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Legal, illegal – total egal! Drei Freundinnen auf der Suche nach Gerechtigkeit und Liebe.
Für Kosmetikerin Nele kommt es ganz dicke: Erst lässt sie der Ex im Stich, dann läuft’s auch noch beruflich mau, zusätzlich reißen die explodierenden Preise tiefe Löcher ins Budget. Als auch ihre Freundinnen Fiona und Hermine unverschuldet in existenzielle Nöte geraten, ist Schluss mit lieb und nett. Tatkräftig, unerschrocken und mit einem kleinen bisschen krimineller Energie versuchen die drei Frauen, ihre Familien über Wasser zu halten. Dumm nur, dass Nele ausgerechnet jetzt den Polizisten Nick kennenlernt – und dass sie ihn eigentlich verdammt anziehend findet …
Ein wunderbar komischer Roman über drei Frauen, denen keine andere Chance bleibt, als sich zu nehmen, was sie zum Leben (und Lieben) brauchen – typisch Ellen Berg!
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Seitenzahl: 397
Was tun, wenn frau von allen im Stich gelassen wird? Als die drei Freundinnen Nele, Fiona und Hermine unverschuldet zu Wohlstandsverliererinnen werden, beschließen sie durchzustarten. Um für ihre Familien zu sorgen, nehmen sie sich einfach, was sie brauchen. Mit viel Witz, Phantasie und nicht immer ganz legalen Mitteln kämpfen sie für ausgleichende Gerechtigkeit. Doch schneller als geahnt kommt ihnen der Polizist Nick auf die Schliche – den Nele dummerweise unverschämt attraktiv findet …
Ellen Berg, geboren 1969, studierte Germanistik und arbeitete als Reiseleiterin und in der Gastronomie. Heute schreibt und lebt sie mit ihrer Tochter auf einem kleinen Bauernhof im Allgäu. Schon immer hatte sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn – und erzählt jetzt von drei starken Frauen, die ebenso vergnügt wie unbeirrt um ihre Existenz kämpfen.
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Ellen Berg
Alles muss man selber machen
(K)ein Frauen-Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
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Prolog
Kapitel 1 — Sechs Wochen zuvor
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Epilog
Impressum
Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...
Himmel, nein! So war das nicht geplant!
Am ganzen Körper zitternd quetsche ich mich in eine enge Nische zwischen zwei Computertürmen und lausche den Schritten, die sich nähern. Noch wirft die Flurbeleuchtung nur einen schmalen Lichtstreifen in den Raum. Noch. Wenn jemand die Deckenlampe anschaltet, war’s das allerdings mit der Tarnung. Schon beim bloßen Gedanken daran bilden sich tausend kleine Schweißtröpfchen auf meiner Stirn.
Glückwunsch, Nele, du hast ja echt ein Wahnsinnstalent, dich in Teufels Küche zu bringen.
Eine männliche Gestalt taucht im Türrahmen auf, groß, breitschultrig, kurzes Haar. Selbst im schummrigen Dämmerlicht erkenne ich, wer da hereinschaut, und mein Herzschlag setzt aus. Großer Gott, das ist Nick! Ausgerechnet mein Nick!
Na ja, bislang hatten wir nur ein paar Dates, äußerst vielversprechende Dates, wie ich hinzufügen sollte, doch damit wird es schlagartig vorbei sein, falls er mich entdeckt. Ein Polizist und eine Einbrecherin, das passt in etwa so gut zusammen wie Harry Styles und Helene Fischer. Was um alles in der Welt tut Nick überhaupt hier?
»Hallo?« Aufmerksam sieht er sich um. »Ist da jemand?«
Normalerweise überlaufen wohlige Schauer meinen Rücken, wenn ich seine Stimme höre. Kein Wunder. In Nicks Timbre schwingt etwas Fürsorgliches, Verlässliches mit, etwas, was ich von meinen bisherigen Lovern absolut nicht behaupten könnte. Selbst Fruchtfliegen haben eine längere Lebensdauer als meine üblichen Instantbeziehungen. Ich bin halt ein Naturtalent in der zweifelhaften Disziplin, immer nur die Bad Boys aus dem großen Männerpool zu fischen. Nick hingegen ist das, was Mütter »Heiratsmaterial« nennen. Der Sechser im Liebeslotto. Der krönende Schlusspunkt einer endlosen Serie großer Hoffnungen und krachender Enttäuschungen.
Momentan löst seine Stimme jedoch nur eines in mir aus: pures Entsetzen. Prompt mache ich mich noch etwas kleiner in meinem Versteck.
