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Elen Krone ist Geschworene im Mordprozess gegen Carola Groß, die die Geliebte ihres Mannes Heinrich – Annabelle Müller – vergiftet haben soll. In einem alten Fotoalbum stößt die frisch verheiratete Ellen zufällig auf ein Bild, das ihren Mann Peter mit der schönen und verführerischen Annabelle zeigt. Schlagartig wird ihr bewusst, dass Peter mehr über Annabelles Mord weiß, als er zugeben will, und dass Carola Groß wahrscheinlich zu Unrecht auf der Anklagebank sitzt. Aber was bedeuten diese Überlegungen für ihre Ehe mit Peter? Wie geht Ellen mi diesen Zweifeln Peter gegenüber um?Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 458
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Marie Louise Fischer
Roman
SAGA Egmont
Alle Liebe dieser Welt
Alle Liebe dieser Welt (Die Geschworene)
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1965 by Lichtenberg Verlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711718377
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Der Himmel über München war bedeckt. Dicke graue Wolken schoben sich träge vorwärts. Auf der Zuschauerterrasse des Flughafens wehte ein scharfer Wind, riß an Mänteln, Röcken, Kopftüchern.
Ellen Krone zog den Knoten ihres goldfarbenen Seidentuches fester, schlug den Kragen ihres braunen Wildledermantels hoch. Sie warf einen besorgten Blick auf ihre Armbanduhr. Die Maschine aus Tokio-Hongkong-Karachi-Kairo-Rom hatte jetzt schon nahezu zwanzig Minuten Verspätung. Aber das mußte nichts zu bedeuten haben.
Obwohl Ellen Krone sich das wieder und immer wieder sagte, konnte sie nicht verhindern, daß ihr Herz heftig, fast schmerzhaft gegen die Rippen schlug. Sie grub die Zähne in die volle Unterlippe, ihre tiefblauen Augen waren weit und angstvoll geöffnet, die Hände, die sie in die Taschen ihres Mantels geschoben hatte, fest geballt.
Seit drei Wochen hatte sie ihren Mann jetzt nicht mehr gesehen, nicht einmal mehr gesprochen, denn die Telefonverbindungen mit Karachi waren schlecht; jede Anmeldung mit tausend Umständlichkeiten verbunden. Es war die erste Trennung in ihrer jungen Ehe gewesen, und Ellen Krone hatte darunter gelitten. Aber niemals so sehr wie in diesen letzten Minuten, da das Wiedersehen endlich in erreichbare Nähe gerückt war.
Sie holte tief Atem, es war ihr, als könnte sie dies quälende Warten, diese angstvolle Erwartung nun keine Sekunde länger ertragen. Vielleicht war es doch besser, sie ging nach unten, kaufte eine Zeitung, versuchte sich abzulenken.
Aber gerade in diesem Augenblick durchbrach ein Jet, noch winzig klein und sehr weit entfernt, die Wolkendecke, näherte sich in einem riesigen Bogen den Rollbahnen.
Das ist die Maschine, durchfuhr es Ellen Krone, das muß sie sein! Sie drängte sich nach vorn, ihre Hände umfaßten krampfhaft das eiserne Gitter.
Dann hatte das Flugzeug aufgesetzt, rollte auf das Flughafengebäude zu, kam zum Stillstand. Die Treppen wurden herangefahren, die Türen geöffnet. Peter Krone war unter den ersten, die die Maschine verließen.
»Peter!« rief Ellen Krone. »Peter!« – Sie wußte, daß der Wind ihr die Worte vom Mund riß, daß ihr Ruf vom Lärm der Motoren übertönt wurde, aber sie konnte sich nicht zurückhalten, mußte ihren Gefühlen Luft machen. Sie riß sich den seidenen Schal von ihrem dunklen, glänzenden Haar und winkte damit.
Aber ihr Mann sah sie nicht. Breitschultrig und aufrecht, eine sehr männliche Erscheinung in seinem kurzen, eng gegürteten Trenchcoat, schritt er in der Gruppe der Passagiere, die von einer Stewardeß angeführt wurde, über den betonierten Platz auf das Fluggebäude zu, das kantige Kinn vorgeschoben, das blonde Haar vom Wind zerzaust.
Ellen Krone wünschte so sehr, daß er zu ihr hochschauen, ihren Gruß erwidern würde. Aber er tat es nicht.
Sie schalt sich eine Närrin. Für ihn war eine Auslandsreise nichts Ungewöhnliches. Er benutzte seit Jahren Flugzeuge mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie andere Menschen in Omnibusse steigen. Bestimmt kam er gar nicht auf den Gedanken, daß sie seine Ankunft auf der Zuschauerterrasse erwartet haben könnte.
Jäh wurde sie von der Angst ergriffen, ihn zu verpassen. Sie drehte sich auf dem Absatz um, drängte sich zurück, öffnete die schwere Tür, lief über die Galerie, die Treppe hinunter, durch die Halle, an den Schaltern vorbei und zum Luftsteig A.
Aufatmend stellte sie fest, daß die gläserne Tür zum Zollraum noch geschlossen war. Sie öffnete ihre Handtasche, warf einen prüfenden Blick in den Spiegel auf ihr vom Wind sanft gerötetes Gesicht, fuhr sich mit dem Kamm durch die dunkelglänzenden Locken. Sie öffnete den Mantel, legte sich den goldfarbenen Schal um den Hals, knöpfte ihn wieder zu.
Als sie die Augen hob, kamen gerade die ersten Gepäckträger aus dem Zollraum, schoben die mit Koffern beladenen eisernen Karren vor sich her, dann folgten zwei Amerikanerinnen, ein Asiate mit gelbem Gesicht, hochstehenden Bakkenknochen, fröstelnd in seinem gutgeschnittenen Mantel – und dann er, ihr Mann, Peter Krone.
Sie sahen sich im gleichen Augenblick. Er blieb stehen, wandte sich ihr zu, lächelnd, braungebrannt, ein wenig erschöpft, mit ausgestreckten Händen. Die Umwelt versank, sie flog in seine Arme, klammerte sich an ihn.
»Endlich«, stammelte sie, »endlich …«
Er legte seine Hand unter ihr Kinn, hob sanft ihr Gesicht zu sich auf. »Sehnsucht gehabt?«
»Und wie!« erwiderte sie lächelnd unter Tränen, die sie nicht zurückhalten konnte.
»Ich auch«, sagte er und zog sie beiseite, um Passagieren und Gepäckträgern den Weg frei zu geben. »Hast du alle meine Briefe bekommen?«
»Viele«, sagte sie, »ob es wirklich alle waren, weiß ich natürlich nicht!« Sie tupfte sich mit ihrem Taschentuch die Tränen aus den Augen. »Ich habe dir jeden Tag geschrieben …«
»Ich weiß!« Er schob seinen Arm unter ihren Ellenbogen. »Und ich habe sie alle aufbewahrt …« Er klopfte mit der linken Hand auf seine Brusttasche. »Damit wir sie später einmal zusammen lesen können. Wenn wir beide alte Leute geworden sind.«
Sie lachte. »Daran denkst du schon heute?«
»Ja, und ich stelle mir das sehr schön vor.«
Sie traten nebeneinander auf den Vorplatz des Flughafengebäudes.
»Wo hast du den Wagen?« fragte er.
»Noch geparkt. Ich hole ihn.« Aber trotz dieses Vorsatzes konnte sie sich nicht so ohne weiteres von ihm trennen, stellte sich, obwohl sie selber durchaus nicht klein war, auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß auf die Nasenspitze. »Bis gleich!«
Er sah ihr nach, wie sie – sehr rank und sehr schlank – zwischen den Reihen der parkenden Autos hindurchschritt, und seinen Mund umspielte ein leises Lächeln voller Zärtlichkeit.
Der Gepäckträger, der bisher geduldig gewartet hatte, rief ihn nun wieder in die Wirklichkeit zurück. Peter Krone entlohnte den Mann, wartete, bis Ellen vorfuhr, ausstieg und den Kofferraum des Zweisitzers öffnete. Er legte seinen großen Tropenkoffer hinein, auch seine Aktentasche. Ellen schloß ab.
»So, jetzt werde ich fahren«, sagte er, »gib mir die Schlüssel ….«
»Soll ich nicht lieber …?«
»Nein. Erst wenn ich am Steuer meines Wagens sitze, habe ich richtig das Gefühl, wieder zu Hause zu sein!«
Sie stiegen ein.
Als er die Bremse gelöst und in den ersten Gang geschaltet hatte, sagte er: »Übrigens, glaube nur nicht, daß ich mit leeren Händen komme … Ich habe dir etwas Schönes mitgebracht!«
»Was denn?«
»Ich zeig’s dir zu Hause. Versuch nur nicht zu raten. Das bekommst du doch nicht heraus.«
»Ist es so etwas Besonderes?« fragte sie erwartungsvoll.
»Ja und nein.«
Sie hatten den Parkplatz des Flughafengebäudes hinter sich gelassen und die Zufahrtsstraße zur Stadt erreicht.
