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Katrin ist am Boden zerstört. Sie muss ihre geliebte Heimat auf der Insel Rügen und ihre beste Freundin Sybille verlassen, um mit ihrer Familie in die dreckige und viel zu laute Großstadt zu ziehen. Schulwechsel inklusive. Ob dieser Neustart auch Positives mit sich bringen wird?
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Seitenzahl: 153
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Bettina Huchler
Alles auf Anfang
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Titelei
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Nachwort
Danksagung
Die Autorin
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Impressum neobooks
Bettina Huchler
Für meine Testleser,
die unbedingt Katrins Geschichte lesen wollten.
»Der ist doch süß.« Sybille deutete mit ihrem Eislöffel den Strand hinunter.
Katrin schirmte mit einer Hand ihre Augen ab, weil die Sonne sie blendete, und sah in die entsprechende Richtung. »Wer?«
»Na, der mit den blauen Badeshorts.«
Katrin verzog das Gesicht. »Der? Findest du?«
Überrascht sah Sybille ihre beste Freundin an. »Klar, du etwa nicht?«
»Typen, die sich die Haare blondieren, sind mal gar nicht mein Fall. Zum Glück sind Geschmäcker verschieden, denn das bedeutet, dass wir uns in Sachen Jungs niemals in die Quere kommen werden.«
Entspannt lehnte Sybille sich in ihrem Liegestuhl zurück. »Gut so. Du weißt ja, Jungs können die besten Freundschaften zerstören, und das wollen wir doch auf gar keinen Fall, oder?« Sie schob sich den nächsten Löffel Eis in den Mund.
»Auf gar keinen Fall.« Auch Katrin aß genüsslich weiter und genoss die Sonne.
Die beiden Freundinnen verbrachten an warmen Tagen so gut wie jede freie Minute am Strand. Meist war auch der siebzehnjährige Patrick dabei. Aber in letzter Zeit unternahmen sie oft etwas ohne ihn, um Jungen zu beobachten. Da störte Patrick einfach.
Sowohl Katrin als auch Sybille fanden, dass es mit ihren sechzehn Jahren langsam Zeit wurde, sich nach einem Freund umzusehen. Aber Jungs aus der Ferne zu beobachten war etwas ganz anderes, als sie tatsächlich anzusprechen. Das trauten sie sich nämlich beide nicht.
Wie aus dem Nichts kam auf einmal etwas Großes, Dunkles auf sie zugeflogen und traf Katrin mitten ins Gesicht. Sie konnte froh sein, dass sie ihren Eislöffel gerade nicht im Mund gehabt hatte. Das hätte sonst böse enden können. Vor Schreck schrie sie auf und verschüttete dabei den Rest von ihrem schon ziemlich flüssigen Eis direkt auf ihre Bikinihose. Das ließ sie erneut aufquieken, denn es war noch immer sehr kalt.
Ehe sie realisieren konnte, was genau eigentlich passiert war, tauchte vor ihr schon wieder ein großer dunkler Schemen auf.
Unwillkürlich hob sie ihre Arme zum Schutz vor ihr Gesicht. Sie wollte nicht noch einmal von was auch immer getroffen werden.
Doch diesmal handelte es sich nicht um ein unbekanntes Flugobjekt, das von seiner Bahn abgekommen war, sondern um ein durch und durch irdisches Wesen. »Sorry, tut mir wahnsinnig leid. Geht es dir gut? Bist du verletzt?«
Langsam senkte Katrin ihre Arme und blinzelte ins Gegenlicht. Sie blickte in das besorgte Gesicht eines Jungen, der vielleicht ein, zwei Jahre älter war als sie. Sie merkte, dass sein Blick auf ihren Schritt fiel, lief rot an und setzte sich aufrechter hin. »Nein, nein, alles in Ordnung. Ich bin okay, nur mein Eis hat etwas gelitten.«
Er hob den Wasserball auf, der neben Katrins Liegestuhl lag. »Ich spendiere dir ein neues. Als Entschädigung. Bin gleich wieder da. Nicht weglaufen, ja?« Schon trabte er davon in Richtung Eisdiele. Zu der gehörten die Liegestühle, auf denen es sich Sybille und Katrin gemütlich gemacht hatten.
