlesen in einen Geist, der nicht ihrer ist. Nur dass bei ihr die zusätzliche Schwierigkeit besteht, dass dieser Geist in einem Hirn von der Größe einer Erdnuss steckt.
»Der Namenszug ist zu verschwommen«, sagt sie schließlich. »Aber das Foto … Also, der Junge ist weiß. Braune Haare. Das Plakat hängt … nicht in der Stadt, sondern irgendwo auf dem Land. Ich kann … Trecker und so im Hintergrund erkennen.«
Manon sieht von ihren Papieren auf. »Incroyable«, sagt sie bewundernd. So achtzig Prozent der Zeit ist Manon undurchschaubar, aber wenn sie was auf Französisch sagt, meint sie es vollkommen ehrlich.
Das Kompliment zerstört Fionas Konzentration. Ob sie Manon mittlerweile ihre Gefühle gestanden hat? Dass ich davon weiß, muss Fi klar sein, denn obwohl sie’s mir jetzt noch nicht direkt erzählt hat: Wenn man jemanden so gut kennt, stolpert man zwangsläufig ab und an in deren Gedanken und schnappt was auf.
Eine Gedankenleserin als beste Freundin muss manchmal echt unangenehm sein, aber wir tun einfach beide so, als wüsste ich bestimmte Dinge nicht. Auch aus Dankbarkeit, schätze ich. Danke, dass du mich nicht mit meinen eigenen Geheimnissen konfrontierst.
Nuala zückt ein Notizbuch und schreibt die Infos auf, die Paolo mit uns geteilt hat. »Schon der Dritte diesen Monat«, sagt sie.
»Wie viele vermisste Kinder wären denn normal?«, erkundigt sich Roe. »Und ja, mir ist bewusst, was für eine seltsame und zutiefst tragische Frage das ist.«
»In Kilbeg County?«, überlegt Nuala. »Vielleicht so zwölf pro Jahr.«
Lily dreht sich vom Fenster weg zu uns um. »Das kommt mir viel vor.« Und natürlich muss sie jetzt daran denken, wie sie selbst vermisst wurde. Nach ihrer Rückkehr verstand sie erst gar nicht, dass diese für sie gänzlich befreiende Entführung allen in ihrem Umfeld ein schweres Trauma bereitet hatte. Doch mittlerweile begreift sie es. Begreift wieder das Leben und die Gefühle, die damit einhergehen.
»Du warst ein besonderer Fall, Lily«, sagt Nuala und betrachtet den Jul-Eber. »Mittelschicht, weiß, teure Schule. Über dich wurde viel berichtet. Aber über, na ja, Zugewanderte, Pavee oder einfach Kinder aus sehr armen Verhältnissen – über die hört man weniger. Und was kriegt ihr Stadtkids schon davon mit, welche Probleme erst all die kleinen Örtchen im ländlichen Teil des Countys so umtreibt?«
»Wenn also durchschnittlich ein Kind pro Monat vermisst wird«, sagt Fiona, »dann hat sich die Anzahl in den letzten dreißig Tagen verdreifacht.«
»Und immer noch keine Spur von der Mamsell«, merkt Roe finster an.
»Nicht die geringste«, stimme ich zu.
Und ergänze im Stillen: Auch keine von Aaron.
2. Kapitel
Technisch gesehen ist morgen Schule, allerdings fällt es schwer, die Schule noch ernst zu nehmen. Zum einen, weil in ein paar Tagen schon Weihnachtsferien sind, zum andern, weil es kein Schulgebäude mehr gibt, zu dem man gehen könnte. Dasselbe Feuer, das Schwester Assumpta und Heather Banbury tötete, hat eine Immobilie im Wert von etwa zwei Millionen Euro unbewohnbar gemacht – inklusive der taufrisch renovierten Räume, die die St. Bernadette’s dem Geldhahn der Kinder Brigids zu verdanken hatte. Natürlich nur unter der Bedingung, dass die Magiediebe dort die Kontrolle übernahmen.
Alle Jahrgänge unter uns wurden nach dem Feuer auf andere Schulen verteilt, und die allgemeine Auffassung lautet, dass das Konzept St. Bernadette’s damit im Grunde vorbei war. Wie soll es auch eine St. Bernadette’s ohne Schwester Assumpta geben? Nur wir Mädchen im Abschlussjahr, so kam man überein, sollten derart kurz vor den Prüfungen nicht noch zusätzlich durch einen Schulwechsel traumatisiert werden. Statt also irgendwo hinzufahren, schalten wir jeden Morgen unsere Laptops an und ergehen uns in den einsamen Freuden des Homeschoolings.
Als Eingeständnis an den morgigen Schultag also setzt Roe mich nach dem Treffen bei Nuala brav um einundzwanzig Uhr zu Hause ab, lehnt sich jedoch, bevor ich aussteige, vom Fahrersitz herüber und gibt mir einen langen Abschiedskuss.
»Oh, Maeve. Was fange ich jetzt nur mit mir an?«
Grinsend küsse ich ihn zurück. »Tja, was soll ich sagen? Keine Ahnung.«
»Ich werde wohl ziellos umherfahren. Auf irgendeinem Parkplatz in eine Messerstecherei geraten.« Er zieht in James-Dean-Manier eine Augenbraue hoch.
»Dich in allen möglichen Ärger hineinmanövrieren.«
»In allen möglichen Ärger«, wiederholt Roe und schiebt kälter-als-Regen-kalte Fingerspitzen unter meinen Pulli.
»Ich schätze, wir sehn uns … wenn wir uns sehn.«
Roe lächelt. »Bis dahin, Chambers.«
Wir lächeln. Weil wir uns lieben. Und ein Geheimnis teilen.
Ich gehe ins Haus und wechsle ein paar Worte mit Mum und Dad. Die beiden haben mittlerweile regelrecht Angst vor mir. Weder verstehen sie so ganz, welche Rolle ich bei dem Feuer gespielt habe und warum Schwester Assumpta mir das Schulgebäude vermacht hat, noch ist es ihnen geheuer. Dass inzwischen schon mehrere Zeitungen eine Story über die berühmte Hexe von Kilbeg schreiben wollten, hilft sicher auch nicht gerade. Ja, ich bin Mum und Dad so fremd geworden, dass sie gar nicht mehr so richtig wissen, wie sie mit mir reden sollen. Kann man ihnen einen Vorwurf machen? Aus dem schwarzen Schaf der Familie wurde … der Schwarze Tod der Familie?
Weil der Rest der Chambers-Geschwister demnächst für Weihnachten nach Hause kommt, haben wir heute zum Glück ein Small-Talk-Thema. Bald schon aber sage ich, dass ich müde bin, und gehe nach oben.
Im meinem Badezimmer, das laut Aaron ein so mächtiger magischer Hotspot geworden ist, dass es den nächsten Hausbewohnern schweren Schaden zufügen könnte, beginne ich mit meinem Zauber.
Freihändig sozusagen, denn der Großteil meiner Zauberbuch-, Kristall- und Tarotkartensammlung ist eine Woche nach der Verlesung von Schwester Assumptas Testament verschwunden. Ich wäre wütender gewesen, hätte ich es nicht kommen sehen. Mums und Dads Gedanken waren tagelang um diese Entscheidung gekreist, während die Zeitungen immer neue Artikel über das glückliche Mädchen veröffentlichten, das ein Vermögen geerbt hatte.
Die wertvollen Sachen hatte ich also schon lange im Voraus abgezweigt – die guten Zutaten, die mächtigen Kristalle, mein eines, wirklich wichtiges Tarotdeck – und sie in einem Schuhkarton in der Zwischendecke überm Bad versteckt. Was Mum und Dad in die Hände fiel, waren vor allem meine Zauberspruchbücher, mein Handapparat über Wicca-Theorie und magische Geschichte und irgend so ein Titel über heidnische Bräuche. Nichts davon brauche ich. Ich kann mittlerweile meine eigenen Zauber erstellen, ziemlich gut sogar.
