Alle an Bord - Hansen Hoepner - E-Book

Alle an Bord E-Book

Hansen Hoepner

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Beschreibung

Ahoi! Die unerschrockenen Zwillingsbrüder Hansen und Paul Hoepner sind wieder auf großer Abenteuerreise und haben wie immer einige besondere Herausforderungen im Gepäck: Nicht nur wagen sie sich diesmal auf Wasser und somit für sie weitgehend unbekanntes Terrain. Angesichts der drohenden Klimakatastrophe werden sie ihre fünfmonatige Schiffsreise durch Europa zudem CO2-neutral bestreiten, unter anderem mithilfe nachhaltiger Self-Made-Energiequellen auf dem Schiffsdach. Tausende emissionsfreie Kilometer im selbst umgebauten Motorsegler über die Donau und entlang der Schwarzmeerküste, durchs Mittelmeer und westeuropäische Flussläufe zurück nach Deutschland sind den Brüdern allerdings nicht Abenteuer genug. Sie unternehmen die Reise in einer Konstellation, an die sie sich bisher in keinem ihrer zweisamen Zwillingsabenteuer herangewagt hätten: Pauls Lebensgefährtin, die Sozialpädagogin Anna König, ist unverzichtbarer Bestandteil der Abenteuer-Crew. Sie recherchiert nachhaltige und pädagogische Initiativen, die das Team in ganz Europa auf seiner Route besucht. Mit dabei sind außerdem Pauls und Annas Tochter Momo, sowie Ronny, Hansens aus der Ukraine geretteter Hundemischling. Wir dürfen gespannt sein, was die fünf unterwegs erwartet – und ob Platz (und Nerven) reichen für #alleanbord!

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Seitenzahl: 516

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Buch

Ahoi! Die Zwillingsbrüder Hansen und Paul starten gemeinsam mit Anna, Pauls Partnerin, in ein neues Abenteuer. Diesmal geht es auf dem Wasser durch Europa, CO2-neutral soll die Reise außerdem sein. Wie sie das anstellen? Unter anderem mithilfe riesiger Solar-Segel, die sie faltbar auf ihrem selbst umgebauten Motorsegler montiert haben. Der Plan: Tausende emissionsfreie Kilometer über die Donau und entlang der Schwarzmeerküste, durchs Mittelmeer und westeuropäische Flussläufe zurück nach Deutschland. Sie unternehmen die Reise in einer für alle ungewohnten Konstellation: Denn mit an Bord sind außerdem Pauls und Annas Tochter Momo sowie Ronny, Hansens aus der Ukraine geretteter weißer Schäferhund. Kann das gutgehen?

Autoren

Hansen Hoepner, geboren am 6. April 1982 in Singen am Hohentwiel, studierte in Maastricht Produktdesign, Goldschmiede und Fotografie. Seit 2014 arbeitet Hansen an dem Kreativprojekt »KAOS« mit und hat sich dort mit einer Werkstatt für Goldschmiede und Produktdesign selbstständig gemacht. Paul Hoepner, am 6. April 1982 ganze fünf Minuten nach seinem Bruder Hansen geboren, hat nach dem Abitur ein Jahr in Australien verbracht, anschließend Mediendesign in Köln studiert und in Berlin als Web- und App-Konzeptioner gearbeitet. 2015 schloss er den Studiengang »Human Factors« an der TU Berlin ab. Vom abenteuerlustigen Zwillingsgespann erschienen zuletzt die Reiseberichte Zwei nach Shanghai und Zwei um die Welt.

Anna König, geboren 1991 in Tübingen, ist Sozialpädagogin und studiert im Master Theater-Pädagogik. Neben dem Studium widmet sie sich ihrem Töpferlabel studio.roiii. Sie arbeitet und lebt mit Paul und ihrer gemeinsamen Tochter Momo in Berlin.

Hansen & Paul Hoepner

gemeinsam mit Anna König

mit Unterstützung von Valerie Gorris

Mit digitaler Karte

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe Mai 2024

Copyright © 2024: Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Chris Thomas

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Caroline Mackintosh

Bildrechte (Bildinnenteil): wenn nicht anders gekennzeichnet: © privat

EB ∙ AnG

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-29448-9V001

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Der Bosporus

Istanbul, 20. Juli 2022, Tag 349

Teil I

Ahoi von der Crew

Anna, Paul und Momo auf der Donau

Wien, 8. Dezember 2022, Tag 125

Hansens Auszeit

Von Wien nach Berlin, 12. Dezember 2022, Tag 129

Berlin bis Wien

Berlin, 5. August 2022, Tag 1

Vor der Abreise

Lübeck, März 2022, 142 Tage vor Abfahrt

Anna, Paul und Momo auf der Donau

Baja, 8. Januar 2023, Tag 156

Hansens Auszeit

Berlin, Januar 2023

Berlin bis Wien

Minden, 15. August 2022, Tag 10

Vor der Abreise

Berlin, 27. Juni 2022, 39 Tage vor Abfahrt

Anna, Paul und Momo auf der Donau

Plankenburg, 25. Januar 2023, Tag 173

Hansens Auszeit

Berlin, 2. März 2023, Tag 209

Berlin bis Wien

Düsseldorf, 20. September 2022, Tag 46

Anna, Paul und Momo auf der Donau

Eisernes Tor, 3. April 2023, Tag 241

Hansens Auszeit

Berlin, April 2023, Tag 248

Berlin bis Wien

Neuss, 11. September 2022, Tag 37

Vor der Abreise

Berlin, 22. Juli 2022, 15 Tage vor Abreise

Anna, Paul und Momo auf der Donau

Silistra, 27. April 2023, Tag 265

Hansens Auszeit

Von Berlin nach Konstanza, Rumänien, 25. Mai 2023, Tag 291

Berlin bis Wien

Frankfurt, 9. Oktober 2023, Tag 65

Anna, Paul und Momo auf der Donau

Călărași, 27. April 2023, Tag 265

Vor der Abreise

Berlin, 1. August 2022, 4 Tage vor Abfahrt

Berlin bis Wien

Obernzell, 23. Oktober 2022, Tag 79

Anna, Paul und Momo auf der Donau

Konstanza, 2. Mai 2023, Tag 270

Hansens Auszeit

Timisoara, 27. Mai 2023, Tag 295

Teil II

Konstanza

Konstanza, Juli 2023, Tag 339

Bulgarien und die türkische Grenze

Burgas, 6. Juli bis 18. Juli 2023, Tag 335

Backflash

Wie meine Mama starb

Ahoi Türkei

Bosporus und Istanbul, 19. bis 25. Juli 2023, Tag 348

Über das Marmarameer ins Mittelmeer

Istanbul, 23. Juli 2023, Tag 352

Das Mittelmeer

Dalyan, 7. bis 22. August 2023, Tag 367

Samos, Fournoi und Ikaria

Chios, 20. August bis 10. September 2023, Tag 380

Backflash

Nordsee, 1998, 8718 Tage vor der Abreise

Ikaria und Mykonos

Ikaria, 10. bis 18. September 2023, Tag 401

Mykonos, Tinos & Gyaros

Mykonos, 20. bis 24. September 2023, Tag 411

Backflash

Berlin, 2022, 130 Tage vor Abfahrt

Ankunft in Athen

Gyaros, 25. bis 28. September 2023, Tag 416

Epilog

Berlin, 2. November 2023, einen Monat nach Rückkehr

Widmung & Danksagung

Bildteil

Vorwort

Paul

Im Jahr 2012 brachen mein Zwillingsbruder Hansen und ich zu unserem ersten großen Abenteuer auf: einer Radtour von Berlin nach Shanghai. Naiv und mittelmäßig vorbereitet stiegen wir in Berlin auf unsere Räder und kamen entgegen allen Erwartungen, inklusive unserer eigenen, nach 13.600 Kilometern in Shanghai an. Ein Aufkleber auf einer Berliner Bartoilette, den ich vor ein paar Wochen entdeckt habe, fasst unser Erlebnis perfekt zusammen: »Machen ist wie denken, nur krasser.«

Und »Machen« wurde zu unserem Mantra. Bei der nächsten Reise wollten wir noch weniger denken, noch weniger vorbereiten: Wir wollten in 80 Tagen einmal unseren wunderschönen Planeten umrunden und das ohne Geld. 17 Länder und 104 Tage später betraten wir wieder deutschen Hauptstadtboden. 2017 begannen wir, unser nächstes Abenteuer Zwei im Eis umzusetzen. Mit einem selbst gebauten, pedalbetriebenen Amphibienfahrzeug sollte es durch Alaska gehen. Für vier Jahre verkrochen wir uns in unsere Werkstatt und entwickelten ein komplett neues Mobilitätskonzept: Urmel, wie wir das Fahrzeug tauften, kann rollen, laufen, klettern, rutschen und schwimmen. Wir wollten gerade zur Testfahrt in Norwegen aufbrechen, da kam Corona. Die Welt hielt den Atem an und wir mit ihr. All unsere Pläne wurden durchkreuzt. Aus Zwei im Eis wurde Zwei auf Eis – bis es uns zu kühl wurde: Wir holten tief Luft und machten das, was wir am besten können: Wir entwickeln Ideen. Wie konnten wir helfen? Was konnten wir tun? Der »SaniBall« wurde geboren, ein auffüllbarer, magnetischer Flüssigkeitsspender zur Handdesinfektion in Form eines kleinen, hochwertigen Silikonballs. Unsere Maßnahme gegen die Plastikflut durch Einmal-Desinfektionsfläschchen.