Erstaunt sah Sybille ihre Freundin an. »Wow! Was war das denn?«
»Ich würde sagen, ein Volltreffer.« Katrin schmunzelte. Sie kramte in ihrer Strandtasche nach einer Packung Taschentüchern und säuberte ihren Bikini zumindest einigermaßen. Allerdings gelang ihr das nur mäßig.
Sybille kicherte. »Du, ich glaube, so wird das nichts. Warum springst du nicht einfach kurz ins Meer? Wenn dein Eisprinz wiederkommt, sage ich ihm, dass du dich nur mal eben für ihn frisch machen bist.«
Drohend hob Katrin einen Zeigefinger und funkelte Sybille wütend an. »Wag es ja nicht, ihm so einen Unsinn zu erzählen.«
Erneut kicherte ihre Freundin und warf ihr einen vielsagenden Blick zu.
Seufzend stand Katrin auf, rannte über den Strand und tauchte kurz darauf in die Fluten des Meeres ein.
Das Wasser war angenehm – nicht zu warm, aber auch nicht zu kalt. Genau die richtige Abkühlung für so einen heißen Tag wie diesen. Es war Mitte Juni und die Sonne brannte schon ordentlich vom Himmel.
Katrin war wie so oft froh, auf Rügen zu wohnen, wo es eigentlich nie komplett windstill war, sodass stets für eine leichte Abkühlung gesorgt war.
Als sie glaubte, dass das Wasser ihre Hose wieder gesäubert hatte, ging sie zurück.
Schon von Weitem sah sie den fremden, wirklich gut aussehenden Jungen mit zwei Eisbechern neben ihrem Liegestuhl stehen und sich mit Sybille unterhalten. Den Wasserball hatte er sich unter den Arm geklemmt.
Hoffentlich hat sie ihm nicht wirklich gesagt, dass ich mich für ihn frisch mache, schoss es Katrin durch den Kopf. Sonst bringe ich sie um, darauf kann sie Gift nehmen.
»Ah, da bist du ja«, begrüßte der Junge sie, als sie bei ihnen ankam, und reichte ihr einen Eisbecher. »Da ich nicht wusste, was du gern isst, habe ich einfach meine Lieblingssorten genommen, in der Hoffnung, dass du sie auch magst.«
Katrin bedankte sich, nahm ihm den Becher ab und sah hinein. Schokolade und Cookies. Unwillkürlich musste sie schmunzeln. »Das sind genau die Sorten, die ich eben auch hatte. Danke.«
Der Junge zog eine Augenbraue hoch. »Echt? Cool. Na dann, lass es dir schmecken. Und entschuldige noch mal. Habt einen schönen Tag. Tschau!« Er hob die freie Hand zum Gruß, wandte sich um und ging mit dem zweiten Eis sowie dem Wasserball davon.
Verblüfft sah Katrin ihm einen Moment nach. Ob sie ihn wohl jemals wiedersehen würde? Katrin schüttelte diesen Gedanken ab. Sie war schließlich am Strand, um die Sonne zu genießen. Also schloss sie die Augen und lauschte dem Rauschen der Wellen.
Kaum war Katrin wieder zu Hause, lief sie schnurstracks in ihr Zimmer im Obergeschoss. Sie warf die Strandtasche in eine Ecke, setzte sich auf ihr Bett und holte ihr Tagebuch aus dem Geheimversteck.
