Alle Wetter - Kerstin Hensel - E-Book

Alle Wetter E-Book

Kerstin Hensel

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Beschreibung

Neue Gedichte der hoch dekorierten Lyrikerin: Anna-Seghers-Preis (1987), Leonce-und-Lena-Preis (1991) Gerrit-Engelke-Preis (1999).

Mythologie und Märchen: Wenn Kerstin Hensel Motive aus diesen überlieferten Erzählungen benutzt, dann findet sie zu Formulierungen von einer erstaunlichen explosiven Kraft. Aus alten Geschichten, Zaubersprüchen, Legenden und heute gebräuchlichen Redewendungen komponiert Hensel Gedichte, die lustvoll den verschatteten Blick für das Böse pflegen und die doch eine eigene und höchst abgründige Schönheit besitzen.

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Seitenzahl: 60

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Kerstin Hensel

Alle Wetter

Gedichte

Sammlung Luchterhand

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Originalausgabe

© 2008 Luchterhand Literaturverlag GmbH,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

ISBN 978-3-641-01721-7V002

www.randomhouse.de

1
Und jetzt noch mein Versuch zu tanzen

ALLE WETTER

I

Ich rannte davon. Ich dachte: Hilfe! Ein Prinz will meine Füße vermessen, Liebe Nannte er das, aber ich Floh vor der sonnigen Zukunft Knallheiß gleißende Wege Ein Licht das auf Hirn Auge Mund Blasen warf feurige Versprechen
 
Fort! dachte ich und der Straßenteer Fraß den ersten den zweiten Schuh von meinen Füßen Schmatze und hinter mir schwitzte der Prinz Blut. Ein mächtiges Hoch Brach übers Land.
 
Ich ward ein Täubchen Mein Schnabel nahm Kurs Auf die Augen des Herrn

II

Hinter den Ställen versprühen die Tauben jetzt Kropfmilch und Nebel wächst aus Darinnen das Land Langsam Verkäst.

III

Dann regnet es Frösche. Hochzeiten Fallen ins Wasser. Herr Noah Geht am Rathaus vor Anker Und aus dem Kirchturm Rufen die heulenden Tiere Zur Landpartie auf.

IV

Und – hoi! – die Märchen In Schnüffeltüchern verpackt und Sturm Saust durch Städte und Stirnen stürzen Ein. Wie die Zeitungen Schreiben, zahlt die Versicherung Nichts

V

So kam ich davon. Ich dachte: schön, Niemand will mir sein Band anlegen, Liebe Läßt sich nicht nennen und ich Lief in den kühlen handfesten Tag Harsche Wege aus Schnee
Dämmerung die auf Mund Aug Hirn Sanft ihre Einfalt vergoß.
 
Bleib, sagte ich und ruschelte Winterstiefelbeschuht In die graue knirschende Zeit. Ein mächtiges Tief Brach übers Land.
 
Ich ward eine Prinzessin Und Tauben aß ich und Eiszapfen Hingen mir an.

GEFASEL

Zweierlei Ängste an kurzer Leine: Die eine: der Menschen zu viele, die mich umgeben. Die andere: kein Mensch mehr der mir zu viel ist.

meine WELT

Aus hellem Haus tret ich in einen Garten Links liegt das Meer und rechts ein hohes Von Sagenerz durchschimmertes Gebirg. Der Liebste zündet die Kastanienkerzen an Ich ziehe meinen Hummelpelz aus und verschlanke Flieder und Ginster, Mandel, Anemonen Ertragen sich im Blütenspiritus. Nur Duft herrscht. Wir beniesen unser Wohl. Auf blankem Holztisch tafelt auf der Mai: Gebratne Scholle, Spargel und Rhabarber Auch Erdbeeren, Sahne, frische Pfefferminze. Zwölf Freunde ohne König und Lakaien Verwoben im Gespräch. Zwischen den Augen Das Maß des Glückes heiter streng gelassen:
 
Es sehen, wie der Stielz ums Feuer stampft Es wissen, wo der Restwelt Kacke dampft

geschmackssache

Am liebsten würde ich meine Sauerampfersuppe bedichten Wie sie so auf den Tisch kommt Mit Weißwein, Butter, einer Prise Muskat. Ein Gedicht! rufen die Esser. Wie aber reimt’s sich zusammen?: Von der Wiese gepflückte Blätter verkocht Und daß es uns schmeckt?

LINDENSTRASSE

In meiner Straße werden die alten Linden zersägt und die Sonne Fällt und haut Mir auf den Tisch.
 
Ein Kind fährt singend auf Rollschuhen um Hi-ha-ho-Hundekothaufen Und an den Stümpfen treibt Springlebendiges aus.
 
In meiner Straße wachen ab heute Feuerwehr und Polizei. Aktentaschen Knarzen am Feierabend. Später träumen die Nachbarn Daß ihnen ein König heraufwächst.
 