Und eine weitere Geburt kündigte sich an, diesmal nicht die eines Produktes, sondern die von Momo, Anna und meiner Tochter. Plötzlich sahen wir uns konfrontiert mit der Macht der Routinen und Erwartungen der Gesellschaft. Zwar plädierten Hansen und ich auf unzähligen Vorträgen und Workshops weiter für mehr Abenteuer im Leben, waren aber selbst viel zu lange nicht mehr da draußen. Es kribbelte uns in den Fingern und im Herzen, und wir fragten uns: Sind wir selbst überhaupt noch Abenteurer? Lehnen wir uns jetzt zurück, nur weil die Rahmenbedingungen nicht mehr passen?

Abenteuer mit Baby geht nicht? Glauben wir nicht! Unser neues Abenteuer, Alle an Bord, wurde geboren.

Mit einem selbst mit Solarsegeln und Elektroantrieb umgerüsteten Segelboot namens Ulla wollen wir 10.000 Kilometer so nachhaltig wie möglich quer durch Europa fahren – über den Rhein und den Main in die Donau bis ins Schwarze Meer. Von dort soll es über Istanbul und das Mittelmeer gehen, weiter bis zur Mündung der Rhône bei Marseille und dann über den Rhône-Rhein-Kanal und den Rhein zurück nach Berlin. Dabei wollen wir möglichst wenig CO2 produzieren und, was wir dennoch erzeugen, doppelt kompensieren. Dazu nutzen wir eine Methode namens »Direct Air Capture«, bei der CO2 mit erneuerbaren Energien direkt aus der Luft gefiltert und dann unter die Erde gebracht wird.

Während wir in die Planung einstiegen, mussten Hansen und ich uns nach zwei Jahren Corona eingestehen: Den SaniBall bekamen wir allein nicht in die Luft. Durch eine glückliche Fügung lernten wir die Unternehmensgruppe Business by Nature (BBN) kennen. Ihr Ziel ist, nicht zeitgemäßen Zuständen in der frühkindlichen Bildung mit einem innovativen, ganzheitlichen Ansatz zu begegnen. Das Match war perfekt, denn: Mit den unterschiedlichen Unternehmen in der Gruppe konnten wir sowohl den SaniBall als auch andere zukunftsfähige Erfindungen und sogar unser neues Abenteuer umsetzen und es zu einem nachhaltigen und pädagogischen Abenteuer machen. Die Idee: Kinder und Jugendliche aus ganz Europa sollen uns bei unserer Reise begleiten und aktiv an der Umsetzung beteiligt werden. Dazu arbeiten wir mit dem Bildungsverein Forum Via zusammen, über den wir Schulklassen an der Planung des Projektes beteiligen. Außerdem wollen wir Kinder und Jugendliche über soziale Netzwerke ansprechen, sie vor Ort besuchen, Workshops mit ihnen machen und ihnen von unserem Vorhaben und Erfahrungen berichten. Über BBN haben wir Kontakt zu Kita-Gruppen bekommen. Finanziert wird das Projekt zum größten Teil aus eigenen Mitteln. Parallel arbeiten wir für BBN aber auch weiter an anderen Projekten im Bereich Nachhaltigkeit und Produktentwicklung.

Heute stehen wir zum ersten Mal nach sieben Jahren wieder davor, auf eine verrückte Reise aufzubrechen, und zwar auf eine gigantische. Einige würden vielleicht sagen: Eine Reise auf einem Boot durch das sichere Europa ist doch kein Abenteuer! Elektroantrieb ist ja auch nichts Neues – und als Familie zu reisen doch wohl auch eher eine Art Urlaub als eine Herausforderung. Und ehrlich gesagt war das auch eine unserer Sorgen, als wir mit der Planung am Anfang standen. Aber mittlerweile ist klar: Die eigentliche Herausforderung liegt in der Kombination dieser Aspekte: in der Konstellation der Crew, denn dieses Mal starten wir unsere Reise nicht nur zu zweit, sondern in einer Gruppe, mit einem Schiff, das improvisierter und technisch kaum herausfordernder sein könnte, und mit einer nachhaltigen Mission, die uns zusätzlich viel abverlangen wird. Aber so wollen wir es: Unser technisch gewagtes, nachhaltiges und pädagogisches Abenteuer kann ablegen. Alle an Bord?

Übrigens gibt es zu unserem Buch eine digitale Karte. Auf der könnt ihr anhand der Seitenzahl im Buch genau schauen, wo wir gerade waren und zusätzlich tolle Videos und Bilder sehen.

www.hoepner-hoepner.de/aab-karte/

Der Bosporus

Istanbul, 20. Juli 2022, Tag 349

Paul

»Ob wir da drunter durchpassen?«, fragt Hansen gespielt skeptisch. Über uns donnern die Lastwagen und Autos über die Yavuz-Sultan-Selim-Brücke. Sie ist so weit über uns, dass es wirkt, als fliege dieses gigantische Bauwerk. Hansen löst den Blick von der Brücke und richtet ihn wieder auf die Meerenge vor uns. »Krass, dass wir es bis hierher geschafft haben, der Bosporus, Alter!«

Wir haben uns dafür entschieden, unsere Solaranlagenkonstruktion, die Sonnensegel, voll auszufahren und damit rein elektrisch zu fahren. Das machen wir nur, wenn wir weder starke Winde noch heftige Wellen haben. Beides scheint uns heute unwahrscheinlich: Der eher schwache Wind hat in der Meerenge keine Möglichkeit, Wellen über lange Strecken aufzubauen.

In Berlin haben wir unser Schiff mit riesigen Solarsegeln ausgestattet. Von oben betrachtet, sind es vier Einheiten, zwei auf der Terrasse beim Heck, zwei auf dem Steuerstand in der Mitte des Schiffes. Wir können sie wie vier Flügel seitlich ausdrehen und dann mit einer Schubladentechnik weiter entfalten, sodass Ulla, wie unser Boot heißt, beinahe auf der gesamten Länge mehr als doppelt so breit wird. Die Konstruktion ist Marke Eigenbau und ein einzigartiger Hingucker.

Die Sonnensegel von Ulla lassen sich innerhalb von knapp 10 Minuten ausfahren und ergeben dann 28 Quadratmeter Solarfläche mit einer Leistung von beinahe 6000 Watt.

Hier könnt ihr euch im Zeitraffer ansehen, wie das Ausfahren der Sonnensegel funktioniert:

https://www.hoepner-hoepner.de/aab-karte/?seite=sonnensegel

Ich ziehe mir meine Schwimmweste an, binde mein Handy an ihr fest und gehe zum Beiboot, das wir hinter Ulla herziehen und Ulli genannt haben.

»Ihr kennt die Zeichen?«, rufe ich Hansen und Anna zu. Hansen richtet gerade die Solarsegel noch mal Richtung Sonne aus und zurrt sie fest. Anna steht am Steuer, Momo schläft, und Hansens großer, weißer Schäferhund Ronny macht sich sichtlich Sorgen, dass eins seiner Schafe sich wohl anschickt, die Herde zu verlassen.

»Ja, klar«, antwortet Hansen. »Pfeifen: sofort umdrehen und dich aufsammeln. Handflächen nach unten: langsamer fahren. Handflächen nach oben: schneller fahren. Schreien und winken wie ein Wilder: Achte auf meine Zeichen, du Penner.«

Ich nicke lachend und ziehe das Beiboot zur Terrasse. »Fahrt drosseln«, rufe ich Anna zu. Damit man während der Fahrt in das kleine Schlauchboot steigen kann, muss Ulla langsam fahren, sonst ist es zu gefährlich. Als ich Ulli halb unter die Heckterrasse gezogen habe, springe ich rein, löse die Leinen und fahre los. Mein Auftrag: großartige Videos von Ulla auf dem Bosporus machen.

Die Strömung ist deutlich stärker, als ich gedacht habe, und trägt mich zusammen mit Ulla weiter nach Süden Richtung Marmarameer. Ich bin angespannt. Überall sind Schiffe, aber keine Boote, die meine Größe haben. Parallel zu Ulla fahre ich in etwa 100 Metern Entfernung und filme, wie sie an gigantischen Tankern vorbeizieht, die riesigen türkischen Flaggen auf den Hügeln, die Brücken, die golden glitzernden Moscheen und die unzähligen eifrigen Fähren. Immer wieder muss ich ausweichen, für ein kleines Schlauchboot wird kein Schlenker gemacht.

Ein besonders großes Schiff kommt nun den Bosporus hoch, und ich signalisiere Anna und Hansen, dass sie langsamer fahren sollen, damit ich Ulla vor dem Monster filmen kann. Auch diese riesigen Schiffe machen kaum Wellen, also eigentlich kein Grund zur Sorge. Aber was ich jetzt sehe, macht mir Angst: Hinter dem sicher 350 Meter langen Frachter erscheint ein gigantischer Schlepper, der größte, den ich je gesehen habe. Wir hätten es wissen müssen. Schon oft auf unserer Tour waren Pilotboote und Schlepper die Boote im Hafen, die bei Yachtbesitzern Angst und Schrecken verbreiten, weil sie unverhältnismäßig große und besonders kurze Wellen machen.

Zu allem Überfluss beschleunigt der Schlepper neben dem Frachter, und ich sehe, wie sich eine gigantische Welle aufbaut. Hansen ahnt nichts, er schaut dekorativ in die falsche Richtung.