Liebes Tagebuch,
heute ist etwas Unglaubliches passiert. Ich wurde vom Blitz getroffen. Nein, eigentlich war es nur ein Wasserball. Aber im ersten Moment habe ich förmlich Sterne gesehen. Und schuld daran war der wohl süßeste Junge von ganz Rügen. Vorausgesetzt, er wohnt überhaupt hier, das weiß ich nämlich nicht. Eigentlich weiß ich gar nichts über ihn, nicht einmal seinen Namen. Nur, dass wir die gleichen Eissorten mögen. Aber bei meinem Glück werde ich ihn sowieso niemals wiedersehen, weil er nur ein Tourist ist. Sehr schade. Vielleicht hätte das der Beginn der wohl kitschigsten Liebesgeschichte ever werden können.
Die nächsten zwei Stunden verbrachte Katrin träumend auf ihrem Bett. Immer wieder schlich sich der fremde Junge in ihre Gedanken.
Auf einmal kam ihr eine Idee und sie setzte sich so ruckartig auf, dass ihr für einen kurzen Moment schwarz vor Augen wurde. Als sich das wieder gelegt hatte, stand sie auf und zog ihren Skizzenblock aus der Schublade ihres Schreibtischs. Aus dem Gedächtnis heraus zeichnete sie den süßen Jungen, wie er mit dem Wasserball und den beiden Eisbechern vor ihr gestanden hatte.
Anschließend verstaute sie den Block wieder in der Schublade und ging hinunter in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen.
Als sie diese betrat, verstummten ihre Eltern plötzlich mitten in einem Gespräch und sahen sie lächelnd an. Jedoch wirkte ihre Mimik sehr gezwungen.
Katrin runzelte die Stirn. »Ist irgendwas?«
Beide schüttelten fast synchron die Köpfe.
»Nein, was soll denn sein?«
Hatte sich Katrin das nur eingebildet oder hatte die Stimme ihrer Mutter leicht gezittert?
In letzter Zeit benahmen sich ihre Eltern wirklich merkwürdig, wenn Katrin den Raum betrat. Was war nur los mit ihnen?
Sie hakte jedoch nicht nach, weil sie sich sicher war, auch diesmal nicht mehr von ihnen zu erfahren. So war es nämlich immer. Stattdessen goss sie sich ein Glas Brause ein und ging grübelnd zurück in ihr Zimmer. Dennoch fragte sie sich natürlich, ob ihre Eltern vielleicht Geheimnisse hatten. Sie konnte es sich allerdings beim besten Willen nicht vorstellen.
Um sich ihre gute Laune nicht durch solche Gedanken vermiesen zu lassen, fuhr sie ihren Laptop hoch und startete die Playlist mit ihren Lieblingssongs. Sie tanzte zur bis zum Anschlag aufgedrehten Musik durchs Zimmer, wobei sie lauthals mitsang. Es war ihr egal, ob sie die Töne dabei traf. Ihre roten Locken wirbelten bei jeder Bewegung um ihren Kopf.
Erschrocken schrie sie auf und blieb abrupt stehen, als sie auf einmal etwas am Arm berührte. Ihr Atem normalisierte sich nur langsam wieder, während sie auf ihren vier Jahre jüngeren Bruder starrte, der so plötzlich wie hereingebeamt mitten im Raum stand. »Nils! Wie oft muss ich dir eigentlich noch sagen, dass du anklopfen sollst, bevor du mein Zimmer betrittst?!«, schrie sie und hoffte, dass sie damit die laute Musik übertönt hatte, die noch immer aus den Boxen dröhnte.
»Hab‘ ich ja! Mehrmals! Aber du hast es einfach nicht gehört!«, brüllte er zurück.
