Alles im Fluss - Justus Fischer-Zernin - E-Book

Alles im Fluss E-Book

Justus Fischer-Zernin

4,9

Beschreibung

September 2016. Überall Wasser. Der Druck wird größer – platzt die Finanzierung der Elbphilharmonie? Bringen zu viele Keller Hamburgs neuestes Kulturbauwerk in die Schieflage? Und welche Rolle spielen dabei die diskreten Schweizer Bankkonten einer hanseatischen Kaufmannsdynastie? Diese und andere Menschheitsfragen treiben Anwalt Lukas und seinen Freund Axel zu professionellen Höchstleistungen – stets auf der Suche nach schnellem Geld, dem wahren Glauben und dem nächsten Campari. Eine Geschichte von Liebe, Krieg, Verrat, Drinks, Steuerhinterziehung, Religion, Kunst, einem Wohnmobil, französischen Ordnungshütern, Hoch- und Tiefbau und dem steten Streben, sich irgendwie durchzumogeln. Kurzum, ein Roman, der alles hat, was einen guten Roman über eine der besseren Hamburger Familien ausmacht.

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Seitenzahl: 198

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Justus Fischer-Zernin, Jahrgang 1956, ist Rechtsanwalt in Hamburg. Nach diversen Fachveröffentlichungen zum internationalen Steuerrecht ab Mitte der 80er Jahre, veröffentlichte er in den 90ern regelmäßig Beiträge zu Wirtschaftsrecht und Steuern in der ›Welt am Sonntag‹ und später satirische Kolumnen in ›manager magazin online‹. 2006 erschien von ihm »Und wer zahlt? – Eine Kreuzfahrt durch unser Steuersystem und die aktuelle Reformdebatte« (Murmann Verlag).

›Alles im Fluss‹ ist sein erster Roman.

Inhalt

Teil

Oberamtsrätin in Nöten

Teil

Zwei Exilanten im Exil

Die entschlüterte Genoveva

Aix und K.

Teil

Das Goodman-Quartett

Joh. Kronsmann & Soehne

Teil

Villa mit Elbblick und Aufsitzmäher

Ars longa, vita brevis

Teil

Die Reise nach Jerusalem

Fünf Freunde auf geheimnisvollen Spuren

Ölbergauf und ölbergab

Tu felix Austria

Teil

Ganz unten

Das A-Team

K.u.k.

Alles im Fluss

Teil

Clicquot

James DIN

Der Grabwächter

Wasserströme

Weiterer Beton

No If today

Teil

Grandchildren’s Emergency Fund

Teil

Kakophonie

1. Teil

Eigentlich waren die Dinge ja halbwegs im Lot, doch die Götter sind bekanntlich nicht faul. Sie kochen ihre Süppchen mit Zutaten aus vielerlei menschlichen Schwächen und haben großen Spaß daran, sie ihren Kindern heiß zu servieren – denen, die sie verdient haben und auch den anderen. Überall und auch in Hamburg. Für einige Hanseaten hatten die Götter eine besonders heiße Bouillon zubereitet. Der Tisch war gedeckt, nun wurden die Teller gefüllt.

Oberamtsrätin in Nöten

Oberamtsrätin Schumann-Steigbert fühlte sich ganz wohl auf ihrem neuen Posten, in ihrem neuen Büro und Wirkungskreis. Nach mehr als einem Jahr Krise, Ärger und Wut waren die Wogen wieder geglättet, und sie merkte langsam, wie viel Spaß ihr der neue Job machte. Sie hatte mit Architekten zu tun, mit hochrangigen Politikern, wichtigen Geschäftsleuten, dem Intendanten des Orchesters. Und sie war die geachtete Herrscherin über die Zahlen und Konten. Was fehlte, war ein neuer männlicher Partner, aber das konnte ja noch werden. Letzte Woche hatte sich überraschend Steuerberater Lundius bei ihr gemeldet und sie waren im Portugiesenviertel essen gegangen. Beruflich kannten sie sich schon eine halbe Ewigkeit, aber erst jetzt fiel ihr auf, dass er recht attraktiv war. Nicht besonders groß, aber sportliche Figur (er schien abgenommen zu haben), sonnengebräuntes Gesicht unter weißem Haarschopf und er wirkte viel ruhiger als früher, fast schon lässig – war er wirklich zu alt für sie? Er hatte nicht über Steuerdinge gesprochen, die jetzt glücklicherweise nicht mehr ihr Thema waren, sondern über seine großzügige Wohnung im Staffelgeschoss in Winterhude, ohne dass es protzig klang. Und allerhand über Gärtnerei, wovon er viel zu verstehen schien. Bei seiner kleinen Geschichte, wie er versehentlich bei der Jungfernfahrt eines neuen Rasenmähers ein Tulpenbeet in voller Blüte »dem Erdboden gleich gemacht« hatte, musste sie sogar lachen. Aber wozu hat er im Penthouse einen Aufsitzrasenmäher, fragte sie sich, als sie an den Abend zurückdachte.

