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Der große Bestsellerroman aus Irland – warmherzig, witzig und wahnsinnig authentisch schreibt Caroline O'Donoghue über das Lebensgefühl der Millennials in Cork. Eine außergewöhnliche Geschichte über Freundschaft, die Suche nach sich selbst und den Rausch der ersten Beziehungen. Als die junge Studentin Rachel während ihres Nebenjobs im Buchladen auf James trifft, ist es Freundschaft auf den ersten Blick. Der temperamentvolle James lädt Rachel sofort ein, seine Mitbewohnerin zu werden. Um wiederum Rachels angebeteten Literaturprofessor Dr. Fred Byrne näherzukommen und ihn zu verführen, organisieren James und Rachel eine Lesung im Buchladen, die sich am Ende ganz anders entwickelt als gedacht. Denn Fred Byrne verfolgt seine eigenen Interessen. Und so verstricken sich die Leben dieser drei Menschen vor dem Hintergrund der Finanzkrise in Cork immer rasanter ineinander. »Die Sache mit Rachel« ist ein absolut außergewöhnlicher Roman über eine große Freundschaft, über das Sich-finden-Wollen und die Achterbahn der ersten Beziehungen. Ein Roman darüber, wie wir sein und wie wir lieben wollen.
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Seitenzahl: 451
Veröffentlichungsjahr: 2024
Caroline O’Donoghue
Roman
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Titelseite
Über Caroline O’Donoghue
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Caroline O’Donoghue ist Journalistin und Autorin. Sie hat mehrere Romane veröffentlicht, schreibt u.a. für den Irish Independent, Glamour und Buzzfeed und hat eine feste Kolumne im Irish Examiner. Als Gastgeberin des Podcasts »Sentimental Garbage« spricht sie mit anderen Autor*innen über Unterhaltungsliteratur.
Christian Lux studierte Buchwissenschaft und Literatur in Mainz. Danach Herausgeber des Insel Almanachs, Verleger des Luxbooks Verlags und freier Übersetzer. Seit Jahren betätigt er sich als Vermittler anglo-amerikanischer Literatur. Zuletzt Bände von Amy Hempel, Stevie Smith, Leonhard Cohen.
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Der große Bestsellerroman aus Irland – warmherzig, witzig und wahnsinnig authentisch schreibt Caroline O’Donoghue über das Lebensgefühl der Millennials in Cork. Eine außergewöhnliche Geschichte über Freundschaft, die Suche nach sich selbst und den Rausch der ersten Beziehungen.
Als die junge Studentin Rachel während ihres Nebenjobs im Buchladen auf James trifft, ist es Freundschaft auf den ersten Blick. Der temperamentvolle James lädt Rachel sofort ein, seine Mitbewohnerin zu werden. Um wiederum Rachels angebeteten Literaturprofessor Dr. Fred Byrne näherzukommen und ihn zu verführen, organisieren James und Rachel eine Lesung im Buchladen, die sich am Ende ganz anders entwickelt als gedacht. Denn Fred Byrne verfolgt seine eigenen Interessen. Und so verstricken sich die Leben dieser drei Menschen vor dem Hintergrund der Finanzkrise in Cork immer rasanter ineinander.
Die Sache mit Rachel ist ein absolut außergewöhnlicher Roman über eine große Freundschaft, über das Sichfindenwollen und die Achterbahn der ersten Beziehungen. Ein Roman darüber, wie wir sein und wie wir lieben wollen.
Widmung
Ich hatte nie vor, über all das hier zu schreiben …
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
April 2022
Danksagung
Den Männern in meinem Leben.
Für Ryan Farrell, dafür,
dass er mich damals geliebt hat,
für Gavin Day, dafür,
dass er mich nun liebt,
und für meinen Vater, dafür,
dass er mich immer liebt.
Ich hatte nie vor, über all das hier zu schreiben.
Ich weiß, dass Journalisten so etwas ständig sagen, aber auf mich trifft es tatsächlich zu. Fast alle von uns hocken auf irgendeinem großen Erlebnis, von dem wir uns erhoffen, es eines Tages in ein Buch verwandeln zu können. Ich schwöre bei Gott, dass das nie meine Absicht gewesen ist. Der Prozess des Büchermachens wurde schon entzaubert, als ich 21 Jahre alt war. Seitdem hatte ich kein Verlangen mehr, damit etwas zu tun zu haben.
Über Dr. Byrne spreche ich eigentlich nur mit James Devlin. Deshalb war ich auch immer davon ausgegangen, dass er erst dann wieder in mein Leben treten würde, wenn James etwas damit zu tun hätte. Da lag ich falsch. Dr. Byrne kam über die Toy Show zu mir zurück.
Die Late Late Toy Show ist ein jährliches Fernsehereignis, bei dem Kleinkinder das beste Spielzeug des vergangenen Jahres bewerten und anderen Kindern Tipps geben, was sie auf ihre Wunschliste für den Weihnachtsmann packen sollen. Für ein Kind in Irland ist das ein großes Ereignis, und es ist ein noch weitaus bedeutenderes, wenn man als erwachsener Ire im Ausland lebt. Das ist Außenstehenden nur schwer zu vermitteln. Und diese Tatsache an sich macht schon einen Teil des Reizes aus. Entweder man versteht’s oder eben nicht. Man gehört dazu oder nicht. Da so viele Leute das Irischsein für sich beanspruchen, verräumen wir unsere Insiderscherze in immer höheren Regalebenen, damit man erst mal einen echten Betriebszugehörigen bitten muss, sie herunterzuholen.
Überall auf der Welt finden sich erwachsene Iren zu gemeinsamen Public Viewings zusammen, bei denen sie Fünfjährige anfeuern, die live Polly-Pocket-Sets ausprobieren. Ich bin Redakteurin bei der Hibernian Post, einer Zeitung für Iren in Großbritannien. Es ist mein Job, über Ereignisse für Expats zu schreiben, und somit gehört es zu meinen unmittelbaren Aufgaben, über die Toy Show zu berichten.
»Bist du dir sicher?«, fragt Angela. »Ich möchte dich nicht drei Wochen vor Weihnachten durch die Kälte bis nach Soho schicken.«
»Das ist okay«, sage ich, wickle einen langen Schal fest bis unters Kinn und würge mich dabei für einen kurzen Moment selbst.
»Ich will jetzt nicht wie die typische Klischee-Kollegin klingen«, insistiert sie. »Aber in deinem Zustand!«
»Mir geht’s großartig, wirklich«, sage ich und reibe meinen gewölbten Bauch. Ich hatte erst vor Kurzem Frieden mit meiner Schwangerschaft geschlossen. Die heftige Übelkeit und belastende Unsicherheit der ersten Monate hatten mir das Gefühl gegeben, mich in der Anfangsphase einer langen Walfangreise zu befinden. Immerhin hatte ich schon eine Fehlgeburt hinter mir. Jetzt aber, mitten im siebten Monat, habe ich eine Art selbstmitleidige Seekrankheit entwickelt. Ich kann mir das Erreichen des Festlands nicht mal mehr vorstellen. Mir kommt es vor, als werde ich für immer schwanger bleiben müssen.
Ich erreiche die Bar in Soho, die für diese eine Nacht zur Zuflucht für Heimwehgeplagte geworden ist. Ich bin früher oft zu diesen Expat-Abenden gegangen, die anlässlich von Volksbefragungen organisiert worden waren. Das war mir sehr wichtig. Ich war wirklich involviert. Und ich verdiente gutes Geld. In den englischen Zeitungen erschienen eine Menge Artikel über die Abtreibungsdebatte in Irland, und ich gehörte zu jenen, die damit beauftragt waren, sie zu schreiben. Ich interviewte Aktivisten, Menschen von Marie Stopes International für Familienplanung, Menschen, die ihre Töchter und Frauen durch Komplikationen bei der Entbindung verloren hatten, und einen Arzt, der sich geweigert hatte, zum Wohle der Mutter zu handeln. Es war ein kurzer Augenblick, in dem es tatsächlich etwas bedeutete, eine irische Journalistin in England zu sein. Ich ging zu Demonstrationen und war abends auf einer Menge Partys. Meine Kontaktliste wimmelte von Leuten, denen ich betrunken etwas versprochen hatte, irgendeine Form von Berichterstattung, zu der ich in keiner Weise befugt war.