Ich schüttle Kamillenblüten und Lavendelzweige in meine hohle Hand. Manchmal spreche ich mir seltsamerweise selbst vor, was ich tue, als wäre ich eine von diesen Zauberbuchautorinnen. »Kamillenblüten«, raune ich also mit Singsangstimme. »In jedem Reformhaus günstig zu kriegen.«
Ich feuchte meinen Daumen mit Rosenöl an und zerdrücke die Blüten – ziemlich gewaltsam, muss man sagen – zu einem Brei. Dann drehe ich das Wasser auf. »Tiefer Schlaf«, spreche ich schlicht. »Tiefer Schlaf, tiefer Schlaf, tiefer Schlaf.«
Der ölige Blütenbrei kreiselt um den Abfluss und bleibt kurz an ihm hängen, bevor das Wasser die Masse fortspült. Etwas Heißes brennt in meiner Kehle. Magie, die mir antwortet. In Gedanken winke ich ihr zu. Hallo, hallo, sage ich. Da bist du ja wieder. Ich möchte nur gern, dass alle gut schlafen.
Seit dem Feuer zaubere ich besser. Intuitiver, selbstbewusster, geschickter darin, etwas zu rufen, das ich fühlen, aber nicht sehen kann. »Vielleicht wurde sie damit geboren«, murmele ich. »Vielleicht ist sie eine Teenie-Hexe!«
Wirbelnde Energie durchflutet mich und stimmt mir zu. Sie fließt den Abfluss hinunter durch die Rohre, und schon bald wird das ganze Haus friedlich und wohlig vor sich hin brummen. Mum und Dad, die nach dem Feuer tagelang kein Auge zugekriegt haben, werden tief und fest einschlummern. Ein Wecker vermag sie dann vielleicht aufzustören, eine sich schließende Haustür definitiv nicht.
Und so breche ich eine Stunde später auf, ohne dabei besonders leise zu sein. In meinen großen schwarzen Mantel gewickelt, gehe ich Richtung St. Bernadette’s. Eigentlich ist es ein Herrenmantel, und noch vor einem Jahr hätte ich mich darin seltsam gefühlt. Bevor Roe mir gezeigt hat, wie schräg es ist, Kleidung in männlich oder weiblich einzuteilen. Jetzt jedenfalls liebe ich das dramatische Riesending, dank dem mir selbst in der Dezemberkälte schön muckelig warm ist.
Damit das Gebäude nicht einstürzt, haben sie Gerüste errichtet, auf die die St. Bernadette’s sich zu stützen scheint wie eine alte Frau auf ihre Krücken. Durch die Bahnen aus Polizeiabsperrband und die zugenagelten Fenster wirkt es nicht nur gefährlich, sondern geradezu unmöglich, hineinzugelangen. Roe und ich aber sind, wie sich herausstellt, ebenfalls unmöglich und gefährlich. Unverfroren klettere ich im Licht meiner Handytaschenlampe unter dem Absperrband durch.
Der Klang einer nicht eingesteckten E-Gitarre, lässig gespielt von Irlands nächstem Rock-Superstar, heißt mich drinnen willkommen. Ich gehe darauf zu und stolpere über einen Haufen Schutt, der aus der Decke gefallen sein muss, hinein in Schwester Assumptas ehemaliges Büro.
»Oh«, mache ich gespielt überrascht. »Wie schön, dich hier zu treffen.«
Roe sieht von dem ramponierten alten Sofa auf – die einzige Sitzgelegenheit hier drin, von der man keinen aschegrauen Hosenboden kriegt. Wir haben Decken aus dem Secondhand-Laden darüber gebreitet. Und Handtücher von zu Hause.
Ich betrachte ihn. Schwarze Haare, blasse Haut, rote Lippen.
Lecker, lecker, lecker.
Während ich im Zimmer auf und ab gehe, folgt mir sein Blick, doch statt etwas zu sagen, zupft Roe einfach weiter eine Bluestonleiter vor sich hin.
»Weißt du denn nicht«, frage ich schließlich, »dass das hier Privateigentum ist?«
»Was ist schon privat«, gibt Roe zurück, »zwischen zwei alten Freunden?«
»Sag du’s mir«, antworte ich und knöpfe gemächlich, ohne den Mantel auszuziehen, mein Hemd auf.
Könnte ich so reden und mich so benehmen, wenn wir im Auto wären oder in meinem Schlafzimmer? Ich weiß es nicht. Dieses Gebäude hat irgendwas an sich. Eine Gewissheit, dass es mein ist.
Als das Klicken einer Elektroheizung erklingt – ebenfalls ein Leihobjekt aus dem O’Callaghan-Haus –, füllt sich das Zimmer mit trockener warmer Luft. Ich wäre ja nervös wegen der angesengten Leitungen, wenn Roes Gabe nicht wäre.
Der letzte Knopf ist offen.
Roe räuspert sich. Und raunt: »Vielleicht sind wir ja mehr als nur alte Freunde.«
Ich lasse den Mantel zu Boden fallen.
Wegen so vielem im Leben muss ich mich seltsam fühlen, aber Sex gehört, Gott sei Dank, nicht dazu.
Schwierig ist lediglich, den richtigen Ort und die richtige Zeit zu finden, weil Mum und Dad zu Stubenhockern mutiert sind, während Roe jede freie Minute mit der Band rumhängt. Dieses oder zumindest ein ähnliches Problem haben wohl viele Teenager. Was nicht viele Teenager haben, ist ein großes leeres Haus zu ihrer eigenen Verfügung. Mit einem großen leeren Sofa.
»Wurde schon mal genauer erforscht«, fragt Roe, als ich meinen Kopf auf seine Brust lege, und zwirbelt eine Strähne meiner Haare zwischen den Fingern, »ob du womöglich die heißeste Frau des Landes bist?«
»Nicht annähernd genau genug«, antworte ich und streichle einen Kreis auf seine nackte Haut. »Du machst dir keinen Begriff, wie schwer diese Art der Forschung zu finanzieren ist.«
»Eine echte Schande.«
»Ich weiß. Stell dir nur vor, welch bahnbrechende Erkenntnisse wir daraus gewinnen könnten!«
Roe küsst mich auf den Scheitel. »Da hat wohl jemand kein Problem mit Komplimenten.«
»Na, so viele kriege ich ja nicht.« Früher war ich jemand, die kein Kompliment annehmen konnte. Heute bin ich jemand, die vielleicht in einer Woche tot ist. Da will ich mich bis dahin immerhin so gut wie möglich fühlen. »Glaubst du, sie ist auf dem Weg?«
»Die Mamsell?«
»Wer sonst?«
»Ich weiß es nicht. Wir warten jetzt schon echt lange ab. Vielleicht ist sie ja tot. Oder hat durch die Versiegelung des Brunnens weniger Magie, von der sie zehren kann.«
Wir stellen diese Theorie nicht zum ersten Mal auf. Tatsächlich haben wir sie mittlerweile derart oft diskutiert, dass sie fast zu so etwas wie einer Gutenachtgeschichte geworden ist. Etwas, das uns beruhigt, uns in den Schlaf wiegt.
Ich gucke Roe genauer an. »Du hast da übrigens Eyeliner-Popel«, sage ich. »Schwarzen Augenschnodder.«
»Igitt, mach das weg.«
Vorsichtig wische ich mit dem kleinen Finger unter Roes Auge entlang. Dann zeige ich ihm meine Ausbeute. »Wünsch dir was. Das wird ein Weihnachtswunsch.«
Doch statt sich was zu wünschen, zieht Roe mich nur enger an sich. Oder vielleicht ist das der Wunsch. Schwer zu sagen. Ich lege den Kopf wieder auf seine Brust und versuche, der Stille zu lauschen. Manchmal rede ich mir ein, dass sie noch hier ist, irgendwo. Schwester Assumpta, meine ich. Ich treffe mich hier nicht immer mit Roe. Manchmal komme ich allein, um sie zu erspüren.