Bis zu diesem Moment war ihr Dienstag noch okay. Doch, als die Rätin die am Abend zuvor begonnene Tabellenkalkulation hochlud, machte sich ein sehr spezielles E-Mail auf den Weg zu ihrem Account.

In der Schweiz und an anderen diskreten Bankplätzen hielten Mitarbeiter ortsansässiger Finanzdienstleister irgendwann die Diskretion dieser Häuser und das Bankgeheimnis für überbewertet. Diese Einsicht verhalf einigen von ihnen zu einem erklecklichen Nebenverdienst. CDs mit Kontodaten deutscher Kunden (oder von mit Hilfe ihrer Banken kunstvoll errichteter Gesellschaften in exotischen Gefilden) wurden der Steuerverwaltung ihres Heimatlandes zum Kauf angeboten. Dort dachte man (nicht grundlos), dass einige Kunden dieser Diskretionsbanken es unterlassen hätten, ihre Finanzämter mit dem Geld auf diesen Konten zu behelligen. Schnell war klar, es waren Nachzahlungen an den Fiskus in vielstelliger Millionenhöhe zu erzielen; da schien der deutschen Steuerfahndung die eine oder andere Million für gestohlene Daten gut angelegt. Anfangs zierten sich deutsche Staatsanwälte noch etwas, denn der Ankauf solcher CDs mit gestohlenen Daten war für sie illegal. Doch irgendwer kam auf die Idee, für die heiklen Geschäfte den Geheimdienst um »Amtshilfe« zu bitten; dessen Kompetenzen sind bekanntlich nicht so kleinlich definiert. Die Schlapphüte halfen gern und so kam die Sache in Schwung. Bald wurden die Deals bekannt und unter Standing Ovations der wohlig empörten deutschen Öffentlichkeit wurde feierlich eine Autobahn für geklaute Kontodaten eröffnet. Der Fiskus nahm hunderte von Millionen ein; im Wochentakt wurden prominente Steuersünder geoutet. Bis auf letztere hatten alle viel Spaß.

Weniger vergnüglich wurde der Trend zum Steuer-CD-Outing gerade für Frau Schumann-Steigbert und die von ihr mit viel Liebe organisierte Finanzierung der Elbphilharmonie.

Da die Oberamtsrätin in der Kulturbehörde tätig war, sollte ihr Computer von Meldungen über undurchsichtige Transaktionen auf geheimen Auslandskonten eigentlich verschont bleiben – doch an diesem Dienstag überraschte sie eine E-Mail mit der Frage, ob sie Interesse an gewissen Informationen zu Schweizer Konten einiger ihrer Hamburger Mitbürger und steuerparadiesischen Auslandsfirmen hanseatischen Ursprungs habe. Gezeichnet war das Mail mit »K.«. Der Schweizer Datenanbieter hatte Frau Schumann-Steigbert noch auf ihrem früheren Posten vermutet.