Mein Handy hält an ihnen fest, auch jetzt noch, vier Jahre und ein iPhone-Upgrade später. CLARA ABSCHAFFUNG, SIOBAHN ABSCHAFFUNG, ASHLING ABSCHAFFUNG, DONNACHA ABSCHAFFUNG. Wir kannten uns nicht, waren aber für den Moment in einem Familienstammbaum vereint, weil wir alle das Gleiche wollten, und jetzt, wo wir es erreicht haben, verbindet uns fast nichts mehr miteinander.
Wir sind froh über das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und gleichgeschlechtliche Ehe, doch wir sehnen uns auch nach gemeinsamen Nächten, wie wir sie damals erlebt haben.
Nirgends ein freier Platz, und in meinem gegenwärtigen Anfall von schwangerschaftsbedingter Seekrankheit war mir entfallen, dass ich in meinem Zustand Anspruch auf einen Stuhl habe. Ein Mann in meinem Alter, der mit seinen Freunden fröhlich zusammensitzt, bietet mir seinen Sitzplatz an.
»Ich will euren Kreis nicht sprengen.« Die Gruppe, die so lebhaft den gemeinsamen Abend genoss, scheint mir überwiegend schwul zu sein. Aus Rücksicht auf die Götter queerer Etikette muss ich nun zumindest so tun, als wäre ich nicht die sich aufdrängende Heterofrau. Natürlich kann ich es eigentlich kaum abwarten, mich dazuzugesellen.
Er schüttelt den Kopf und führt mich sanft an seinen Platz. »Keine Sorge, Misses, keine Sorge«, sagt er, und sein Dubliner Akzent kommt durch. »Wir können doch eine schwangere Dame an Weihnachten nicht stehen lassen!«
»Was würde das Jesuskind sagen?«, meint ein anderer, und da wir nun alle so eng beieinandersitzen, habe ich gar keine andere Wahl, als sofort Ehrenmitglied der Gang zu werden. Dafür bin ich dankbar. Sie geben mir das Gefühl, groß und besonders zu sein, so wie die über den Kindern Fatimas schwebende Maria.
Bei der ersten Werbepause spüre ich, wie mir eine Hand aufs Knie tippt. »Tut mir leid«, sagt er. Es ist einer der Männer von der anderen Seite des Tisches, mit dem ich noch nicht gesprochen habe. »Darf ich fragen …«
Ich kriege nicht mit, was er dann noch sagt. Der Moderator des Abends schaltet den Fernseher auf stumm und dreht die Boxen dafür auf: »C’est la vie« von B*Witched. Die Lautstärke ist so hoch, dass alle von ihren Sitzen aufschrecken. Der Moderator dreht den Ton rasch wieder leiser und wirft seine Hände mit einer Geste in die Luft, die sagen soll »Sorry, Leute«.
Ich wende mich wieder dem Mann zu.
»Wissen Sie vielleicht, was mit ihm ist?«, fragt er und beendet den Satz, den ich vorher nicht verstanden hatte.
Vielleicht liegt es daran, dass ich unter schwulen Männern sitze oder weil ich so oft nach meinem besten Freund gefragt werde. Vielleicht ist es auch meine Schwangerschaftsdemenz. Aber ich dachte wirklich, dass er sich nach James Devlin erkundigen wollte. Das ist genau die Art Situation, in der ich normalerweise nach James befragt werde. Er nimmt einen kuriosen Platz im Venn-Diagramm des Ruhms ein: Irisch berühmt, schwul berühmt, berühmt auf Social Media, aber nicht wirklich berühmt. Berühmt genug, dass man ihn, wenn er heute Abend hier wäre, nach Selfies fragen würde, aber nicht nach Autogrammen. Berühmt genug, dass eine der Zeitungen in seiner Heimat sofort eine Schlagzeile bringt, in der es heißt »Hollywoodfilm von Bewohner aus Cork«, auch wenn James nur einer von fünf Drehbuchautoren ist.
»Er ist in New York«, sage ich stolz. »Er hat wirklich Erfolg, nicht nur auf Instagram. Er schreibt für eine der Late Night Shows.«
Er starrt mich ausdruckslos an, also nenne ich auch noch den Namen der Talkshow. Sein Blick bleibt leer.
Er runzelt die Stirn. »Du warst doch auch in seinem Seminar, oder nicht?«, fragt er. »Dr. Byrne? Literatur im viktorianischen Zeitalter?«
»Dr. Byrne«, wiederhole ich. Und für eine Sekunde setzt mein Gehirn aus. Wie bei einem Stromausfall. Tausend Lichter in einem Wohnblock gehen gleichzeitig aus.
»Du warst an der UCC, da bin ich mir ziemlich sicher«, sagt er langsam. »In derselben Gruppe wie ich. Fred Byrnes Seminar.«
»Ja«, antworte ich, und trotz des Schocks, den mir sein Name versetzt, bin ich mir der PR-Botschaft bewusst, die mein Gesicht vermittelt. Ich passe meinen Ausdruck an, doch es ist schon zu spät. Ich müsste einem Fremden etwas erklären, nur wo soll ich anfangen? Wie könnte man das Jahr in der Shandon Street verstehen, wenn man nicht dort war und es miterlebt hat?
»Nun, ich wollte dich nicht …«, setzt er an, weil er bemerkt hat, dass er irgendwie in ein Wespennest gestochen hatte, ohne zu wissen, wie er es wieder beruhigen konnte. »Ich dachte, dass du einer seiner Lieblinge warst, jedenfalls schien das so, und dass du vielleicht etwas wüsstest.«
»Was wissen?«, wiederhole ich. Wie kann ich diesem Fremden subtil zu verstehen geben, dass ich entgegen dem Gerücht, das damals durch Cork geisterte, keinen Sex mit Dr. Byrne gehabt habe?
»Er liegt im Koma«, sagt er und wirft die Nachricht wie eine Bombe vor mir ab. »Er hat irgendeine verrückte Hirnerkrankung und liegt jetzt im Koma.«
Durch meine Schwangerschaft spüre ich meinen Körper in unterschiedlichen Schichten – Kruste, Abdeckung, Kern – und alles vibriert gleichzeitig, wenn ich an Dr. Byrne denke. Der große, seltsame Dr. Byrne, Liebhaber französischer Weine und Freund kleiner Törtchen. Die portugiesischen Törtchen, die er uns vom English Market mitgebracht hatte, waren noch warm. Dieser tiefgelbe Geschmack, an den Rändern die Sprenkel von schwarz gewordenem Zucker.
Die Musik dringt aus dem Lautsprecher, um uns zu signalisieren, dass die Werbepause vorbei ist und die Toy Show nun weitergeht, und schon fährt ein kleiner Junge aus Wicklow mit seinem Fahrrad im Kreis.
Ich muss James anrufen.
Im Nachhinein ist es fast komisch, dass James und ich so gute Freunde geworden sind, wenn man bedenkt, dass er mich in den ersten zwei Wochen für jemand ganz anderen hielt.
In meiner Erinnerung verlief unsere erste Begegnung wie eine Szene aus einem Film über einen Fremden. Es war ein Donnerstag im November, und ich stand hinter dem Tresen von O’Connor Books. Das war 2009. Mein letztes Semester an der Uni und noch 29 Tage bis Weihnachten. Unser Manager Ben war bereits in Sorge, dass es eine enttäuschende Saison werden würde, er lief ständig aufgeregt herum und erzählte Dinge über »die Branche«. Er sprach von der Buchbranche, als wäre sie ein Drache, der in einem Verlies angebunden lauerte und uns jederzeit zerfleischen könnte. Er redete über die diesjährige Flut von Geschenkbüchern – ich glaube, Dawn French und Julie Walters hatten miteinander rivalisierende Memoiren veröffentlicht –, als wären es verkohlte Leichen, die wir dem Drachen in den Rachen werfen, um ihn irgendwie bei Laune zu halten.
»Das hält die Branche am Laufen«, sagte Ben mit nahezu rührendem Ernst. Ich trug einen weiteren Stapel aus dem Lager. Der Bücherturm reichte von meiner Hüfte bis unter mein Kinn.
James Devlin hatte den Donnerstag zuvor als Weihnachtsaushilfe angefangen, und ich hatte mir freigenommen, damit ich meine Abschlussarbeit fürs College fertigstellen konnte. James hatte somit seine erste Schicht mit Sabrina verbracht. Später sagte er immer, dass er so von all den neuen Gesichtern und Namen überwältigt gewesen sei, dass sie halt ineinander verschwommen waren, und wenn ich daraufhin sagte, dass das Bullshit sei, warf er seine Arme in die Luft und meinte, dass Heterofrauen für ihn alle gleich aussähen.