Lieber Gott, bitte lass es nicht enden, bevor es richtig angefangen hat. Gib mir noch eine Chance.
»Ist da jemand?«, wiederholt Nick argwöhnisch.
Nicht nur jemand. Wir sind zu dritt. Mit angehaltenem Atem spähe ich zum Schreibtisch gegenüber, unter dem meine Freundin Hermine kauert, eigentümlich verdreht, den Kopf zwischen die Knie und einen Laptop an ihren Körper gepresst. Daneben drückt sich Fiona an die Wand, leidlich verborgen hinter einem Garderobenständer mit unseren drei Mänteln.
Lange kann das nicht gut gehen. Hermine bevorzugt ein penetrant süßliches Parfum, das Nick womöglich schon erschnuppert hat. Fiona wiederum leidet unter einer Hausstauballergie, weshalb es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie in dieser vermüllten Bude von Serverraum einen Niesanfall der Sorte Vulkaneruption kriegt.
Gut verplant ist halb gescheitert …
Was soll denn auch dabei rauskommen, wenn drei Amateurinnen wie wir so etwas Verrücktes wie einen Einbruch wagen? Drei bis zur Ehrpusseligkeit korrekte Frauen, die sich noch nie irgendetwas haben zuschulden kommen lassen?
Angstvoll beobachte ich wieder den Mann meines Herzens. Er steht jetzt mitten im Raum, sichtlich angespannt, so als wittere er förmlich, dass hier etwas nicht stimmt. Was soll ich ihm sagen, wenn er mich zur Rede stellt? Geld verdirbt den Charakter, Geldnöte machen einen aber auch nicht automatisch zum besseren Menschen? Das klingt doch nur nach einer schlappen Ausrede.
Wahrscheinlich würde ich sowieso stumm wie ein Fisch vor ihm stehen, weil verbale Inkontinenz nachweislich nicht zu meinen Problemen zählt. Da gibt es wahrlich andere. Zum Beispiel, dass ich immer ganz gut mit meinem Geld klargekommen bin – bis die Miete erhöht wurde, die Stromrechnung explodierte, Benzin unerschwinglich wurde und ein normaler Wochenendeinkauf so viel kostete, als würde ich meinen Kindern Kaviar mit Blattgoldflöckchen zum Frühstück servieren.
Hermine und Fiona geht es ähnlich. Wir lebten in soliden Verhältnissen, wie man so sagt, nun reicht es hinten und vorn nicht mehr. Doch damit nicht genug. Uns allen dreien wurde übel mitgespielt, so richtig übel. Dann steht man plötzlich mit dem Rücken an der Wand. Oder hockt wie ich in einer viel zu engen Nische zwischen zwei Computertürmen und schickt ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel, bloß nicht erwischt zu werden.
Warum wir es nicht legal versucht haben? Haben wir doch! Immer und immer wieder! Alle drei strampeln wir uns nach Leibeskräften ab, um uns und unsere Lieben über Wasser zu halten. Trotzdem kommt es vor, dass man ganz unten landet, und dann muss man halt weiterkämpfen, legal, illegal, komplett egal. Genau deshalb sind wir hier, im digitalen Allerheiligsten der Firma Millennium Invest International: um uns zu holen, was uns zusteht. Jedenfalls war das die Idee, als wir kurz vor Mitternacht von zu Hause aufgebrochen – und hier eingebrochen sind.
Warum zum Teufel musste Nick hier reinplatzen? Warum?
Mittlerweile klopft mein Herz so laut, dass ich jede Rippe einzeln spüre. Mach dich nicht verrückt, versuche ich mich zu beruhigen, wir schaffen das schon. Zusammen mit Fiona und Hermine hast du doch immer alles geschafft. Also vertrau deinem Karma, bei dem du so einiges guthast, und lass dein höheres Selbst übernehmen. Kann doch nicht sein, dass du wieder und wieder mit Vollgas vor die Wand fährst, obwohl du dein Leben lang nur geackert und niemandem etwas zuleide getan hast.
Erneut schaue ich zu Hermine, die mit fragend erhobenen Händen zu mir herüberlinst, als wollte sie sagen: Was machen wir denn jetzt? Als ob ich das wüsste. Am liebsten würde ich aufspringen, mich in Nicks Arme werfen und ihm alles beichten. Wirklich alles. Meine Ängste, meine Verzweiflung, meinen Frust. Aber was würde das bringen, außer dass ich den letzten Trumpf verspiele, der mir noch bleibt?