Zuerst wollte sie die Mail einfach an ihre Ex-Kollegen im Finanzamt weiterleiten, doch Neugier ist wie jede Gier eine starke Kraft. Die Rätin öffnete den Mail-Anhang, auf den im Schreiben mit »ich kann mir vorstellen, dass Sie diese Liste interessieren wird« verwiesen wurde, und blickte auf eine Tabelle – links eine Spalte mit beeindruckenden Zahlen und Währungszeichen, rechts eine Spalte mit Namen. Namen aus der besseren und besten Hamburger Gesellschaft. Sie las viele Namen, die sie gut kannte. Erst letzte Woche hatte sie mit einigen dieser Namen ein Treffen auf der Baustelle der Elbphilharmonie gehabt; sie hatte ihnen den Stand der Projektfinanzierung erläutert, es ging um viele Millionen. Bei der CD ging es offenbar auch um viele Millionen; aber es waren keine Millionen, die dazu dienten, in Hamburg ein weithin sichtbares, öffentliches Wahrzeichen zu errichten, sondern andere Millionen. Bisher unsichtbare und sehr private Millionen, die Gefahr für all ihre so hart erarbeiteten Berechnungen und Pläne bedeuteten.

Die Rätin dachte nach. Sie dachte gern nach, am liebsten über die Lösung von Finanzierungs- und Bilanzierungsfragen. Morgens der Schreibtisch voller Zettel mit Zahlensalat – nachdenken – abends eine aufgeräumte Präsentation über Kosten mit Zahlungsterminen, bewilligte Budgets, Ideen zum rechtzeitigen Stopfen der Löcher. Frau Schumann-Steigbert hatte als erste Handlung in ihrem neuen Amt ein spezielles System kommunizierender Röhren zwischen verschiedenen Finanzierungstöpfen der Elbphilharmonie erfunden, um Überraschungen bei den Baukosten in den Griff zu bekommen. Es war höheren Ortes mit Begeisterung aufgenommen und abgesegnet worden. Bunte, akkurate Aufstellungen in Excel-Tabellen, Zusammenfassungen der einzelnen Schritte in PowerPoint; »Milestone« war zu einem ihrer Lieblingswörter geworden. Aber die Sache mit den Namen auf der Schweizer Liste war anders. Die Oberamtsrätin dachte weiter nach, konzentriert, angestrengt, doch nichts wurde akkurat oder bunt. Stattdessen schien sich grauer Elbschlick über ihre Arbeit der letzten Monate zu schieben. Sie suchte einen neuen Ansatz zum Nachdenken, doch bevor sie ihn fand, wurde ihr der Anruf eines der Namen auf der Liste durchgestellt. Heinrich Kronsmann, Mitinhaber eines traditionsreichen Hamburger Unternehmens, zusammen mit seinem Bruder Johann unter den Top-Ten der Liste, die noch immer auf ihrem Bildschirm geöffnet war – und wie viele andere der Namen Großsponsor der Elbphilharmonie.

»Guten Tag, Frau Schumann-Steigbert, ich wollte mich noch einmal für Ihre gelungene Präsentation bedanken. Wir sind auf einem guten Weg. Ich hoffe, dass das so bleibt« sagte Kronsmann.

Die Oberamtsrätin fühlte ein leichtes Ziehen im Unterbauch.

»In diesem Zusammenhang, gibt es aktuell aber noch etwas zu klären« fuhr er fort.

Er hatte eine halbe Stunde zuvor einen peinlich verdrucksten Anruf seines Schweizer Vermögensbetreuers bekommen: »Ja, alles ist auf der CD.« Heinrich Kronsmann musste schnell reagieren, hatte eine Idee, dann einen Plan und nun die Oberamtsrätin am Telefon.

»Wissen Sie, bei Steuererklärungen in unserer Familie und der Firma ist es in der Vergangenheit zu ein paar Ungenauigkeiten gekommen«, die selbstverständlich korrigiert würden und »natürlich werden die Steuern nachgezahlt«, und die von seinem Bruder und ihm zugesagte Förderung der Elbphilharmonie sei davon »natürlich eigentlich« in keiner Weise betroffen. Anders sähe der Fall allerdings aus, »und dafür haben Sie sicherlich Verständnis«, wenn es zu strafrechtlichen Ermittlungen käme und irgendetwas zu den Schweizer Kronsmann-Konten in der Öffentlichkeit bekannt würde.

Auf einer Skala von 1 bis 10 lag das Verständnis der Oberamtsrätin »dafür« allenfalls bei 1. Sie sagte nichts.

Er könne sich auch gut vorstellen, dass andere betroffene Förderer der Philharmonie ähnlich dächten, fuhr Kronsmann fort, zumal es für die Freie und Hansestadt und die Kulturschaffenden dann ja auch heikel sei, solche Sponsorengelder anzunehmen.