Die erste Schicht mit Sabrina musste Spaß gemacht haben, denn als James den Holzriegel zum Kassenbereich hochschob, schlug er einen verschwörerischen Ton an.
»Jemand hat die Krätze«, sagte er, »und hat die Salbe aufm Klo liegen lassen.«
Es fühlt sich jetzt seltsam an, dieses erste Gespräch so festzuhalten, weil es nichts von dem verrät, wie James eigentlich war. Wie unglaublich charmant mir seine Eröffnung vorkam. »Jemand hier hat die Krätze.« Er sagte es, als wäre er Poirot, der in einem Landhaus in einem Mordfall ermittelte. Wie jemand, der die inhärenten Vorurteile unserer höflichen Gesellschaft erkannte und bereit war, sie zu enthüllen. Der zweite Teil des Satzes war noch eine ganz andere Nummer, »und hat die Salbe aufm Klo rumliegen lassen«. Das war typisch Cork County, Fermoy, um genau zu sein, was für mich letztlich nichts anderes als auf dem Land war. James war in England aufgewachsen – und zwar im ganzen Land, wie ich später herausfinden sollte – und so war seine Art zu sprechen eigenartig und schwer zu verorten. Ich wurde in Douglas geboren, in einer kleinen Vorortsiedlung, zwei Meilen südlich der Stadtmitte. Dort lebte ich damals immer noch.
»Wie bitte?«, fragte ich, und die Schockwellen des Satzes schlugen gegen meine gläserne Zurückhaltung, die ich als Teil meiner öffentlichen Persona kultiviert hatte. Die Persona, die man gemeinhin Junge Frau, die in einem Buchladenarbeitet, also Bookshop Girl nennt. »Was genau ist eigentlich Krätze?«
»Eine Art Parasit.«
»So was wie Würmer?«
»Würmer befallen den Körper im Inneren. Krätze ist etwas Äußerliches. Hattest du schon mal Wurmbefall?«
»Nein.«
»Nicht mal als Kind?«
Ich dachte nach. »Ringelflechte? So etwas?«
»Wie hast du das denn bekommen?«
Er war aufrichtig interessiert. Ich grub in meinem Gedächtnis nach Erinnerungen, an die ich mich nie zuvor erinnert habe, und hatte das Gefühl, einen neuen Bereich der Tiefsee entdeckt zu haben. »Wir hatten eine Katze, einen Streuner. Vermutlich hab ich’s von ihm bekommen?«
»Lustig, dass alle Katzen in den 90er-Jahren Streuner waren«, sagte er. Er meldete sich bei der Kasse an und tippte eine sechsstellige Nummer ein. »Man hat sich seinen Hund einfach am Straßenrand geangelt.«
Ich hatte gewisse Erwartungen, als ich bei O’Connors anfing, wie Gespräche in einem Buchladen verlaufen würden. In dieser Vorstellung drehten sich die Gespräche um Bücher. Aber wir sprachen nur selten über das, was wir lasen. Der Geschmack unter den Angestellten war extrem unterschiedlich, doch statt dass das nun zu anregenden, lebhaften Diskussionen über Literatur führte, bedeutete es lediglich, dass wir einfach stumm mit unseren Büchern im Mitarbeiterbereich hockten. Ben liebte seinen Joyce. Sabrina mochte Terry Pratchett und Douglas Adams und all diese Autoren, bei denen man sich nie sicher sein konnte, ob sie scherzten oder nicht. Es gab auch Kollegen, die eine Leidenschaft hatten für Pop-Psychologie, Freakonomics, Lokalgeschichte und die Buchreihe Simon’s Cat, doch auch mit denen konnte ich nie einen gemeinsamen Nenner finden.
Normalerweise las ich, nun ja, Romane. Überwiegend ältere. Bücher, die zur Mitte des 20. Jahrhunderts immens beliebt waren und somit vom kulturellen Establishment akzeptiert, die aber bei meinen Zeitgenossen ausreichend in Vergessenheit geraten waren, sodass ich mich bei der Lektüre besonders fühlen konnte. Ich mochte es, wenn tote Frauen wortgewandt ihre Gesellschaft kommentierten. Ich mochte lange Absätze über Rationierungen und sexuelles Erwachen in Frankreich. Bis ich in dem Buchladen anfing, hatte ich mich für relativ belesen gehalten.
Ich wollte wirklich vermeiden, James über seine Lesegewohnheiten zu befragen, da mich diese Art Befragung schon zu viele Freundschaften gekostet hatte. Ich wollte ihn etwas wirklich Authentisches fragen, oder zumindest etwas, das mein 20-jähriges Gehirn für authentisch hielt. Ich wollte etwas, das so gut war wie die Sache mit der Krätze.
Dafür blieb jedoch keine Zeit, denn in dem Moment war ein Dutzend Kunden zur Kasse gekommen, und wir gaben ihre Einkäufe Seite an Seite ein. Ich hatte das inzwischen Hunderte Male gemacht: stundenlang neben einem Kollegen stehen, die Kasse bedienen, gelegentlich etwas Small Talk mit den Kunden. Ich habe mich dabei immer wie auf meinem eigenen Planeten gefühlt. Es klingt albern, das zu sagen, oder als würde ich dieser einen Spätschicht im Nachhinein lauter emotionalen Ballast andichten, aber es fühlte sich anders an. Als wären wir zwei Ruderer auf einem uralten Schiff, die synchron Dinge einscannen und dem Horizont entgegensegeln.
Als unsere Schicht vorbei war, fragte er mich, was ich als Nächstes vorhatte.
»Ich treffe mich mit meinem Freund«, antwortete ich und war sofort in Sorge, dass ich durch meine Verabredung mit Jonathan die eine gute Gelegenheit verpasste, James’ beste Freundin zu werden.
James zündete sich eine Zigarette an. »In welche Richtung bist du unterwegs?«
»Sober Lane.«
»Ah!«, sagte er, und ich war mir nicht sicher, ob er sich verbrannt hatte oder zu einer Art Erleuchtung gekommen war. »Ich muss zur Travers Street. Ich begleite dich.«
Wir gingen den Weg also gemeinsam, und obwohl ich es kaum abwarten konnte, James zu knacken und in seiner Welt zu leben, kam es mir vor, als bliebe keine Zeit mehr, um Fragen zu stellen. James wollte ebenfalls keine Fragen stellen. Er wollte mutmaßen.
»Okay, also schauen wir mal. Dein Vater arbeitet bei der Bank.«
Ich lächelte. »Daneben.«
»Dann eben dein Großvater. Irgendwas Banken-Verwandtes muss da sein.«
»Mein Großvater war Bänker, ja. Aber mein Vater ist Zahnarzt.«
»Siehst du! Hab ich’s doch gewusst.«
»Gar nichts hast du gewusst.«
Er fuchtelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum, als würde er mich verzaubern. »Tadaa! Ich habe diese Art vornehme Mittelschicht vollkommen durchschaut. Altes Geld, altes Cork. Bei deiner Mutter bin ich mir noch nicht ganz sicher: Entweder ist sie eine fabelhafte, schlanke Säuferin oder ein richtiges Miststück. Ein enger, kleiner Mund, wie das Fötzchen eines Kanarienvogels. Bin ich nah dran?«
Ich lachte und fragte mich, woher er das bloß wissen konnte.
»Nicht völlig daneben. Zweiteres«, sagte ich und hatte sofort das Gefühl, gemein zu sein. Meine Mutter arbeitete ebenfalls in der Zahnarztpraxis, und da die Behandlungen meines Vaters im Wesentlichen kosmetischer Natur waren, hatten beide an den sich geänderten Prioritäten eines Landes zu leiden, das immer weniger Grund zu lächeln hatte.
»Kommen wir also zum Freund … der Freund … der Freund … der Freund. Ich schwanke wieder zwischen zwei Möglichkeiten.«
Während er sprach, hatte er so wild gestikuliert, dass die Glut von seiner Zigarette abgefallen war, und nun hielt er inne, um sie wieder anzuzünden.
»Ihr seid seit der weiterführenden Schule zusammen, die Highschool-Sweethearts eures Jahrgangs, alle denken, dass ihr heiraten werdet, du bist dir allerdings nicht ganz sicher. Ihr plant, gemeinsam nach Thailand zu reisen.« Er atmete aus. »Oder ein älterer Mann, der an seiner Doktorarbeit schreibt oder so was in der Art, ein leicht unangemessener Altersabstand, bisschen trockene Hoden, deine Freunde hassen ihn, aber sie haben es dir nie gesagt.«
Ich hatte keine Ahnung, weshalb er dachte, dass es in Ordnung sei, dass er alle Menschen, die ich kannte, beleidigte, reale wie ausgedachte. Aber er war sich so sicher, dass er damit durchkommen würde, dass ich es ihm durchgehen ließ.