Katrin pausierte die Musik und sah Nils erwartungsvoll an. »Also, was gibt es denn so Dringendes?«
Er ließ sich auf ihrem Bett nieder. »Ist dir auch aufgefallen, dass Mama und Papa sich neuerdings irgendwie merkwürdig verhalten?«
Also hatte sie es sich doch nicht nur eingebildet. Katrin setzte sich neben ihn. »Ich bin vorhin in die Küche gekommen und sie sind plötzlich verstummt, als hätten sie über irgendetwas gesprochen, das ich nicht wissen soll.«
Nils nickte heftig. »Bei mir war es ganz genauso. Außerdem wirken sie so komisch, irgendwie nervös. Und das nicht nur heute, sondern schon mindestens seit einer Woche.«
»Vielleicht haben sie eine tolle Überraschung für uns geplant.«
Nils nickte. »Möglich. Meinst du, wir machen einen Ausflug in den Hansapark?«
Katrin lachte. »Ja, das wäre toll. Da waren wir schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr.«
Beim gemeinsamen Abendessen bemerkte Katrin, wie sich ihr Vater und ihre Mutter immer wieder undefinierbare Blicke zuwarfen. Vielleicht hatte ihr Bruder recht. Allmählich kam es ihr auch so vor, als wären ihre Eltern nervös. Aber warum?
Kaum waren sie mit dem Essen fertig, stieg die Anspannung im Raum sogar noch weiter an.
»Ehe ihr aufsteht, möchten wir kurz mit euch reden«, sagte ihr Vater und legte seine Hände mit verschränkten Fingern vor sich auf den Tisch.
Nun waren es Katrin und Nils, die sich gegenseitig einen kurzen Blick zuwarfen. Beide schwiegen jedoch und sahen ihre Eltern erwartungsvoll an.
Ihre Mutter nickte ihrem Mann zu.
Dieser holte tief Luft. »Ihr wisst ja, dass wir eure Großeltern nicht so oft in unserer Heimatstadt besuchen können, weil die Fahrt zu lange dauert«, sagte er.
Angewidert verzog Katrin das Gesicht. Nicht, weil sie die Eltern ihrer Mutter nicht mochte, ganz im Gegenteil. Aber wenn sie nur an die Stadt dachte, wurde ihr regelrecht schlecht. Sie war groß, dreckig, laut und hatte viel zu wenig Grün – vom Wasser ganz zu schweigen. Kurzum, ein Ort, an dem sie sich niemals langfristig wohlfühlen könnte.
Sie bemerkte, dass ihre Gedanken abgedriftet waren und sie gar nicht mehr zugehört hatte, was ihr Vater erzählte. Das passierte ihr leider viel zu oft – manchmal sogar während des Unterrichts in der Schule. Deshalb konzentrierte sie sich wieder auf die aktuelle Situation.
»Und aus diesem Grund ziehen wir zurück in unsere alte Heimat. Was haltet ihr davon?« Er sah sie freudestrahlend an, so als wäre er froh, dass es endlich raus war.
Katrin war dermaßen entsetzt, dass sie im ersten Moment gar nichts sagen konnte.
Auch Nils starrte die Eltern an wie ein Fisch auf dem Trockenen.
»Das ist jetzt ein Scherz, oder?«
Doch ihr Vater schüttelte den Kopf. »Nein, Katrin, das ist tatsächlich kein Scherz.« Er trank einen Schluck von seinem Bier. »Wir haben wirklich sehr lange hin und her überlegt, aber unser Entschluss steht fest und mein Versetzungsantrag wurde gestern von meinem Arbeitsgeber bewilligt.«
»Und wir haben auch schon eine wunderschöne Dachgeschosswohnung gefunden. Den Vertrag werden wir am Montag unterschreiben.«
Irritiert sah Katrin ihre Mutter an. »Wann habt ihr die denn entdeckt?«
Wieder wechselten ihre Eltern einen dieser vielsagenden Blicke.
»Wisst ihr noch, dass Papa im letzten Monat für zwei Wochen auf Geschäftsreise war?«, fragte ihre Mutter.