Verständnis nunmehr bei 0, aber Frau Schumann-Steigbert hatte verstanden.

Kronsmann hätte indes einen Vorschlag, wie die Angelegenheit geräuscharm zu lösen sei. Er, Kronsmann, könne die Steuer-CD kaufen und würde sich – »Hanseatisches Ehrenwort!« – darum kümmern, dass alle darauf gespeicherten Sünder brav nachzahlten. Und dann wäre die Sache »zur Zufriedenheit aller« erledigt.

»Wo die Elbphilharmonie nach all den Dramen und Querelen der Vergangenheit doch jetzt auf einem so guten Weg ist – das hatte ich ja eingangs schon erwähnt, oder nicht? Also, da scheint mir dies doch das Beste zu sein, oder?«

Die Oberamtsrätin hatte während des Telefonats auf die aus der Schweiz eingegangene Sünderliste geschaut und überschlägig addiert, wie viele Elbphilharmonie-Sponsorenmillionen die dort genannten Hanseaten zusammenbrachten – oder nicht mehr zusammenbrachten, wenn deren Schweizer Bankvergangenheit publik würde. Sie war blass geworden; der graue Elbschlick, der sich über dem Finanzierungsplan auszubreiten schien, wurde fest wie Beton. Dies wäre kein neues Finanzierungsloch, sondern ein Finanzierungskrater – zuzüglich Politik-, Kultur- und Gesellschaftsskandal. Die mühsam erkämpfte »Zufriedenheit aller« schien beim Projekt Elbphilharmonie urplötzlich wieder in ein Universum zu verschwinden, das mit der Hamburger Wirklichkeit nicht mehr viel Ähnlichkeit hatte. Frau Schumann-Steigbert war danach zumute, etwas Unflätiges ins Telefon zu brüllen, aber als Oberamtsrätin Mitte vierzig plus x siegte (knapp) ihre behördliche Professionalität.

»Ich kann das gut verstehen, Herr Kronsmann, ich melde mich«.

Das »gut« war ihr am schwersten gefallen, schien ihr aber wichtig, um den Sponsor nicht zu verunsichern.

Frau Schumann-Steigbert konnte schnell sein, wenn es darauf ankam. Zwei Stunden später: Streng geheime Krisensitzung in der Kulturbehörde, Risikoeinschätzung »sehr hoch«, DEFCON Two, Kronsmann-Plan abgenickt, Schweizer Bankverräter kontaktiert und Kronsmann avisiert, Nachricht der Oberamtsrätin an Kronsmann, er solle den Geldtransfer und die Übernahme der CD organisieren, damit die Behörde ihre Hände in Unschuld waschen könne – Letzteres stand zwischen den Zeilen, war aber eines der Hauptanliegen der Absenderin.

Der Tag war zwar nicht mehr zu retten, doch nun ging es ihr wieder ein wenig besser. Der Elbschlick wich zurück, der bunte Finanzierungsplan wurde wieder erkennbar, die Röhren zwischen Budgets und Etats fingen wieder an zu kommunizieren. Alles schien auf einem guten Weg, doch der Teller mit der Dienstagsboullion, den die Götter für Frau Schumann-Steigbert gedeckt hatten, war noch nicht leer.

Heinrich Kronsmann rief noch einmal an: »Noch eine Kleinigkeit« – und dann bat er sie darum, ausgerechnet ihren Erz-Erbfeind (»diesen miesen, kleinen Winkeladvokaten«), mit der Übernahme der CD und allem Drumherum zu betrauen, und sie solle seinen »angemessen dotierten Auftrag« freundlicherweise avisieren.

»Das wird doch sicher keine Umstände machen?«

›Stimmt, es macht mir keine Umstände, es dreht mir den Magen um‹, dachte Elisabeth Schumann-Steigbert. Es werde eine E-Mail folgen, Kronsmann werde alles zahlen.

»Kein Problem«, log die Oberamtsrätin in den Hörer. Ihr Chef hatte angeordnet, sie solle alles tun, damit die Sache klappte.