Anna reißt ihn aus seinen Träumen. Sie kommt aus dem Steuerstand, zieht Hansen an der Schulter und zeigt energisch auf die Wellen. Mir gefriert das Blut in den Adern. Die Strömung geht gegen die Wellen und staut sie noch höher auf. Ihre Kämme glitzern, und sie sind so hoch und spitz, dass sie beinahe brechen. Für Ulla an sich kein Problem, aber die Solarkonstruktion ist für derartige Wellen nicht gemacht. Es bleibt keine Zeit mehr, die Sonnensegel einzufahren. Ich sehe, wie Hansen ans Steuer springt und versucht, das Boot seitlich zur Welle zu drehen. Wir haben in der Vergangenheit festgestellt, dass auf Ulla und die Solaranlagen bei seitlichem Aufprall weniger starke Kräfte wirken. Aber es ist zu spät. Die erste Welle schmeißt den Bug von Ulla in die Höhe. Sie scheint förmlich abzuheben. Dann kracht sie in das Wellental. Die nächste Welle bricht über den Bug, und die Solarsegel werden durch den Aufprall von einer ungeheuren Wucht nach vorne geschleudert und knallen auf die Wanten. O nein, die Befestigungsseile sind gerissen, schießt es mir in den Kopf. Die Solarsegel schwingen jetzt frei, hängen schief. Die nächste Welle wirft sie nach hinten, und im darauffolgenden Wellental krachen sie, durch die gerissenen Befestigungsseile diesmal ungebremst, von ganz hinten wieder gegen die Wanten und … in genau diesem Moment schiebt sich eine große Fähre zwischen mich und Ulla. »Fuuuck«, schreie ich und gebe Vollgas. Der kleine Außenborder an Ulli hat nur vier PS, nur mit viel Geschick kann man damit ins Gleiten kommen, aber bei diesen Wellen unmöglich. Ich muss schnell um die Fähre herumsteuern, um zu sehen, was passiert ist – aber eigentlich weiß ich es schon: Das kann die Solaranlagenkonstruktion nicht überlebt haben. Und die Wanten? Wenn die Solaranlagen die Drahtseile des Masts gekappt haben, dann wird auch der Mast nicht mehr stehen. Ist Ulla noch manövrierfähig?

Teil I

Ahoi von der Crew

Wer ist eigentlich Paul?

Paul ist aus dem Lateinischen abgeleitet und bedeutet »der Kleine«. Trotzdem bin ich genau so groß wie mein Zwillingsbruder Hansen, nämlich 1,94 Meter.

Während die Bearbeiterin im Standesamt bei meinem Namen vermutlich innerlich gähnte, mussten meine Eltern bei Hansens Namen kreativ werden, um ihn durchzubekommen. »Wissen Sie das denn nicht? Also wirklich, das ist eine jahrhundertealte, nord…ische Tradition, dass einer der Söhne den Namen des Vaters, Hans, mit dem Zusatz ›-sen‹ für ›Sohn‹ bekommt.«

Keine Lüge, nur beim Wort »nordische« nuschelten sie wohl so, dass es als »norddeutsche« durchging. Und dass sich diese aus Skandinavien bekannte Tradition nur auf den Nachnamen bezieht, blieb auch unerwähnt. Stempel drauf, und aus der frei interpretierten Tradition wurde mein Bruder.

Vor circa sechs Monaten durften Anna und ich einen Namen für unsere Tochter aussuchen. Geeinigt haben wir uns auf »Momo«. Nach der Geburt habe ich herausgefunden: Der Name kommt wohl aus dem Japanischen und bedeutet »kleiner Pfirsich«. Immerhin um eine Frucht tiefsinniger als »der Kleine«.

Bis neun Monate vor Momos Geburt hatte ich keine konkreten Pläne, eine Familie zu gründen, und hätte wohl auch noch einige Jahre gebraucht, wenn ich das Thema Verhütung ernster genommen hätte. Aus Spaß wurde Klaus beziehungsweise Momo. Jetzt wäre es eigentlich angebracht, zu sagen, dass »die kleine Pfirsich« sicher das Wunderbarste ist, was mir bisher passiert ist. Aber ich glaube nicht, dass ein Vergleich mit allen anderen Erlebnissen und Ereignissen in meinem Leben angemessen wäre. Ich kann Pfirsiche weder mit Birnen noch mit Äpfeln vergleichen.

Die bisherigen Birnen und Äpfel meines Lebens waren Familie, Freundschaften, Liebesgeschichten … und Abenteuer. Das erste Date mit Anna, Momos Zeugung, die Abenteuerreisen und die Unternehmungen mit Hansen haben in meinem Leben die meisten Weichen gestellt. Und in diesem Abenteuer kommen all die Weichensteller*innen zusammen. Alle, die mich zu dem gemacht haben, der ich bin: Erfinder, Abenteurer und Papa.

Was diese Tour mit uns als Menschen machen wird, dazu haben wir uns bis jetzt, kurz vor der Abreise, kaum Gedanken gemacht. Anna und Hansen kennen sich bis jetzt nur oberflächlich. Naiv, würden manche sagen und haben damit sicher recht. »Abenteuerlich«, würden wir als Crew sagen. Nach der vielleicht anstrengendsten Zeit meines Lebens, der Vorbereitungszeit dieses Abenteuers, erhoffe ich mir von der Tour gerade nur eine Pause von dem, was in den letzten Monaten Programm war. In nur sechs Monaten vor der Abreise habe ich mit Anna ein Kind bekommen, Hansen hat sich einen Hund zugelegt, Hansen und ich sind Teil der BBN geworden, und ganz nebenbei haben wir noch ein Schiff gekauft und elektrisch umgebaut. Ich erhoffe mir von der Tour eine Pause. Dass wir uns als Crew gut verstehen. Dass wir unsere Ziele erreichen, dass wir wieder in Berlin ankommen, dass wir es in der knappen Zeit schaffen, dass wir keine technischen Probleme haben, dass mit Momo alles gut geht, sie wird sieben Monate alt sein, wenn wir ablegen. Und ich erhoffe mir, dass es so romantisch und schön wird, wie ich es mir mit Anna und Hansen immer erträumt habe. Aber ich weiß, dass es nicht so sein wird. Und das macht mir Angst. Angst davor, festzustellen, dass wir uns dieses Mal übernommen haben. Ich habe Angst davor, dass meine junge Familie diese Tour nicht als Team übersteht, dass Momo das Leben an Bord nicht mag, dass Hansen und Anna nicht warm werden miteinander, dass wir in gefährliche Situationen kommen, dass unser Antrieb versagt, dass wir das falsche Boot für diese Reise haben. Aber am meisten Angst habe ich davor, dass es die letzte Reise sein könnte, die Hansen und ich zusammen machen. Bisher war Hansen mein bester Freund und meine engste Beziehung. Das wird sich nun ändern, und ich weiß nicht, wohin uns das führen wird.

Und Hansen? Das ist doch ein Nachname, oder?

Ich bin schon immer ein Tüftler, ein Abenteurer, ein Erfinder gewesen. Jemand, der ein Problem technischer Natur als Herausforderung annimmt und recht starrköpfig, ähnlich einer Bulldogge, erst loslässt, wenn das Problem sich entweder gelöst hat oder gelöst wurde.

Ich reise für mein Leben gern. Doch das, was mir jetzt bevorsteht, ist wohl das Einzigartigste, was ich je gemacht habe. Vielleicht weil es gar nicht meine Intention war, mit einer jungen Familie und meinem Hund Ronny zusammen aufzubrechen. Viel eher wollte ich mit Paul durch Alaska reisen. Und jetzt soll es mit einem Boot durch Europa gehen?

Na gut, eins meiner Mottos ist schließlich: Veränderungen sind gut. Versuche, was dich herausfordert! Diesmal zwar nicht mit extremen Höhen, nicht mit extremer Hitze und auch nicht mit entlegenen Wüsten und Bergpässen im Himalaya. Aber zwischenmenschlich. Ich kenne Pauls Freundin Anna kaum, genau wie die Tochter der beiden. Ich kenne auch meinen Hund kaum, ich habe ihn erst vor wenigen Monaten aus Kiew bekommen.

Diese Konstellation? Auf so engem Raum zusammengepfercht? Für so lange Zeit? Das scheint mir eine Herausforderung, die ich annehmen möchte. Dazu noch ein selbst gebauter, auf Solar umgerüsteter Motorsegler? Die technische Komponente, meine Leibspeise, ist dabei, also bin ich’s auch. Los geht’s!

Die König, Anna

Ich bin Anna, die wohl unerfahrenste Abenteurerin von uns drei Erwachsenen. Ob ich weiß, worauf ich mich hier gerade einlasse? Ehrlich gesagt: nein.

Andere würden mich wahrscheinlich als spontan beschreiben, und damit liegen sie nicht falsch. Ich entscheide oft nach meinem Bauchgefühl. Hansen und ich haben uns bisher nur oberflächlich kennengelernt, eigentlich weiß ich fast nichts über ihn. Unsere Treffen kann ich bisher an einer Hand abzählen.

Ein bisschen naiv, würden andere jetzt sagen, und auch das stimmt. Ist das schlecht? Nein, ohne eine gesunde Naivität hätte ich in meinem Leben die spannendsten Herausforderungen verpasst.

Ich lege großen Wert auf Freundschaften und Familie. Mein perfekter Tag ist ein Tag mit Freunden, gemeinsamer Brunch, vielleicht ein Ausflug ins Grüne, eine Tour durch alle cuten Vintage-Läden Berlins und ein leckeres Essen im besten Thai-Restaurant Kreuzbergs. Paul ist anders, er liebt es, allein zu tüfteln, und mit Shopping kann ich ihn jagen. Deshalb waren meine Freundschaften hier in Berlin auch ein großer Teil meines Alltags. Das jetzt für längere Zeit hinter mir zu lassen, fällt mir schwer.