Es gibt Züge, die fahren nur einmal im Leben, heißt es. Nick ist dieser Zug. Ich weiß es, ich fühle es, und es gibt nichts, was ich mehr ersehne, als endlich einzusteigen und die Reise zum großen Glück anzutreten.
Er darf uns nicht finden. Auf keinen Fall!
In diesem Augenblick erschüttert ein explosionsartiges Niesgeräusch die Luft. Zeitgleich fällt der Garderobenständer mitsamt den drei Mänteln um und landet direkt vor Nicks Füßen.
Sechs Wochen zuvor
»Verzicht«, haucht die sehr blonde, sehr sorgfältig geschminkte Dame im beigefarbenen Kaschmirkleid und betrachtet den dicken Brillantring an ihrem linken Mittelfinger. »Verzicht ist der Schlüssel zum Glück.«
Verdutzt schaue ich sie an. Habe ich mich vielleicht verhört? Seit einer halben Stunde maniküre ich die Hände meiner Stammkundin Elisabeth Steinhövel, gerade bin ich beim Nägel lackieren angelangt. Da muss man sich konzentrieren. Nicht auszudenken, wenn etwas von dem leuchtend roten Nagellack auf die weißen Designersessel oder den cremefarbenen Teppich tropft.
»Entschuldigung, was sagten Sie gerade?«
»Weniger ist mehr.« Mit einem verträumten Lächeln lässt Frau Steinhövel den Blick durch ihr riesiges topgestyltes Wohnzimmer mit den voluminösen weißen Couchen und den kostbaren Gemälden wandern, bis er an einem großen Strauß weißer Lilien hängenbleibt. »Mein Therapeut sagt immer: Alles, was du besitzt, besitzt irgendwann dich. Deshalb ist Verzicht so wichtig. Man gewinnt ungeheuer viel, wenn man alles weglässt, was man nicht unbedingt braucht.«
Stumm tauche ich den winzigen Pinsel in das Nagellackfläschchen. Also wirklich, deine Sorgen möchte ich haben. Ich muss nämlich verzichten, und zwar auf so ziemlich alles, was ich richtig dringend bräuchte. Zum Beispiel anständige Schuhe für Ben, meinen Jüngsten, eine neue wetterfeste Regenjacke für Alisa, die jeden Tag gefühlt drei Zentimeter wächst, oder eine funktionierende Lichtmaschine für meine Uraltgurke von Auto. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Jeder hat halt sein Päckchen zu tragen. Wenn man Elisabeth Steinhövel heißt, ist man mehrfach reich geschieden, residiert in einer schicken Altbauetage mit erlesenen Designermöbeln und führt seine Luxusprobleme Gassi. Heißt man Nele Tremper, ist man einfach arm getrennt, haust mit zwei Kindern in einer winzigen Wohnung, fährt mit einem klapprigen alten Mitsubishi durch die Gegend und verdient sich seinen Lebensunterhalt mit Hausbesuchen.
Es ist eine Art Zwischenlösung. Seit Jahren spare ich auf meinen eigenen Kosmetiksalon, ein ehrgeiziges Projekt, zugegeben. Mir schwebt eine echte Wohlfühloase in hübschen Pastellfarben vor, ausgestattet mit Zen-Zimmerspringbrunnen und zartlila Orchideen, wo ich meine Kundinnen nach Strich und Faden verwöhnen kann. Immerhin habe ich einiges zu bieten. Durch diverse Fortbildungen bin ich für Fruchtsäurepeelings und Kryo-Treatments qualifiziert, nach einem mehrwöchigen Visagistenkurs stehe ich auch für raffinierte Abend-Make-ups zur Verfügung.
Dumm nur, dass finanzielle Fortune nicht gerade mein Fachgebiet ist. So wenig wie Menschenkenntnis.
In letzter Zeit schmelzen meine Rücklagen wie Butter in der Sonne, weil alles so furchtbar teuer geworden ist. Allein die hochwertigen Kosmetikprodukte, mit denen ich arbeite, verschlingen mittlerweile Unsummen, hinzu kommen die rasant gestiegenen Kosten für den täglichen Bedarf. Wäre das vor drei Jahren abzusehen gewesen, niemals hätte ich damals dem Vater meiner Kinder eine hübsche Stange Geld geliehen. Nun ja, sprechen wir lieber von ihrem dauerabwesenden Erzeuger. Donatus – er heißt wirklich so – wollte ein superlukratives Business mit Massagesesseln aufziehen, eine todsichere Sache, klar, die Lizenz zum Gelddrucken und so weiter. Auch ich könnte davon profitieren, so sein vollmundiges Versprechen. Vierfach verstellbare Massagesessel mit sechsfach variierbaren Vibrationen seien der Burner für ein Kosmetikstudio.