Bevor sie in die Kulturbehörde kam, hatte Elisabeth Schumann-Steigbert eine steile Karriere in der Finanzbehörde hingelegt – bis zu jenem unseligen Gerichtsverfahren. Sie war als wichtige Zeugin benannt. Sicher, das Finanzamt hatte bei den Steuern der Firma Fehler gemacht, aber so etwas kommt eben vor und muss weder im Gerichtssaal noch sonst wo an die große Glocke gehängt werden. Was nicht vorkommen sollte, war der Anruf des Firmen-Anwalts bei ihrem Mann, der den überraschten Gatten davon überzeugte, seine Gemahlin hätte ein Verhältnis mit dem Richter. Der Anwalt, »dieser miese, kleine Winkeladvokat« (wie ihn Frau Schumann-Steigbert seither titulierte), hatte den geschockten Gemahl dazu gebracht, ihre angebliche unziemliche Beziehung mit dem Richter dem Vorgesetzten seiner Frau zu stecken, und das Gift hatte gewirkt.

Nach dem Gerichts-Gau die Paartherapie. Unter dem Eindruck der Ereignisse hatten sich Frau Schumann-Steigbert und Herr Steigbert entschlossen, ihre Ehe einer Grundsanierung zu unterziehen – mit Hilfe einer alten Freundin der Oberamtsrätin, einer renommierten Künstlerin in Sachen Beziehungskisten. Was keiner voraussehen konnte: Irgendwann in der dritten oder vierten Sitzung von Paar und Therapeutin hatte es zwischen Herrn Steigbert und der Freundin seiner Frau heftig gefunkt. Zwei Wochen später waren beide wild verliebt nach Irland durchgebrannt, dreizehn Monate später war Oberamtsrätin Schumann-Steigbert rechtskräftig geschieden und hieß fortan eigentlich nur noch Schumann, aber das schien niemanden zu interessieren. So blieb es außer im Rechtsverkehr meist bei dem inzwischen ungeliebten Doppelnamen (auch die Götter hatten die Namensreduktion noch nicht mitbekommen).

Die Ereignisse hatten natürlich Wellen geschlagen. Doch bei der Finanzbehörde war alles getan worden, damit Gras über die Sache wuchs, beziehungsweise die Nicht-Sache mit dem Richter, der Rätin, der Firma und allem Drumherum. Und als die Kulturbehörde bei einer der vielen Finanzkrisen um den Bau der berühmten neuen Hamburger Elbphilharmonie jemanden suchte, der viel von Zahlen verstand, die sich nicht um Meter, Kubikmeter, Tonnen und Statik drehten, sondern um Euros, Zahlungsziele und Zinssätze, wechselte die Oberamtsrätin ins Kulturressort und wurde dort für das Jahrhundertprojekt Chefin in Sachen Budgets und Kosten.

Der Vorteil von Dienstags-Krisen ist, dass sie einen am Wochenende meist nicht mehr so verrückt machen. Hier würde diese Regel nicht gelten: Frau Schumann-Steigbert sollte ausgerechnet den ihr so verhassten Rechtsanwalt Lukas Timm um einen Gefallen bitten.

2. Teil

»Woher weißt du denn, dass das Licht im Kühlschrank tatsächlich aus ist?«

Axel schwieg einen Moment, langte nach dem Whiskyglas, sah wie sich ihre Miene verdüsterte. Egal, Zeit zum Nachladen. Er nahm einen tiefen Schluck, griff nach dem Revolver in der Küchenschublade und strahlte sie an.

»Ich werde jetzt ein Loch in den Kühlschrank schießen und dann wissen wir Bescheid. Ich denke, das wird für die Klarheit in unserer Beziehung sorgen, die uns solange gefehlt hat.«

Er drückte ab, ein Knall. Es war gegen jede technische Vernunft, aber sie hatte wieder einmal Recht behalten. Durch das kleine Loch in der Kühlschranktür fiel Licht.

Christina atmete kurz und scharf ein. »Ich denke es reicht.«

Genau, dachte er, hoffentlich sagt sie jetzt, dass sie zu ihrer Mutter zieht.

»Morgen ziehst du aus und damit du nicht zu viel darüber nachdenkst wiederzukommen, wird Mutter hier einziehen«.