»Ich habe auch eine Überraschung für dich«, erklärte sie strahlend.
»Ein besonders gutes Essen?«
»Das sowieso.«
»Einen Kuchen?«
»Nein, gib dir keine Mühe, du rätst es nie!«
»Dann spann mich nicht länger auf die Folter. Heraus mit der Sprache!«
»Erst wenn du mir sagst…«
»Na schön.« Er griff mit der Hand in die Hosentasche, holte einen kleinen Leinenbeutel heraus, warf ihn ihr in den Schoß. »Du mußt ihn öffnen«, sagte er, »aber vorsichtig… sonst rollen sie dir davon!«
Mit vor Erwartung zitternden Fingern löste sie den Knoten, der kleine Beutel war gefüllt mit schimmernden rosa Perlen.
»Wie schön!« rief sie, dankbar und begeistert.
»Perlen aus Cittagong«, sagte er, »Naturperlen. Aber sie müssen natürlich erst noch gelocht werden, bevor man sie verarbeiten kann!«
»Eine Kette«, sagte sie, »glaubst du, es wird zu einer Kette reichen?«
»Wenn nicht, bringe ich dir das nächstemal noch eine Handvoll mit!«
Ihr klares Gesicht verdunkelte sich. »Du hast doch nicht etwa vor, mich so bald wieder allein zu lassen?«
»Das liegt bei Gott und meiner Firma.«Er berührte mit seiner rechten Hand sanft ihre Knie. »Aber reg dich nicht unnötig auf, so bald wird es bestimmt nicht sein.«
»Hoffentlich«, sagte sie, »ich habe nämlich nicht geheiratet, um dauernd die Strohwitwe zu spielen.«
»Jetzt sag mir aber endlich deine Überraschung!«
Sie ließ sich ablenken. »Du«, sagte sie, »das ist wirklich was ganz Tolles. Ich bin als Geschworene für den Mordprozeß Carola Groß ausgelost worden! Ist das nicht großartig? Der interessanteste Fall des Jahres, und ausgerechnet ich …« Sie stockte mitten im Satz, denn es wurde ihr bewußt, daß er überhaupt nicht reagierte.
Sie warf einen raschen Blick auf sein Profil, sah, daß er die Lippen zusammengepreßt, das Kinn hart vorgeschoben hatte.
»Was ist denn?« fragte sie. »Hast du etwas dagegen, Peter?«
»Ja«, erwiderte er hart, »das gefällt mir ganz und gar nicht!«
Carola Groß kniete in ihrer Zelle im Untersuchungsgefängnis, fuhr mit der Hand unter die Matratze ihrer Pritsche und zog vorsichtig, ohne das Guckloch in der schweren Eisentür aus den Augen zu lassen, ihren kostbarsten Schatz hervor – einen kleinen Spiegel, den ihr ihr Mann, entgegen allen Vorschriften, ins Gefängnis gebracht hatte.
Sie ertastete ihn, zog ihn an sich, stand auf und warf, mit dem Rücken zur Tür, einen gequälten Blick hinein.
Seit mehr als einem dreiviertel Jahr saß sie schon in Untersuchungshaft, und diese Zeit der Isolierung und des bangen Wartens, der schlaflosen Nächte und der monotonen Tage hatte scharfe Spuren in ihr Gesicht gegraben. Ihre Haut war schlaff und grau geworden, die Winkel ihres schönen, jetzt so müden Mundes zogen sich nach unten, Falten hatten sich in ihr Gesicht gegerbt, die früher nicht gewesen waren, andere hatten sich verschärft. Ihr blond getöntes Haar wirkte glanzlos und ungepflegt, wuchs an den Wurzeln dunkel nach.
Carola Groß versuchte ein Lächeln, aber es wurde nur eine wehe kleine Grimasse daraus.
Früher hatte sie durch Gymnastik und Körperpflege, regelmäßige Besuche im Kosmetiksalon und beim Friseur ihre ursprünglich etwas farblose Hübschheit vertiefen und sich jugendlich erhalten können. Jetzt, nachdem ihr diese Möglichkeiten schon so lange versagt geblieben waren, sah sie älter aus, als sie war – eine Frau von zweiundvierzig Jahren, der das Leben nur Hoffnungen und keine wirkliche Erfüllung gebracht hatte – eine tief enttäuschte, gedemütigte Frau.
Sie schob den Spiegel wieder unter die Matratze, als sie draußen auf dem Gang einen Schlüsselbund rasseln hörte – keine Sekunde zu früh, denn schon erschien das Auge einer Justizbeamtin im Guckloch, die schwere Tür wurde geöffnet.
»Sie haben Besuch«, sagte die Beamtin kurz, aber nicht unfreundlich, »kommen Sie mit!«
»Mein Mann?« fragte Carola Groß in jäh aufflackernder Hoffnung.
Die Beamtin zuckte die Achseln. »Weiß nicht!«
Carola Groß folgte ihr durch den Gang, vorbei an der langen Reihe eiserner Türen, die Treppe hinunter, wieder durch einen Gang in das Sprechzimmer.
Dann stand sie ihrem Rechtsanwalt Dr. Herbert Suttermann gegenüber. »Guten Tag, gnädige Frau«, begrüßte er sie, »wie geht es Ihnen?«
»Danke«, sagte sie, »ich hatte gehofft, mein Mann …«
»Er wollte mitkommen, aber ich hielt es für besser …«
»Warum?«
»Weil ich noch einmal unter vier Augen mit Ihnen reden wollte!«
Der Justizbeamte, der die Begleiterin von Carola Groß abgelöst hatte, zog sich in eine entfernte Ecke des großen Raumes zurück.
»Die Verhandlung ist für übermorgen anberaumt«, sagte Dr. Suttermann.
»Ja, ich weiß!« Ohne es selber zu merken, rang Frau Carola Groß die Hände. »Und wie lange wird diese Zurschaustellung dauern?«
»So dürfen Sie es nicht ansehen, gnädige Frau«, mahnte der Rechtsanwalt, »in diesem Prozeß geht es um Ihr Schicksal! Zwar nicht um Leben und Tod, aber immerhin …«
»Wie lange wird es dauern?«
»Das hängt von den Umständen ab …«
»Ich hatte so gehofft«, sagte Carola Groß, »Sie würden mir diese Demütigung ersparen!«
»Es wäre besser für Sie … und für den Ausgang des Prozesses … Sie würden sich solche Sentiments abgewöhnen.«
»Glauben Sie, es ist einfach für mich, mich in aller Öffentlichkeit zu entblößen? Meine unglückliche Ehe, meine Eifersucht …« Sie schluchzte trocken auf. »Nein, ich kann nicht!«
»Sie müssen.« Dr. Suttermann legte seine Aktentasche auf den kleinen Tisch in der Mitte des Raumes. »Ganz davon abgesehen, daß diese Dinge längst allgemein bekannt sind. Dafür hat schon die Presse gesorgt.«
»Entsetzlich!« Carola Groß ließ sich auf einen der beiden Stühle sinken.
»Nein, keineswegs. Sie haben die Sympathien des Publikums auf Ihrer Seite … jedenfalls die Sympathien aller Ehefrauen, die schon einmal von ihrem Mann betrogen worden sind oder doch fürchten müssen, daß es passieren könnte …«
»Warum erzählen Sie mir das!«
»Damit Sie die Situation vollkommen klar sehen. Wenn Sie die Tat gestehen würden …«
»Aber ich habe es nicht getan!« Die Stimme der Frau überschlug sich. »Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen? Ich habe es nicht getan, ich bin unschuldig!«
»Ich glaube Ihnen ja«, sagte Dr. Suttermann beruhigend.