Freunde würden mich wahrscheinlich als sprudelndes Energiebündel beschreiben, ab und an etwas launisch und meistens ziemlich albern. Ich lebe auf jeden Fall sehr intensiv, durchlebe Höhen und Tiefen gleichermaßen extrem. Das ist manchmal kräftezehrend. Mittlerweile habe ich mich aber daran gewöhnt. Seit ich Mutter geworden bin, fühle ich mich auch geerdeter als zuvor. Ich bin angekommen. Und wer angekommen ist, kann auch wieder aufbrechen.

Nachdem ich viele Jahre als Erzieherin in einem Waldkindergarten gearbeitet habe, entschied ich mit Mitte 20, Soziale Arbeit zu studieren. Direkt im Anschluss an mein Bachelorstudium kam der Master in Theaterpädagogik.

Mein Geld habe ich nebenher als Model verdient. Seit ich denken kann, liebe ich das Theater. Ich mag es, vor und manchmal auch auf der Bühne zu sein, mag die großen Emotionen und die unterschiedlichen Geschichten, in die ich abtauchen kann. Dann kam Corona und hat alles, was mein Leben und meine Freude ausmacht, auf Sparflamme gedreht. Auch mein Master lief nur sporadisch weiter.

Paul und ich haben uns 2019 kennengelernt und direkt schockverliebt. Seitdem haben wir nie wieder voneinander losgelassen. Wie gesagt, mein Studium lag auf Eis, der Winter war kalt, und plötzlich war ich schwanger – upsi. Das kam für uns beide etwas unerwartet, gefreut habe ich mich trotzdem umso mehr.

Ich entdeckte meine Leidenschaft zum Töpfern und legte mir direkt einen Brennofen zu, experimentierte mit Ton und Formen und dem Begriff der Imperfektion. Daraus entstand dann mein Töpfer-Label Studio Roiii, wo ich seitdem meine künstlerische Seite intensiv ausleben kann und die Schönheit der Imperfektion hochhalte.

Meine Mama starb an Krebs, als ich 19 Jahre alt war. Sie war ein absoluter Familienmensch und der Anker unserer Patchwork-Bande. Eine wilde Fotografin, die die Sonne mit in jeden Raum brachte, den sie betrat. Mir war sie eine liebende Mama, lange Zeit meine beste Freundin und mein Vorbild in vielerlei Hinsicht. Ihr Tod war bisher wohl mein schlimmster Verlust. Für mich war schon lange klar, dass ich mir auch Kinder und eine Familie wünsche, und zwar am liebsten drei Stück plus einen Hund dazu. Der Tod meiner Mutter verstärkte diesen Wunsch, weil ich ihr Leuchten an meine Kinder weitergeben wollte.

Diese Reise ist für mich das erste gewagte Experiment in meinem neuen Leben als Mutter, in unserem neuen Leben als Familie. Ich bin krass aufgeregt: Ob wir uns als Team einleben? Momentan ist alles einfach nur stressig. Paul und Hansen sind durchgehend mit dem Umbau vom Boot beschäftigt, und ich kümmere mich fast allein um Momo. Ich kann es nicht erwarten, endlich loszufahren, den Stress hinter uns zu lassen und im Abenteuer anzukommen.

Meine größte Sorge ist, dass es mit Momo nicht funktioniert, dass sie das Leben an Bord nicht mag und wir deshalb abbrechen müssen, dass es weiterhin stressig bleibt, wir uns streiten und ich mich mit Hansen nicht verstehe.

Was aber überwiegt, ist meine Bereitschaft, meinen Alltag in Berlin für eine Weile zurückzulassen, mir selbst zu beweisen, dass auch als kleine Familie ein Abenteuer möglich ist. Ich werde mich mit ganzem Herzen auf diese wilde Reise einlassen. Ein Sprung ins kalte Wasser, mit verbundenen Augen, aus unbekannter Höhe. Aber was soll’s: Also, Ulla, Leinen los!

Anna, Paul und Momo auf der Donau

Wien, 8. Dezember 2022, Tag 125

Paul

Wir sind seit vier Monaten unterwegs und nun beinahe einen Monat in Wien.

Es ist Winter geworden, das Becken des Hafens ist mit einer leichten Eisschicht überzogen, und der Nebel vermischt alles zu einem trüben Einheitsgrau. Wir sind das letzte Sportboot hier in der Marina an der Donau, in dieser Jahreszeit ist nur Berufsschifffahrt unterwegs. Unser Zeitplan wirkt jetzt lächerlich, beinahe schäme ich mich für die naive Vorstellung, wir hätten die gesamte Route in sechs Monaten schaffen können. Wie lange wir wirklich brauchen werden, steht aktuell in den Sternen. Ich schaue nach oben. Die Sonne geht wohl gerade über Wien unter – ohne Sonnenuntergang.

Hansen ist vor drei Tagen von Bord gegangen. Es geht ihm nicht gut. Nach dem wohl heftigsten Streit in unserer Brüdergeschichte sahen wir keine andere Möglichkeit. Natürlich war es eine gemeinsame Entscheidung und sicher auch die richtige, aber es fühlt sich an, als hätten wir als Crew versagt.

Wie gerne ich ihm helfen würde, wieder der Alte zu werden. Aber das, was er vor sich hat, muss er allein angehen.

Ich stehe mit Akkuschrauber und Säge in der Hand auf dem Kunststoffanleger in der Marina und betrachte Ulla, wie sie vor mir liegt. Von drinnen scheint warmes Licht aus den Fenstern. Wenigstens ein bisschen winterliche Gemütlichkeit, denke ich.

Ulla ist eine Fisher Northeastern 30 und etwa zehn Meter lang. Sie ist aus den 70ern, im Design eines früheren atlantischen Kutters. Sie hat nichts von einem modernen Segelboot. Als schwimmende Villa Kunterbunt war sie oft der unbeliebte Schandfleck zwischen hochglanzpolierten Luxusyachten. Hier wird gelebt, und das sieht man. Seit wir sie auf dieser Reise auf dem Rhein flussaufwärts bei Bingen zum ersten Mal gesegelt sind, wissen wir, wie stolz sie aussieht, wenn die Aufbauten errichtet sind, wenn die rot-braunen Segel sich blähen. Aber das haben wir schon lange nicht mehr gehabt, beide Masten sind seit dem Main wieder gelegt. Wie sie nun vor mir liegt, scheint sie in Deckung gegangen zu sein, zusammengekauert. Auf Deck herrscht Chaos. Nur die Schneedecke lässt sie zumindest aus einiger Entfernung ordentlich aussehen.

Ulla ist vom Heck bis zum Bug in vier Bereiche unterteilt: Hansens und Ronnys Kajüte ganz hinten, die durch unseren Umbau zu einer regelrechten Höhle geworden ist und aus nichts als einer riesigen Liegefläche besteht: Man kommt nur kriechend durch eine kleine Tür hinein und hinaus. Mittschiffs davor liegen die Steuerkabine bzw. der Steuerstand mit Momos Krabbelplatz und dem Cockpit, das auf beiden Seiten eine Schiebetür hat. Das ist im Grunde unser Wohnzimmer. Wenn man vom Steuerstand durch einen Niedergang drei sehr schmale und steile Stufen nach unten und vorne geht, landet man in einem schmalen Durchgang im »Salon«. Links findet man ein Bett, das auch als Sitzecke umgebaut werden kann, aber das machen wir nicht mehr. Rechts ist direkt der Eingang zu einer sehr kleinen Toilette und auf derselben Seite eine winzige Kochnische mit Waschbecken und Gasherd. Am Ende des Salons führt eine kleine Tür zur Bugkajüte, in der entweder Anna oder ich mit Momo schlafen und die wie Hansens Kajüte nur eine große Liegefläche ist. Im Steuerstand liegen überall Spielzeug von Momo, Klamotten, Werkzeuge und Segelausrüstung wie Schwimmwesten, Kompass, Fernglas etc. Der Salon ist in kleinen Regalen und einem Netz unter der Decke mit allen Einkäufen und Vorräten befüllt, und hier ist auch die Garderobe. In der Kochnische hängen Pfannen und Töpfe und alles, was man zum Kochen braucht, an der Wand. Die Bugkajüte ist gemütlich mit Fellen und Decken eingerichtet. Und das alles auf nicht mehr als 18 Quadratmetern. Hier nehmen wir euch mit auf eine digitale Führung durch Ulla:

https://www.hoepnerhoepner.de/aab-karte/?seite=ullavoninnen

In den letzten Tagen habe ich versucht, das Boot startklar zu machen. Einerseits muss es für den Winter fit gemacht werden, aber vor allem müssen Anna und ich es ohne Hansen sicher fahren können – denn das bedeutet im Grunde »Einhand«. Einer von uns beiden muss bei Fahrt immer bei Momo sein, es sei denn, sie schläft. Ich habe Klampen installiert, das sind Beschläge, mit denen die Leinen befestigt werden, Löcher im Deck geflickt, die Beleuchtung und Elektrik repariert, eine Frischwasserpumpe und einen zweiten Wasserhahn dafür installiert, sodass wir mit Seewasser abwaschen können, Schimmel beseitigt, eine Tür zwischen Salon und Steuerstand eingebaut, um die Wärme besser zu halten, die Impeller-Pumpe der Motorkühlung gewechselt, die Heizung so umgebaut, dass sie auch die Bugkajüte erreicht und die warme Luft auch in entlegenen Ecken zirkuliert, die Wasserkühlung des Elektroantriebs repariert und einen Kettenspanner installiert, Lüftungsgitter im Schanzkleid eingebaut, um die feuchte Atemluft nach draußen zu leiten, ein Schloss an die Türen gebaut, die Rettungsinsel einsatzbereit montiert und vieles an der Einrichtung optimiert, um das Leben auf dem Boot einfacher zu machen. Aber das größte Projekt sind die Solaranlagen. Während ich sie bisher immer mit Hansens Hilfe ein- und ausfahren konnte, muss das nun auch ohne ihn funktionieren, und zwar sicher und schnell. In erster Linie müssen sie dazu in jeder Phase des Aus- und Einfahrens sicher arretiert werden können, ohne frei herumzuschwingen, denn mit ihren etwa 150 Kilo pro »Flügel« können sie ordentlich Kraft aufbauen und sind bei Wellen kaum zu halten. Zuletzt muss ich den genauen Ablauf des Ein- und Ausfahrens noch besser üben, damit es im Ernstfall reibungslos funktioniert. Jeder Handgriff muss sitzen. Nur drei Tage habe ich noch dafür.