Natürlich erinnerte sich Katrin daran. Allzu lang war das schließlich noch nicht her. Doch nun erfuhren sie und ihr Bruder, dass ihr Vater zu dem Zeitpunkt gar nicht geschäftlich unterwegs gewesen war. In Wahrheit hatte er verschiedene Wohnungen besichtigt und dabei eben diese Dachgeschosswohnung entdeckt, die bald ihr neues Zuhause in der von Katrin so sehr verhassten Stadt werden sollte.
»Na prima! Jetzt werden wir auch noch belogen.« Mit verschränkten Armen lehnte Katrin sich zurück.
»Wir wollten euch keine falschen Hoffnungen machen«, erwiderte ihr Vater.
»Falsche Hoffnungen? Wir wollen doch überhaupt nicht umziehen. Ist es nicht so, Nils?« Katrin schaute ihren Bruder fragend an.
»Stimmt. Sonst kann ich meine Freunde gleich abschreiben.« Ihr Bruder sah aus, als würde er gleich losheulen, was bei ihm äußerst selten vorkam.
»Die sind ja nicht aus der Welt. Ihr könnt ihnen schreiben oder mit ihnen telefonieren. In der heutigen Zeit ist es doch dank der Technik kein Problem mehr, Kontakte rund um den Globus zu pflegen.«
Ihre Mutter hatte gut reden. Man hörte schließlich immer wieder, dass Freundschaften über eine große Distanz zum Scheitern verurteilt waren. Das waren nun mal mehr als beiläufige Kontakte, die man lediglich aus dem Internet kannte.
Ungläubig schüttelte Katrin den Kopf und ließ ihre Wut heraus, indem sie mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.
Alle zuckten zusammen.
»Ich fasse es einfach nicht! Ihr entscheidet solch eine große Veränderung hinter unserem Rücken, stellt uns dann vor vollendete Tatsachen und verlangt von uns auch noch, dass wir das mir nichts, dir nichts hinnehmen? Am besten sollen wir uns darüber freuen, was? Ohne mich! Ihr könnt mich mal!« Wutentbrannt stand Katrin ruckartig auf, sodass ihr Stuhl nach hinten umfiel, rannte aus der Küche, schlüpfte in ihre Flipflops und verließ das Haus.
Mit Tränen in den Augen, die ihr die Sicht verschleierten, lief sie durch die Straßen. Hin und wieder stolperte sie, denn ihr Schuhwerk war nicht zum Rennen geeignet. Aber das war ihr im Augenblick herzlich egal.
Um diese Uhrzeit war in dem kleinen Ort kaum noch etwas los und die Straßen lagen fast wie ausgestorben da. Das war Katrin nur recht, so musste sie nicht allzu viel Aufmerksamkeit für ihre Umgebung aufbringen. Und den Weg zu ihrer besten Freundin kannte sie blind. Nur wenig später sie klingelte an deren Haustür Sturm.
Sybilles Vater öffnete und Katrin konnte ihm deutlich ansehen, dass er wegen des Lärms eigentlich sofort lospoltern wollte. Doch dann änderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig von wütend zu besorgt. »Katrin, was ist denn mit dir los?«
»Ist Bille da?«, brachte sie mühsam unter Schluchzen hervor.
»Ja, klar, sie ist in ihrem Zimmer. Komm rein.«
Katrin nickte dankbar und lief die Treppe hinauf. Ohne anzuklopfen, betrat sie Sybilles Zimmer.
»Hey, was … Katrin? Was ist passiert?«
»Ich hasse meine Eltern!«, jammerte sie, fiel Sybille, die auf ihrem Bett saß, um den Hals und fing nun erst recht an zu weinen.
Sybille streichelte ihr beruhigend über den Rücken., bis Katrin sich zumindest einigermaßen beruhigt hatte.