»Nein, keiner glaubt mir … nicht einmal Sie!«
»Doch. Aber es ist meine Pflicht als Verteidiger, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie bei einem offenen Geständnis bestimmt mit mildernden Umständen rechnen können … wenn wir Glück haben, mit einer ganz unbedeutenden Freiheitsstrafe.«
»Aber ich kann doch nicht gestehen, was ich nicht begangen habe.«
»Das ist natürlich vollkommen richtig.« Dr. Suttermann setzte sich. »Bitte, regen Sie sich doch nicht auf. Ich werde alles daransetzen, einen Freispruch zu erreichen.«
»Das Gericht kann mich doch nicht verurteilen, wenn ich unschuldig bin!«
»Sie müssen versuchen, die Dinge realistisch zu sehen!« Der Anwalt schob seiner Mandantin ein Zigarettenpäckchen über den Tisch hinweg zu. »Die wahre Gerechtigkeit gibt es nur im Himmel! Der menschlichen Rechtsfindung sind Grenzen gesetzt. Es gibt leider Indizien, die gegen Ihre Schuldlosigkeit sprechen!«
Carola Groß zog sich eine Zigarette aus dem Päckchen, steckte sie zwischen die Lippen. »Aber ich lüge doch nicht!«
Der Anwalt gab ihr Feuer, zündete sich selber eine Zigarette an. »Das ist der springende Punkt. Wir müssen das Gericht von Ihrer Glaubwürdigkeit überzeugen, das heißt, Sie müssen jede Ihnen gestellte Frage wahrheitsgemäß beantworten, auch wenn Sie das Gefühl haben, sich damit zu belasten … verstehen Sie?«
»Ja …«
»Natürlich können Sie als Angeklagte … rein theoretisch gesehen … auch lügen. Aber jede Lüge, deren man Sie überführt, ist ein neuer Belastungspunkt – darauf muß ich Sie noch einmal aufmerksam machen. Halten Sie sich also streng an die Wahrheit.«
»Das verspreche ich Ihnen …«
»Sehr gut. Sollte der Staatsanwalt oder der Richter Ihnen eine Frage stellen, deren Beantwortung Sie in Konflikte stürzt, so bitten Sie darum, sich erst mit mir zu besprechen. Das macht zwar nicht den allerbesten Eindruck, ist aber immer noch besser als eine falsche Antwort.«
»Ich werde es mir merken.«
»Dann können wir wohl zu den Äußerlichkeiten übergehen. Haben Sie schon überlegt, was Sie während der Verhandlung anziehen wollen?«
Sie sah ihn verständnislos an. »Was ich … anziehen will?«
»Ja. Auch das ist wichtig. Sehen Sie, nicht nur die blanken Tatsachen sind für den Ausgang eines solchen Prozesses entscheidend, sondern auch andere, rein gefühlsmäßige Dinge. Denken Sie immer daran, daß nicht nur drei berufsmäßige Richter über Sie zu Gericht sitzen, sondern auch sechs Geschworene, also Laien, juristisch völlig unvorgebildete Menschen … sie sind in der Mehrzahl, und deshalb liegt letzten Endes die Entscheidung bei ihnen …«
»Und für diese Menschen soll ich mich hübsch machen?«
»Genau. Eine gebrochene, ungepflegte Frau kann man sich allzu leicht als Zuchthäuslerin vorstellen … und auch Sie selber werden mehr Vertrauen zu sich haben, wenn Sie gut angezogen und zurechtgemacht sind! Habe ich nicht recht?«
»Ich weiß, daß ich wie eine Vogelscheuche aussehe«, sagte Carola Groß bitter.
Der Rechtsanwalt zwang sich zu einem Lächeln. »Nun übertreiben Sie aber entschieden, gnädige Frau! Auf alle Fälle werde ich Ihnen morgen eine Friseuse schicken …«
»Das wäre wunderbar!«
»Na, sehen Sie. Und die entsprechende Kleidung werde ich aus Ihrem Haus holen lassen. Das Passendste ist wohl ein gutsitzendes Kostüm …«
»Mein kleines schwarzes?«
»Vielleicht ein bißchen trist … aber doch, ja. Mit einer blütenweißen Bluse … weiß ist immer gut! Passen Sie nur auf, Sie werden darin sehr hübsch wirken.«
»Darf ich Lippenstift benutzen?«
»Aber ja. Ein gutes, unauffälliges Make-up kann nicht schaden. Aber achten Sie darauf, daß Sie nicht zu attraktiv wirken … das wäre auch wieder unangebracht.«
»Nur keine Sorge, Herr Doktor«, sagte Carola Groß tonlos, »die Gefahr besteht bestimmt nicht!«
Aber als sie einige Minuten später in ihre Zelle zurückgeführt wurde, fühlte sie sich doch seltsam getröstet. Die Aussicht, nicht als arme Sünderin, sondern gut angezogen und gepflegt vor ihren Richtern erscheinen zu können, hob ihr Selbstgefühl.
Sie war entschlossen, sich mit allen Mitteln zu verteidigen. Heinrich, ihr Mann, sollte sehen, daß sie nicht das kleine Dummchen war, für das er sie immer gehalten hatte, sondern eine entschlossene Frau, die um ihr Recht und ihre Freiheit zu kämpfen verstand.
Beide, Ellen Krone und ihr Mann, hatten sich redlich bemüht, es nicht gleich in den ersten Stunden nach der langen Trennung zu einem Streit kommen zu lassen. Ellen hatte das Thema ihrer Berufung als Geschworene sofort fallenlassen, als das Mißbehagen ihres Mannes offensichtlich wurde, und auch Peter Krone war nicht mehr darauf zurückgekommen.
Aber über ihre erste Wiedersehensfreude war ein Schatten gefallen. Beide wagten es nicht mehr, sich natürlich zu geben, überlegten jedes Wort, bevor sie es aussprachen, und ihre vor kurzem noch so frische und unbefangene Freude hatte etwas Gekünsteltes angenommen.
Das Essen in ihrer kleinen Wohnung am Waldfriedhof, mit dem Ellen sich soviel Mühe gegeben und Ehre einzulegen gehofft hatte, hatte ihr jetzt selbst nicht mehr recht schmekken wollen. Plötzlich hielt sie es nicht länger aus.
Sie hatte das Tablett mit dem Kaffee ins Wohnzimmer gebracht, und während sie eingoß, Sahne und Zucker in die Tassen tat, konnte sie die Frage, die ihr auf dem Herzen brannte, nicht länger zurückhalten. »Wenn du mir nur sagen würdest«, begann sie, »warum es dir nicht paßt, Peter, daß ich Geschworene werde?«
Er lehnte sich in den Sessel zurück, sah sie an. »Verlangst du wirklich eine Erklärung von mir?«
»Ja«, erwiderte sie so sachlich wie möglich und versuchte, die Erregung, die in ihrer Stimme schwang, zu unterdrücken. »Du hast doch gewußt, daß ich dieses Jahr als Geschworene drankommen würde. Ich habe es dir gesagt, als ich die Mitteilung bekam … damals schienst du ganz damit einverstanden!«
»Damals«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an, »konnte ich ja auch noch nicht ahnen, daß du am Mordprozeß Carola Groß teilnehmen würdest.«
Ellen Krone sah ihn aus großen Augen an. »Macht denn das einen Unterschied, Peter?« Sie unterdrückte den Impuls, sich neben ihn auf die Sessellehne zu setzen, nahm ihm gegenüber Platz. »Gib mir auch eine Zigarette, bitte, ja?«
»Entschuldige«, sagte er, reichte ihr sein Päckchen, gab ihr Feuer.
Sie nahm einen tiefen Zug. »Danke. Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Begreifst du denn nicht«, sagte er ungeduldig, »wie ekelhaft mir der Gedanke ist, daß ausgerechnet du in eine solche Sache verwickelt werden solltest?«
»Ich bin nicht darin verwickelt, wie du dich ausdrückst«, erwiderte sie, »sondern ich muß helfen, ein gerechtes Urteil zu finden. Außerdem … alle Fälle, die vors Schwurgericht kommen, sind nicht angenehm. Mord, Totschlag, Notzucht … das hättest du doch wissen müssen.«
»Na schön, ich habe es gewußt. Aber ich habe es mir einfach nicht so vorgestellt.« Er nahm einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse wieder ab. »Wenn du mich wenigstens etwas sanfter darauf vorbereitet hättest! Warum hast du es mir nicht nach Karachi geschrieben?«
»Es sollte doch eine Überraschung sein«, sagte sie hilflos.
»Eine feine Überraschung, das kann man wohl sagen.«
Sie sah ihn an, sein männliches Gesicht mit den klugen grauen Augen, bemerkte die angespannten Linien um seinen Mund.
»Peter«, sagte sie weich, »ich verstehe zwar deine Gründe nicht …«
»Wie solltest du auch«, erwiderte er.
Sie ließ sich nicht unterbrechen. »Aber wenn du so sehr dagegen bist«, fuhr sie fort, »werde ich versuchen, mich zu drücken.«
Er hob, wie von einer Last befreit, den Kopf. »Wie willst du das anfangen?«
»Ich werde morgen zum Gericht gehen und versuchen, dem Vorsitzenden meine Gründe klarzumachen! Daß ich jung verheiratet bin und daß du …«
»Nein, bitte, laß mich aus dem Spiel!«
Sie lachte. »Bildest du dir etwa ein, daß der Vorsitzende sich für dich interessieren könnte? Nur keine Angst, mir wird schon was einfallen, wie ich mich aus der Sache herauswinden kann! Bist du jetzt zufrieden?«
Er streckte, statt einer Antwort, die Hand aus, und sie ließ sich von ihm auf den Schoß ziehen, schlang aufatmend ihre Arme um seinen Hals.
»Peter, Liebster«, flüsterte sie, »ich bin ja so froh, daß wir uns ausgesprochen haben! Du mußt mir immer sagen, wenn dir etwas an mir nicht paßt, ja? Ich habe mir so fest vorgenommen, dich glücklich zu machen …«
Er bedeckte ihren Hals, ihren Nacken mit heißen Küssen, hielt sie fest, fast schmerzhaft umfangen. »Du bist ein Engel, Ellen … und ich könnte nicht ertragen, daß du in solchen Schmutz hineingezogen wirst … daß du überhaupt damit in Berührung kommst! Verstehst du das? Ich will dich doch beschützen! Sag mir, daß du mich verstehst!«
»Ja«, hauchte sie.