Anna nutzt derzeit jede Minute, um nachhaltige Projekte entlang der Strecke zu recherchieren, Verantwortliche anzuschreiben und Besuche zu planen. Bisher haben wir unter anderem eine Schule in Minden besucht, in der die Schüler*innen ein energetisch autonomes Gewächshaus planen, und einen Waldkindergarten in Regensburg, der für unsere Reise die Gastlandflaggen selbst gemalt hat. Als Nächstes steht in Bratislava der Besuch eines Imkers an, der auf seinem Hoteldach Honig produziert.

Ich trete mit dem Fuß gegen das offene Ende einer Leine, mit der Ulla festgemacht ist. Sie ist am Steg angefroren. Seit drei Wochen herrscht klirrende Kälte. Mit Handschuhen sind die Arbeiten an der Solaranlage noch schwerer. Ich gehe gerade alles durch, was ich heute noch schaffen muss, da reißt mich Anna aus den Gedanken: »Made? Ham, ham!«

»Ich komme«, rufe ich lachend zurück. Das Essen ist fertig. Anna und ich nennen uns gegenseitig »Made«. Wir beide lieben es, zu essen, wie Maden eben. Ich sterbe vor Hunger. Geduckt klettere ich unter der eingefahrenen Solaranlage über das Schanzkleid auf Ulla, schiebe die Seitentür auf, stelle mich in den Steuerstand. »Brrrr«, kommt es von unten, »mach die Tür zu.«

»Krass, Anna, hast du schon gesehen?«, frage ich, während ich meine Sachen ausziehe. »Was denn?« »Der Hafen friert langsam zu, wenn das weiter so kalt bleibt, müssen wir hier raus.«

Ich schwinge mich vom Steuerstand nach unten in den Salon. Momo ist mal wieder auf die kleine Ablage neben dem Bett geklettert und hat ihren zuckersüßen »Ich habe etwas Freches gemacht«-Blick. Über der Ablage sind nur etwa 25 Zentimeter Platz, noch nicht mal Momo kann da aufrecht sitzen, aber sie ist mächtig stolz. Anna guckt sie liebevoll lachend an. Ich setze mich im Schneidersitz aufs Bett im Salon, klappe den Tisch runter und nehme drei dampfende Schalen von Anna an. Es gibt wie so oft »Nuis«, wie wir in Momos Sprache zu Nudeln sagen. Ich hebe Momo auf meinen Schoß und schiebe ihre Schale direkt vor sie. Mit ihren kleinen Speckfingern fängt sie an, sich die Nudeln in den Mund zu schieben.

»Ich muss heute Abend wieder länger machen«, sage ich zu Anna. »Ich will die Solaranlagen fertig machen, dann können wir Ende der Woche los und sind zu Weihnachten in Bratislava.«

»Hab ich mir fast gedacht«, antwortet Anna resigniert. »Kannst du den Moms wenigstens noch ins Bett bringen?«

Wir sind beide ziemlich ausgebrannt. Die Zeit mit Hansen, die vielen Diskussionen, Streits und der Abschied haben uns zu schaffen gemacht. Und jetzt sind wir unter nicht gerade einfachen Bedingungen mit einem Baby im Winter auf einem kleinen Schiff unterwegs. Weit weg von Freunden und Familie. Hier ist niemand, der mit anpacken kann.

Drei Tage später, am Freitag, den 22. Dezember, sind wir bereit zur Abfahrt Richtung Schwarzes Meer. Auf der »Hutablage« im Steuerstand steht sogar ein kleiner Weihnachtsbaum, festgeklemmt mit einem Engländer-Schlüssel. »Oooh, schau mal, Paul, ich habe ein Engelchen für unseren Baum gefunden«, ruft Anna mir aus dem Steuerstand gespielt staunend zu. Ich schaue durch den Niedergang nach oben und muss lachen. Anna hat eine kleine Fingerpuppe, ein rosa Schweinchen, auf die Spitze des Tännchens gesteckt. Momo sitzt neben dem Baum auf dem Krabbelplatz. »Ja was macht denn das Schweinchen da auf dem Baum?«, wendet sich Anna ihr zu. Momo steigt in das Staunen ein, formt ihren kleinen Mund zu einem »O« und zieht die Augenbrauen hoch, ganz wie ihre Mama. »Alle an Bord?«, rufe ich in die kleine Runde. »Schhht«, gibt mir Anna nur zurück. Mal wieder habe ich im Eifer des Ablegens vergessen, dass Momo schläft. Anna würde das nie passieren. Ich mache ein entschuldigendes Gesicht und frage noch mal mit gedämpfter Stimme: »Ich leg jetzt ab, ja? Wir haben alles?« Im Grunde weiß ich ja, dass die Frage überflüssig ist. Wir haben alles mindestens fünfmal gecheckt. Wir fahren elektrisch, alle Batterien sind voll. Es ist ein Segen, dass der elektrische Antrieb im Verhältnis zum alten Dieselmotor fast geräuschlos ist. Die vielen Stunden auf dem Wasser, die wir noch unter Motor fahren werden, sind dadurch so viel erträglicher. Mal abgesehen davon, dass wir sogar im Winter hauptsächlich mit Sonne fahren und sowohl die Umwelt als auch unseren Geldbeutel schonen.

Wir brechen mit einem wunderschönen Sonnenaufgang auf. Ein dünner Nebelschleier liegt über dem Wasser. Wir atmen beide innerlich auf. Nach wenigen Kilometern flussabwärts sehen wir nichts als Natur, getaucht in ein morgendliches, rosa Ambiente.

»Hatte der Typ mit dem Hausboot noch mal geschrieben?«, fragt Anna, während ich mir die Zähne putze. Momo sitzt auf ihrem Stühlchen auf dem Krabbelplatz und verteilt bei dem Versuch, mit dem Löffel ihren Mund zu treffen, Brei in ihrem Gesicht.

»Miloff meinft du? Ja, er weiff beffeid, daff wir heute ankommen«, nuschele ich mit Zahnpasta im Mund, »wir follen anrufen, fobald wir da find.«

In Bratislava gibt es keine Marina, die um diese Jahreszeit offen hat, ein weiteres Problem, das der Winter auf der Donau mit sich bringt. Aber diesmal haben wir Glück gehabt, denn in Bratislava wollen wir das nächste nachhaltige Projekt besuchen: Ein Hotelbesitzer und Imker namens Rasto stellt auf seinem Hoteldach Honig her und hat die Plattform beeconf.com gegründet, auf der er die Welt über die Relevanz von Honigbienen aufklärt und praktische Tipps gibt. Er verfolgt dabei einen nachhaltigen, chemikalienfreien Ansatz und hat bereits eine Goldmedaille in der Weltmeisterschaft für Honigqualität gewonnen. Ein richtig toller Typ!

Rasto wiederum empfahl uns Milosch, der uns einen Liegeplatz an seinem Hausboot angeboten hat, das in der kleinen Marina von Bratislava liegt. Es verdient den Namen »Hausboot« mehr als alles andere, denn es sieht tatsächlich aus wie ein Haus: dunkelrot gestrichen, mit einem roten Dach aus Kunststoffziegeln und sogar von außen verputzt.

Das Interview, das wir mit Rasto zu seinem Bienenprojekt machen, ist wirklich inspirierend. Genau nach dieser Art von Begegnung suchen wir. Wir wollen auf diese Weise Stimmen sammeln, die uns von ihren einzigartigen Projekten und dahinter liegenden Sichtweisen berichten, und diese nach unserer Rückkehr auf unserem YouTube-Kanal veröffentlichen. Rasto ist ziemlich nervös, was ihn gleichzeitig noch viel sympathischer macht. »Did you know, that one in two batches of honey imported into the EU is suspected to be fraudulent?«, sagt er und bezieht sich dabei auf eine Studie von FoodWatch.org. »It is basically nothing else but sugar water.« Rasto will zeigen, dass Honig unabhängig von der Honigindustrie, ohne Betrug, in hoher Qualität und ausreichender Menge produziert werden kann, lokal und nachhaltig. Die Bienenstöcke auf seinem Hoteldach versorgen das gesamte Hotel und einige Märkte in der Umgebung mit Honig.