Einmal habe ich das Roe zu erklären versucht, doch er reagierte wenig andächtig.
»Dann vögeln wir deiner Meinung nach also unter dem wachsamem Blick einer toten Nonne?«
»Nein, oh Gott!«, rief ich aus. »Mach es nicht seltsam.«
»Du machst es doch gerade seltsam.«
Jedenfalls denke ich hier gerne an sie, die von allen so sträflich unterschätzt wurde. Sie, die mit jeder einzelnen magischen Faser Kilbeg zu schützen versucht hat. Ich schließe die Augen, konzentriere mich, um mit ihr in Verbindung zu treten. Das Band des Zweiten Gesichts, das Aaron und mich verknüpft, verknüpft auch sie und mich. Ich versuche, es zu ergreifen. Keine Ahnung, ob ich es hier mit einem übernatürlichen Phänomen oder einer Art seltsamem, verspätetem Trauern zu tun habe, jedenfalls kann ich sie manchmal ganz deutlich spüren. Eine Präsenz. Etwas.
Plötzlich ist da ein Poltern. Ein Krachen. Eine Bodendiele, die unter jemandes Fuß nachgibt.
Roe und ich fahren hoch. Instinktiv greife ich nach den Decken und bin mir schmerzlich bewusst, dass ich nichts als meine Socken trage.
»Was zur Hölle war das?«, rufe ich.
Roe steht eilig auf, zieht einen Pulli und seine Unterhose an. Dann dreht er sich zu mir um. »Nicht die Mamsell«, sagt er beruhigend. »Einbruch ist nicht so ihrs, hm?«
»Nein«, stimme ich, immer noch erschrocken, zu. »Wohl nicht.«
Roes Pulli ist smaragdgrün und so weit, dass er ihm von der Schulter rutscht.
»Ist wahrscheinlich gar nichts. Komm wieder aufs Sofa«, sage ich schnell.
»Nenn mir auch nur einen Horrorfilm, in dem ›wahrscheinlich gar nichts‹ tatsächlich gar nichts war«, kontert Roe und zieht seine Jeans an.
Ein weiteres Poltern. Näher diesmal, und ich fange an zu bereuen, dass ich mit Schwester Assumptas Geist zu kommunizieren versucht habe.
»Scheiße, Roe.«
»Ich geh nachgucken.«
»Lass mich nicht allein!«
Doch Roe ist schon halb aus der Tür, also ziehe ich mich so schnell wie möglich ebenfalls an und folge ihm. Die Elektroheizung knackt und knistert, und ich denke: Wenn ich das eine Schöne verliere, das mir im Leben bleibt, werde ich vielleicht einfach endgültig wahnsinnig.
3. Kapitel
Hätte ich doch auch die Schuhe angezogen. Schon im Flur merke ich, wie meine Socken mit Asche, Staub und Schmutz paniert werden. Mit Holzsplittern und Kieselsteinen, die irgendwie den Weg zwischen meine Zehen gefunden haben.
»Das Geräusch kommt von oben«, sagt Roe und stellt einen Fuß auf die Treppe. Er schließt die Augen. »Warte.«
Ich kann sehen, wie er seine Gabe aktiviert und mit dem Haus spricht. Mit den Rohren, den Leitungen. »Nimm meine Hand.«
Ich verschränke meine Finger mit seinen. Er führt uns die einsturzgefährdete Treppe hinauf, dabei umgeht er die schadhaften Stufen.
»Deine Hand zittert ja«, bemerkt er. »Du hast doch nicht wirklich Angst, oder etwa doch?«
»Quatsch, nein«, antworte ich wenig überzeugend.
»Wahrscheinlich sind’s bloß Hausbesetzer. Immobilienkrise, du weißt schon.«
Doch nicht Roe hat auf der Beerdigung mit Dorey gesprochen. Nicht er hat die Zufriedenheit in ihren Augen gesehen, die Gewissheit, dass sich einfach alles genau nach ihren Vorstellungen entwickeln wird. Keine Spur eines Zweifels war an jenem Tag aus ihrer Stimme herauszuhören. Was, wenn es das jetzt ist? Das Ende?
»Roe«, sage ich. »Ich liebe dich, okay?«
»Hm?«
»Falls gleich irgendwas Schlimmes passiert, will ich nicht, dass sich unser letztes Gespräch auf Erden um Augenschnodder gedreht hat.«
»Okay, Maeve, ich liebe dich auch.«
Wieder ein Geräusch. Schritte und das Schaben von Möbeln. Geschäftigkeit. Ich spüre, wie Roes Hand sich versteift. Höre ihn denken: Okay, gar nichts ist es auf keinen Fall.
Die nächste Treppe hinauf. Jetzt sind wir im dritten Stock. Ich muss daran denken, wie ich hier auf dem Treppenabsatz mit dem Heft auf den Oberschenkeln kurz vor Geografie immer noch schnell meine Hausaufgaben gemacht habe. Wie Fiona immer gedrängelt hat, ich solle mich beeilen. Das ist erst sieben Monate her. Kann sich in der Zwischenzeit wirklich so viel verändert haben?
Wir erreichen die geschlossene Tür zu Raum 3A, und dahinter, kein Zweifel, muss der Eindringling sein.
»Warte«, flüstert Roe und sieht sich um. Dann hockt er sich neben einen der Heizkörper, auf denen ich mir in den Wintermonaten immer den Po gewärmt habe. Jetzt ist er, wie alle im Haus, außer Betrieb. Roe streicht über das schmale Kupferrohr, das vom Heizkörper aus in die Wand führt.
»Komm schon, Liebes«, raunt Roe. Da löst sich das Kupferrohr mit einem wohligen Räkeln von Heizkörper und Wand und verbiegt sich unter Roes konzentriertem Blick zu einer Brechstange.
»Hast du da gerade eine Waffe gebastelt?«, flüstere ich. »Aus einem unschuldigen Heizungsrohr?«
Roe zuckt die Schultern, als wäre das gar nichts. »Los jetzt.«
Leise drückt er die Klinke und schiebt die Tür auf.
Erst sehen wir niemanden. Was wir sehen: einen Schlafsack, einen Rucksack und einen Fotoapparat. Letzterer verdutzt mich. Es ist eine Polaroidkamera. Eine von denen, die sie vor ein paar Jahren als Partygag noch mal auf den Markt gebracht haben. Irgendwie passt sie überhaupt nicht hierher, denke ich. Roe denkt hingegen: Wer kommt mit einem Fotoapparat in unser Sexversteck?!
Eine seltsame Mischung aus Schrecken, Erleichterung und Abscheu durchflutet uns beide. Oh, denke ich. Bloß ein Perverser. Ein stinknormaler Perverser. Kein Rachedämon. Immerhin.
Dann eine Stimme. Eine vertraute.
»Roe?«
Ich wirble herum, und da am Fenster steht Aaron, halb im Schatten von dem, was von den Vorhängen übrig geblieben ist. Keine Ahnung, warum er Roes Namen so überrascht ausspricht, ist auch egal. Er ist hier, und mich überkommt eine Erleichterung, als hätte ich soeben am Flughafen meinen vergessen geglaubten Pass wiedergefunden.
»Was zur Hölle machst du denn hier?!«, rufe ich.
Das Fenster steht offen, und Aaron lehnt sich mit seiner Zigarette nach draußen. Raspelkurze Haare, müder Blick. Er hat abgenommen. Dabei war ohnehin nicht viel an ihm dran, was er hätte abnehmen können. Sein Profil tritt schärfer hervor. Spitze Wangenknochen.