Und dann sprachen sie lange Zeit nichts mehr. Alles versank um sie, der graue Alltag, der bevorstehende Prozeß, das Schicksal der Angeklagten, es gab nur noch zwei Menschen auf der Welt: sie und ihn.
Landgerichtsrat Dr. Mergentheimer hatte sich gerade wieder einmal in die Akten zum Mordprozeß Carola Groß vertieft, als ein Justizangestellter in seinem Arbeitszimmer im Landgericht erschien und ihm Ellen Krone meldete.
»Die Dame ist Geschworene im morgigen Prozeß«, erklärte der Mann.
»Na und? Was will sie dann heute schon hier? Dann soll sie doch morgen kommen!«
»Soviel ich verstanden habe, möchte sie ablehnen!«
»Das ist der Dame aber reichlich spät eingefallen! Na schön, lassen Sie sie hereinkommen!«
Beim Anblick Ellen Krones, die gleich darauf ein wenig zaghaft in den kleinen, nüchternen Raum trat, verflog der Unwille des Landgerichtsrates augenblicklich. Er nahm seine Brille ab und betrachtete die junge Frau voller Wohlwollen.
Ellen Krone sah in ihrem leuchtend blauen Winterkostüm mit dem schwarzen Persianerkragen reizend aus, ein Lichtblick in der sachlichen Atmosphäre des Landgerichts. Der Anblick ihres schmalen, sehr aparten Gesichtes tat dem alten Herrn wohl.
»Bitte«, sagte er, »nehmen Sie Platz! Wie war der Name?«
»Ellen Krone …« Sie setzte sich, stellte die langen schlanken Beine brav nebeneinander und zog, als sie den Blick des Landgerichtsrates bemerkte, den Rock tiefer über die Knie. Verstohlen musterte sie den schweren Mann hinter seinem Schreibtisch, dem das schneeweiße, glänzende Haar und das runde Gesicht eine Milde verliehen, die in krassem Gegensatz zu seinen klugen, durchdringenden Augen stand.
»Und ich bin Landgerichtsrat Mergentheimer, Vorsitzender im morgigen Schwurgerichtsprozeß … aber das wissen Sie sicher schon, wie?«
»Ja. Gerade deshalb wende ich mich an Sie! Herr …« Sie suchte nach der passenden Anrede. »Herr Vorsitzender, ich … ich möchte Sie bitten, mich von meinem Amt zu entheben, es sind unvorhergesehene Umstände eingetreten, die …« Sie stockte, als sie spürte, daß sie sich mit ihrem langen Satz verheddern würde.
Landgerichtsrat Mergentheimer lehnte sich im Sessel zurück und sagte ermunternd: »Na, dann erzählen Sie mal, was Sie auf dem Herzen haben!«
Er ließ sie reden, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen, aber gerade die Tatsache, daß der erwartete Widerspruch ausblieb, irritierte sie. Sie spürte selber, daß die Gründe, die sie vorbrachte, fadenscheinig waren und wenig überzeugend klangen. Ihre Stimme wurde immer unsicherer, schließlich verstummte sie ganz.
Landgerichtsrat Mergentheimer beugte sich vor, legte die Spitzen seiner sehr weißen, kräftigen Hände gegeneinander. »Nun mal ganz ehrlich … warum wollen Sie sich drücken?«
»Ich will mich nicht …«
»O doch! Sie sind weder Ärztin noch Hebamme, Krankenschwester oder Apothekerin, Sie sitzen auch nicht im Bundestag oder Landtag … wenn das der Fall wäre, hätten Sie Ihr Ablehnungsgesuch ja auch schon zu Beginn des Geschäftsjahres, nämlich seinerzeit, als Sie erfuhren, daß Sie zur Geschworenen bestimmt waren, eingereicht…«
Ellen Krones tiefblaue Augen glänzten vor Erregung. »Ich sagte Ihnen ja schon … das versuche ich ja die ganze Zeit zu erklären … mein Mann ist vorzeitig von einer Geschäftsreise zurückgekommen! Auch vor vierzehn Tagen, als ich die Mitteilung erhielt, daß ich gerade an diesem Prozeß teilnehmen sollte, wußte ich ja noch nicht …«
Jetzt unterbrach sie der Landgerichtsrat. »Wie alt ist Ihr Mann?«
»Fünfunddreißig Jahre …«
»Gesund?«
»Ja …«, sagte Ellen Krone verständnislos.
»Haben Sie Kinder?«
»Nein. Vorläufig noch nicht.«
»Na, dann werden Sie wohl sicher mit mir übereinstimmen, daß ein gesunder junger Mann wie Ihr Gatte ein paar Tage … länger wird der ganze Prozeß wohl nicht dauern … auch mal ohne Sie fertig werden kann!«
»Aber es ist möglich, daß er bald wieder fort muß! Er ist nämlich Ingenieur, Spezialist, und deshalb … deshalb möchte ich ihn nicht gerade jetzt, nachdem er eben erst wiedergekommen ist, allein lassen!«
»Als Mensch, liebe Frau Krone, verstehe ich Sie vollkommen, aber als Jurist kann ich diesen Grund nicht anerkennen. Versetzen Sie sich doch mal in die Lage des Gerichts! Woher sollen wir, buchstäblich von heute auf morgen, einen Ersatzgeschworenen bekommen? Und wie könnten wir ihn in der kurzen Zeit benachrichtigen?«
»Aber soviel ich weiß, gibt es doch immer Hilfsgeschworene, die …«
»Ja, aber wir brauchen sie für äußerste Notfälle. Es kann ja passieren, daß ein Geschworener mitten in der Verhandlung ernsthaft erkrankt … dann ist der Moment gekommen, wo der Hilfsgeschworene, der den Prozeß von Anfang an verfolgt hat, einspringen muß. Sie werden doch nicht verlangen, daß ich wegen Ihrer Ehe unter Umständen den ganzen Prozeß platzen lassen muß? Wir haben nämlich nur einen einzigen Hilfsgeschworenen zur Verfügung …«
»Sie könnten mir helfen«, sagte Ellen Krone verzweifelt, »wenn Sie es wirklich wollten, könnten Sie es bestimmt!«
»Nun, wenn ich ehrlich sein soll … all das, was Sie vorgebracht haben, leuchtet mir nicht ganz ein …«
»Aber …«
»Nun lassen Sie mich mal ausreden! Hand aufs Herz, Frau Krone: Ist Ihnen die Angeklagte bekannt?«
»Aus der Zeitung.«
»Nein. Ich meine persönlich.«
Ellen Krone schüttelte den Kopf.
»Vielleicht das Opfer? Diese Annabelle Müller?«
»Nein!«
»Sie haben also, wenn ich Sie recht verstehe, keinerlei persönliche Verbindungen zu irgendeiner der in diesen Prozeß verwickelten Personen? Sie fühlen sich nicht befangen? Bitte, überlegen Sie sich meine Frage gut, bevor Sie antworten!«
»Darüber brauche ich nicht nachzudenken«, erklärte Ellen Krone, »ich kenne niemanden von all den Leuten.«
»Sehr schön. Dann erwarte ich Sie also morgen pünktlich um neun Uhr … das heißt, möglichst schon eine Viertelstunde früher, weil wir um neun Uhr den Prozeß eröffnen wollen.« Landgerichtsrat Mergentheimer stand auf und reichte Ellen die Hand.
Sie zögerte einzuschlagen. »Aber mein Mann …«
Landgerichtsrat Mergentheimer lächelte. »… ist bestimmt zu beneiden. Doch Sie haben nicht nur Verpflichtungen Ihrem Mann, sondern auch der Allgemeinheit gegenüber!« Er wurde ernst. »Es ist immer eine schwere und verantwortungsvolle Aufgabe, über einen Menschen zu Gericht zu sitzen, ein Urteil zu sprechen. Gerade deshalb bin ich sehr froh, Sie morgen an meiner Seite zu wissen … eine kluge, aufgeschlossene junge Frau! Wer weiß, vielleicht kann gerade Ihre Stimme ausschlaggebend sein!«
Diesem Appell konnte Ellen Krone nicht widerstehen. Sie schlug in die ausgestreckte Hand ein. »Ich komme«, sagte sie, »also dann, bis morgen!«
Erst als sie wieder draußen auf der Straße stand, im lebhaften Verkehr des großstädtischen Vormittags, hatte sie das Gefühl, überrumpelt worden zu sein.
Was würde Peter dazu sagen?