Wir finden das Spannungsfeld zwischen seinem kommerziellen Kettenhotel und dem weltbesten, nachhaltigen Honig vom Dach dieses Hotels faszinierend. Am Ende schenkt er uns eine Bienenwabe, als Geschenk für die Waldkinder in Regensburg, einen Kindergarten, den wir auf unserer Reise besucht haben. »Please tell the children, if they have any questions regarding honeybees, they can get in touch«, sagt Rasto noch zum Abschied. Vielen Dank!

Als wir am 26. Dezember wieder über die Brücke zu dem Hausboot laufen, an dem Ulla liegt, sagt Anna staunend: »Seltsam, als wir ankamen, war das hier so steil, dass ich kaum hochgekommen bin.« Ich stutze einen Moment, sie hat recht. Irgendwas ist anders. »Du täuschst dich nicht«, sage ich. »Der Wasserpegel ist gestiegen, und zwar ordentlich«, sage ich angespannt. »Was bedeutet das? Das klingt nicht gut«, antwortet Anna.

Ich denke laut nach. »Erst mal heißt das nur, dass die Donau mehr Wasser hat. Also haben wir einerseits mehr Platz unterm Kiel, das ist gut. Dann fließt sie sicher schneller, was im Grunde auch gut ist, wir kommen schneller vorwärts. Hmm, eigentlich sind das nur Vorteile«, beende ich meine Überlegungen, leider nicht ganz vollständig.

Als wir am 31. Dezember nach einer kuscheligen Weihnachtszeit mit Ulla aufbrechen, ist das Hafenbecken von Bratislava zugefroren. Diesmal ist die Eisschicht deutlich dicker, ein paar Enten laufen darauf herum. Ulla schiebt sich langsam krachend hindurch. Die Strömung hat so stark zugenommen, dass wir mit beinahe zehn Stundenkilometern die Donau runtertreiben. Einerseits fühlt es sich toll an, so schnell vorwärtszukommen, andererseits bedeutet es auch, dass wir nicht zurückkönnen. Umkehren ist wegen der Strömung unmöglich, falsch abbiegen wäre also fatal.

Es ist 16:15 Uhr und wird gerade dunkel. Wenn wir jetzt an der Marina vorbeitreiben, kommen wir nicht mehr gegen den Strom zurück. Es bleiben maximal zwei Minuten. Alternativ könnten wir den Dieselmotor starten, aber dafür müssten wir erst die Antriebskette des Elektromotors entkoppeln, wofür ich in den Maschinenraum muss. Das allein dauert etwa ein bis zwei Minuten. Gebannt starre ich auf die Temperatur: 98 Grad, 95 Grad, 93 Grad … »Sie geht runter«, bestätige ich Anna. Bei 90 Grad probieren wir es noch mal.

Ich übernehme das Ruder. »Jetzt«, ruft Anna. Vorsichtig gebe ich Gas. Ein leises Surren bestätigt mir: Wir sind wieder manövrierfähig. »Woahhh, das war knapp!« Anna legt sich die Hände auf das Gesicht und lässt sie langsam nach unten gleiten. Mit offenem Mund und erleichtertem Blick schaut sie mich an. Im letzten Moment drehen wir auf und kommen elegant um die Hafenmole, viel zu elegant dafür, dass wir beinahe daran vorbeigerauscht wären.

Nach dem üblichen Papierkram mit der Hafenaufsicht machen wir uns bereit für unser sehr gemütliches Silvester. Die Lichterkette, die ich noch in Wien installiert hatte, macht unseren Steuerstand zur Schuldisco. Gemeinsam mit Momo tanzen wir bis um zehn Uhr abends. Als ich in angeheiterter Vorfreude auf ein paar Stunden Zweisamkeit mit Anna Momo ins Bett bringe, passiert das, was fast immer passiert: Ich schlafe ein. Anna lässt mich schlafen, und so wird das Silvester 2022/23 das wohl erste seit Jahrzehnten, das ich träumend verbringe. Es ist eine völlig neue Erfahrung für mich.

Anna

Paul und Momo schlafen noch. Ich sitze im Steuerstand und schaue nach draußen. Die Marina in Budapest sieht runtergekommen aus, nur wenige Meter über uns thront eine gewaltige Autobahnbrücke. Ich kann die vorbeisausenden Autos bis hierhin hören. Ich schnappe mir meinen flauschigen Frotteebademantel, meinen Kulturbeutel und frische Kleidung, ziehe meine quietschgrünen Birkenstock-Schlappen an und mache mich auf den Weg zur lang ersehnten heißen Dusche. Wir sind wie so oft, seit es Winter geworden ist, das einzige bewohnte Boot in der Marina. Über einen schmalen Steg und eine steile Treppe komme ich auf das Gelände. Hier ähnelt die Kulisse eher einem Schrottplatz, alte Auto- und Bootsteile stapeln sich zu hohen Türmen. Ich klettere in den Duschcontainer. Im Abfluss der Dusche schwimmt ein Knäuel aus Haaren und anderen undefinierbaren Kleinteilen. Bah. Mittlerweile bin ich solche Kulissen gewöhnt. Solange ich hier nicht barfuß reinmuss, passt das. Ich genieße die Dusche trotzdem in vollen Zügen und lasse mir Zeit. Sauber eingewickelt in meinen Bademantel und mit einem großen Handtuchturban auf dem Kopf fühle ich mich wie neu geboren. Dampfend und duftend wie ein Glühwein laufe ich zurück zum Boot. Wir haben nicht vor, lange hierzubleiben, wir wollen weiter. Das Meer ruft, und es sind noch mehr als 1500 Kilometer. Natürlich wollen wir auch die Donau genießen, aber unser Kontingent für »Stadtbesichtigungen« haben wir seit Wien aufgebraucht. Mittags machen wir uns zu dritt zu einem Neujahrsspaziergang auf. Wenige Fußminuten entfernt liegt ein wilder Park. Die weiten Wiesen sind mit tief hängenden Nebelschwaden geschmückt, menschenleer. Sicher katern die alle noch aus, denke ich etwas neidisch. Über eine alte Eisenbahnbrücke kommen wir zum nahe gelegenen Zentrum des Viertels Kaszásdűlő, direkt beim dritten Budapester Bezirk. Hier gibt es alles, was wir zum Leben brauchen, Supermarkt und eine kleine, ziemlich heruntergekommene Mall mit Fachgeschäften. Wir fühlen uns auch an diesem Ort schnell heimisch. In jeder Marina entsteht für kurze Zeit ein Gefühl von Zuhause. Ob das auch Sehnsucht ist?

Am nächsten Tag wollten wir eigentlich früh weiter, ohne konkretes Ziel: Die Donau und das Meer rufen. Aber wie so oft kommen wir später als geplant los. Frischwassertank auffüllen, Paul fährt noch mit dem Fahrrad durch die halbe Stadt, um eine neue Gasflasche zu besorgen, im Office bezahlen – los geht’s, ach nee, noch vergessen, die Tagesroute zu planen, Systemcheck vom Elektroantrieb, dann noch schnell Zähne putzen … was? Schon Mittag? Dann erst mal was für Momo kochen, anschließend Mittagsschlaf, aufräumen und abwaschen und schnell den Frischwassertank auftoppen. Erst am späten Nachmittag kommen wir wirklich los. Ich stehe am Steuer und schalte den Elektromotor ein, mittlerweile bin ich darin auch ziemlich routiniert. Seit Hansen von Bord ist, müssen wir alles zu zweit machen, und ehrlich gesagt, hat mir dieser »Zwang« auch ganz gutgetan, Aufgaben wirklich zu übernehmen. Paul macht die Leinen los, stößt uns ab und springt zurück an Bord.

Die Sonne steht schon tief, deswegen haben wir heute nur eine kurze Strecke eingeplant. »Paul, kannst du das Steuer übernehmen? Dann geh ich nach hinten und filme ein bisschen.« Auf der Terrasse erwartet mich eine Traumkulisse. Schon will ich das Handy zücken, doch dann halte ich inne: einmal kurz den Moment aufsaugen. Die tief stehende Sonne taucht das Ostufer mitsamt den prunkvollen Kuppeln des ungarischen Parlaments in ein gleichmäßiges, rötliches Licht, das durch die Beleuchtung der Gebäude golden ergänzt wird. »Wow«, höre ich Paul direkt hinter mir. Er ist mit Momo auf dem Arm nach draußen gekommen, um sich das Schauspiel anzusehen. »Da haben die Beleuchter aber wirklich ganze Arbeit geleistet«, zerstört er die Romantik. Scherzkeks.

Am nächsten Tag steht Beibootschule an. Bisher habe ich mich noch vor dem Fahren mit Ulli gedrückt. Das soll sich jetzt ändern. Ich bin nämlich eine ziemliche Schisserin, was das angeht. Diese Angst möchte und muss ich dringend angehen, nicht zuletzt, weil es im Notfall wichtig werden könnte, dass ich es kann. Paul erklärt mir den Motor: »Drei Dinge, um ihn startklar zu machen: als Erstes die Tanklüftung öffnen, dann das Tankventil öffnen und den Not-Aus-Schalter deaktivieren. Ahh, und viertens in den Leerlauf schalten, und … okay, fünftens: Mach dir immer den Not-Aus am Handgelenk fest.«

»Also fünf Dinge?«, frage ich leicht genervt. Irgendwie macht es mich immer wütend, wenn Paul mir etwas erklärt. Für ihn ist das alles ganz leicht, für mich nicht. »Jetzt musst du einfach fest ziehen, und wenn alles funktioniert, geht er an.«

Ich ziehe, nichts tut sich. »Noch mal«, sagt Paul. Wieder nichts. »Probier mal, ein bisschen Gas zu geben.« Ich drehe den Gashahn auf und ziehe kräftig. Qualmend springt der Motor an. »Geht doch«, sagt Paul. »Ja, suuuuperleicht!«, antworte ich.