»Alter«, sagt Roe und schnappt sich die Kamera. »Spinnst du jetzt völlig?!«
»Leg die wieder hin«, verlangt Aaron verdächtig vehement.
»Was schleichst du hier rum? Und machst Fotos?!«
Die Betonung auf ›Fotos‹ scheint Aaron aus dem Konzept zu bringen, denn er hält inne und betrachtet Roe und mich. Registriert, dass wir nur schnell in Pulli und Hose gesprungen sind.
»Wow«, lässt er trocken vernehmen. »Mir war nicht klar, dass ich hier den Niedergang von Sodom und Gomorrha unterbreche. Was soll überhaupt das Heizungsrohr? Willst du mich damit zu Tode prügeln?«
»Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen«, antwortet Roe, legt die Kamera wieder hin und packt die Brechstange fester.
»Aaron, Herrgott noch mal«, sage ich. »Was treibst du denn nun hier? Und wo warst du die ganze Zeit?«
Aaron zieht im Schein der Zigarettenglut eine seltsame Miene. Sein Blick wandert von mir zu Roe und wieder zu mir.
»Unterwegs«, antwortet er schließlich. »Ich war unterwegs.«
Neben dem Schlafsack liegt eine schwarze Plastiktüte, aus der Klamotten hervorschauen, und in dem offenen Rucksack sind Deo, Duschgel und Rasierer zu sehen. »Aaron, bist du etwa obdachlos?«
»Also … je nachdem.«
»Und jetzt willst du dich hier häuslich einrichten?«
Aaron sieht mich durch zusammengekniffene Augen an, als ob ich diejenige wäre, die in Rätseln spricht. Gott, ist das frustrierend. »Wir waren krank vor Sorge, Aaron«, sage ich und höre selbst, wie meine Worte ganz kieksig und gepresst herauskommen. Ein Tonfall, der entweder in Weinen oder in Schreien umschlagen wird. »Dabei haben wir sowieso schon Scheißangst wegen dieser ganzen Mamsellsache. Jetzt sag uns zumindest, wieso du verschwunden bist.«
»Und wieso zurückgekehrt«, fügt Roe hinzu. »Mit einer Kamera.«
Als Roe mit gerunzelter Stirn das Gerät wieder in die Hand nehmen will, stellt Aaron sich ihm in den Weg.
»Fass sie nicht an, Roe«, herrscht er ihn mit der Herablassung des Fundamentalisten von früher an. Mit dieser Haltung à la: Ich weiß es besser als du, Jungchen.
»Warum«, versetzt Roe. »Warum nicht?«
Mir will nicht einleuchten, warum Roe so versessen auf die Kamera ist. Selbst in seinen schlimmsten Kinder-Brigids-Zeiten wäre Aaron wohl kaum auf die Idee gekommen, heimlich Sexfotos von uns zu knipsen. Aber dann wird mir klar, dass diese neue alte Polaroidkamera etwas aussenden muss, das nur Roe wahrnehmen kann. So wie ich Gedankenlichter sehe, sieht Roe sozusagen Maschinenlichter. Den kleinen Apparat muss irgendeine Aufladung umgeben. Eine Art Atmosphäre aus seltsamen Atomen oder so.
»Lass es einfach, okay?«, verlangt Aaron drohend. »Lass es einfach.«
»Warum bist du hier?«, will ich zum eigentlichen Thema zurückkommen.
Roe schielt immer noch auf die Kamera und führt mit Aaron eine Art Reviertanz auf. So was von Kindergarten.
»Ach, um Himmels willen, Maeve«, versetzt Aaron zunehmend gereizt. »Du weißt genau, warum ich hier bin. Ich bin hier, weil mich deine Postkarte erreicht hat.«
»Meine Postkarte?« Ich bin komplett verwirrt.
»Ihre Postkarte?«, fragt Roe entsetzt. Und endlich vergessen die beiden ihre blöde Kamera.
»Was habe ich dir denn geschrieben? Und wann?«, frage ich und krame in meiner Erinnerung. In der Zeit, in der Heather Banbury mich als Magiezapfhahn missbrauchte, ist all mein Tun so verschwommen und schwer zu merken gewesen. Habe ich womöglich immer noch Nachwirkungen davon?
Aber wie hätte ich Aaron eine Karte schicken sollen? Ich wusste doch gar nicht, wo er war.
»Unwichtig«, sagt Aaron.
»Stand da etwa, dass du Maeve hier treffen sollst?«, fragt Roe lauernd. »Allein?«
»Etwas in der Richtung, ja.«
»Aha!«, triumphiert Roe wie ein Anwalt beim Kreuzverhör. »Deswegen warst du so überrascht, mich zu sehen.«
»Himmel, Roe«, sagt Aaron erschöpft und massiert sich die Schläfen, als sei eine Migräne unterwegs. »Lass es gut sein, ja? Tut mir leid, dass ich euer … Date unterbrochen habe. An eurer Stelle würde ich meine Tetanusimpfung auffrischen lassen. Dies ist kein Ort, an dem man sich ausziehen sollte.«
Als Aaron zurück zum Fenster geht und sich hinauslehnt, um abzuaschen, sehe ich eine Postkarte aus seiner Jackentasche lugen. Auf ihrer Rückseite steht etwas. Roe sieht sie ebenfalls.
»Ist sie das?«, fragt er. »Ist das die Karte?«
Roe schnellt vor, um sie sich zu packen, doch Aaron schubst ihn von sich. Etwas zu fest allerdings. Deswegen schubst Roe zurück, was Aaron Richtung offenes Fenster befördert.
Ungünstig kommt er mit den Kniekehlen genau gegen die niedrige Fensterbank, taumelt rücklings und hält sich instinktiv an Roe fest. Doch statt sich damit vor dem Sturz zu bewahren, zieht er Roe mit sich.
Beide fallen.
Entsetzt schreie ich auf und stürze zum Fenster. Wir sind im dritten Stock, schießt es mir durch den Kopf, und Fiona liegt im Bett und weiß von nichts. Niemand ist hier, der gebrochene Knochen heilen kann, schwere Blutungen stillen oder aufgerissenes Fleisch zusammenfügen.
Mit dem Schlimmsten rechnend strecke ich den Kopf aus dem Fenster, aber zum Glück sind Roe und Aaron nur ein kleines Stück tiefer auf einem der Gerüste gelandet, die das Haus vor dem Einsturz bewahren sollen. Vorsichtig rappeln sie sich auf dem zwei Bretter schmalen Boden wieder auf.
»Gott sei Dank!«, schnaufe ich und will ein Stoßgebet losschicken gen … irgendwohin. »Kommt«, sage ich und strecke die Hand aus. »Ich helf euch.«
Aber die Sache ist offenbar noch nicht ausgestanden. Fuchsteufelswild fährt Roe Aaron an: »Scheiße, warum hast du das gemacht?! Warum hast du mich mit dir gerissen?«
Das Gerüst klappert bedenklich.
»Warum hast du Arsch mich aus dem Fenster gestoßen?!«, gibt Aaron zurück und holt mit der flachen Hand wie zum Schlag aus. Da packt Roe Aarons Arm und dreht ihn ihm auf den Rücken. Roe ist zwar kleiner als Aaron, aber stärker.
»Hört auf!«, rufe ich. »Hört damit auf, ihr Idioten!«
Hier geht es weder um mich noch um die Kamera, die Postkarte oder darum, dass Aaron uns im Stich gelassen hat. Also, um all das wohl auch, aber vor allem hat Aaron nun mal vor zehn Monaten bei dem Konzert im Cypress zusammen mit seinen Brigidsschergen Roe, Roes Band und Roes Community angegriffen. Und wenngleich Roe auf der Vernunftebene erkennen mag, dass Aaron versucht – oder zumindest versucht hat – es wiedergutzumachen: Diese zwei sind Feinde. Waren es immer, werden es womöglich immer sein.