Warum ich einem Mann vertraut habe, der seinen Handywecker allabendlich auf Punkt sechs Uhr morgens stellte, beim Zubettgehen aber meist nur noch zwei Prozent Akku hatte, ist mir bis heute ein Rätsel. Nachdem Donatus mein geborgtes Geld eingesackt hatte, trennte er sich von mir, tauchte ab und hat seitdem keine einzige Unterhaltszahlung für Alisa und Ben geleistet. Deshalb dümpelt mein Kontostand im nicht messbaren Bereich, womit mein Wunschtraum vom eigenen Kosmetiksalon in noch weitere Ferne gerückt ist.
Aber hey, Träume haben kein Verfallsdatum, auch wenn die Fakten leise »unbezahlbar« flüstern und mein Realitätssinn »vollkommen unmöglich!« ruft. Man soll ja nie aufgeben.
Einstweilen bringe ich meine Künste mobil an die Frau. Das Leben ist nicht perfekt, aber Ihre Nägel können es sein, lautet ein Werbespruch auf meiner Website Beauty to go. Wäre mein Leben nur halb so perfekt wie die Hände meiner Kundinnen, ich könnte einen hüftwackelnden Freudentanz nach dem anderen aufführen.
»Apropos Verzicht.« Mit der freien linken Hand greift Frau Steinhövel zum Proseccoglas, das neben ihr auf einem Beistelltischchen aus weißem Marmor steht. »Nächste Woche fliege ich nach Marbella, in eine exklusive Fastenklinik. Kostet mich drei Tausender pro Woche, aber glauben Sie mir, es ist herrlich, unter ärztlicher Aufsicht zu fasten.«
Jetzt bleibt mir doch tatsächlich die Spucke weg. Wer legt denn bitte mehrere Tausender pro Woche hin, um nichts zu essen?
»Interessant«, nuschele ich.
»Und die Gäste erst!« Nachdem Frau Steinhövel einen Schluck Prosecco genommen hat, verdreht sie genussvoll die Augen. »Man soll dort tolle Leute treffen, die oberen Zehntausend sozusagen. Fasten verbindet ungemein, spätere Heirat nicht ausgeschlossen.« Zufrieden kichert sie in sich hinein. »Ich habe sechs Wochen gebucht, damit ich mir in Ruhe einen passenden Kandidaten aussuchen kann.«
In meinen Ohren schrillen die Alarmglocken los. Einmal pro Woche besuche ich einen überschaubaren Kreis von Stammkundinnen und kann auf keine einzige verzichten. Jeder Euro ist fest verplant.
»Das heißt, die nächsten sechs Termine fallen aus?«, hake ich mit einem mulmigen Gefühl nach.
»So ist es.« Frau Steinhövel zögert, dann formt sie einen schuldbewussten Schmollmund. »Da ist übrigens noch etwas, was ich Ihnen mitteilen wollte. In der Innenstadt hat ein neuer Beauty-Tempel eröffnet: das Jamali, sehr eleganter Laden, alles in Weiß und Grau gehalten, mit exzellentem Maniküre-Pediküre-Service, Laser-Gesichtsbehandlungen und Hydro-Facials.«
O nein. Ich spüre, wie sich mein Magen ausbeult und gegen die Herzgegend drückt.
»Aber, aber … Sie waren doch immer zufrieden mit mir, wollen Sie jetzt etwa …«
»Nicht, dass Sie mich falsch verstehen«, fällt mir Frau Steinhövel ins Wort. »Ich bin sogar sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit, Sie machen das top, wirklich, aber im Jamali herrscht so eine ungemein kultivierte Atmosphäre. Alle meine Freundinnen gehen jetzt dahin, auch Konstanze, Miriam und Gundula. Sie baten mich, Ihnen mitzuteilen, dass sie Ihre Dienste ebenfalls nicht mehr brauchen.«
Nur mit Mühe kann ich verhindern, dass mir der Pinsel ausrutscht und hässliche blutrote Spuren auf dem Brillantring meiner Kundin hinterlässt.