Zwei Exilanten im Exil

Ich war ein Schriftsteller im Exil. Naja, eigentlich kein Schriftsteller, sondern Rechtsanwalt. Und eigentlich war es auch kein Exil, sondern ein Ferienhaus in Sanary-sur-Mer, Frankreich, Mittelmeer, mit Swimmingpool und viel Raum und Zeit für mich. Der eheliche Urlaub war lange gebucht, mit vier Wochen großzügig bemessen, aber dann gab es vor der Abreise Komplikationen gegen Ende der töchterlichen Schwangerschaft, aus der mein erstes Enkelkind hervorgehen sollte. Das prä-großväterliche Nervenkostüm schwächelte, sodass meine geliebte Frau Lisa kurzerhand die Anordnung traf, ich solle allein losfahren. Ich hätte doch immer schon Geschichten schreiben wollen und das solle ich jetzt endlich einmal tun, unter südlicher Sonne und auf keinen Fall über Schwangerschaften oder verwandte Themen. Vor allem solle ich das Feld räumen und »don’t call us, we call you.« Ich kam dem Befehl nach und jetzt, am dritten Provencetag auf der Terrasse am Pool in der Sonne vor meinem Notebook, überlegte ich, ob es eher ein Rosé- oder ein Rougenachmittag werden würde und fand die ersten fünf Sätze meiner ersten Story ganz passabel. Der liebe Gott schien diesen September ein guter Mann zu sein.

In den zwei Tagen zuvor hatte ich mich in den Ort verliebt. Das Zentrum mit kurzer aber großzügiger Uferpromenade nebst Cafés, Restaurants, Apotheke, ein paar kleinen Läden, Rathaus und Kirche. Keine Prada-Gucci-sonst-was-Luxustempel, Milliardärsyachten oder Ähnliches störten eine gelassene Midi-Beschaulichkeit, die sich nach dem Ende des Sommertrubels mit Beginn des Septembers schnell eingestellt hatte. Der alte Fischerhafen, jetzt überwiegend von Freizeitbooten aller Art frequentiert; westlich davon eine hügelige Halbinsel mit Felsenufer, Villen und kleineren Häusern, verschlungenen Wegen, herausfordernden Einbahnstraßen- und Parkplatzregelungen; im Osten ging es flach weiter, ferienwohnungsbebaut etwa ein Dutzend Kilometer bis zur Hafenstadt Toulon. Am Hafen von Sanary ein Hotel, das praktischerweise um einen mittelalterlichen Turm herumgebaut worden war; nur noch dessen letzte zwei Stockwerke ragten aus der Mitte der Herberge. Ich fragte mich, was heutige Denkmal-, Milieu-, Weltkulturerbe- und Sonstwasbeschützbewahrer dazu gesagt hätten, wenn es sie bei Baubeginn schon gegeben hätte – ein Gedanke, der meiner guten Laune einen heiteren Schub gab.

Es klingelte an der Tür. Ich wollte nicht, dass sich etwas änderte und blieb sitzen, doch irgendwer war anderer Ansicht; es klingelte ein zweites Mal. Ich setzte mich in Bewegung. Bestimmt die spröde Vermieterin von nebenan wegen irgendetwas mit Wasserdruck oder Mülltrennung. Doch auf dem kleinen Bildschirm der Torkamera erblickte ich – Überraschung: Axel Strahlson. Seit einem gemeinsamen Unternehmen am Gardasee mit ungutem Ende zwar mein Bruder im Herzen und Geiste, aber außer ein paar Mails seit drei Jahren weder gehört noch gesehen. Ich ließ das Tor aufsummen und nun stand Axel vor mir in der Tür, noch immer einen halben Kopf größer und ein halbes Jahrzehnt jünger als ich, heute in Bermuda-Shorts und Hawaii-Hemd, Cap mit Aufschrift »Cicero« über einem sonnenbebrillten Gesicht.

»Hallo Lukas Timm, mein lieber Freund und Gefährte in der Not und bei dem ganzen Rest.«

Axel und ich freuten uns, lachten, herzhafte Umarmung. Unser letzter Abschied war zu lange her, das Wiedersehen höchste Zeit und unter südlicher Sonne am richtigen Ort. Axel ist ein gestandener Journalist, hatte jedoch schon vor vielen Jahren den Redaktionsräumen den Rücken gekehrt und schlug sich als freischaffender PR-Mann und Gelegenheitsschreiber durchs Leben. Nicht ganz erfolglos, wie es schien, aber bei Axel schien ziemlich viel. Jedenfalls hatte er mich noch nie angepumpt. Während er zwei zerknautschte Reisetaschen aus seinem Smart holte, kümmerte ich mich um die Begrüßungs-Camparis, und als das Sodawasser sich mit dem roten Saft vermischte, erzählte Axel schon von seinem Exodus.