»Hört auf, kommt wieder rein, wollt ihr etwa draufgehn?!«
Doch sie hören nicht auf mich. Ihre Gedanken sind ein einziger dicker Knoten aus Wut und Verachtung.
In der Hoffnung auf einen Frieden stiftenden Ansatzpunkt will ich tiefer in ihre beiden Köpfe hinein, komme jedoch aus irgendeinem Grund nur in Aarons. Vielleicht versetzt uns das Zweite Gesicht ja auf eine Wellenlänge, jedenfalls dröhnen mir, während das Gerüst schon wieder gefährlich rappelt, überdeutlich seine Gedanken entgegen.
Galater, Kapitel fünf, Vers neunzehn bis einundzwanzig – Offenbar aber sind die Werke des Fleisches, welche sind: Hurerei, Unreinigkeit, Ausschweifung …
Erschrocken weiche ich zurück. Nie zuvor stand mir Aarons Geist derart offen, schrien mir seine Gedanken dermaßen ins Ohr.
… Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Hader, Eifersucht, Zorn … Dann hält sein Gedankengang kurz inne. Wie gehts weiter? Ist nicht wichtig, oder? Schließlich glaube ich nicht länger daran. Oder? Oder doch? Himmel, Roe, lass mich los, um Gottes willen!
Ein neuerlicher Bruch, zurück zum Bibelvers: … von denen ich euch vorhersage, gleichwie ich auch vorhergesagt habe, dass, die solches tun, das Reich Gottes nicht ererben werden.
Dann passiert etwas. Ihre Gaben – Roes Maschinengespür und Aarons Blick für anderer Leute Schwächen – scheinen sich umeinanderzuschlingen. So was kommt schon mal vor. Lily und Fiona können gemeinsam ein Handy aufladen, Roe und ich den Radiosender wechseln. Unsere Gaben können sich verbinden, nur blieb Aaron dabei bisher außen vor.
Der Boden erbebt unter unseren Füßen. Das Gerüst gerät ins Wanken.
Scheiße.
Unreinigkeit, Zauberei, Feindschaft, Hader.
»Hört auf, bitte«, flehe ich. »Ich glaube, eure Gaben …«
Alle bisherigen Gabenverbindungen waren eine Form der Zusammenarbeit. Der gegenseitigen Unterstützung. Hier aber passiert das Gegenteil. Aaron sieht Schwäche, Roe spricht zu Maschinen, zu Konstruktionen, zu Gebäuden. Deswegen schreit jetzt das ganze Haus vor Schwäche.
Unreinigkeit, Zauberei, Feindschaft, Hader.
Ich renne zur Treppe, springe über die schadhaften Stufen in dem so unrealistischen wie verzweifelten Vorhaben, immerhin einen von ihnen aufzufangen, sobald sie fallen. Was unweigerlich geschehen wird. Aarons Gedanken, die immer noch in meinem Kopf pochen, sind zwanghaft, wirr und verheißen nichts Gutes. Unreinigkeit, Zauberei, Feindschaft, Hader. Daran glaubst du doch gar nicht. Oder doch? Es hängt alles miteinander zusammen. Magie, Sex, Sünde, Hass, Zauberei, Hölle. Hängt alles zusammen. Oder doch nicht?
Gerade als ich ins Freie stürze, fällt den beiden wohl auch endlich mal auf, dass das Haus bebt. Ich denke an Schwester Assumpta, an ihren festen, gürteltiergleichen Leib, ihre kalten zitternden Hände. Einen Moment lang scheint sie wieder lebendig zu sein, lebendig im Geist ihrer Schule, die ihr so lieb und teuer war.
»Eure Kräfte verursachen das, sie verbinden sich!«, schreie ich Aaron und Roe aus vollem Hals zu. »Ihr müsst aufhören!«
Tatsächlich lassen sie endlich voneinander ab. Kurz ist es ganz still. Und dann:
Kracks!
Die Bretter unter ihren Füßen brechen wie Kekse entzwei. Roe und Aaron fallen auf das Gerüstgeschoss unter ihnen. Ich fahre schmerzhaft zusammen, als ich mit ansehen muss, wie Roe irgendwie fies auf der Seite landet. Ich muss an die Narbe an seinem Bauch denken, an das immer noch zornesrote Mal von dem Messerstich damals im März. Die Stelle ist gerade erst verheilt und immer noch empfindlich.
Das Schulhaus bockt weiter wie ein scheues Pferd.
»Wir haben aufgehört«, ruft Aaron zurück.
Ich ringe derweil mit meiner eigenen Gabe, versuche, die Kontrolle zurückzuerlangen. Was passiert hier?
Obwohl die Handgreiflichkeit zwischen Roe und Aaron vorbei ist, kratzen ihre Gaben einander weiter die Augen aus wie wütende Katzen. Hexen kämpfen nun mal anders als normale Leute.
Kracks!
Noch ein Bretterpaar entzwei. Ein weiterer Sturz. Diesmal heult Aaron schmerzerfüllt auf.
»Ihr müsst aufhören, so scheißwütend zu sein«, rufe ich. »Fahrt eure Angepisstheit runter.«
Unreinigkeit, Zauberei, Feindschaft, Hader.
Aaron und Roe halten sich ihre Wunden und springen das letzte Stück zum Erdboden von sich aus.
»Ich bin nicht angepisst«, behauptet Roe, doch das Gebäude kauft ihm das nicht ab. Er versucht, seine Kräfte zu bündeln, um das Haus zu besänftigen, so wie er vorhin das Heizungsrohr umschmeichelt hat. Aber es ist zu spät. Seine Gabe ist schon zu sehr mit Aarons Schwächegespür durchmischt, das Gemäuer zu stark in diese Wechselwirkung verstrickt.
Ich hasse das. Ich hasse Aaron und Roe dafür, dass sie so dumm sind aufs Spiel zu setzen, was meine eine und einzige Verantwortung auf dieser Welt ist: dieses Haus. Die Öffnung des Brunnens. Schwester Assumptas Erbe. Eine brodelnde Welle gerechten Zorns durchflutet mich. Wie können die beiden es wagen?! Ich wollte doch nur in Ruhe erfahren, was es mit Aarons Verschwinden nach der Beerdigung auf sich hat, und mich endlich mit meinem Zweiten Gesicht nicht mehr so allein fühlen. Stattdessen darf ich mich hier mit kindischem Gezanke um Kameras und Postkarten rumschlagen, mit hirnrissigen Prügeleien, die meine St. Bernadette’s in Gefahr bringen. Als ob wir nicht schon genug Probleme hätten!
Roe und Aaron betrachten ihr Werk. »Echt toll gemacht, Alter«, sagt Roe trocken.
»Als ob ich daran schuld wäre.«
Weiß glühender Zorn schneidet mich schier entzwei, und dann …
Ich spüre … etwas. Sterne, Monde, Planeten. Tausend zerschellende Teller. Kurz bin ich überzeugt, dass ich einen Schlaganfall habe, ein Aneurysma, einen Herzinfarkt. Ich spüre … wie sich etwas ausdehnt. Mein Geist kommt an eine neue Grenze. Ich kriege Druck auf den Ohren, mein Gesicht wird ganz heiß.
»Verdammt, was …?«
Aaron sagt es als Erster, Roe etwas Ähnliches. Keine Ahnung. Es ist unmöglich, sich zu konzentrieren.
Erst als sich beide mit der Hand vorm Gesicht herumwinken, bemerke ich es auch. Ihre Augen sind ganz milchig geworden.