»Verzeihung, Sie wissen aber schon, dass ich auf das Geld angewiesen bin, und …«
Mit einer ungeduldigen Kopfbewegung bringt mich Frau Steinhövel zum Schweigen.
»Nun machen Sie bitte kein Drama daraus. Sie können sich ja im Jamali bewerben, die benötigen bestimmt noch Servicekräfte. Das Ambiente wird Ihnen gefallen.«
Klar, wem würde so ein edler Schuppen denn nicht gefallen. Aber welcher Chef stellt eine alleinerziehende Mutter ein, die flexible Arbeitszeiten braucht, maximal bis Schulschluss arbeiten kann und ausfällt, wenn Alisa einen ihrer Asthmaanfälle bekommt?
Beklommen trage ich den farblosen Überlack auf, Fingernagel für Fingernagel, während ich im Kopf durchrechne, wie viel Geld mir künftig fehlen wird. Eindeutig zu viel.
Allein die Sache mit dem Wagen wird langsam brenzlig. Manchmal springt er nicht an, dann wieder ruckelt die Kupplung, außerdem ist der TÜV seit Wochen überfällig. Als ich in der Werkstatt nachfragte, ob noch was zu retten sei, hat der Mechaniker nur mit den Schultern gezuckt: »Im Prinzip ja, aber dafür müsste ich Ihnen schon ein neues Auto zwischen die Nummernschilder schrauben.«
Grandiose Aussichten. Ein neuer Wagen ist absolut nicht drin, nur der Umstieg auf mein rostverziertes Fahrrad, was den Arbeitsalltag einer mobilen Kosmetikfachkraft nicht gerade einfacher machen wird. Wo ruft man eigentlich an, wenn das Karma kaputtgegangen ist? In den Nachrichten sprechen sie von explodierenden Preisen. Ich würde von implodierender Lebensqualität sprechen. Große Sprünge konnte ich ohnehin nie machen, aber ab und an ging ich mit den Kindern italienisch essen, und einmal im Jahr gab’s einen Campingurlaub an der Ostsee. Vorbei. Seit Donatus auch noch mit meinem Ersparten auf und davon ist, herrscht Ebbe in der Haushaltskasse. Umso härter trifft mich nun dieser Schicksalsschlag. Vier Stammkundinnen weniger sind eine mittlere Katastrophe.
»Tut mir leid, dass Sie es so kurzfristig erfahren mussten«, beteuert Frau Steinhövel überflüssigerweise. Dass sie weitgehend mitgefühlfrei ist, hat sie ja schon unter Beweis gestellt. »Wie geht es eigentlich Ihren Kindern? Hieß Ihre Tochter nicht Elise?«
»Alisa.« Ich schlucke schwer. »Und mein Sohn heißt Benjamin.«
Schon jetzt krampft sich mein Herz bei der Vorstellung zusammen, dass ich den Kleinen erklären muss, was alles gestrichen ist, solange ich keine neuen Kundinnen habe. Der fest versprochene Zoobesuch mit anschließendem Eisessen zum Beispiel, vor allem aber Alisas Geburtstagsparty im Stadtpark, bei der es Würstchen, Salate, Cupcakes und allerlei Wettkämpfe mit Spielzeugpreisen geben sollte. So was kostet. Woher soll ich das Geld nehmen? Ganz zu schweigen von Bens Klassenfahrt, die demnächst ansteht.
»So, fertig«, murmele ich.
»Sehr schön.« Eingehend begutachtet Frau Steinhövel ihre leuchtend roten Nägel in der Farbnuance Coral Delight. »Nun machen Sie sich mal keinen Kopf, jeder hat sein Leben selbst in der Hand.«
Schade nur, dass ich meins nicht im Griff habe, du Empathierakete.
»Sagen Sie mir jederzeit, wenn ich etwas für Sie tun kann«, fügt Frau Steinhövel hinzu, als könnte halbherzig geheuchelte Hilfsbereitschaft den faktischen Rausschmiss wiedergutmachen.
Die Stille, die folgt, fühlt sich eisig an. Frustriert packe ich meine Scheren, Feilen, Schwämmchen, Cremes und Nagellackfläschchen in den Profi-Kosmetikkoffer aus leicht abgestoßenem Aluminium und lasse die Verschlüsse zuschnappen. Man hat mich einfach abserviert. Und das nach all den Jahren, in denen ich bei Wind und Wetter, sengender Hitze und klirrender Kälte zuverlässig kreuz und quer durch die Stadt gekurvt bin, um Frau Steinhövel und ihren Freundinnen den Rundum-Kosmetikservice zu bescheren.