Sie überquerte die Straße, beeilte sich, zu ihrem Mann zu kommen, der versprochen hatte, in der ersten Etage des Hotels »Königshof« auf sie zu warten. Sie hatte das Bedürfnis, ihren Bericht so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
»Morgen erster Verhandlungstag im Mordprozeß Carola Groß«, gellte die Stimme eines Zeitungsverkäufers durch den Verkehrslärm am Stachus. »Die schöne Annabelle … Opfer einer eifersüchtigen Ehefrau?«
Im Vorbeigehen erstand Ellen Krone eine Zeitung und warf, während sie weitereilte, einen Blick auf das Titelblatt. Es zeigte das Foto einer jungen Frau mit glattem, gepflegtem Gesicht, leicht schräg stehenden Augen, hohen Backenknochen und einem vollen Mund. Langes blondes Haar betonte das Nixenhafte ihrer Erscheinung. Es war ein Gesicht, das nicht nur Ellen Krone, sondern auch jedem Zeitungsleser seit langem vertraut war – das Gesicht der ermordeten Annabelle Müller.
Ellen Krone las die Schlagzeile, überflog den Artikel, der nichts Neues enthielt, sondern sich darauf beschränkte, längst bekannte Tatsachen noch einmal möglichst raffiniert zu servieren.
Sie faltete die Zeitung zusammen, ließ sie, bevor sie den »Königshof« betrat, in einen Papierkorb fallen – sie wollte ihren Mann durch ihr Interesse an diesem Fall nicht noch mehr verärgern.
Als sie das Restaurant im ersten Stock betrat, sah sie mit einem Blick, daß ihr Mann die gleiche Zeitung aufgeschlagen vor sich hatte. Er saß an einem der hohen Fenster, von denen man einen guten Überblick über den ganzen Platz hatte, mit dem Gesicht dem Eingang zugewandt, und er bemerkte ihren Eintritt, noch bevor sie sich seinem Tisch genähert hatte.
Er sprang auf und legte die Zeitung beiseite. »Hat es geklappt?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Leider nein.«
»Verdammt«, entfuhr es ihm.
»Ich habe wirklich alles versucht«, fügte sie sehr leise hinzu.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Möchtest du etwas trinken?«
»Ja, bitte, eine Tasse Kaffee.«
Er rückte ihr den Sessel zurecht, und sie setzte sich, knöpfte ihre Jacke auf, zog ihre Handschuhe aus. »Es tut mir so leid«, sagte sie.
Er gab seine Bestellung auf und setzte sich ihr gegenüber. »Ich hätte es dir gern erspart«, sagte er, »aber wenn es denn sein soll …«
»Es gäbe noch eine Möglichkeit«, meinte sie, »wenn ich krank würde …« Ihre Augen leuchteten auf, sie war von ihrer eigenen Idee begeistert. »Ich fühle mich tatsächlich seit einiger Zeit nicht ganz wohl! Ich bin sicher, wenn ich zu einem Arzt ginge …«
Er unterbrach sie. »Dazu ist es jetzt zu spät.«
»Aber wieso denn? Ein Attest müßte das Gericht doch überzeugen …«
»Nein«, sagte er, »du würdest dich nur verdächtig machen. Der Vorsitzende weiß ja schon, daß du dein Amt als Geschworene nicht übernehmen willst.«
»Das macht doch nichts«, entgegnete sie, »was kann mir schon passieren?«
»Hör auf damit«, sagte er. »Glaube mir, es ist zu spät.«
Mehr als durch seine Worte war sie durch seinen Ton betroffen. Sie liebte ihn sehr, und sie glaubte ihn gut zu kennen. Aber in diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, einem Wildfremden gegenüberzusitzen.
Für die Schwurgerichtsverhandlung gegen Carola Groß war der größte Saal des Landgerichts bestimmt worden. Dennoch bot er für die andrängende Masse der Neugierigen und Sensationslustigen nicht Platz genug.
Als Ellen Krone zehn Minuten vor neun Uhr eintraf, war der Eintritt für das Publikum schon gesperrt. Nur Journalisten und sachkundige Beobachter, die eigens für diesen Prozeß in München zusammengekommen waren, wurden noch eingelassen, für sie hatte man ganze Reihen reserviert.
Ellen Krone empfand ein prickelndes Gefühl von Wichtigkeit, als sie ihre Ladung einem Justizbeamten vorwies und von ihm in das Zimmer hinter dem Sitzungssaal gewiesen wurde. Die meisten Geschworenen waren schon anwesend. Sie hatten sich um eine schlanke, grauhaarige Frau gruppiert, die unverkennbar das große Wort führte.
Ellen Krone taxierte sie, ihrem selbstbewußten Auftreten und ihrer befehlsgewohnten Stimme nach, als Lehrerin im Ruhestand.
Landgerichtsrat Dr. Mergentheimer stand mit den beiden anderen Richtern zusammen. Alle drei waren schon in ihren schwarzen Talaren. Er begrüßte Ellen Krone, die ihm ihre Ladung und ihren Ausweis zeigte, mit betonter Herzlichkeit.
»Fein, daß Sie also doch gekommen sind, Frau Krone«, sagte er mit einem lächelnden Augenzwinkern.
Ellen Krone ärgerte sich, daß sie errötete, sie fand ihr eigenes Benehmen albern und schulmädchenhaft, sie war froh, als der Landgerichtsrat sich dem nächsten Ankömmling zuwandte.
»Herr Kasimir Kaiser, Lagerverwalter«, sagte er, »ja, geht in Ordnung!« Er reichte dem Geschworenen seine Papiere zurück.
Dieser Name paßte so wenig zu seinem Träger, einem mageren, unscheinbaren kleinen Mann, daß Ellen Krone ihm unwillkürlich einen erstaunten Blick zuwarf, den Kasimir Kaiser mit so viel kalter Arroganz erwiderte, daß sie sofort zur Seite blickte.
Kasimir Kaiser zog seinen Mantel aus, hängte ihn an den Kleiderständer und blieb betont abseits von den anderen stehen, ein süffisantes Lächeln um die schmalen, blutleeren Lippen, die Hände in den Hosentaschen. Er sah aus wie ein Mann, der sich aller Welt überlegen fühlt, sein Urteil längst gefaßt hatte und die bevorstehende Gerichtsverhandlung für einen ganz überflüssigen Firlefanz hielt.
Kein angenehmer Zeitgenosse, schoß es Ellen Krone durch den Kopf, arme Carola Groß!
Sie überlegte noch, ob sie sich den anderen Geschworenen vorstellen sollte, als Landgerichtsrat Mergentheimer das Wort ergriff.
»Meine Damen und Herren«, sagte er, »glauben Sie mir, es ist noch viel zu früh, den Fall zu diskutieren, geschweige denn, sich ein Urteil zu bilden. Bitte, Frau Breuer!«
Die schlanke, grauhaarige Frau fuhr zusammen, sah ihn fast schuldbewußt an.
»Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit«, erklärte Landgerichtsrat Mergentheimer lächelnd. »Ich möchte Sie bitten, Sie alle bitten, zu vergessen, was Sie in den Zeitungen über den Mordfall, über Schuld oder Unschuld der Angeklagten gelesen haben. Sie dürfen ruhig unterstellen, daß wir, meine beiden Kollegen und ich, weit besser über die Tatsachen und die Indizien, die in diesem Prozeß zur Sprache kommen werden, orientiert sind als sämtliche Journalisten und Zeitungsleser … und dennoch würden wir uns niemals anmaßen, den Ausgang des Prozesses schon jetzt, ehe er begonnen hat, vorauszusagen …«
Kasimir Kaiser räusperte sich, machte ein Gesicht, als wollte er etwas entgegnen, hüllte sich dann aber, als er alle Blicke auf sich gerichtet sah, doch in Schweigen, lächelte nur vielsagend.
»Sie, meine Damen und Herren Geschworenen, haben die schwere Aufgabe, Recht zu finden und Recht zu sprechen, Sie müssen über das Schicksal eines Menschen entscheiden, und ich bin überzeugt, Sie können es nur, wenn Sie sich ehrlich bemühen, völlig unvoreingenommen in die Verhandlung einzutreten!« fuhr der Landgerichtsrat fort. »Alles, was Sie wissen wollen, werden Sie im Gerichtssaal hören … damit nicht genug, Sie haben das Recht, selber Fragen an die Angeklagte und an die Zeugen zu stellen, wenn Sie den Eindruck haben, daß der eine oder andere Punkt noch näher geklärt werden müßte …« Er sah sich im Kreis der Geschworenen um. »Ich denke, Sie werden zugeben, daß Sie dadurch eine weit bessere Informationsmöglichkeit erhalten, als die Zeitungen je bieten können …«
»Sehr schön«, schloß Landgerichtsrat Mergentheimer, »ich sehe, wir haben uns verstanden!« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es ist soweit!«
Die drei Richter setzten ihre Barette auf, der Landgerichtsrat öffnete die Tür zum Sitzungssaal, und – die Berufsrichter voran – zogen sie ein.
Das aufgeregte Stimmengewirr in dem großen Saal verstummte augenblicklich. Scharrend und Stühle rückend, erhob sich das Publikum, dann trat atemlose Spannung ein.