Ich muss Ulli mit der Schnauze unter die Terrasse steuern, damit Paul an die Klampe kommt, an der er befestigt ist. Nicht leicht, denn ich komme mit der Richtung immer durcheinander. »Anna, einmal durchatmen, es kann nichts passieren.« Und tatsächlich: So langsam komme ich rein.

Insgesamt läuft gerade alles erstaunlich gut. Wir streiten kaum und lachen viel. Irgendwie gibt es mehr Raum für Leichtigkeit und Liebe. Die letzte Zeit mit Hansen war anstrengend. Meistens herrschte bedrückte Stimmung, oder es gab Streit wegen Kleinigkeiten. Für mich war auch schwer, dass Hansen bisher wenig Interesse an Momo zeigte. Sie liebt ihn und will ständig mit ihm spielen und kuscheln. Eigentlich würde ich mir eine engere Bindung zwischen den beiden wünschen. Aber Hansen fühlte sich wohl oft als fünftes Rad neben Paul und mir.

Paul, Momo und ich haben mittlerweile einen routinierten Alltag, fahren zum größten Teil elektrisch und kommen schnell vorwärts. Wenn Paul die Solaranlagen ein- oder ausfährt, stehe ich am Steuer und halte Ulla auf Kurs. Momo spielt in ihrem Krabbelplatz.

Heute Morgen haben Paul und ich spontan ein Spiel daraus entwickelt. Er geht auf Position, ich stoppe die Zeit, und los geht’s. Paul hangelt sich geschickt auf Deck zwischen den Wanten, Reling und den großen Solaranlagen hin und her, jeder Griff sitzt. Erst die vorderen, dann die hinteren.

Mit einem Bootshaken schiebt er die hinteren Solarflügel nach draußen und bringt sie in die Endposition. »FEEEEERTIG«, ruft er. »Wow, ein neuer Rekord, nur sieben Minuten und 43 Sekunden!«, lobe ich ihn. Ganze zwei Minuten schneller als beim letzten Mal. Anfangs hat das ganze Prozedere bis zu 30 Minuten gedauert, auch aus Sicherheitsgründen ein No-Go. Die ersten Monate hatte ich nicht daran geglaubt, dass uns die Sonnensegel weit bringen würden, jetzt bin ich richtig stolz. »So kann’s weitergehen«, antwortet er strahlend.

Paul

Unsanft werde ich von dem Ankeralarm aus dem Schlaf gerissen. Der Ankeralarm überprüft anhand unserer GPS-Position, ob wir über eine bestimmte Distanz zum Ankerpunkt hinaus abgetrieben sind. Schon das dritte Mal diese Nacht. Ich schaue auf die Uhr, 05:56, und beschließe aufzustehen. Vielleicht kommen wir heute bis nach Baja, der vorletzten Stadt in Ungarn, bevor wir nach Kroatien einreisen, etwa 150 km südlich von Budapest. Dort gibt es eine Marina, die auch im Winter geöffnet hat. Eine Dusche wäre mal wieder angebracht.

Ich liebe die ruhigen Morgen, auch wenn es mir unglaublich schwerfällt, aus den Federn zu kommen. Vorsichtig schließe ich die Tür zur Bugkajüte, um Momo und Anna nicht zu wecken, und mache mir einen Kaffee.

In einer Decke eingepackt, sitze ich mit meinem Kaffee auf der Terrasse und schaue in die Morgendämmerung. Wir haben in einem kleinen Seitenarm der Donau geankert. Über dem Wasser liegt ein Nebelschleier, ein paar Kormorane fliegen hindurch und hinterlassen ihre Spuren im Nebel. Absolute Stille, nur das Wasser gurgelt leise um Ulla und Ulli herum. Wie gerne würde ich jetzt hier mit Hansen sitzen. Ich bekomme feuchte Augen. Genau diese Momente hatten wir uns immer ausgemalt, als wir die Tour geplant haben, sie waren es, die uns all die anstrengenden Monate vor der Abreise hatten durchhalten lassen. Aber im Grunde sind sie eine Erinnerung an vergangene Abenteuer. An Momente, die wir gemeinsam erlebt haben. Es ist nicht mehr wie früher. Ich habe jetzt eine Familie mit Anna, Hansen ist nicht mehr die Nummer eins in meinem Leben. Wir sind keine draufgängerischen Junggesellen mehr, die durch die Wildnis streifen. Wir beide wollten dieses Zwillingsabenteuerleben nicht loslassen, haben es mit beiden Händen umklammert. Hätte ich kein Kind bekommen, wäre ich jetzt wahrscheinlich mit Hansen in Alaska unterwegs. Aber ich musste loslassen und habe dabei auch Hansen zurückgelassen. Unsere Beziehung leidet darunter. Sie leidet unter einem gebrochenen Versprechen, das zwar nie ausgesprochen, aber doch Teil unserer Verbindung war. Gerade ist alles sehr neblig in unserer Beziehung, genau wie die Donau, die vor mir liegt. Ich weiß nicht genau, wohin das alles führt, aber ich sehe auch die Schönheit und Kraft dieser Phase. Sie ist ein Ende, aber vor allem ein Anfang, ein Aufbruch.

Ich beschließe, Anna und Momo schlafen zu lassen und allein loszufahren. Vorsichtig hole ich direkt über der Bugkajüte den Anker rein. Die Strömung packt Ulla und treibt uns lautlos in die blaue Stunde. Ein Nebelhorn ertönt. Ich schaue auf das Navi und bin überrascht: Wenn ich auf Sicht fahren würde, wäre ich davon ausgegangen, dass die Donau in etwa 200 Metern einen Bogen macht. Aber die Karte sagt etwas anderes. Da sollen wir geradeaus? Jetzt erkenne ich die optische Täuschung: Das, auf was ich zufahre, sah bis eben aus wie ein dichter Waldrand. Aber es ist eine Nebelbank. »Verdammt«, murmele ich vor mich hin. »Okay, denk nach!« Als Erstes das AIS einschalten. Das ist ein digitales Informationssystem, das die Position von Schiffen in der Umgebung anzeigt. Auch wir können auf diese Weise unsere Position anderen Schiffen bekannt geben. Bei schlechter Sicht ist es zwar kein vollwertiger Ersatz, aber es zeigt ungefähr, wann und wo Schiffe kommen, welche Größe und Namen sie haben. So kann man dann in den direkten Funkverkehr mit den Schiffen einsteigen und Details für das Passieren klären.

Jetzt sehe ich in etwa 300 Metern Entfernung einen großen Schubverband aus dem Nebel hervorkommen. Laut AIS trägt er den Namen Dunja und ist aus der Ukraine. Ich beschließe, ihn anzufunken, um mehr über die Teilstrecke mit dem Nebel zu erfahren. Die Antwort kommt in gebrochenem English, mit russisch klingendem Akzent: »Ulla, not good. Bad visibility for two kilometers. Be very, very, careful! Over and out.«

»Alles okay?«, fragt Anna, die die gähnende Momo auf dem Arm hat, von unten aus dem Salon.

»Nee, wir kommen gleich in heftigen Nebel. Zum Ankern ist es hier zu schmal, wir müssen da durch. Zieh mal bitte Momo und dir Schwimmwesten an.« Das AIS zeigt mir zwei weitere Schubverbände an, die uns auf der Strecke entgegenkommen, Andrijana und Gavrilka. Der Nebel ist der dichteste, den ich je erlebt habe. Er verschluckt uns und sämtliche Konturen des Ufers. So muss ein White-out sein, geht es mir durch den Kopf. Anna und ich lauschen angespannt, jedes Geräusch kann jetzt ein wichtiger Hinweis sein. Wieder ein Nebelhorn, ich schätze von Andrijana. Sie ist noch etwa 600 Meter von uns entfernt. »Steuerbord, steuerbord«, murmele ich und nehme das Mikrofon des Funkgeräts von der Wandhalterung. »Motor Vessel Andrijana, this is Ulla. We are heading downstream, about 500 Meter ahead of you. We intend to pass your vessel starboard, starboard, please confirm. Over.«

»Ulla, I confirm starboard, starboard.« Ich bin erleichtert. Wenn wir uns nun möglichst weit links im Fahrwasser halten, sollten wir an Andrijana vorbeikommen. Laut AIS müsste Andrijana jetzt weniger als eine Schiffslänge entfernt sein. »Siehst du sie irgendwo?«, fragt Anna angespannt. »Nein, aber ich höre sie.« Ein leises Brummen und Stampfen hat sich in die Stille gemischt. Und tatsächlich, jetzt erkennen wir das Schiff. Es ist unbeladen, und der Bug ragt sicher sechs Meter aus dem Wasser, ein Koloss. Wir erschrecken uns beide bei dem Anblick. Der bloße Gedanke, mit dieser Stahlwand zu kollidieren, jagt mir einen Schauer über den Rücken. Kaum ist sie vorbei, kann ich das Ufer wieder schemenhaft erkennen, und der Nebel hebt sich. Gavrilka passiert uns kurz darauf, und jetzt erkenne ich sie wieder. Sie hatte uns kurz hinter Bratislava einmal überholt. Die Crew scheint sich auch an uns zu erinnern, sie winkt lachend vom Bug zu uns rüber. »So langsam machen wir uns hier auf der Donau einen Namen«, sage ich erleichtert lachend zu Anna. »Ja, die Verrückten mit den Solaranlagen«, fügt sie ebenfalls erleichtert hinzu. »Solange es nur Frachtschiffe sind und keine Piraten, soll es mir recht sein.«

Vor Piraten auf der Donau sind wir nun schon häufiger gewarnt worden. Was am Anfang klang wie aus einem Kinderbuch, scheint mehr Realität zu sein, als uns lieb ist. Natürlich kommen die nicht mit Augenklappe, Holzbein und Affen auf der Schulter, aber es gibt wohl immer wieder Überfälle auf der Donau auf Sportboote und Frachtschiffe.