»Nichts davon«, sagte ich und nahm Jonathan in Schutz. »Er gehört da nirgendwo rein. Er ist nicht einzuordnen.«
»Aber was von beiden trifft es eher?«
Ich dachte nach. »Also, hm, das Erste, würde ich sagen.« Das sagte ich bloß, weil es weniger übel war als das andere.
Ich liebte ihn, zumindest dachte ich das. Mein Problem bestand darin, andere davon zu überzeugen, diese Liebe ernst zu nehmen. Ich war 20, und ich wollte zwei Dinge: verliebt sein und ernst genommen werden.
Jonathan und ich stammten beide aus Cork, waren aufgewachsen in den Vororten, die die Stadt umschlossen, und vergrätzt, dass wir dort an die Uni gingen. In unseren Augen gab es sechs gute Pubs und drei gute Clubs, und wir taten unser Bestes, so zu wirken, als wären wir von Cork City reichlich gelangweilt, während wir zugleich keinerlei Anstalten machten, irgendwohin zu fahren oder etwas zu tun, das wir nicht schon mit siebzehn getan hatten.
Als Paar waren wir ernsthaft bis zu einer gewissen Fadheit und seltsam konservativ in unseren Ansichten. Vor Kurzem musste ich mich in einen alten E-Mail-Account einloggen, um mein Passwort zu ändern. Und während ich mich dort umsah, fand ich eine meiner Hausarbeiten in Soziologie aus jener Zeit, der Jonathan-Periode, die ich meinem Tutor geschickt hatte. Die Arbeit trug den Titel »Das Patriarchat im modernen Irland«. Ich öffnete das Dokument und war neugierig, was mein jüngeres Selbst über die Unterdrückung der Frauen in Irland zu sagen hatte.
Ob das Patriarchat im modernen Irland eine Rolle spielt, ist unerheblich, hob der erste Satz an. Die Frage lautet: Warum wird das Patriarchat als Organisationsprinzip so unfair abgewertet?
Der Text schockierte mich. Ich meinte das vollkommen ernst. Da war ich also, neunzehn Jahre alt, dasselbe Mädchen, das nur zwei Jahre vorher ihr gesamtes Geburtstagsgeld für die Beschaffung der Pille danach ausgegeben hatte, in einem Land, das es absichtlich peinlich und unangenehm machte, sie zu bekommen, und kämpfte für das Wohl des Patriarchats. Ich las den gesamten Aufsatz und löschte ihn. Dann lief ich zwei Tage lang völlig paranoid in London herum. Ich war paranoid, so wie Menschen meiner Generation eben paranoid sein können. Ich dachte, ich wäre kurz davor, von einer unsichtbaren Onlinemeute für ideologische Verbrechen, die ich als Teenager begangen hatte, öffentlich an den Pranger gestellt zu werden. Ich hatte gedacht, ich sei immer schon Feministin gewesen. Natürlich wusste ich von Geburt an, dass es keine Gerechtigkeit gibt. Aber nein, das kam alles offenbar erst später, mit Mitte zwanzig, als ich in London lebte.
Es war aber das Ich, das Jonathan liebte, und das Jonathan und ich gemeinsam geschaffen hatten. Wir saßen in Pubs und erfanden Meinungen, zumeist indem wir einen allgemein anerkannten Konsens nahmen und ihn auf den Kopf stellten. Radikales Denken war für uns, den Film Anchorman zu hassen.
James verabschiedete sich von mir in der Sober Lane. Ich fragte ihn, ob er mitkommen und meinen Freund kennenlernen wollte. Er verneinte.
»Ich will dir keine Schwierigkeiten bereiten«, sagte er. »Ich will nicht, dass er denkt, ich würde ihm seine Freundin ausspannen wollen.«
Ich lachte, denn James war so offensichtlich schwul, und die Vorstellung, dass er mich irgendwem abspenstig machen könnte, geradezu albern. Aber ich lachte zu lang und zu laut, und die Art, wie James mich ansah, ließ mein Gesicht rot anlaufen. Er war verletzt, versteckte sein Schwulsein, und er dachte, dass sein Versteckspiel funktionierte. Ich hörte auf zu lachen.
»Er ist nicht besonders eifersüchtig«, sagte ich rasch, und sein Gesicht hellte sich wieder etwas auf.
Ich verabschiedete mich von meinem neuen Freund und verschwand in der dunklen Bar, in der Jonathan wartete, und verfluchte mich selbst dafür, so unhöflich gewesen zu sein.
James hat es dann doch geschafft, mich Jonathan abspenstig zu machen. Innerhalb eines Monats wurde ich von James auf geradezu molekularer Ebene eingenommen, und meine Persönlichkeit formte sich um ihn, wann immer es Raum dafür gab. Die offizielle Geschichte lautet, dass Jonathan mich verlassen hat. Die Wahrheit ist, dass ich ihn für einen anderen Mann verlassen habe.
Eine Geschichte, die James gern anderen erzählt, geht wiederum so: Rachel und ich hatten einen einzigen Streit, und der fand statt, bevor wir uns wirklich gekannt haben.
Und dem füge ich normalerweise hinzu: Wir hatten unseren einzigen Streit, als James noch dachte, mein Name sei Sabrina.
Und daraufhin sagt er dann: Im Grunde war mein erster Streit also eigentlich mit Sabrina.
Wir hatten natürlich eigentlich noch mehr Auseinandersetzungen. Zwei. Über die sprachen wir aber nicht.
Es war ein paar Wochen her, seit James mich zur Sober Lane begleitet hatte, und er hatte seitdem nicht dasselbe Interesse an mir gezeigt. Es war nicht ganz fair, dass er seinen Scheinwerfer erst so heftig auf mich gerichtet hatte und ihn dann wieder abzog, sodass ich in Dunkelheit und Kälte zurückblieb, umgeben von meinen faden Bekanntschaften. Die meisten meiner besten Freunde waren bereits am College. Die Überflieger am Trinity, die angehenden Lehrer am Mary I. Mir blieben nur noch die Mädchen, mit denen ich flüchtig in der weiterführenden Schule befreundet gewesen war, und Jonathans Freunde.
James war die erste Person, die mir seit Jahren begegnet war, mit der ich unbedingt befreundet sein wollte, aber es hatte nicht den Anschein, dass er auch mit mir befreundet sein wollte. Darüber hinaus hatte er unseren Vorgesetzten in der Buchhandlung so für sich eingenommen, dass er immer freie Wahl für die besten Schichten hatte.
Ich wusste noch nicht, wie man auf jemanden wütend ist, also habe ich einfach das Verhalten nachgeahmt, das ich zu Hause gelernt hatte: in kurzen, knappen Sätzen sprechen, bis das Gegenüber wahnsinnig wird. So hat meine Mutter mit mir gestritten, so habe ich mit meinen jüngeren Brüdern gestritten, und so haben die mit ihren Freunden gestritten. Nicht, dass Wärme für unsere Familie ein Fremdwort gewesen wäre. Wir waren eher geneigt zu glauben, dass man uns unrecht tat. Ständig wurde uns unrecht getan. Dass die letzte Wirtschaftskrise das Unternehmen meiner Eltern ruiniert und ihre Investitionen zunichtegemacht hatte, war nur ein weiterer Beleg dafür, dass die Welt es auf uns Murrays abgesehen hatte. Wir reagierten damals darauf, indem wir anderen die kalte Schulter zeigten.
Nach einer Weile spürte James meine neu entwickelte Kälte und bewegte sich geradewegs auf sie zu. Er versuchte immer wieder, mit mir ins Gespräch zu kommen, und machte Witze über meine angeborene Bankiers-Ausstrahlung. Meistens ignorierte ich ihn. Die Schieflage bei der Schichtzuteilung ärgerte mich jedoch gewaltig. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass James ein selbstsüchtiger, oberflächlicher Mensch war – vielleicht sogar ein Soziopath – und dass ich ihn so lange meiden würde, bis er den Fehler einsah und aufhörte, alle guten Zeitfenster für sich zu beanspruchen.