» … und als mich meine Holde rausgeschmissen hatte, brauchte ich Trost und musste an den guten Lukas denken. Ich habe alles andere kurzerhand abgesagt und nach Dir gefahndet. Deine Sekretärin Kathrin – eine ganz reizende junge Dame, by the way – ist schwach geworden und hat dein Versteck verpfiffen. Flug nach Marseille, Mietwagen und auf zu deinem Ferienpalast. Ich hatte versucht, dich anzurufen, aber dein Handy ist immer aus.«

Es war nicht nur aus, ich hatte es zu Hause vergessen, aber bisher nicht vermisst. E-Mail und Skype reichten; allerdings hatte ich schon länger nicht mehr geschaut, ob irgendwer via World-Wide-Web mit mir kommunizieren wollte. Ich erfuhr, dass Axel jetzt Zeit und nichts zu tun hatte. Diesmal sei es wohl der finale Rauswurf aus der ehelichen Wohnung. Christina hatte bei Axels Auszug auch nicht ›Tschüs‹ oder ›Lebwohl‹, sondern einfach nur »Scheidung« gesagt, und ein Weiser der Scheidungsfolgen hatte ihm geraten, als Prophylaxe schon einmal seine Einkünfte herunterzufahren und beim Ausgeben des Ersparten nicht zu vorsichtig zu sein. »Am Ende ist sowieso die Hälfte weg«. Also wollte Axel jetzt erst einmal Urlaub machen, bei mir und mit mir.

»Ich bin ein Schriftsteller im Exil« lächelte mich Axel an »da war an Sanary-sur-Mer kein Vorbeikommen. Wir knüpfen an eine große Tradition an. Wir werden unser Leid auskosten und die Verzweiflung und alles andere natürlich auch. Ich denke, ich gebe den Heinrich Mann mit der feinen Antenne für schweres Unrecht und leichte Mädchen und du … du warst vor mir da, wie wär’s mit Huxley?«

Axel hatte meine diskrete Liebelei mit Sanary durchschaut. Ab 1933 waren der Ort, das Hotel und zwei der drei Cafés auf der Promenade Anlauf- und Abhängpunkt für deutsche Künstler und Intellektuelle, vornehmlich Schriftsteller, die sich zum Start des Großdeutschen Reichs davonmachten und in dem kleinen Städtchen am Mittelmeer in mehr oder minder großer Not zusammenfanden. Das dritte Promenadencafé wurde großzügig den Eingeborenen überlassen, die sich über die zunehmende Zahl merkwürdiger, fremder Künstler und Intellektueller wunderten. Aldous Huxley war schon vorher da. Als dann Thomas Mann nebst Bruder, Frau und diversen Kindern Nazi-Deutschland den Rücken kehrte und für den Sommer eine Villa in Sanary mietete, ging ein Run deutscher Geistespromis in den kleinen Fischerort los. Die beiden ältesten Kinder des Genies hatten als junge Intellektuellenstars (gesponsert mit Ruhm und Geld von Papi und Mami) die künstlerische Eignung der französischen Mittelmeerküste bereits erkundet und dringend zum Exil in Sanary-sur-Mer geraten – nicht zuletzt, um den Sicherheitsabstand einiger Stunden elterlicher Fahrtzeit nach Nizza und Villefranche-sur-Mer zu schaffen, wo der Nachwuchs bestimmten Neigungen frönte, die nicht unbedingt Gegenstand familiärer Diskussionen werden sollten. Der Plan ging auf; die deutschen Dichter und Denker waren in Sanary gut mit sich selbst beschäftigt. Es kamen noch Lion Feuchtwanger nebst atemberaubenden Tantiemenabrechungen und Gattin (mit den Manns seinerzeit in gegenseitiger, eifersüchtiger Verachtung verbunden), Bert Brecht (ständig nörgelnd), Stefan Zweig und Arnold Zweig, Ludwig Marcuse, Schickele und viele, viele mehr. Es wurde viel getrunken, geschrieben, geredet, geprahlt, gevögelt, gehasst, geliebt, gestritten, wichtig getan und sonstwie Zeit totgeschlagen. Zwei, drei Jahre später waren viele schon ins nächste oder übernächste Exil weitergezogen. Nach der deutschen Invasion Frankreichs 1940 ging dann kaum noch etwas. 1944 wurde die »Villa Tranquille«, in der die Manns während ihrer Sanary-Zeit Hof gehalten hatten, von der Wehrmacht gesprengt, um freies Schussfeld zur Abwehr einer erwarteten alliierten Landung zu schaffen, die sich dann aber entschloss, einige Kilometer weiter östlich stattzufinden. Solche Geschichten hatten diesen Ort zu meinem diesjährigen Urlaubsziel gemacht. das auch als Stätte erster schreiberischer Fingerübungen vorgesehen war, und ich hatte es noch keine Sekunde bereut. Dass meine Prosa in Gefahr geriet, wenn sich nun Axel zu mir gesellte, war klar. Er war vieles, aber keine Muse. Doch konnte ich dem Eheflüchtling schließlich nicht einfach die Tür weisen – und ihn umgab eine Aura von Spaß und Abenteuer:

»Na, dann willkommen im Exil.«

Axel hatte noch eine Nachricht aus meinem Büro.

»Kathrin hat auch verzweifelt versucht, dich zu erreichen. Eine Frau Oberamtsrätin Schumann-Steigbert aus der Hamburger Kulturbehörde bittet dringend um deinen Rückruf.« Er gab mir einen Zettel mit ein paar Notizen meiner Sekretärin und einer Telefonnummer.

»Ich denke, darauf kannst du dir etwas einbilden. Wen der Feind lange nach der verlorenen Schlacht anruft, der hat es meist geschafft«, grinste mich mein Herzens- und Geistesbruder an.

Die Frau Oberamtsrätin hatte Kathrin ihre Version unserer alten Geschichte erzählt, und Kathrin hatte sie Axel erzählt. Meine Erinnerung an einige Details stimmte nicht mit Axels Bericht vom Second-hand-Hörensagen überein, aber das ist der Preis der Informationsfreiheit, und die steht im Grundgesetz.

»Stimmt das? Ein Justizskandal nebst Familientragödie und du mittendrin als Drahtzieher?«, fragte Axel.

»Im Großen und Ganzen – ja. Aber einiges ist auch eine Frage der Perspektive.«

Das alte Gerichtsverfahren, in dem das Finanzamt log, dass sich die Balken bogen, um eigene Fehler zu vertuschen. Finanzbeamte haben zu den Steuergesetzen mitunter ein ähnlich flexibles Verhältnis wie einige Steuerbürger, was der Beziehung beider Gruppen nicht förderlich ist. Das ganze Elend hätte meinen Mandanten leicht seine Firma kosten können. Ich hatte meine Zweifel, ob die Rätin vor Gericht die Wahrheit sagen oder statt dessen alles tun würde, um die behördliche Haut zu retten, was neben dem Ruin meines Schützlings auch den Verlust meines nach diversen Vorgefechten zu stattlicher Höhe aufgelaufenen Honorars bedeutet hätte. Die Situation flehte nach einer ganzheitlichen Maßnahme.

Herr Steigbert glaubte mir am Telefon jedes Wort über seine Frau und den Richter: »… Ich hielt es für meine Pflicht … nein, Techtelmechtel würde ich das nicht mehr nennen … dass sie Ihnen noch nie von ihm erzählt hat, finde ich nicht überraschend … ja, es hilft nichts, er sieht sehr gut aus«.

Der geschockte Gemahl nahm meinen dringenden Rat an, den Vorgesetzten seiner Frau zu informieren, um wenigstens einen Justizskandal zu verhindern. Das Gerichtsverfahren endete in einer erfreulichen Verständigung zu Lasten der Staatskasse und zu Gunsten meines Mandanten und Honorars, das im darauffolgenden Frühjahr zwischen dem Finanzamt und mir brüderlich geteilt wurde. Im Kosmos geht nichts verloren.

»Und was war mit der Paartherapie?«, hakte Axel nach.