»Ich kann nichts sehen«, sagt Roe. »Maeve? Warum kann ich nichts sehen?«
Ihre Augen sind wie Opale, wie weißer Qualm, wie Sahneschälchen. Es ist entsetzlich anzusehen – beide Gesichter so seltsam, so grundlegend falsch. Wie in einem von diesen Albträumen, wo sich das Leben zwar nur in einem einzigen, jedoch einem grausigen, unübersehbaren Detail von der Wirklichkeit unterscheidet.
Roe und Aaron tasten um sich, und ich mache einen Schritt zurück, aus Angst, mit meiner außer Kontrolle geratenen neuen Kraft alles andere zu überbieten. Selbst Freundschaft. Selbst Liebe.
»Ich … weiß es nicht.«
Endlich fange ich mich wieder ein Stück weit. Ich schiebe eine Hand in Roes. »Keine Angst, Babe, ich bin hier.«
Dankbar hält er sich an mir fest. Ich strecke die andere Hand nach Aaron aus und drücke seine Schulter. »Kumpel?«
»Ich … Ich kann nicht …«
Das Haus hat aufgehört zu beben. Immerhin etwas. Das Gerüst ist kaputt, das Gebäude selbst Gott sei Dank noch heil. »Hört zu«, verlange ich möglichst gebieterisch und ruhig. »Ich habe keine Ahnung, was los ist, aber wir werden es wieder in Ordnung bringen, okay?«
Eine Wolke schiebt sich vor den Mond, und es beginnt zu regnen. Kalte, vereinzelte Tropfen.
»Es ist weg«, sagt Aaron auf einmal, blinzelt ein paarmal kräftig, und das übliche Blau kehrt in seine Augen zurück.
Bei Roe das Gleiche. Tiefe Schatten, verwischter Eyeliner, dunkelbraune Iris. »Okay, wow. Das war … nicht schön.«
Immerhin hat sie das von ihrem Streit abgelenkt. Jetzt eint sie das Unerklärliche. Sie gucken angestrengt umher wie Kätzchen, die zum ersten Mal die Augen aufgemacht haben.
Kaum eine Minute lang waren sie blind, werden es aber, das weiß ich sicher, nicht so schnell wieder vergessen.
»Vielleicht hat die St. Bernadette’s sich so geschützt«, sage ich und blicke zum Haus empor. »Vielleicht war ich da gerade ihr Werkzeug. So eine Zweites-Gesicht-Sache, wisst ihr?«
»Kilbegs Zweites Gesicht schützt Kilbegs Brunnen«, stimmt Aaron zu und klopft sich den Dreck von der Kleidung. »Klingt richtig.«
Gemeinsam betrachten wir das alte Gemäuer. »Mh-hm, möglich«, sagt Roe betreten.
»In der Bibel werden jede Menge Leute mit Blindheit geschlagen«, murmelt Aaron. »Saulus zum Beispiel.«
»Was war mit dem los?«, fragt Roe zögernd.
»Er hat die Anhänger Jesu verfolgt, war drei Tage lang blind und erblickte schließlich das Licht.«
»Und dann?«, frage ich. »Was ist danach mit ihm passiert?«
»Er wurde Apostel Paulus.«
»Eine Namensänderung also«, sagt Roe. »You go, girl.«
Aaron zieht eine Augenbraue hoch. »Ihr zwei solltet euch mit diesen Sachen wirklich besser auskennen, wisst ihr? Schließlich habt ihr eine katholische Schule besucht.«
»Ich bin Protestant«, sagt Roe. »Bei uns gehts vor allem um Blechkuchen und Bingo im Pfarrheim.«
»Und meine Eltern sind Agnostiker«, füge ich an.
Bei dem Wort »Agnostiker« rümpft Aaron die Nase und seufzt: »Hätte ich mir ja denken können. Na gut, wollen wir uns jetzt zur Abwechslung wie Erwachsene unterhalten?«
Wir gehen also zurück in Schwester Assumptas Büro, und ich frage mich, wie lange es wohl gedauert hat, bis die anderen Apostel Saulus nicht länger misstraut haben.
4. Kapitel
»Warum erzählst du uns nicht zuallererst mal«, schlage ich vor, entnehme meiner Umhängetasche einen Müsliriegel und drücke ihn Aaron in die Hand, »wo du die ganze Zeit gesteckt hast?«
Roe und ich sitzen auf entgegengesetzten Enden vom Sofa, Aaron hockt auf dem Boden und lehnt sich mit steifem Rücken an die Wand.
»Und warum du überhaupt erst verschwunden bist«, fügt Roe hinzu.
»Ich hatte Angst«, antwortet Aaron knapp, aber irgendwie will man ihm das nicht recht glauben. Er klingt nicht ängstlich. Er klingt wie er selbst.
»Na, die hatten wir alle«, sage ich gereizt. »Das ist keine Entschuldigung, deine Freunde im Stich zu lassen.«
Aaron dreht und wendet den Müsliriegel in den Händen, die Folie glänzt im Licht. »Für euch ist das was anderes. Ihr wart nicht dabei damals im Fernbus. Bei Matthew. Ihr habt bei eurer Begegnung mit der Mamsell gewonnen. Das eine Mal hattet ihr Glück. Jetzt benehmt ihr euch wie Spieler im Casino. Ihr glaubt, ihr müsstet noch nicht gehen. Ihr glaubt, ihr könntet ein zweites Mal gewinnen.«
Mit Schatten unter den Augen, die blauen Flecken gleichen, sieht er zu uns auf.
»Wenn hingegen ich das Nahen der Mamsell spüre, weiß ich nur eins: dass ich bald tot dasitze neben jemandem, der mir wichtig ist. Oder dieser Jemand tot neben mir.«
»Also … was? Da bist du lieber allein?«, frage ich trocken.
»Als noch einen Freund tot zu sehen? Ja. Ihr versteht das nicht. Eure Freunde leben ja alle noch. Aber stellt euch mal vor, es hätte Lily getroffen. Oder Fiona. Den Anblick ihrer Leiche bekämt ihr euern Lebtag nicht mehr aus dem Kopf.«
Weder Roe noch ich wissen etwas zu erwidern. Glaubt Aaron wirklich, dass wir keine Chance haben? Wo doch alles seit Wochen so ruhig ist?
»Außerdem«, sagt Aaron und steht auf, »geht es auch um mein Visum.«
»Dein Visum?«
»Ich habe keins mehr. Ich hatte ein Arbeitsvisum, wisst ihr noch? Für meine Tätigkeit bei den Kindern Brigids. Jetzt bin ich illegal hier.«
Roe schnaubt abfällig. »Ach, komm schon.«
»Was?!« Aaron geht augenblicklich in Abwehrhaltung.
»Ein illegaler weißer US-Bürger?«, höhnt Roe. »Ganz bestimmt ist dir das Ausländeramt schon dicht auf den Fersen, hm? Tu doch nicht so.«
»Ich tue überhaupt nicht so«, fährt Aaron ihn an. »Warum, glaubst du wohl, fiel in den Zeitungen ein einziges Mal Heather Banburys Name und danach nie wieder? Dorey hat die Redaktionen alle auf Linie gebracht. Genau wie die Heinis im Ausländeramt. Sie ist eine Puppenspielerin. Ich musste schon das zweite Handy wegwerfen, weil ich ständig wegen meines Aufenthaltsstatus angerufen wurde. Und das waren keine freundlichen Telefonate.«
Etwas daran, wie er »Puppenspielerin« ausspricht, klingt ganz so, als ob er es nicht bloß metaphorisch meint.