Nachdem ich einige seiner Kontaktversuche ignoriert hatte, kam er zu mir hinter den Tresen, um ein paar Bestellungen zu sortieren. Und er stieß mich mit einem Stift in die Kniekehle. Er traf, wie er es immer wieder tat, einen Nerv. Mein Bein knickte ein, und ich ging in die Knie. Ich stürzte nicht, aber durch die Störung meines Gleichgewichts wurde mir übel und das wiederum ärgerte mich. Ich sagte ihm, er solle aufhören. Er lachte und machte sich daran, einen Kunden zu bedienen, als ob nichts passiert wäre.
Eine Stunde später tat er es wieder. Genau dasselbe Spiel. Das Einknicken, die Übelkeit, die Wut. Ich brüllte ihn an, er solle damit aufhören, und er machte ein großes Theater, indem er sich duckte: der kleine, kulleräugige Jerry gegen den großen, stämmigen Tom. Er hatte bereits gerochen, dass ich im Hinblick auf meine Körpergröße äußerst verunsichert war: 1,79 m, das war so nah an 1,80 m, dass ich die Genauigkeit beiseiteschob und den Leuten oft nur sagte, ich sei 1,80 m groß, um jede Auseinandersetzung darüber von vornherein zu vermeiden.
Außer unserem Chef Ben war niemand in der Nähe, und in dem Moment, als ich mich umdrehte, tat James es noch einmal, und der Stoß kam so unerwartet, dass ich diesmal komplett zu Boden ging. Ben lachte so sehr, dass er den lauernden Drachen fast vergaß. Ich war so wütend, dass ich vorübergehend meine Vorstadtmanieren über Bord warf und James mit der ganzen Kraft meines Körpers gegen die Wand hinter dem Tresen stieß. Das Regal darüber, das mit Vorbestellungen für Stammkunden beladen war, wackelte, und der gesamte Stapel kippte um. Die in Hardcover gebundenen Gedanken von Dawn French trafen James und rissen die Haut über seinem Auge auf. Er begann zu bluten, und sein glatt gebügelter Pony gerann um die Wunde wie Mull.
»Rachel!«, schrie Ben. »Was ist denn in dich gefahren?«
In diesem Augenblick lernte James, dass mein Name nicht Sabrina war. Er lächelte mich an, während Ben den Erste-Hilfe-Kasten holte.
»Endlich«, sagte er und lachte mit einer seltsamen, neuartigen Zuneigung. »Da ist sie ja.«
Ich fühlte mich so schlecht, dass ich James nach der Arbeit auf einen Drink einlud.
»Okay, Killer«, sagte er, grinste und wickelte sich seinen extrem schmalen Schal um den dünnen Hals. »Hast du einen Tisch im Golfclub reserviert?«
James’ Faszination für meine bürgerliche Herkunft hat sich von dem Tag an, an dem wir uns kennengelernt haben, nicht verändert, und manchmal frage ich mich, ob seine gesamte Freundschaft mit mir auf seinem Drang beruht, die genauen Lebensumstände von Zahnärzten und ihren Kindern zu katalogisieren. Hier beispielhaft eine Frage, die zu jeder Tages- und Nachtzeit als Textnachricht bei mir eingehen konnte: Serviert Bridget die Karotten in Scheiben oder in Streifen geschnitten?
In Streifen, schreibe ich zurück.
Hab ich’s doch gewusst, antwortete er postwendend.
Es hätte mich kein bisschen gewundert, wenn ich zu dem Zeitpunkt erfahren hätte, dass er an einem Buch schrieb.
Es war gerade Hochsaison für Weihnachtsfeiern, und nach ein paar gescheiterten Versuchen in schlichten Kneipen fanden wir ein Tapas-Restaurant in der Washington Street, das versuchte, den Einwohnern Corks das Konzept kleiner Teller näherzubringen, indem es die Möglichkeit bot, seinen eigenen Wein mitzubringen. Das ganze Setting wurde ungewollt romantisch, und es machte mich nervös, dass James denken könnte, ich wolle meinen vorherigen Fauxpas ungeschehen machen, indem ich ihn zu einem Date mit mir zwang. Ich fing an, laut die Speisekarte herunterzubeten, und beschuldigte das Restaurant, gewöhnlichen Schinken fancy klingen zu lassen.
James stützte sein kleines Gesicht auf zwei geballte Fäuste und genoss meine Tirade über den Schinken.
»Kleine Teller«, sagte er. »Wenn die mich im Krankenhaus hätten nähen müssen, hätte es dann große Teller gegeben?«
»Austern«, antwortete ich.
»Und wenn ich mir ein Bein gebrochen hätte?«
»Ich bin kein Wohltätigkeitsverein«, erwiderte ich, und er lachte.
»So läuft das nun mal. Ich verfolge die Nachrichten. Die Reichen versuchen, einen mit großer Geste zu bestechen, damit man sie nicht verklagt.«
»Wie kommst du darauf, dass ich reich bin? Das bin ich nicht.«
Er deutete auf unsere Umgebung, die Speisekarte mit der Aufschrift »Specials«, die Kerzen in den leeren Weinflaschen, die vermutlich von Kunden aus den verschiedenen Häusern der Stadt Cork mitgebracht worden waren.
»Ich wohne noch zu Hause.«
»Ah. Du arbeitest also nur, um dein Taschengeld aufzubessern?«
Ich sagte James, er solle bestellen, was er wolle, und trotz seiner Vermutungen über meinen finanziellen Wohlstand bestellte er die billigste Flasche Wein und eine Schale Cashewkerne. Sekunden später wurden uns eine Flasche Wasser und zwei kleine Gläser gereicht.
»Nein«, sagte er und schenkte uns Wasser ein. »Niemand arbeitet so viel wie du, wenn es nicht nötig ist.«
»Na ja.« Ich zuckte mit den Schultern.
»Du arbeitest donnerstags, freitags, samstags und sonntags«, zählte er an den Fingern ab. »Und ich glaube, ich habe dich auch schon mal montagnachmittags gesehen. Aber du bist doch auch an der Uni, oder?«
»Ich komme immer, wenn Ben mich anruft.« Ich zuckte wieder mit den Schultern und wurde mir bewusst, wie langweilig Schulterzucken als Konversationsform ist.
»Hör zu«, sagte ich. Der Kellner kam mit dem Wein und den Cashewkernen und fragte, ob wir schon übers Essen nachgedacht hätten, und James sagte, dass die Cashews für den Moment reichten.
»Fahr fort«, sagte James, als der Kellner gegangen war.
»Ich muss meine Studiengebühren bezahlen«, sagte ich und versuchte, nicht mitleidig, sondern ehrlich zu klingen. Ich erzählte ihm, was ich noch niemandem erzählt hatte: dass meine Eltern, die mich und meine Geschwister ohne Weiteres an Privatschulen geschickt hatten, nicht imstande waren, mir das College zu bezahlen.
In besseren Zeiten, als sowohl die Finanzen meiner Familie als auch mein Ruf als verantwortungsbewusstes Kind noch intakt waren, hatte mir mein Vater eine Kreditkarte zur Verfügung gestellt. Ich hatte einen Job als Babysitterin, aber die Kreditkarte war dafür gedacht, Kleinigkeiten wie Bücher, Hefte und Taxen zu bezahlen, wenn ich abends ausging. Die Karte wurde mir mit viel Brimborium überreicht, nachdem mein Vater ausführlich erklärt hatte, dass es besser sei, eine Kreditkarte zu haben, da man damit seine Kreditwürdigkeit aufwerten könne.
Das fand Jonathan sehr witzig. Seine Eltern waren Beamte, und eine Freundin mit Daddys Kreditkarte zu haben, verlieh ihm das Gefühl, bodenständig zu sein. Die Wahrheit ist aber, dass ich die Karte kaum benutzt habe. Bis sie dann ein paar Wochen nach Beginn meines ersten Semesters an der UCC nicht mehr funktionierte.
»Dad«, sagte ich, während ich im Buchladen auf dem Campus stand und aus der Schlange an der Kasse zur Seite trat, um ihn anzurufen, »hast du vergessen, die Kreditkartenrechnung zu bezahlen?«
»Nein«, sagte er. »Habe ich nicht.« Ein Schlag in die Magengrube, der sich wie Angst anfühlte, in Wirklichkeit aber nur die erste Dosis Realität war, die ich bis dato herunterschlucken musste. Seit dem Crash waren meine Eltern nicht mehr verreist, hatten aufgehört, Restaurants zu besuchen, und aufgehört, Neuanschaffungen zu machen. Ich dachte, sie seien bloß vorsichtig. Mir war nicht klar, dass wir pleite waren. Bei diesem Anruf wurde mir auch mitgeteilt, dass nicht nur die Kreditkarte gekündigt war, sondern dass ich einen eigenen Weg finden musste, meine Studiengebühren zu zahlen.