»Tja, das war’s dann wohl.« Obwohl ich zwischen Heulkrampf und Mordgelüsten schwanke, zwinge ich mich zu einem freundlichen Lächeln. »Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
»Dasselbe für Sie«, säuselt Frau Steinhövel mit wedelnden Fingern, um den Trocknungsvorgang des Nagellacks zu beschleunigen.
»Könnte ich vielleicht …« – verflixt, es fällt mir immer so schwer, über Finanzielles zu reden – »… ähm, mein Honorar bekommen? Für den letzten Monat? Es sind noch hundertsechzig Euro offen.«
Sie sieht mich an, als wollte ich ihr Tafelsilber mitgehen lassen, und jetzt ist mir die Frage so richtig peinlich.
»Momentan habe ich kein Bargeld im Haus«, entgegnet sie sehr von oben herab. »Sie können sich das Honorar ja abholen, wenn ich wieder da bin.«
Das ist ein starkes Stück. Immerhin geht es hier um hundertsechzig Euro. Und darauf soll ich sechs Wochen lang warten? Mein Blick fällt auf die kostbare Kristallbodenvase mit den weißen Lilien. Allein diese verschwenderische Blumenpracht hat vermutlich ein Vielfaches von dem gekostet, was ich für eine einzige Maniküre verlange.
Hausbesuche sind halt zwiespältig, weil man dabei mehr über seine Kundinnen erfährt, als einem lieb sein kann. Und damit meine ich nicht nur Pizzareste auf dem Sofa oder Rallyestreifen in der Toilettenschüssel. Für Frau Steinhövel bedeutet Sparsamkeit, ausnahmsweise Prosecco statt Champagner zu trinken und ausschließlich Taxi zu fahren, damit ihre 600-Euro-Louboutins – ja, die mit der knallroten Sohle – länger halten. Für mich heißt Sparsamkeit, morgens kalt zu duschen, jedem Schnäppchen hinterherzujagen, Teebeutel zweimal zu verwenden und den Begriff Urlaub aus meinem Wortschatz zu streichen.
Nicht, dass ich neidisch gewesen wäre. Ehrlich, ich gönne meinen Kundinnen jeden Luxus. Was ich allerdings nie begreifen werde, ist die Gedankenlosigkeit, mit der solche wohlhabenden Damen eine Frau behandeln, die jeden Cent zehnmal umdrehen muss.
»Wäre es vielleicht möglich, dass Sie mir das Geld überweisen oder per PayPal senden?«, starte ich einen neuen Versuch.
»Warum nicht«, antwortet Frau Steinhövel zerstreut, weil sie nebenbei auf ihr Handy schielt. »Und jetzt muss ich Sie bitten zu gehen, meine Hausangestellte will mit dem Kofferpacken anfangen, sie wartet schon auf meine Instruktionen. Ich nehme an, Sie finden allein hinaus?«
»Hmja.«
Ein letztes Mal nehme ich das weitläufige Wohnzimmer in Augenschein, in dem ich so oft Frau Steinhövels Fingernägel geschnitten, gefeilt und gelackt habe. Ich denke an das aufwendige Make‑up, das ich ihr anlässlich der Hochzeit ihrer Tochter geschenkt habe. An die selbst gebackenen Kekse, die ich ihr immer zu Weihnachten mitgebracht habe. An die Illusion, im Laufe der Zeit sei so etwas wie ein freundschaftliches Verhältnis entstanden, das eine gewisse Loyalität einschließt. Von wegen.
Mit hängenden Schultern schleiche ich durch den mit hellgrauem Teppichboden ausgelegten Flur zur Haustür, völlig fertig und den Tränen nah. Im Vorübergehen schaue ich in den Garderobenspiegel. Was ich sehe, ist eine Mittdreißigerin in Jeans und rosa Sweatshirt, deren hellbraune Locken recht gut mit dem hellen Teint und den vorwitzigen Sommersprossen harmonieren. Doch der Schock steht mir deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Alles in Ordnung?«, fragt Frau Steinhövel schneidend. Wie aus dem Nichts steht sie auf einmal im Flur, als wollte sie sichergehen, dass ihre gefeuerte Kosmetikmamsell auch tatsächlich verschwindet. »Oder haben Sie noch etwas auf dem Herzen?«
O ja, jede Menge. Doch wahre Worte sind selten schön, und schöne Worte selten wahr. Aus der Haut fahren ist zwar der ideale Kurzurlaub für Menschen, die sich keine Reisen leisten können, aber was würde es denn nützen, Frau Steinhövel ordentlich die Meinung zu geigen? Du musst dich halt entscheiden, ob du für deine Ehrlichkeit gehasst oder wegen deiner Diplomatie geliebt werden willst, und Diplomatie entspricht ohnehin mehr meinem Naturell. Ich bin ein friedliebender Mensch, keine Krawallnudel.