Die sechs Geschworenen traten vor den Richtertisch. Landgerichtsrat Mergentheimer nahm die Vereidigung vor. »Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, die Pflichten eines Geschworenen getreulich zu erfüllen und Ihre Stimme nach bestem Wissen und Gewissen abzugeben!«
Ellen Krone hob ihre rechte Hand. »Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!«
Ein fünffaches Echo folgte ihren Worten. Dann stellten sich die Geschworenen hinter dem Richtertisch auf, die drei Richter legten ihre Barette ab, setzten sich, und auch die Geschworenen und die Menschen im Saal nahmen Platz. Die Sitzung konnte beginnen.
Auf einen Wink des Vorsitzenden wurde die Angeklagte durch eine Nebentür hereingeführt, und die gespannte Aufmerksamkeit aller Anwesenden richtete sich jetzt auf Carola Groß.
Ellen Krone war überrascht durch die aufrechte Haltung und die gepflegte Erscheinung der Angeklagten. Sie hatte sich eine Frau, die des Mordes beschuldigt wurde und nahezu ein Jahr in Untersuchungshaft zugebracht hatte, anders vorgestellt, nicht so adrett in blütenweißer Bluse und schwarzem, gutsitzendem Kostüm, das nur eine Spur zu weit schien, nicht so gepflegt mit blondiertem, sorgsam frisiertem Haar. Aber dann sah sie, daß die schmalen Hände der Angeklagten flatterten, daß in ihren Augen die Angst eines gehetzten Wildes stand, und sie begriff, daß Carola Groß alle Kraft zusammennahm, um diesen gefaßten, selbstsicheren Eindruck zu erwecken.
Schuldig oder nicht, ging es ihr durch den Kopf, diese Frau ist zu bemitleiden! Wie schrecklich muß das alles für sie sein! Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken!
Landgerichtsrat Mergentheimer hatte inzwischen die Sache aufgerufen und sich vergewissert, daß Verteidiger und Staatsanwalt anwesend, die Beweismittel präsent waren.
Ein Justizbeamter führte die geladenen Zeugen und Sachverständigen in den Saal, sie nahmen in langer Reihe vor dem Richtertisch Aufstellung.
Landgerichtsrat Mergentheimer beugte sich vor und sah von einem zum anderen. »Sie wissen«, sagte er, »worum es in diesem Prozeß geht, und Sie wissen auch, daß Sie die Wahrheit, und zwar die reine Wahrheit sagen müssen. Jede wissentliche oder fahrlässig falsche Aussage kann strafrechtliche Folgen für Sie haben. Darüber hinaus müssen Sie damit rechnen, vereidigt zu werden, und auf Meineid, meine Damen und Herren, steht Zuchthaus. Sagen Sie also nur das aus, was Sie wirklich wissen, und denken Sie immer daran, daß das Gericht sich bei der Wahrheitsfindung in starkem Maße auf Ihre Aussage stützen muß.« Er lehnte sich zurück. »Danke. Sie werden später einzeln aufgerufen.«
Die Zeugen verließen den Sitzungssaal. Landgerichtsrat Mergentheimer wartete ab, bis der Gerichtsdiener die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.
»Angeklagte«, sagte er dann, »würden Sie uns bitte etwas über sich erzählen?«
Die Angeklagte erhob sich, ihre Hände klammerten sich haltsuchend um die Leiste der Anklagebank.
»Wo sind Sie geboren?« fragte der Vorsitzende ermutigend.
»In Brünn …«
»Und wann?«
»1922 … am vierten April 1922. Mein Vater …« Die Angeklagte stockte wieder.
»Was war Ihr Vater? Erzählen Sie nur! Uns interessiert alles …«
Der ruhige, wohlwollende Ton des Vorsitzenden verfehlte nicht seine Wirkung auf Carola Groß. »Meine Eltern sind Volksdeutsche«, sagte sie, »mein Vater war Teilhaber einer Schuhfabrik in Brünn. Ich wuchs mit meinem Bruder zusammen in einem guten Elternhaus auf. Behütet und ohne Sorgen. Bis der Krieg kam, und dann die Austreibung. Wir hatten es anfangs sehr schwer in Deutschland, aber bald gelang es meinem Vater, festen Fuß zu fassen. Er gründete hier bei München eine Schuhfabrik, die nach der Währungsreform sehr gut florierte …«
»Sie hatten also persönlich durch den Krieg keine Verluste?«
»Doch, doch! Mein Bruder… mein einziger Bruder … fiel in Rußland, und auch mein Verlobter wurde als vermißt gemeldet…«
»Ist er zurückgekommen?«
»Nein.«
»Erzählen Sie weiter! Wann lernten Sie Ihren jetzigen Mann kennen?«
»1953. Heinrich arbeitete als Vertreter für meinen Vater. Ich selber … ich half damals in der Firma. Ich habe die mittlere Reife gemacht und später die Handelsschule besucht. Aber erst nach dem Krieg begann ich als Sekretärin bei meinem Vater zu arbeiten.«
Ellen Krone rechnete blitzschnell nach. Carola war also schon über dreißig gewesen, als sie ihren Mann kennengelernt hatte.
»Wir verlobten uns und heirateten ein Jahr später«, erzählte die Angeklagte. »Mein Mann gab daraufhin den Außendienst auf und wurde geschäftsführender Prokurist unserer Firma,«
»Teilhaber?«
Die Angeklagte zögerte, schlug die Augen nieder. »Nein«, sagte sie.
»Jedenfalls scheint es sich wohl um eine Vernunftehe gehandelt zu haben?« fragte der Vorsitzende.
»Nein!« Die Angeklagte hob, fast herausfordernd, den Kopf. »Wir haben aus Liebe geheiratet! Unsere Ehe war glücklich, wenn wir auch keine Kinder hatten, glücklich, bis …«
Der Vorsitzende unterbrach sie. »Danke, Angeklagte, das genügt fürs erste!«
Oberstaatsanwalt Kleiper, ein großer Mann mit schweren Lidern, einem vollen Mund und schlaffen Wangen erhob sich, las die Anklage vor. »In der Strafsache Carola Groß, geborene Helpert, verheiratet, Hausfrau, deutsche Staatsangehörigkeit, wird Anklage erhoben. Die Staatsanwaltschaft legt auf Grund der von ihr angestellten Ermittlungen der Angeschuldigten folgendes zur Last: Die Angeschuldigte suchte am 19. September gegen neunzehn Uhr die Geliebte ihres Ehemannes, Annabelle Müller, in deren Wohnung auf und veranlaßte die Ahnungslose auf heimtückische Weise, eine Flüssigkeit zu trinken, in der sie vorher eine tödliche Dosis Gift aufgelöst hatte. Annabelle Müller starb kurz darauf an den Folgen dieses Giftes einen qualvollen Tod. Die Angeschuldigte wollte auf diese Weise die Geliebte ihres Mannes, auf die sie schon seit langem eifersüchtig war, beseitigen. Die Angeklagte wird daher beschuldigt…« – Oberstaatsanwalt Kleiper machte eine kleine Pause –, »… aus niedrigen Beweggründen heimtückisch und grausam einen Menschen getötet und sich dadurch eines Verbrechens gemäß § 211 StGB schuldig gemacht zu haben!«
In die atemlose Stille, die diesen Worten folgte, gellte der Schrei der Angeklagten: »Das ist nicht wahr! Ich habe es nicht getan! Ich habe nicht …«
»Ruhe!« rief der Vorsitzende.
Gleichzeitig bemühte sich Rechtsanwalt Dr. Suttermann, seine Klientin zu beschwichtigen.
»Angeklagte«, sagte Landgerichtsrat Mergentheimer, »wenn Sie etwas zu sagen haben, dann bitte nur, wenn Sie gefragt sind, und auch dann in angemessener Form! Haben Sie mich verstanden?«
Das »Ja« der Angeklagten war kaum zu hören.