In Irland waren Studiengebühren recht moderat, höchstens ein paar Tausend pro Jahr, und alle, die ich kannte, bekamen sie bezahlt. Das zeigt durchaus, wie homogen die Schicht war, in der ich lebte. Mein Vater schämte sich, und ich schämte mich für ihn.
»Das müssen wir irgendwie zwischen uns ausmachen, Rachel«, sagte er, als müsste er einen wütenden Buchmacher besänftigen. Er wollte nicht, dass ich einen Studienkredit aufnahm. Sein Vertrauen in Banken war beschädigt.
»Natürlich«, sagte ich schnell. »Ich kann arbeiten gehen.«
»Genau«, sagte er. »Und es sollte … unter uns bleiben. Die Jungs müssen davon nichts wissen.«
Daran habe ich mich bisher gehalten. Aber jetzt teilte ich das Geheimnis mit James. Ich fühlte mich schlecht, das Vertrauen meines Vaters verletzt zu haben, zugleich wollte ich meinen neuen Freund mit Vertraulichkeiten einwickeln. Glücklicherweise funktionierte das. James erkannte das Drama der Situation sofort.
»Das ist sehr … keine Ahnung. Wie in einem Drama.«
Ich brach in Gelächter aus. »Das ist kein Drama.«
»Ein Drama, durch und durch«, sagte er ernst.
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, sagte ich, in Sorge, Mitleid erregt zu haben. »Ich habe meine Gebühren für dieses Jahr gezahlt, und ich studiere nicht auf Master, also bin ich gerade flüssig.« Ich deutete auf den Tisch. »Wir sollten etwas Richtiges zu essen bestellen«, sagte ich.
»Wir sollten zusammenziehen«, sagte er.
»Wie bitte?« Ich verschluckte mich an dem Wein. »Du kennst mich doch gar nicht!«
»Ich weiß, dass dein Name Rachel ist«, sagte er, und da schien es eine Art Witz, denn da wusste ich noch nichts von der Sache mit Sabrina. »Und dass ich dich mag.«
»Meine Bruchbude gefällt mir eh nicht mehr.« Er begutachtete einen Cashewkern. »Und wir haben doch Spaß zusammen, oder nicht? Es gibt ein paar gute Wohnungen rund um Shandon Street. Und ich weiß, das ist streng genommen Richtung Norden, aber darauf kommst du klar, oder? Prinzessin aus dem Süden in Schwierigkeiten auf der falschen Seite der Stadt? Voll das Drama. Theater ohne Ende.«
Ich sah ihn schräg von der Seite an. »Du hast bereits was im Auge, oder?«
»Ja.«
»Und die Person, mit der du dort einziehen wolltest, hat es sich anders überlegt.«
»Ja«, sagte er, ohne Anflug von Reue.
»Und ich bin deine letzte Rettung?«
»Nein, absolut nicht, Rachel!« Er sah mich fassungslos an. »Das ist mir gerade eben erst eingefallen, ernsthaft. Du bist die superfancy Zufallskandidatin, bevor ich dann meine Liste mit den Notoptionen durchgehe.«
»Oh.«
»Na ja, lass es dir mal durch den Kopf gehen.«
Wir wechselten das Thema, sprachen über allen möglichen Quatsch, und als ich mit dem 23-Uhr-Bus nach Hause kam, saßen meine Eltern gemeinsam am Küchentisch. Der Mann, dem das Bürogebäude meines Vaters gehörte, hatte sich in der Lee ertränkt. Das stand im Evening Echo. Dad hatte den Vermieter nie getroffen, es war immer alles über einen Anwalt gelaufen. Meine Eltern machten sich Sorgen, dass die Witwe des Mannes die Miete erhöhen oder das Gebäude verkaufen könnte.
In den vergangenen Jahren habe ich auch andere Iren immer mal gefragt, ob sie sich an all die Selbstmorde von Geschäftsleuten damals erinnerten. Sie sagten alle, Nein, nicht wirklich. Vielleicht habe ich die falschen Leute gefragt, oder sie haben alle dieses Kapitel vergessen. Vielleicht war Cork besonders schwer betroffen, oder die Rezession war lediglich eine abstrakte Idee und kein reales Ereignis, über das alle tagtäglich miteinander sprachen.
»Ich ziehe aus«, verkündete ich, und meine Mutter sah mich an, als hätte ich gerade ein Glas Tomatensoße auf den Boden geworfen und würde mit der Ausrede darüber hinweghüpfen, dass draußen ein Taxi auf mich warte.
»Mit wem denn?«
»Einem Typen von der Arbeit.«
Diese Taktlosigkeit. Ich würde am liebsten in ein Auto steigen und mich selbst in Brand setzen. Es bringt mich dazu, mein eigenes, noch ungeborenes Kind anzuschreien: Wag es nicht, mich auf diese Weise alleinzulassen.
»Ihr zwei müsst euch doch ohnehin verkleinern«, sagte ich. Und das stimmte. Wir hatten fünf Schlafzimmer, das meiner Eltern, meins, Christophers, Kevins und ein weiteres Zimmer, das wir als kleines Büro nutzten. Und draußen befand sich noch ein Whirlpool, ein Geburtstagsgeschenk meines Vaters zum 40. meiner Mutter. Sie hatten ständig davon gesprochen, das Haus zu verkaufen.
»In ein paar Jahren seid ihr alle fort«, hatte mein Vater gesagt. »Und dann wird dieses Haus noch weniger wert sein.«
Meine Mutter hakte an dieser Stelle immer ein. »Oder mehr«, sagte sie dann. »Man kann nie wissen, was passiert.«
Meine Mutter funkelte mich an. Sie hasste mich für meine verräterische Mitwirkung am Verkleinerungsvorhaben. Aber es war zu spät, ich hatte mich entschieden.
Ich kam mit meiner Wäsche zu Weihnachten nach Hause. Ich erinnere mich, dass sie mir da älter vorkamen, aber niemand konnte so sehr in zehn Tagen altern. Die Wahrheit war, dass ich extrem behütet aufgewachsen bin. Ich hielt meine Eltern für die riesigen Köpfe auf den Osterinseln, und ich musste erst drei Kilometer weit wegziehen, um zu erkennen, dass sie die ganze Zeit nur Menschen gewesen sind.
»Zwanzig ist etwas spät, um das zu realisieren«, sagt James. Womit er vermutlich recht hat.
Eine Nachricht von James:
Wie läuft’s mit dem Kacken, Babydoll?
Der siebte Monat hat mir Verstopfungen beschert, und die einzigen Menschen auf der Welt, die davon wissen, sind mein Mann und James Devlin. Ich bin normalerweise nicht die Art Frau, die übers Kacken redet. Aber es gab bisher keine Phase dieser Schwangerschaft, in der ich James nicht jede Regung, jedes Symptom erzählt habe.
Shandon Street ist ein historisch armes Viertel von Cork City, allerdings auf eigentümliche Weise malerisch. Es gibt dort lauter alte Häuser, aber auch moderne Varianten auf vergangene Architekturstile. Ein Theater im Stil eines Pantheons, eine alte Markthalle, die man nur als Butter Exchange kannte, eine Kirche mit echten Glocken und einem riesigen Fisch auf dem Kirchturm.
Das Haus selbst war ein kleines Cottage, das für die tuberkulösen Familien der 30er-Jahre gebaut worden war, das einzige Badezimmer lag im Erdgeschoss und war nur durch die Küche zu erreichen. Im Obergeschoss befanden sich zwei kastenförmige Schlafzimmer, jedes groß genug für ein Doppelbett, einen Kleiderschrank aus Kiefernholz und eine Schubladenkommode. Für mich schien es kein »besseres Zimmer« zu geben. James jedoch hatte schon an viel mehr Orten gelebt – fünfzehn Wohnungen in 22 Jahren –, daher wusste er genau, wie man eine Bestandsaufnahme macht. Er sah Details, die ich nicht sah: wo die Morgensonne am besten einfiel und an welcher Stelle sich das Fenster zu nah am Kopfende des Bettes befand.
»Willst du das Zimmer, das am nächsten an der Treppe liegt?«, fragte er mich auf eine Weise, sodass es schien, als wäre das Zimmer nahe der Treppe das beste Zimmer und er vollkommen selbstlos, es mir anzubieten.