»Alles bestens«, krächze ich deshalb nur und öffne die Haustür. »Frohes Fasten.«
Knallend fällt die Tür hinter mir ins Schloss. Wie ein Ausrufezeichen hinter dem unausgesprochenen Satz: Du kommst hier nicht mehr rein.
Früher hätte ich mir den Frust bei meinem Lieblingsitaliener weggefuttert. Ein schöner Latte macchiato, dazu ein Tiramisu – oder, wie Ben sagt: Ratte Mackeriato mit Terror-Misu –, und die Welt wäre wieder halbwegs in Ordnung gewesen. Abends dann ein Kinobesuch, um mich mit einem Riesenbecher Popcorn aus der Realität wegzuträumen, ja, das wäre toll.
Leider ist Essengehen genauso wenig drin wie Kino. Stattdessen wird es daheim das Lieblingsessen meiner Kinder geben: Fischstäbchenpizza. Und für mich als abendliche Unterhaltung das Brettspiel für eine Person: bügeln.
Ohne Moos nix los, nennt man das. Aber wenigstens weiß ich jetzt, was die in den Nachrichten mit Kohleausstieg meinen.
Trotz alledem möchte ich mich keineswegs beklagen. Selbstmitleid ist bekanntermaßen unproduktiv und wäre auch völlig fehl am Platz. Ich habe zwei wunderbare Kinder, ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, einen Beruf, den ich liebe, wunderbare Freundinnen, die mir zur Seite stehen. Jetzt muss es nur noch bergauf gehen statt bergab.
Na, wird schon klappen. Optimismus kann ich. Hätte ich sonst zwei alte Jeans in Größe vierunddreißig im Schrank, obwohl ich seit acht Jahren eine vierzig trage?
Draußen auf der Straße atme ich erst einmal tief durch. Nur die Ruhe, Nele, alles wird sich fügen, spreche ich mir Mut zu. Leider verfliegt mein Optimismus mit jedem Atemzug. Es gibt einfach Augenblicke, in denen man sich fragt: Habe ich irgendwo im Leben die falsche Abzweigung genommen? Bin ich dazu verdammt, ewig auf Umwegen unterwegs zu sein, ohne jemals mein großes Ziel zu erreichen?
Dies ist so ein Augenblick.
All die Jahre war ich fest davon ausgegangen, dass ich schon noch auf einen grünen Zweig komme, wenn ich mich nur genügend anstrenge. Das habe ich wahrlich getan – mit niederschmetternden Resultaten. Eine selbstständige Existenz ist wie eine Trapeznummer ohne Sicherheitsnetz, bin ich oft gewarnt worden, doch inzwischen habe ich festgestellt, dass es nicht mal ein Trapez gibt.
Dabei ist Kosmetikerin mein absoluter Traumberuf. Schon als kleines Mädchen war ich fasziniert von Nagellacken, Lippenstiften und duftenden Cremes. Gleich nach dem Abi habe ich deshalb eine Ausbildung zur staatlich geprüften Kosmetikerin absolviert, zusätzlich Kurse über medizinische Hautpflege und typgerechte Beratung belegt, mich fortlaufend weitergebildet und mir einen festen Kundenstamm erarbeitet.
Mein besonderes Plus ist der Schwerpunkt Naturkosmetik. Von Chemiebomben halte ich gar nichts, so wenig wie von Unterspritzungen oder Liftings. Die Natur ist der beste Beauty-Doc, finde ich. Bevorzugt arbeite ich mit selbst gemachten Produkten. Mein Glanzstück ist eine Nachtpflege mit Sheabutter und Rosenwasser, die ganz ohne schädliche Konservierungsstoffe auskommt, weil ich sie mit Teebaumöl haltbar mache. Riecht etwas streng, ist aber ein wahres Elixier für gestresste Haut.
Fragt mich eine Kundin, warum ich nicht auf teure Hightech-Cremes setze, habe ich eine Standardantwort parat: Solche Cremes wirken nur, wenn man sie ganz dick auf den Spiegel schmiert, dann sind alle Falten weg.