»Es steht Ihnen frei, sich zur Anklage zu äußern … wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie aber auch nicht auszusagen …«
»Ich möchte aussagen!«
»Also gut! Dann schildern Sie die Vorgänge am Abend des neunzehnten September. Sie haben ja schon in der Voruntersuchung nach anfänglichem Leugnen zugegeben, daß Sie die Ermordete aufsuchten. Wie kam es dazu?«
»Ich war eifersüchtig. Ich wollte, daß sie meinen Mann freigab … aber ich habe sie nicht getötet, wirklich nicht!«
»Seit wann wußten Sie oder glaubten Sie etwas zu wissen über die Beziehungen zwischen Annabelle Müller und Ihrem Gatten?«
»Ich hatte schon längere Zeit das Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung war. So etwas spürt man als Frau. Mein Mann war … anders zu mir als früher. Deshalb beauftragte ich ein Detektivbüro, ihn zu beobachten …«
»Das Detektivbüro Krause, nicht wahr?«
»Ja. Und im August vorigen Jahres brachte Herr Krause mir dann die Beweise. Ich … ich war wie vor den Kopf geschlagen, obwohl ich es natürlich geahnt hatte.«
»Stellten Sie Ihren Mann zur Rede?«
»Nein. Ich hatte es vor, aber …« Unwillkürlich rang die Angeklagte die Hände. »Ich brachte die Kraft dazu nicht auf. Ich packte meine Koffer und fuhr ab. Ich wollte irgendwohin … Ruhe haben. Mit mir selber fertig werden.«
»Sie fuhren nach Monte Carlo?«
»Ja. Aber das war nur ein Zufall. Ich hätte genausogut anderswohin fahren können. Ich … ich wollte meinen Mann nie mehr Wiedersehen.«
»Aber dann kamen Sie doch zurück?«
»Ja. Mein Mann … und auch mein Vater … riefen mich wieder und wieder an. Mein Vater sagte mir, ich… ich sollte Vernunft annehmen. Mein Mann schwor mir, daß er das Verhältnis gelöst hätte. Ich kam nach München zurück, und … wir versöhnten uns. Ich glaubte meinem Mann, und ich verzieh ihm.«
»Aber Sie suchten dann doch noch die …«, der Vorsitzende räusperte sich, »… ehemalige Geliebte Ihres Mannes auf?«
»Ja. Eine Freundin erzählte mir, daß sie meinen Mann … zufällig … am Abend in einem Restaurant mit einer blonden Dame gesehen hätte.«
»Nach Ihrer Versöhnung?«
»Ja. Am Abend des achtzehnten September. Am nächsten Morgen erfuhr ich es. Nach der Beschreibung wußte ich, daß es nur diese Annabelle Müller gewesen sein konnte. Deshalb ging ich zu ihr, um sie zu bitten, unsere Ehe nicht länger zu stören.«
»Wie reagierte Annabelle Müller darauf?«
»Sie … sie war eigentlich sehr nett. Sie sagte mir, daß ich mir keine Sorgen zu machen brauchte … daß sie an meinem Mann nicht mehr interessiert sei … daß sie demnächst einen anderen heiraten würde …«
»Welchen anderen?«
»Darüber sagte sie nichts. Ich habe auch nicht danach gefragt.«
»Sie behaupten also, daß diese Aussprache völlig friedlich verlief?«
»Ja. Das heißt… zuerst war ich natürlich sehr aufgeregt, aber dann … wir haben beide ein Glas Cognac getrunken, dann ging ich wieder.«
»Um wieviel Uhr war das?«
»Ich weiß nicht genau. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, aber ich denke, daß ich nicht ganz eine Stunde dort geblieben bin. Jedenfalls war Fräulein Müller vollkommen gesund, als ich sie verließ. Sie brachte mich noch zur Tür und …« Die Angeklagte unterbrach sich. »Ja, das ist alles. Mehr kann ich darüber nicht sagen.«
»Standen die Flasche und die Gläser noch auf dem Tisch, als Sie Annabelle Müller verließen?«
»Ja.«
»Wieviel Cognac war noch in der Flasche?«
»Wir hatten beide ein Glas getrunken … das heißt, ich glaube Fräulein Müller zwei …«
»War die Flasche schon angebrochen, als Fräulein Müller einschenkte?«
»Das weiß ich nicht so genau. Jedenfalls war sie schon offen … ich meine, ich müßte mich daran erinnern, wenn sie sie in meiner Gegenwart geöffnet hätte.«
»Das hat sie also demnach nicht getan. Gut.« Der Vorsitzende lehnte sich zurück. »Nein, bitte setzen Sie sich noch nicht, Angeklagte! Der Herr Oberstaatsanwalt wird jetzt einige Fragen an Sie richten … bitte, Herr Oberstaatsanwalt!«
Um drei Uhr nachmittags war der erste Verhandlungstag im Prozeß Carola Groß zu Ende. Das sehr scharfe Verhör des Oberstaatsanwalts hatte die Aussage der Angeklagten nicht erschüttern können, und auch die Vernehmung durch den Verteidiger erbrachte nichts Neues. Das Gericht hatte ohne Unterbrechung getagt, aber Ellen Krone hatte gar nicht gemerkt, wie die Stunden vergingen.
Erst als sie aus dem Gerichtsgebäude auf die Straße trat, spürte sie, wie erschöpft und hungrig sie war. Sie hätte gern wenigstens eine Tasse Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht, aber es drängte sie nach Hause zu ihrem Mann.
Um so größer war ihre Enttäuschung, als sie die kleine Wohnung am Waldfriedhof verlassen vorfand. Sie tröstete sich damit, daß Peter sie sicher noch nicht so früh zurückerwartet hatte.
Sie mochte nicht allein essen, machte sich nur ein Brot zurecht, goß sich eine Tasse Kaffee auf. Aber ihre innere Unruhe konnte sie nicht besänftigen. Sie brannte darauf, mit jemandem über die Erlebnisse des heutigen Tages zu reden, um sie selber besser verarbeiten zu können.
Es ging auf fünf Uhr zu, und ihr Mann war immer noch nicht zurück. Schließlich verfiel sie darauf, die Fotos, die Peter aus Karachi mitgebracht hatte, in eines ihrer Alben einzukleben. Sie holte das letzte Album, das sie für ihre Hochzeitsreise angelegt hatte, aus dem Regal. Dabei fiel ein anderes, das Bilder aus der Junggesellenzeit ihres Mannes enthielt, zu Boden und öffnete sich.
Ellen Krone hob es auf, begann darin zu blättern, lächelte in sich hinein, als sie die Kinderbilder ihres Mannes sah, Fotos, die ihn als halberwachsenen Burschen darstellten, dann Bilder, die ihn fast so zeigten, wie er heute war.
Zum Schluß kamen ein paar leere Seiten, und auch die blätterte sie durch. Zwischen der letzten und der vorletzten Seite steckte ein gutgelungenes, sehr scharfes Foto, ein Schnappschuß aus einem Nachtlokal.
Es zeigte Peter Krone neben einem attraktiven Mädchen mit langem blondem Haar, schrägstehenden Augen und hohen Backenknochen. Ellen Krone starrte das Bild an, wollte nicht glauben, was sie sah – die Begleiterin ihres Mannes war niemand anders als Annabelle Müller.
Es dauerte Minuten, bis sie fähig war, die Bedeutung dieses Fotos zu begreifen. Der Schock war zu groß. Er überflutete sie mit einer Welle eisigen Entsetzens, die jeden Gedanken in ihr auslöschte.
Unwillkürlich schloß sie die Augen, als könnte sie sich so vor der Wirklichkeit verstecken. Aber als sie sie wieder öffnete, mit der zaghaften und trügerischen Hoffnung, sich getäuscht zu haben, war alles noch viel schlimmer. Die beiden lachenden, unbekümmerten Gesichter schienen noch näher gerückt. Es war Ellen Krone, als stünde in Annabelle Müllers Augen eine spöttische Herausforderung, die ihr, Ellen Krone, galt.
Sie mußte sich zwingen, diesen Eindruck abzuschütteln – unmöglich hatte Annabelle jemals etwas von ihrer Existenz gewußt. Oder doch?
Sie begann nachzudenken. Nein, es war unmöglich. Sie hatte ihren Mann einige Wochen vor dem Tod Annabelle Müllers kennengelernt. Sie hatten sich regelmäßig in einer kleinen Gastwirtschaft, dem »Goldenen Eck«, gesehen, in der sie zu Mittag zu essen pflegten. Aber über einen Gruß und ein paar belanglose Worte war ihre Bekanntschaft nicht hinausgegangen. Erst nach Annabelles Tod, Wochen nach Annabelles Tod, waren sie sich nähergekommen, hatte Peter sie zum erstenmal ins Kino eingeladen.
Ellen Krone versuchte sich krampfhaft zu erinnern. Wie war Peter nach Annabelles Tod gewesen? Bedrückt, niedergeschlagen, nervös – oder ganz wie immer? Sie wußte es nicht, sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, denn sie hatte ihn damals noch nicht sonderlich beachtet, oder vielmehr, sie hatte sich Mühe gegeben, ihn nicht zu beachten, da sie ihm nicht zeigen wollte, wie sehr er ihr gefiel.
Der Mord an Annabelle Müller war durch alle Zeitungen gegangen. Täglich hatte die Presse neue Einzelheiten gebracht. Hatte Peter eigentlich je mit ihr darüber gesprochen? Nein, das wußte sie genau, er hatte niemals ein Wort darüber verloren.
Jetzt schien ihr das plötzlich sonderbar, da doch alle Welt davon gesprochen hatte. Wenn er ein gutes Gewissen hatte, dann hätte er ihr schon damals sagen müssen, daß er Annabelle gekannt hatte.
Ellen Krone konnte ihre Augen nicht von dem Foto wenden. Er mußte mit ihr befreundet gewesen sein. Das bewies die besitzergreifende Art, mit der er seinen Arm um ihre Schulter gelegt hatte.
Vielleicht hatte er geglaubt, sie würde eifersüchtig werden, wenn sie von dieser Beziehung erfuhr, versuchte sie sich einzureden. Aber jetzt arbeitete ihr Verstand unerbittlich, ließ sich nicht einlullen. Eifersüchtig auf eine Tote? Nein, das war unsinnig, für so kindisch konnte er sie nicht halten.