»Was willst du damit sagen?«, frage ich. »Was heißt, ›sie ist eine Puppenspielerin‹?«
»Dorey hat das Zweite Gesicht, genau wie wir. Hast du es nicht gespürt, als du ihr begegnet bist? Ihre Gabe lässt sie andere so manipulieren, dass sie komplett nach ihrer Pfeife tanzen. Du kannst Gedanken lesen, ich Schwächen erspüren, und Dorey … Sie durchschaut die Menschen.«
»Wie muss ich mir das vorstellen?«, fragt Roe interessiert.
Aaron fährt sich durch die Haare. »Na ja, als ich Dorey kennenlernte, war ich ein trauernder Achtzehnjähriger, der auf Tarotkarten stand und ziemlich überzeugt davon war, dass seine Kirche unrecht hatte, was Schwule und Lesben anging.«
Roe nickt. »Und sie hat aus dir einen Baby-Hitler gemacht.«
Aaron verzieht das Gesicht, lässt Roes Satz jedoch so stehen.
»Schwester Assumpta konnte in die Zukunft blicken«, sage ich und mir wird klar, dass offenbar alle mit dem Zweiten Gesicht eine Art von Sehkraft haben. Das war mir bisher noch gar nicht aufgefallen.
»Wie hat Dorey wohl den irren Vertrag durchgekriegt, mit dem sie praktisch volle Kontrolle über deine Schule erlangte? Sie kann andere tun lassen, was immer sie will. Sie muss nur eine Weile mit ihnen reden, ihre Kräfte spielen lassen, sie umgarnen. Hängt jemand erst an ihren Fäden, kann sie ihn bis in alle Ewigkeit tanzen lassen.«
»Und du glaubst … dass sie dich ausweisen lassen kann?«, frage ich. »Falls sie dich nicht vorher tötet, meine ich.«
»Ausweisen lassen, wegen illegalen Aufenthalts ins Gefängnis bringen, oder, oder, oder.«
Roe lässt Aaron nicht aus den Augen und guckt immer noch sehr skeptisch. »Was genau hast du denn nun getrieben die ganze Zeit?«
Aaron zuckt die Schultern. »Ich war unterwegs.«
»Wo unterwegs?«
»Da, wo man sich auch ohne Nachnamen aufhalten kann.«
»Also … in Notunterkünften?«, rät Roe.
»In Motels?«, rate ich weiter und fühle mich augenblicklich dumm, weil ich wie jemand aus einem amerikanischen Gaunerfilm oder so klinge. In Irland gibt es keine Motels.
»In Notunterkünften, Hostels, Bushaltehäuschen, besetzten Gebäuden, ihr wisst schon.« Aaron hält inne und sieht sich im Zimmer um. »Wundert mich ja, dass dieses Haus noch nicht besetzt wurde.«
Mir ist bewusst, wie behütet Roe und ich aufgewachsen sind. Wie wenig Ahnung wir von einem Leben auf der Straße haben. Wie jung wir auf Aaron wirken müssen. Letzten Endes sind wir bloß zwei Mittelschichtskinder, auf die immer – so übel die Lage auch war – ein warmes Bett zu Hause gewartet hat.
»Lange Rede, kurzer Sinn«, spricht Aaron weiter. »Während ich so unterwegs war, ist mir … ziemlich schräges Zeug untergekommen. Was über die Kinder Brigids. Genau deswegen wollte ich mit euch reden.«
»Ich dachte, du hättest eine Karte von Maeve bekommen«, erinnert Roe ihn, doch Aaron ignoriert das.
»Ich war in Limerick«, fährt er fort, »und habe mit einem Jungen gesprochen. Einem Ausreißer. Connor heißt er. Er ist ein ehemaliges Kind Brigids und kam früher zu meinen KB-Treffen, daher kennen wir uns. Er hat mir die Polaroidkamera verkauft, von der Roe dermaßen besessen ist.«
Als Roes Blick zu dem Gerät huscht, das jetzt hier unten auf dem aschebedeckten Beistelltisch steht, wird klar: Immer noch muss irgendeine Energie von dieser Maschine ausgehen. Irgendeine Stimmung, die nur Roe spüren kann.
»Und Connor hat mir erzählt …« Aaron steckt die Hände in die Jackentaschen und tritt ans Fenster. Offenbar versucht er irgendwie herauszufinden, was er eigentlich sagen will. Oder ob er selbst überhaupt glaubt, was er zu sagen vorhat. »Connor hat mir von der Loge erzählt.«
»Von der …?«
»Loge. Man muss es sich wohl als eine Art Heim vorstellen, für die ergebensten Kinder Brigids. Ein Heim, das regen Zulauf hat. Teenies laufen von zu Hause weg, um dorthin zu gelangen.«
»Warum?«
»Na, Connor zum Beispiel ging es nicht gut bei seiner Familie. Alkoholikereltern, Gewalt, you name it. Bei meinen KB-Treffen hat er sich … aufgehoben gefühlt, wisst ihr? Und als Dorey und Konsorten ihn dann in die Loge einluden, dachte er sich, dass es ihm dort auf jeden Fall besser gehen würde als zu Hause. Also ist er der Einladung gefolgt.«
Je länger Aaron erzählt, desto deutlicher nimmt die Situation zwischen ihm und Connor für mich Gestalt an. Vielleicht reine Fantasie, vielleicht eine Zweites-Gesicht-Sache, jedenfalls sehe ich die beiden, sorgsam ihre Beutel mit Habseligkeiten festhaltend, auf Klappbetten sitzen, während Ehrenamtliche Decken austeilen. Ich sehe Connors dünnes rotes Haar und den leuchtenden Streifen aus Sommersprossen quer über Nase und Wangen.
»Er hat erzählt«, berichtet Aaron, »dass es auch tatsächlich eine Zeit lang schön dort war. Spiele, Vertrauensübungen, gemeinsame Hausarbeit. Wie in einer Kommune oder so. Doch dann lief es nach und nach … keine Ahnung. Es hat ihn verwirrt.«
»Was passierte denn?«
»Konnte er selbst nicht recht sagen. Er traute seiner eigenen Wahrnehmung nicht, und seine Erinnerung war lückenhaft. Aber er wusste noch, dass er und die anderen Kinder … Opfer bringen sollten. Also, fasten oder … sich selbst bestrafen.«
Bei diesen Worten kommt Aarons Augenzucken wieder durch, das er früher schon mal hatte. Jetzt wie damals erinnert es mich an den gequälten Lidschlag eines alten Hundes.
»Das alles gefiel Connor jedenfalls so gar nicht. Deswegen ist er geflohen. Nicht etwa einfach gegangen. Sondern geflohen. Er hat gewartet, bis es dunkel wurde, und ist mehrere Kilometer zu Fuß ins nächste Dorf gelaufen, von wo er in der Morgendämmerung per Anhalter weiterfahren konnte. Als ich ihn traf, hatte er große Angst davor, dass die Logenleute ihn wieder aufgreifen könnten. Ich fragte ihn, ob sie ihm dann wehtun würden. Nein, sagte er. Nicht körperlich jedenfalls. Doch er hat mit ansehen müssen, wie sich die anderen in der Loge veränderten, wie sie ihren Verstand verloren. Er hatte Angst.«
Schweigen. Die Welt vor Schwester Assumptas Bürofenster wird langsam heller. Als durchliefe sie einen Musterstreifen für Wandfarbe. Von mitternachts- nach königsblau. Der Morgen ist nicht mehr fern. Ich muss an die Vermisstenplakate denken, die Paolo gesehen hat. Ob eines der Kinder darauf Connor war?
»Ich kann einfach nicht glauben …«, beginnt Aaron und hält dann inne. Setzt neu an. »Doch, ich kann es glauben, darin liegt ja das Problem. Wusste ich schon immer, wo das hinführen würde?«
»Wovon redest du?«
»Wenn ich nicht … gegangen wäre. Wegen euch. Wäre ich dann auch dort? Brächte Kinder dazu zu hungern? Und weswegen?«
Ich kann spüren, dass Roe »Wahrscheinlich ja« sagen will, sich aber dagegen entschließt und die Frage ignoriert. »Erzähl mir von der Kamera«, sagt er stattdessen.