»Klar«, sagte ich und warf eine schwarze Mülltüte voller Klamotten auf das Bett, wo sie wie eine pralle Teigtasche aufplatzte und ihren Inhalt freigab.
Die Heizkörper in unseren Schlafzimmern funktionierten, aber unten gab es nur einen geziegelten Kamin und eine kleine Sammlung von mobilen Heizgeräten unter der Treppe. Das Wohnzimmer war ein riesiger Raum mit zwei Sofas, einem Esstisch für sechs Personen, einer niedlichen Küche und einem Zugang zu einem kleinen Hof. Dort befand sich sogar noch ein Kräutergarten vom Vormieter.
Ich konnte nicht glauben, dass wir nur 600 Euro dafür zahlten. Inzwischen weiß ich, dass das Haus unglaublich heruntergekommen war, dass ein Herd mit nur zwei Gasfeldern inakzeptabel ist und dass der Einzug in ein unbeheiztes Haus mitten in der erbarmungslosen Kälte eines irischen Winters keine weise Entscheidung war. Diese Dinge wären mir heute wichtig, damals aber bedeuteten sie mir nichts, und auch wenn ich den Großteil des folgenden Jahres betrunken und unterernährt verbracht habe, frage ich mich manchmal, ob es mir nicht sogar besser ging, als mir all das nicht wichtig war.
James besaß einen iPod, einen von diesen großen klobigen, die damals schon alt waren, und er ließ mich entscheiden, was unsere Einzugshymne werden sollte. Ich fuhr mit dem Finger über die vertrackte kreisförmige Bedienung und hatte Angst, etwas Falsches auszuwählen, obwohl es ausschließlich James’ Musik und somit schlicht unmöglich war, danebenzuliegen. Inzwischen ist mir klar, dass, wenn James wirklich daran gelegen gewesen wäre, dass ich ihn für heterosexuell hielt, er mich niemals durch seinen iPod hätte wuseln lassen. Die Auswahl war ein seltsamer Mix: irgendwas zwischen mittelalter Hetero und mittelalter schwuler Mann. Cher kuschelte mit Creedence Clearwater Revival, die Eagles mit Elton John. Das Einzige, was annähernd zu unserer Generation gehörte, war Britney Spears.
Ich wählte »Cecilia« von Simon & Garfunkel. Ohne Grund, mir gefiel einfach das Wort »Jubilation!«, das im Song ständig vorkommt, denn genauso fühlte ich mich, obwohl ich viel zu schüchtern war, um das zuzugeben.
Wir positionierten den Lautsprecher im Gang und bezogen unsere Zimmer. Plötzlich wurde ich mir meiner selbst sehr bewusst und wurde ungelenk in meinen Bewegungen, als würde ich im Big-Brother-Haus auspacken und genau wissen, wie die Zuschauer das Zusammenfalten meiner Unterhosen interpretieren würden.
Das Gefühl hielt zwei Minuten und 55 Sekunden an, bis »Cecilia« endete und sofort von Neuem einsetzte.
»Drecksscheiß«, rief James und ging hinaus in den Flur. Der Bildschirm war eingefroren, wodurch »Cecilia« in Endlosschleife lief. »Das macht es manchmal«, sagte er, und eine kaum sichtbare Rötung stieg seinen Hals hinauf.
»Verdammtes, nutzloses Scheißteil.« Er hasste es, etwas Schlechtes zu besitzen. Wirklich gut, dass er inzwischen reich ist, denn Armut hat ihm nie wirklich gestanden.
»Macht nichts«, sagte ich.
Also hörten wir »Cecilia« noch mal. Und noch mal. Wir begannen mitzusingen, und unsere Stimmen hallten vom billigen Putz zurück. Beim achten Durchgang besuchten wir uns gegenseitig in unseren Zimmern, um kunstvoll lippensynchron zu singen, unsere Glieder wirbelten herum und klammerten sich mit aller Kraft an den Song. Wäre er ein Telefonbuch gewesen, hätten wir es zerrissen.
Nach dem sechzehnten »Cecilia« hatten James und ich unsere Beziehung zur Welt gebracht, und sie wanderte durchs Haus wie ein verklebtes, neugieriges Fohlen. Wir nahmen die Habseligkeiten des anderen in die Hand – hässliche T-Shirts, prätentiöse Bücher, aufbewahrte Konzerttickets –, immer begleitet von derselben Frage: Was zum Geier ist das?
»Was zum Geier ist das denn?«, fragte ich, als ich eine Kollektion Bandanas fand.
»Und was zum Geier ist das?«, fragte er und nahm mein Exemplar von The Pumpkin Eater von Penelope Mortimer in die Hand.
»Was zum Geier ist das?«, gab ich zurück, nachdem ich die obere Hälfte einer Subway-Schürze fand.
»Was zum Geier ist das?«, prustete er, nachdem er eine Packung Femfresh-Feuchttücher gefunden hatte, die im Willkommenspaket der Uni enthalten gewesen war und der ich zu wenig zutraute, um sie zu benutzen, die ich aber nie wegwarf, da ich zu viel Angst vor meiner eigenen Vagina hatte.
Was wir uns eigentlich fragten, war natürlich: Wer bist du? Wer warst du damals? Passt es dir, dass wir auf diese Weise zusammenwohnen? Auch wenn das heißt, dass ich dich für deinen Büchergeschmack runtermache? Wie bist du bloß von Subway gefeuert worden? Bist du wirklich eine von diesen Frauen, die ihre Vulva mit parfümierten Tüchern reinigt?
Wir waren so beschäftigt damit, uns ineinander zu verlieben, dass ich vollkommen vergaß, dass Jonathan gegen fünf vorbeikommen wollte. Dabei war einer der Hauptbeweggründe für meinen Auszug Sex gewesen. Wir hatten beide den Großteil unserer Collegezeit zu Hause gelebt und waren immer noch auf Partys, geparkte Autos und den Zeitplan unserer Eltern angewiesen, um es miteinander zu tun. Am College Sex zu haben, wurde auf die Dauer auch etwas anstrengend. Es auf einer Campus-Toilette zu treiben, ist beim ersten Mal aufregend, wenn man sich dann regelmäßig auf »unserer Toilette« verabredet, hat das etwas Deprimierendes.
Jonathan klingelte an der Tür und landete auf einer Entbindungsstation für Insiderscherze. Ich schlang meine Arme um ihn, überdreht und schwitzend, voller Freude, ihn in meine neue Welt zu ziehen, einfach nur, damit die neue Welt einen weiteren Zeugen hatte.
»Das ist James!«, erklärte ich. Sie grüßten einander freundlich genug, doch als ich zwischen den beiden so hin- und hersah, erfasste mich eine Welle der Abneigung meinem Freund gegenüber, mit dem ich seit zwei Jahren zusammen war. Er hatte keinerlei besondere Merkmale. Er hatte Augen und Lippen und eine Nase, aber es sah aus, als wären sie alle von Bauhaus-Designern geschaffen, penibel glatt gezogen, um eine Funktion zu erfüllen und sonst nichts. Wer auch immer James zusammengesetzt hatte, hatte zumindest etwas gewagt. Er hatte etwas Zwergiges an sich, große Augen und dicke, schwarze Augenbrauen in einem Gesicht, das mal elfenhaft, mal aufgedunsen war, je nach der Woche, die er gerade durchlebte. Er hatte die Nase eines alten Mannes mit tiefen Kerben um seine Nasenlöcher. James sah nach etwas aus, das die meisten von uns als »Emo« beschreiben würden, aber es bedeutete lediglich, dass ihm seine Kleidung passte und sie von Topman war.
Ich umarmte Jonathan noch mal und zog die Nummer der hingebungsvollen Freundin ab, um meine neuen Gefühle fortzuspülen. Er wirkte grau wie ein Pilz. Er küsste mich auf die Stirn. »Dann führ mich mal rum!«, sagte er. Es dauerte keine dreißig Sekunden, bis wir nach oben gingen, ich ihm mein Zimmer zeigte, die Matratze noch nicht bezogen, und mein Shirt auszog. Vor allem, weil ich so geschwitzt hatte und nicht wollte, dass er mich roch.