Außerdem – sie selber hatte ihm offen von ihrer Vergangenheit erzählt. Es hatte Männer in ihrem Leben gegeben, bevor sie ihn kennenlernte. Auch er hatte ihr vergangene Liebesgeschichten gebeichtet. Nur den Namen und die Beziehung zu Annabelle Müller hatte er sorgfältig ausgeklammert.
Ellen Krone starrte noch immer auf das Foto in ihren Händen. Annabelle Müller war eine schöne Frau gewesen. Diese schrägstehenden geheimnisvoll spöttischen Augen, dieses schmale Gesicht mit den hohen Backenknochen, umrahmt von blondem, nixenhaftem Haar, konnten einen Mann schon reizen. Es mußte eine Faszination von ihr ausgegangen sein.
Auf dem Foto war nur das schulterfreie Oberteil ihres schwarzen Kleides zu sehen, das mit einer seltsam geformten Brosche geschmückt war, die auffallend einem Sheriffstern ähnelte. Ellen Krone vermochte nicht zu entscheiden, ob es sich um einen Modeschmuck handelte. Wenn sie echt war, mußte sie sehr kostbar sein. Auf alle Fälle wirkte Annabelle Müller gepflegt und elegant, nicht wie eine Frau, deren Bekanntschaft man sich hätte schämen müssen.
Warum hatte Peter dann niemals ein Wort über sie erwähnt?
Die Schlußfolgerung lag nahe, aber Ellen Krone wollte sie nicht ziehen. Alles in ihr sträubte sich dagegen.
»Nein, nein, nein!« Sie rief es laut, als wenn sie ihre Gedanken damit übertönen könnte.
Ihr Mann war kein Mörder, sie durfte sich nicht in eine solche Vorstellung verrennen. Wahrscheinlich war er nicht einmal Annabelles Liebhaber gewesen. In all den zahllosen Pressenotizen, die sie über den Fall gelesen hatte, war niemals ein Wort von einem unbekannten Freund erwähnt worden.
Annabelle Müller war die Geliebte von Heinrich Groß gewesen. Das stand fest. Diese Tatsache hatte auch die Aussage der Angeklagten erhärtet. Wahrscheinlich war das Foto schon vor Jahren aufgenommen worden, vielleicht stammte es sogar noch aus jener Zeit, da Annabelle verheiratet gewesen war.
Ellen Krone drehte es um, in der Hoffnung, auf der Rückseite ein Datum zu finden, aber dort stand nur eine Widmung. »Meinem geliebten Peter von seiner Annabelle.«
Mehr nicht. Aber diese wenigen Worte genügten, um Ellen Krone erneut in einen Abgrund von Verzweiflung zu stürzen. Zwischen ihrem Mann und der ermordeten Annabelle hatte also eine enge Beziehung bestanden. Auch wenn diese Freundschaft Jahre zurücklag – warum, warum hatte er ihr nichts davon erzählt?
Es gab nur eine einzige Erklärung für dieses Schweigen, eine einzige Erklärung für das Entsetzen darüber, daß sie als Geschworene ausgerechnet für diesen Mordprozeß bestimmt worden war – er war in den Mordfall verwickelt.
Ellen Krone sträubte sich dagegen, selbst in Gedanken auch nur einen Schritt weiterzugehen. Sie liebte ihren Mann, und sie war fest überzeugt, daß er kein Mörder sein konnte.
Beinahe hätte sie, einem Impuls folgend, das verräterische Foto in tausend Fetzen zerrissen. Aber dann besann sie sich und ließ es in ihre Handtasche gleiten. Sie mußte mit ihrem Mann darüber sprechen. Aber sie scheute sich, ihn danach zu fragen. Er sollte sich ihr gegenüber nicht wie ein ertappter Sünder fühlen. Nein, es war viel besser, ihm eine Gelegenheit zu geben, von sich aus die Wahrheit zu bekennen.
Er würde es tun, dessen war sie sicher, er würde alles klären können. Aber obwohl sie sich bemühte, tapfer und vernünftig zu sein, wollte der Druck nicht von ihrem Herzen weichen. Sie spürte den drohenden Schatten, der über ihr junges Eheglück gefallen war, fast körperlich.
In der Gastwirtschaft »Zum goldenen Eck« ging es in den frühen Nachmittagsstunden sehr ruhig zu. Außer Peter Krone befanden sich nur wenige Gäste in dem großen, gemütlichen Schankraum, genauer gesagt, nur eine Runde älterer Herren, wahrscheinlich Rentner, die einen ausgiebigen Skat klopften, und ein junger Lastwagenfahrer, der an der Theke eine Cola trank.
Aber gerade die Anwesenheit dieses jungen Mannes machte es Peter Krone unmöglich, mit dem Wirt, Hubert Erlinger, einem Kameraden aus der Kriegszeit, ein vertrauliches Gespräch zu führen.
Erlinger, ein untersetzter Mann mit einem gemütlichen Boxergesicht, fuhr mit einem Wischtuch über das glänzende Spülbecken. »Schön, daß du dich auch mal wieder sehen läßt, Kumpel«, sagte er, »die Ehe scheint dich sehr häuslich gemacht zu haben …«
»Ich war unterwegs«, erwiderte Peter Krone kurz und warf einen Blick auf den Lastwagenfahrer, der sich jetzt auch noch eine Zigarette anzündete.
Ohne eine Bestellung abzuwarten, stellte Hubert Erlinger ein Bier und einen Korn vor Peter Krone auf die Theke. »Na dann«, sagte er, »wohl bekomm’s!«
»Willst du nicht einen mitheben?« fragte Peter Krone.
»Lieber nicht. Der Tag ist noch lang«, wehrte der Wirt ab, aber dann drehte er doch den Zapfhahn noch einmal auf und ließ Bier in ein Glas schäumen. »Weil du es bist«, sagte er, wischte mit der flachen Hand den Schaum ab und hob sein Glas. »Auf alte Zeiten!«
Peter Krone hatte den Schnaps schon gekippt, jetzt nahm er das Bierglas und prostete dem Freund zu. »Auf daß sie unvergessen bleiben!« Er leerte sein Glas. »Noch mal dasselbe!« forderte er.
»Na, du gehst aber heute ’ran«, sagte Erlinger. »Ärger zu Hause gehabt?« Er füllte das Schnapsglas erneut randvoll, so geschickt, daß nicht ein einziger Tropfen vergossen wurde.
»Ach wo«, sagte Peter Krone, »Ellen ist ganz in Ordnung.«
»Wem sagst du das! Ich habe euch ja schließlich zusammengebracht … oder?«
»Stimmt!« Peter Krone zündete sich eine Zigarette an.
»Wenn ich allerdings gewußt hätte, daß ihr beide euch, sobald ihr verheiratet wart, nie mehr würdet blicken lassen …« Erlinger drehte den Zapfhahn zu, wartete, bis der Schaum sich gesetzt hatte.
»Nun hör mal auf, alter Meckerkopf, jetzt bin ich ja da! Du kannst schließlich nicht erwarten, daß wir als verheiratete Leute immer noch mit deiner Küche vorliebnehmen …«
Hubert Erlinger drehte den Zapfhahn wieder auf und gab noch einen Schuß in das Bierglas. »Na, aber deshalb könntet ihr doch abends mal vorbeikommen, nur so auf ein Bierchen …« Er schob dem Freund das wohlgefüllte Glas zu.
»Ich sagte doch schon, ich war unterwegs, bin erst vorgestern wieder zurückgekommen …«
Hubert Erlinger beugte sich vor, stützte die Ellenbogen breit auf die Theke. »Wo hast du denn gesteckt?«
»Karachi…«
Der Lastwagenfahrer horchte auf. »Liegt das nicht in Indien?«
»Pakistan, wenn Sie es genau wissen wollen.«
»Da wollt’ ich immer schon mal hin!«
»Dann tun Sie’s doch!« sagte Peter Krone grob.
Der junge Mann verstand die Abweisung. »Na, entschuldigen Sie schon«, sagte er etwas beleidigt, »man wird sich ja wohl noch unterhalten dürfen!« Er warf ein Geldstück klirrend auf die Theke, tippte an seine Mütze und verließ den Schankraum.
Hubert Erlinger richtete sich auf. »Na, nett hast du den Jungen eben nicht behandelt!«
»Ich wollte ihn loswerden«, gab Peter Krone unumwunden zu.
»Nanu?«
»Ich möchte nämlich was mit dir besprechen!« Peter Krone drückte seine Zigarette aus, zündete sich aber gleich darauf eine neue an. »Du erinnerst dich doch, daß ich noch im vorigen Jahr so ungefähr jeden Abend hier war …«
»Und ob.«
»Na, ich hoffe, du kannst mir dann auch bestätigen, daß ich am Abend des neunzehnten September bis kurz nach Mitternacht hier in deiner Kneipe gesessen habe!«