Weil wir es nicht bis Baja schaffen, beschließen wir, auch diesmal wieder zu ankern. Die Strömung ist stark in diesem Teil der Donau, und so dauert es, bis wir etwa 15 Kilometer flussaufwärts von Baja, an der Innenseite einer Biegung, eine Stelle finden, wo der Anker hält. Sie ist nicht optimal, weil direkt unter uns flussabwärts eine Untiefe ist. Aber wir beschließen, das geringe Risiko einzugehen.

»Der Pegel soll heute Nacht und an den nächsten Tagen weiter steigen«, sage ich zu Anna, die gerade aus der Bugkajüte klettert. »Schschttt, Momo schläft. Noch mehr Wasser? Ist das ein Problem?« »Nein, ich habe die Ankerleine extra lang gelassen, der hält sicher«, sage ich mit gedämpfter Stimme, »da müsste schon …« Anna unterbricht mich: »Was ist das für ein Geräusch?«

Ich lausche in die Stille. Tatsächlich gurgelt und rauscht es plötzlich. »Es wird lauter«, sage ich und springe auf. »Was ist das?«

»Es kommt von vorne!« Jetzt knarzt das Ankerseil, über den Bug und das Schanzkleid wird das Geräusch wie durch einen Klangkörper verstärkt. Eine bedrohliche Geräuschkulisse baut sich auf. Irgendwas zieht und zerrt am Boot, aber was zum Teufel kann das sein? Der Bug hat sich deutlich nach unten gesenkt, die Küche und Tische sind auf einmal gerade.

»Bleib du bei Momo, ich geh nachschauen.« Ich schnappe mir die Stirnlampe und springe nach draußen. Hier draußen sind das Rauschen und Gluckern noch lauter. Als ich über den Bug nach unten schaue, erschrecke ich. »Eine riesige Insel Treibholz hat sich um das Ankerseil und den Bug von Ulla gewickelt. Darin hängen ganze Bäume … mit angenagten Stämmen. Verdammt, das ist kein Treibholz, das ist ein ganzer Biberdamm. Das Hochwasser muss ihn mitgerissen haben. Die Ankerleine ist bis zum Zerreißen gespannt. Immer höher türmt sich das Holz auf. Wenn uns diese Holzflut mitreißt …« Ich wage es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.

Hansens Auszeit

Von Wien nach Berlin, 12. Dezember 2022, Tag 129

Hansen

Ich sitze im Zug nach Berlin, der mich innerhalb von wenigen Stunden ohne Umsteigen zurück in die Stadt bringt, von der aus wir Monate mit dem Boot bis nach Wien gebraucht haben. Wien, die Stadt, in der sich alles geändert hat. Geplant war ein kurzer Stopp. Doch was geplant ist und was tatsächlich passiert, liegt, wie auf all unseren Abenteuerreisen, meilenweit auseinander.

Ronny hat sich zu meinen Füßen zusammengekauert und atmet schnell, mit weit aufgerissenen Augen. Es ist das erste Mal, dass ich mit ihm in einem ICE sitze, der gerade, kurz hinter Wien, mit Höchstgeschwindigkeit durch einen schier endlosen Tunnel rast. Der plötzliche Knall bei der Einfahrt in den Tunnel und die damit zeitgleich einhergehende Dunkelheit scheinen in ihm Panik auszulösen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass er aus Kiew gerettet worden ist, als dort schon Bomben fielen. Wie seine Welpenzeit war, weiß ich leider nicht. Ob er schon immer im Tierheim war oder aufgrund des Krieges dort abgegeben wurde, konnte mir leider niemand sagen. Ich weiß nur, dass seine Angst vor Lärm und Vibrationen wesentlich größer ist als bei allen Hunden, die ich kenne. Wieso muss dann jetzt genau der erste Tunnel, durch den ich mit Ronny fahre, der längste sein, den auch ich je mit einem Zug durchfahren habe? All meine Versuche, ihn zu beruhigen, scheitern schon deswegen, weil ich selber nicht weiß, ob das Licht am Ende des Tunnels wiederkommt.

Mir geht es nicht gut, und das merkt Ronny. Ich fühle mich seit Wochen in einer nie da gewesenen Dunkelheit gefangen. Noch nie in meinem Leben habe ich so schlimme Gedanken gehabt, mich so nutzlos, so schwermütig gefühlt. Mir jetzt einzugestehen, dass ich Hilfe brauche, einzugestehen, dass ich in dem Projekt »Alle an Bord« gescheitert bin, ist hart. Und meine Entscheidung, Ulla zu verlassen, um zurück nach Berlin zu fahren, hat meine Stimmung nicht verbessert. Ich habe Paul und Anna gesagt, dass ich eine »Auszeit« brauche und erst im März zurückkommen werde. Jetzt gerade fühlt sich das aber ganz anders an – wie ein Ende meiner Teilnahme an unserem Projekt. Denn so, wie es mir gerade geht, kann und will ich nicht zurückkehren.

So sitze ich mit Ronny im Zug, er panisch, ich tieftraurig. Ein tolles Duo, wir beide, denke ich.

Vor ungefähr zwei Stunden hatte ich die Schiebetür von Ulla geöffnet und war hinaus zu meinem Gepäck und den wartenden Anna, Paul und Momo geklettert. Die Stimmung war gedrückt, untermalt von Schneeregen und Nebel. Ich hatte gedacht, ich würde heulen. Paul und Anna würden heulen, Momo würde heulen. Aber nein. Es war ein Abschied mit aufgesetztem Lächeln, dem Versuch, zu signalisieren: Alles wird gut. Es folgte eine zwar feste Umarmung, aber ohne Körperwärme, denn die dicken Wintersachen, die wir alle trugen, waren wie ein weicher Schutzschild, von außen aber nass und kalt.

Ich spürte, wie sich in mir und auch in Paul und Anna etwas löste, als wir uns voneinander trennten. Ich spürte einen Mix aus Erleichterung, endlich loszukommen, und Angst, meine Entscheidung bald zu bereuen. Die nächste Frage, die ich mir stellte, war: Wie verdammt noch mal habe ich mir vorgestellt, das ganze Gepäck bis zum Zug schleppen zu können mit Ronny an der Leine.

Die Zeit im Zug verfliegt. Bahnhöfe, Berge, Dörfer sausen vorbei. Ronny hat sich ein wenig ans Zugfahren gewöhnt und schläft friedlich zu meinen Füßen. Ich habe meine Kopfhörer aufgesetzt und höre mir die Playlist an, die ich Anfang dieses Jahres auf meinem Handy angelegt und im Laufe der Zeit gefüllt habe. Ich hatte letztes Silvester die Idee, jedem Jahr ein Motto zu geben und jedes Motto mit einer Playlist zu untermalen. Dieses Jahr 2022 ist das Motto »Freiheit«. Die Playlist beginnt dann auch mit dem gleichnamigen Klassiker von Westernhagen. Sie ist mittlerweile lang genug, um sie auf einer siebenstündigen Zugfahrt zu hören und dabei darüber nachzudenken, wie sich das Motto »Freiheit« für mich im Laufe des Jahres entwickelt hat. Bei unserem Aufbruch am 5. August in Berlin war es noch eher der Traum, zu reisen, der »Freiheit« definierte. Nun, Anfang Dezember, ist meine größte Erkenntnis, dass ich die Freiheit haben will, zu bleiben, mich zu binden – die Freiheit, auf Freiheit zu verzichten. Aber auch die Freiheit, mich von meinem Bruder und unseren vermeintlich freien Abenteuern zu lösen. Eins steht fest: Mein Motto für das kommende Jahr wird »Heilung« sein. Ich möchte meine alten, längst vernarbten, aber noch nicht geheilten Wunden lecken und den Berg erklimmen, auf dessen Rückseite wieder die Sonne scheint. »Das wird dauern, das braucht Zeit«, hat unsere Stiefschwester Jana mir gesagt, mit der ich in den letzten Tagen viel telefoniert habe. Denn in diesem Prozess gibt es keinen »Tunnel«, keinen schnellen Weg »hindurch«.

Ich werde wach, auf meiner Schulter liegt eine Hand, die mich rüttelt. Ein Schaffner gibt mit Zeichen zu verstehen, dass er mein Ticket sehen will, und als ich meine Kopfhörer abgezogen habe, erklärt er knapp: »Personalwechsel!« Noch im Halbschlaf und etwas verwirrt suche ich nach den Tickets. »Nächster Halt: Berlin Südkreuz«, erklärt er nun etwas freundlicher.

Berlin. Krass. Nächster Halt: Endstation, geht es mir durch den Kopf. Ich zweifle gerade sehr an meiner Entscheidung, die Tour abzu- oder zumindest zu unterbrechen. Wird mich hier nicht der Alltag auffressen? Menschen laufen zu den Türen, der Zug bremst. Ich packe meine Sachen, Ronny ist genauso aufgeregt wie ich.