Eine gefühlte Ewigkeit später richtete sich diese wieder auf und wischte sich mit ihrem T-Shirt übers Gesicht. Noch einmal atmete sie tief durch, ehe sie Sybille erzählte, was sie soeben erfahren hatte. »Wir ziehen um – aufs Festland.«
Auch ihre Freundin war von dieser Neuigkeit total geschockt. »Was?! Aber warum das denn?«
»Meine Eltern haben die Schnauze voll von Rügen, so einfach ist das.«
Sybille hatte nun ihrerseits arge Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten, was Katrin ihr deutlich anmerkte.
»Sie wollen wieder in die Nähe meiner Großeltern ziehen. Kannst du dir vorstellen, dass ich in einer Großstadt wohne, Bille? Noch dazu in einer Wohnung? Da lebt man doch total eingepfercht und muss immer auf die anderen Mieter im Haus Rücksicht nehmen. Wahrscheinlich kann ich dann nie wieder meine Musik voll aufdrehen, weil sich die davon sofort belästigt fühlen. Ich kann vermutlich von Glück reden, wenn ich überhaupt noch ein eigenes Zimmer bekomme. Ätzend! Meinst du, deine Eltern erlauben, dass ich bei euch wohne?« Wieder schluchzte Katrin. »Ich will nicht von Rügen weg. Das ist doch meine Heimat. Warum sind sie denn vor zig Jahren hergezogen, wenn es ihnen hier gar nicht gefällt?«
»Wann …« Sybille schluckte kräftig. »Wann zieht ihr denn weg?«
»Ich habe keine Ahnung. Bevor sie es sagen konnten, bin ich abgehauen. Ich weiß nur, dass sie am Montag den neuen Mietvertrag unterschreiben. Meine Vermutung ist, dass wir irgendwann in den Sommerferien umziehen werden. Aber egal, wann der Tag der Tage ist, es ist alles verdammter Mist! Die reinste Schnapsidee!«
»Vielleicht überlegen sie es sich ja noch einmal anders. Weiß Patrick schon davon?«
Doch Katrin schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin umgehend zu dir gekommen. Dass sie ihre Entscheidung ändern, kannst du voll vergessen. Die haben bereits alles geregelt – neue Wohnung, gestern wurde meinem Vater der Versetzungsantrag genehmigt und meine Mutter kann als Schriftstellerin ja überall arbeiten. Also alles überhaupt gar kein Problem – zumindest in den Augen meiner Eltern.«
»Und wird euer Haus dann verkauft?«
Katrin zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Davon haben sie noch nichts gesagt.« Sie ließ sich nach hinten auf das Bett fallen. »Bille, ich will nicht mehr nach Hause. Kann ich die Nacht hierbleiben?«
Ihre Freundin nickte. »Ich glaube kaum, dass meine Eltern was dagegen haben. Aber sag zumindest Bescheid, damit sich niemand Sorgen um dich macht.«
Katrin schnaubte. »Und wenn schon, ist mir doch egal.«
Sybille legte den Kopf schief und sah ihre Freundin eindringlich an, ohne etwas zu sagen.
»Ja, ist schon gut, ich schreibe ihnen eine Nachricht.« Sie fischte ihr Handy aus der Hosentasche.
»Braves Mädchen. So, und jetzt hole ich uns erst mal ein Trosteis. So viel Zeit muss schließlich sein.«
Katrin musste trotz allem schmunzeln. Das war ein Tick von Sybille. Immer, wenn etwas Negatives passierte, brauchte sie ein Trosteis, und genau das ließen sie sich nun in alle Ruhe schmecken, nachdem Sybille je ein Eis am Stiel aus dem Tiefkühler geholt hatte.
Da es schon spät war, machten sie ich anschließend direkt bettfertig. Dass Katrin ohne irgendwelche Übernachtungssachen zu ihrer Freundin gekommen war, stellte absolut kein Problem dar. Eine neue Zahnbürste fanden sie im Badezimmerschrank und Schlafsachen bekam sie von Sybille. Es war immerhin nicht der erste spontane Übernachtungsbesuch bei ihrer besten Freundin.