Mit zwanzig in einer längeren Partnerschaft ist der Sex der deprimierendste überhaupt. Als Teenager sind zumindest alle bereit, anspruchslos zu sein. Beide Seiten sind peinlich berührt, niemand weiß, was er tut, und es wird unentwegt gefragt »Alles okay?« und »Fühlt es sich gut an?«. In gewisser Weise war mein Sex als Teenager erwachsener als alles, was zwischen 18 und 20 stattfindet, wenn Männer sich viel zu sicher wähnen, dass sie die unschlagbare Formel gefunden haben. Jonathan hatte eine Freundin vor mir und erzählte mir, dass sie ohnmächtig geworden sei, als er sie untenrum befriedigte. Das bedeutete natürlich, dass ich auch ohnmächtig werden musste oder zumindest nahezu. Ich war genervt von mir selbst, es nicht stärker zu genießen. Das Ganze fühlte sich sehr kitzelig und einsam an.
Wenn man als junge Frau über sein Sexualleben spricht, ist es durchaus verlockend, sich in kleinen melancholischen Exkursen darüber zu verlieren, wie man mit schweren Lidschlägen an die Decke gestarrt hat, während ein stumpfer Kerl heftig in einen hineinstieß. Leider glaube ich nicht, dass ich irgendetwas in dieser Art sagen kann und damit durchkomme. Der Sex war unbefriedigend, ich aber wie besessen davon, welchen zu haben. Ich war immer oben und grunzte wie ein gestochenes Schwein. Wenn jemand Jonathan morgen erzählen würde, dass Rachel Murray gesagt habe, er sei ein schlechter Liebhaber gewesen, würde er lachen und sagen, dass er sich ins Knie ficken und verpissen soll. Ich glaube nicht, dass ihm das auch nur eine Sekunde lang in den Sinn kommen würde.
»Wie kommst du mit deinem Mann zurecht?«, fragte Jonathan hinterher, als wir auf dem Bett lagen.
»Mit James? Großartig!« Und dann schob ich behutsam hinterher: »Ich glaube, wir werden gute Freunde.«
»Wirst du jetzt eine von diesen Schwulenmuttis?«, fragte er. »Wie in dieser Sitcom, Will & Grace?«
(Habt Nachsicht: 2009 hat man das für einen ausnehmend geistreichen Scherz gehalten.)
»Glaubst du, er ist schwul?«, fragte ich und bemühte mich, aufrichtig zu klingen.
Er sah mich an und machte sich nicht mal die Mühe zu argumentieren. Er hob nur eine Augenbraue und sagte, »Echt jetzt?«.
»Wie kommst du auf die Idee?«, setzte ich nach. Seit meinem Fauxpas in der Sober Lane interessiert mich extrem, was eine Person homosexuell wirken ließ. Keiner von uns beiden hatte zu diesem Zeitpunkt homosexuelle Freunde. Es gab sicherlich Schwule und Lesben, Bekanntschaften und Menschen, die man einfach ab und an sah, doch aus irgendeinem Grund haben wir uns nie mit jemandem von ihnen richtig angefreundet.
Wir waren vollkommen von der homosexuellen Szene abgeschnitten und zugleich absolut sicher, was James betraf.
»Ich habe Augen«, sagte Jonathan schlicht und machte sich kurz danach auf den Weg.
Wir bestellten Pizza zum Abendessen, und James stöpselte seinen Fernseher plus DVD-Player ein. Die einzigen DVDs, die er besaß, waren drei Staffeln Frasier.
»Dein Freund denkt, ich sei schwul!«, sagte er emotionslos.
Ich wartete einen Moment, bevor ich antwortete. »Nein.«
Er hielt die DVD an, und Kelsey Grammers verzerrtes Gesicht gefror an der Stelle, als er über die Fitnessclub-Mitgliedschaften in Seattle schimpfte. »Hör zu«, sagte James, als würde er nun eine wichtige Hausregel verkünden, so etwas wie keine Schuhe auf dem Teppich. »Ich bin so queer wie die nächste Dragqueen, das weiß ich, aber ich bin nicht schwul.«
Ich lachte unbeholfen.
»Wenn ich wirklich schwul wäre, würde ich dann nicht einfach schwul sein?«
Ich nickte. Das ergab Sinn. Wenn man mit Cher in den Ohren durch die Gegend läuft, hat man vermutlich intensiver darüber nachgedacht, ob man sich zu Männern hingezogen fühlt, als der Rugby-spielende Alpha-Macho. Ich empfand James als extrem fortschrittlich, als jemanden, der alle Winkel seiner Seele ausgelotet hatte. Er war emotional zu intelligent, um darauf hängen zu bleiben, welche Musik oder welches Verhalten schwul oder hetero wirkte.
In dem Augenblick war er nicht nur eine Person für mich. Er war die Zukunft der Menschheit.
Die Wahrheit war, dass er Angst hatte.
»Was war denn dein eigentlicher Plan?«, fragte ich ihn Jahre später.
»Abwarten, bis ich wegziehen konnte«, sagte er. »Und dann irgendwohin, wo mich niemand kennen würde.«
Was er dann auch getan hat. Was wir beide getan haben.
Aber ich greife vor, denn bevor irgendwas von alldem geschehen sollte, war da zunächst die Sache mit Dr. Byrne.
Dr. Byrne war der einzige andere Mann in meinem Leben, dessen Meinung mir wichtig war. Wenn ich nicht an James’ Lippen hing, klammerte ich mich an die von Dr. Byrne. Jonathans Ansichten mussten mir irgendwann auch mal wichtig gewesen sein. Doch da die Hundejahre einer studentischen Beziehung so sind, wie sie nun mal sind, hatte ich längst jeden Respekt für ihn verloren. Wir verhielten uns bereits so, als führten wir seit Jahren eine funktionale, aber ruppige Ehe.
Dr. Byrne kleidete sich, als würde er einen Uniprofessor darstellen. In meiner Erinnerung hat er Flicken an den Ärmeln seines Mantels. Es kann sein, dass ich mir dieses Detail nur ausgedacht habe, aber alles an ihm schrie geradezu Flicken am Mantel. Als ich ihn das erste Mal sah, war er zehn Minuten zu spät und schwitzte. Er schien wütend auf uns Erstsemester zu sein, weil wir die Frechheit besaßen, um 9 Uhr morgens zu einem Kurs zu erscheinen.
Morgens war er einfach unausstehlich, was ich darauf zurückführte, dass er ein sehr stämmiger Mensch war, 1,95 m groß und extrem breit, mit der Statur eines Bauern. Schon seit meiner Jugend hatte ich die Vorstellung im Kopf, dass der Körper eines Menschen eine Fabrik sei, ein großer edwardianischer Arbeitsplatz, und dass jeder Mitarbeiter bequem an seinem Posten sitzen muss, bevor der Arbeitstag beginnen kann. Je größer der Mensch ist, desto länger sind die Wege der Arbeiter: Sie müssen Treppen erklimmen und Flure entlanglaufen. Das war meine Erklärung dafür, dass ich morgens so schlecht gelaunt bin, und ich war gern bereit, es Fred Byrne ebenso auszulegen.
»Ach genau«, begann er. »Die Viktorianer.«
Er fuhr sich mit dem Handballen über die Stirn und versuchte, eine Schweißperle davon abzuhalten, auf das Rednerpult zu tropfen.
»Wer unter Ihnen kennt Sherlock Holmes?«
Ihm war bewusst, dass die meisten von uns ihr Studium am Ende des ersten Jahres abbrechen würden. So ist es eben in den Geisteswissenschaften. Viele lieben sie wegen der Abwechslung, können aber ihre trostlose Nutzlosigkeit nicht ertragen. Und wenn im Februar die Kater und Depressionen einsetzen, kann man nur schwer rechtfertigen, dass man sich aus dem Bett quält, um Kronos beim Vertilgen seines Nachwuchses zu folgen. Dr. Byrne brannte leidenschaftlich für sein Fach, wollte aber gleichzeitig keine Energie verschwenden, und so verbrachte er die ersten Stunden damit, uns gerade so viel über die viktorianische Zeit beizubringen, dass es uns eines Tages bei einem Pub-Quiz nützlich sein könnte.
Nachdem seine Frage mit Schweigen quittiert worden war, wiederholte er sie. Es war noch vor Benedict Cumberbatchs Siegeszug in der BBC und somit eine kulturell ausnehmend trockene Zeit für Mr. Holmes, und wir wussten nicht sonderlich viel über ihn.
»Detektiv«, rief jemand.
»London«, sagte ein anderer.
Langes Schweigen.
»Drogen«, sagte schließlich einer der Jungs, und es gab Gekicher, weil wir achtzehn waren und uns einbildeten, wir hätten die Drogen erfunden. »Hat der nicht Drogen genommen?«