Schon riecht das Kind Des Lindenhonigs Hoffnung Und leckt sich Alle zehn Ästlein danach.

sÜsse HULDIGUNG

Nach jedem Lauf durch den Wald Legen wir auf die Spitze unseres Ameisenstaats Ein Stück Zucker. Schon brummt das Volk und die Königin Läßt schön grüßen.

TOLLWUT

Ich bin die Krauseglucke Und brüte im Wald das Märchen Vom Wildschwein aus, das hinterm Haselstrauch Eine Antenne sich aufsteckt Des Försters böse Rute.

INCLUSIE

Hinterm FKK und Hundestrand Wo der Tod stand Warf er mit knöcherner Vorhand Sein Spiel in den Sand
 
Aus Muscheln und Tang sieben Schritte lang
 
Spring ich drüber du daneben Erlöst er dich bleib ich kleben An den harzigen Tränen Im Milleniumsgähnen Schau ich munter bewahrt Nach meiner Art

URLAUB auf dem BAUERNHOF

Auf der Weide stehen die hybriden Sauen Rosa wie die Mädchen dieses Sommers Blaue Kreuze auf den Nackenborsten Lächeln sie versunken wenn sie schmatzen Fettes grünes Gras und Käferlarven Lattich Klee und junge Äpfel Ach das Leben Steht so gut im Fleisch.
 
Da kommt der Bauer
Mit seiner langen Starkstromkabelschnur Noch immer dieses Lächeln und die Schweine Erglühen schmatzend bis der Stecker Den rosa Dosennasen näherrückt
 
Vom Eisbein und vom Krustenbraten später Sind alle Gäste sehr entzückt.

BAR

Knallfedern hat er sich aufgesteckt der Hahn Und steppt über die lange Gläserne Theke, flattert mir vor den Augen, pickt Mir die Trübhäutchen ab Und unter den Lidern die liebgewordenen Säcke Aus Schlaf Ein Schampi! Ein Caipi! Ein Bladdi!Der aufgeschlagene Kamm rot meine Augen Im Crusher der Hahn Dreht den Schnabel auf und ich trinke Gallsüßen Granat. Im Morgengraun dann Ruft er soll ich Seine Sporen probieren und anbrechen würde der Tag Endlich für mich glaubend Im Krähwinkel meiner Existenz.

HORRORSKOP

Ich bin geboren im Sternzeichen Zwilling. Dem späten Maikind saget man wahr: es sei leicht Lustig flatter Haft voll empfindsamer Güte mit einem Hang Zur Höflichkeit.
 
Darf ich vorstellen: das Ist mein Hausmeister Schütze und das Mein Haustier Skorpion

INTENSIVSTATION

Es war zur Zeit der Tagestodesschau. Der Fernsehmonitor – ein Knall in meiner Stube Die Splitter fliegen Fetzen Ansage Moderatorenblut bis zur Gardine Mein Schädel Freiwild. Herz was willst duMehr weiß ich nicht Extrasystolisches Geläut aus den Ministergärten Die mir vorm Fenster grünen und versprechen: Alles wird gut. Ich werde eingeladen. In welche Sendung welche Notkarosse? Tatü ich weiß es nicht wohin Tata die Fahrt geht, und ich bin Rasend Gelähmt
 
Ich soll erwachen Wo alles müde ist: ein Ausflugsort des Todes. Zehn Tage Koma, Küsse von Verwandten Der Chef bringt weiße Chrysanthemen die Ich niederhäcksle die verdammten Erdigen Träume. Und ich lebe Unterm Regime Beatmung wo die Luft Die Löcher in der Lunge wiebelt, Stich um Stich.
 
Auf meinen Nervensaiten geigt die Zukunft Durch die Kanülen dringt Novembergas Summende Stunden
Muskelschwund Kläffender Morgen und die Flure: waidgrau.
 
Und wenn mir Vom Arzt die Augenlider hochgezogen werden Seh ich die Jäger Der Rat- und Ränkeshows, die Überlebenden Die Wache schieben heileheil
 
Wie hier das Personal Abschiede durch die Flure hetzt! Und sie zur Strecke bringt. Schwester Athena zählt die Pillen: morgens mittags Abends bringt sie mir ein Klistier. Ich falle Durchs Bett und spür mich laufen Das Licht: anämisch kalt. Ich reise Im Rollstuhl bis zum Tresen, und ich rufe: Herr Ober- Arzt! Den Cocktail bitte Aus Mohn und tollem Kirschensaft!
 
Der Monitoren Zuversicht zerflimmert Im Schockraum liege ich, erkenne Mein Sofa, Tisch und Teppich, meine Stube Die gute. Es ist Zeit Die Todestagesschau
Komm lieber MaiZertrennt die Schädelnaht und macht Die Bäume wieder grün.

PROGNOSE

Kein Regen in diesem April Der Flieder zu früh Die Kuhblumen schnauben verstauben – Da wird die Milch teuer! Keimlinge knarzen auf trockenen Schollen Im Vormarsch die Bauern geduldig schwankend Durch Sand