Aaron geht zu dem Tischchen und reicht sie Roe. Dabei tauschen sie einen Blick aus – ein Alles so weit okay zwischen uns, ja? –, und Roe dreht die Kamera um. Er macht die Klappe auf, hinter der der Sofortbildfilm sein müsste.
»Leer«, sagt er, betastet den Apparat jedoch weiter.
»Bei der Ankunft in der Loge wird einem das Handy abgenommen«, berichtet Aaron. »Stattdessen kriegt man von den Betreuern so eine Kamera da.«
»Ziemlich schlechter Tausch«, sagt Roe.
»Kann sein. Das ist aber wohl mit ein Reiz an diesem Ort, ihr wisst schon, nach dem Motto: Wir gehen alle offline, verschwinden vom Radar, Handys zerstören das Gehirn, blablabla.«
»Also, Letzteres stimmt ja wahrscheinlich sogar«, wende ich ein.
»Statt Handy jedenfalls Polaroidkamera«, fährt Aaron fort. »So von wegen: ›Lasst uns herrliche Erinnerungen schaffen! Collagen! Eine Fotowand für unser schönes neues Zuhause!‹«
Obwohl Aaron die Begeisterung nur spielt, klingt er gruseligerweise ganz wie irgend so ein Megachurch-Jugendpastor. Was er, na ja, früher schließlich quasi mal war.
»Sag bloß, der Sermon funktioniert.«
»Seltsamerweise.«
»Und die hier hast du also Connor abgekauft.«
»Mh-hm. Ich dachte, vielleicht … Keine Ahnung. Ich dachte, wir könnten was damit anfangen.«
»Dann … hattest du also da schon geplant zurückzukommen?«
Aaron zuckt die Schultern. »Als ich nach ein paar Wochen immer noch am Leben war, schien es mir an der Zeit für eine Art Plan.«
»Den brauchen wir alle. Wo also ist sie? Wo befindet sich diese Loge?«
»Ich weiß es nicht. Connor wusste es auch nicht. Er konnte sich nicht mehr erinnern. Es müssen massenhaft Zauber über dem Ort liegen.« Aaron zeigt auf Roe. »Ich dachte mir, Thomas Edison hier kann uns vielleicht mit der Kamera irgendwas zusammenschustern.«
Roe blickt auf. »Also, tja. Der Film fehlt und somit auch die Spuren, die Schatten. Wir haben hier nichts als eine leere Kamera mit schlechtem Juju.« Er betrachtet sie noch einmal ausgiebig und hält sie auf Armeslänge von sich. »Aber überlass sie mir trotzdem mal.«
»Geh ja sorgsam mit ihr um. Sie hat mich zwei Schachteln Zigaretten gekostet.«
Langsam, aber sicher setzt mir die Müdigkeit zu. Roe und ich hatten nur eine Stunde hierbleiben wollen, stattdessen ist schon gleich Frühstückszeit. Und dann Onlineunterricht. Und der Schlafzauber hält meistens nur so um die sechs Stunden. Ich stehe auf und strecke mich.
»Du bleibst erst mal hier, Aaron«, verkünde ich gähnend. »Hier gibts eine Heizung, wie du siehst, und wir lassen dir was zu essen da. Aber geh nachher zu Nuala. Frag sie, ob du vorübergehend bei ihr und Manon wohnen darfst.«
»Ich bezweifle, dass Nuala …«
»Doch, wird sie«, erkläre ich bestimmt. »Nicht zuletzt, weil uns die vermissten Teenager ebenfalls aufgefallen sind. Sie wird hören wollen, was du zu berichten hast. Wir müssen herausfinden, was da los ist. Was die Kinder Brigids schon wieder aushecken.«
Während ich Anstalten mache, mir die Stiefel anzuziehen, reibt Roe sich die Augen. »Ich lass schon mal das Auto an«, sagt er und küsst mich auf den Scheitel. Im Gehen wendet er sich an Aaron. »Wenn wir uns das nächste Mal treffen, lassen wir keine Gebäude einstürzen, okay? Und werden auch nicht blind, wenn’s sich vermeiden lässt.«
Aaron nickt. »Deal.«
Nachdem Roe das Zimmer verlassen hat, lehnt Aaron sich gegen die Wand und sieht mir mit gerunzelter Stirn beim Schnürsenkelbinden zu.
»Was ist?«
»Also … Wegen der Postkarte …«
»Ach ja. Meine angebliche Nachricht. Was steht denn drauf?«
Er reicht sie mir wortlos.
Blinzelnd betrachte ich die Worte, die mir vor Müdigkeit vor den Augen verschwimmen.
»Wir müssen über … uns reden?«, stammele ich. »Was für ein Uns?«
Aaron pflückt mir die Karte aus den Händen. »Weiß ich doch auch nicht. Deswegen fand ich die Nachricht ja so seltsam. Ich wollte jedenfalls nicht, dass Roe das sieht. Nachher zählt er eins und eins zusammen, um fünfhundert rauszukriegen. Auch so wollte er mich ja schon umbringen, kaum dass er mich gesehen hat.«
»Wer würde dir so was schicken?«
»Jemand, der uns alle an einem Ort haben wollte. Um uns auszuschalten vielleicht.«
»Aber hier ist niemand außer uns.«
»Tja, dann …«, er sieht erst mich an, dann wieder die Postkarte. »Jemand, der uns gegeneinander aufbringen will. Mission erfüllt, würde ich sagen.«
Das bebende Schulhaus. Der Gerüsteinsturz. Roes und Aarons Blindheit.
»Du glaubst, die Kinder Brigids stecken dahinter?«, frage ich verblüfft. »Ist Zettelchen schreiben nicht ein bisschen, du weißt schon, unter ihrer Gehaltsklasse?«
»Nein, die sind sich für nichts zu schade. Wir müssen uns fragen: Was haben sie davon, dass wir uns streiten? Offenbar wussten sie, dass du und Roe hierherkommt. Sie wollten irgendetwas auslösen. Teile und herrsche.«
Ergibt Sinn, schätze ich. Jetzt, da sich die Mamsell womöglich als stumpfes Schwert herausgestellt hat, suchen sie vielleicht nach herkömmlicheren Methoden, unsere Gruppe zu spalten. Es kann ihnen nicht gefallen, dass sich so viele mächtige Hexen gegen sie verbündet haben.
»Okay, lass es uns den anderen erzählen«, sage ich und halte dann inne. »Aber den ›Wir-müssen-über-uns-reden‹-Teil lassen wir mal lieber weg.«
Aaron legt den Kopf schief. »Seid du und Roe wirklich dermaßen unsicher, was eure Beziehung angeht? Er weiß doch, dass es kein Uns gibt. Dass es nie eines gab.«
»Klar, aber …« Keine Ahnung, worauf ich hinauswill. Ich weiß nur, dass Aaron zurück ist und dass wir zusammenarbeiten müssen. Wenn uns die Show vorhin eines gezeigt hat, dann dass Roe und Aaron keinen großen Anlass brauchen, um aufeinander loszugehen. »Ich will die Sache bloß nicht komplizierter machen, als sie sein muss.«
Aaron nickt, holt ein Feuerzeug aus der Hosentasche und zündet die Postkarte an. Ich betrachte die Flammen einen Augenblick lang und frage mich, ob wahrhaft Unschuldige jemals Beweise verbrennen würden.
Als ich zum Auto gehe, kriege ich Kopfschmerzen vor Müdigkeit.
»Alles okay bei ihm?«, fragt Roe.
»Ich weiß nicht«, antworte ich. Und fröstele. »Roe, sie beobachten uns.«