Klar, als Kosmetikerin an den Gesichtern anderer Frauen herumzuhantieren ist nicht jedermanns Sache, doch ich mag meinen Beruf, weil ich Menschen mag. Es ist so ungeheuer befriedigend, wenn eine Kundin ganz begeistert ist, dass ich ihr zu einem besseren Aussehen verhelfen konnte. Ich mag meinen Beruf sogar so sehr, dass ich schon mal ein Auge zudrücke, wenn jemand nicht so zahlungskräftig ist. Wie meine Nachbarin, die alte Frau Minnemann, der ich die Nägel für eine Tasse Kaffee mache. Oder meine Freundin Hermine, die ihre Mutter daheim pflegt und sich keine aufwendigen Kosmetikbehandlungen leisten könnte.
Doch wenn mir eine Elisabeth Steinhövel so wenig Wertschätzung entgegenbringt – wozu dann das alles? Mal ganz abgesehen von der finanziellen Seite.
Langsam schlendere ich los. Eigentlich ist es ein herrlicher Tag. Eine sanfte Frühlingsbrise weht mir ins Gesicht, Vogelgezwitscher erfüllt die Luft, die Chromleisten der geparkten Autos glitzern in der Sonne. Nur ein Wagen fällt aus dem Rahmen: meine mattgrüne Rostlaube, hinter deren Scheibenwischer ein weißer Zettel klemmt. In einem freundlicheren Universum könnte es die Botschaft eines Unbekannten sein, der mir beim Einparken zugeschaut und sich spontan in mich verguckt hat. In der real existierenden Wirklichkeit handelt es sich natürlich um nichts anderes als ein schnödes Strafmandat.
Mist. In der Eile habe ich vergessen, meine Parkscheibe auf das Armaturenbrett zu legen. Zeitdruck ist eben mein zweiter Vorname. Wenn man als alleinerziehende Mutter Kinder, Haushalt und Job unter einen Hut bringen muss, steht man ständig unter einem Stress, den andere Leute nur vom Last-Minute-Shopping am Heiligabend kennen.
Missmutig zupfe ich den weißen Zettel unter dem Scheibenwischer hervor und zerknülle ihn zu einem winzigen Ball. Jeder Tag ist ein Geschenk, heißt es. Aber dieser ist so richtig mies verpackt.
»Hallo, junge Frau?«
Erschrocken fahre ich zusammen. Direkt neben mir hält ein Streifenwagen, aus dessen heruntergelassenem Seitenfenster ein uniformierter Beamter lehnt. Mannomann. Die Polente hat mir gerade noch gefehlt. Unauffällig lasse ich den zerknüllten Strafzettel in meiner Handtasche verschwinden.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Wegfahren, aber dalli.« Der Polizist hebt eine Augenbraue. »Sehen Sie das Feinkostgeschäft? Sie parken hier in einer Ladezone. Und sagen Sie bitte nicht, das ist Ihnen entgangen.«
Jetzt entdecke auch ich das Feinkostgeschäft samt dazugehörigem Halteverbotsschild. Wo kommt das denn plötzlich her?
»Tut mir leid, Herr Oberwachtmeister«, flöte ich, wobei ich der altertümlichen Bezeichnung einen humoristischen Unterton verleihe, um den gestrengen Ordnungshüter etwas milder zu stimmen. »Das Schild habe ich tatsächlich übersehen.«
»Dann nichts wie weg, sonst muss ich Sie abschleppen lassen.«
Eine knallharte Ansage. Noch dazu von einem Mann, den ich unter anderen Umständen durchaus attraktiv gefunden hätte. Es ist kaum zu übersehen, dass der Schöpfer bei diesem Prachtexemplar von Mann keineswegs gepennt hat. In seinem gut geschnittenen Gesicht funkeln zwei meergrüne Augen, neben seinem sinnlichen Mund zeichnen sich zwei Grübchen ab, und die breiten Schultern zeugen sowohl von exzellenten Anlagen als auch von regelmäßigen Ausflügen ins Fitnessstudio.
Letztlich wäre er ein Klischee auf zwei Beinen, die Inkarnation des aalglatten Schönlings, wenn nicht dieses verschmitzte Funkeln in seinen Augen eine ganz andere Geschichte erzählt hätte.
Eine Geschichte, in der ich gern vorkommen würde. Aber ich kann ja wohl schlecht sagen: Grüß Gott, mein Name ist Nele Tremper, ich hätte gern die Hauptrolle in Ihrem Kopfkino.
»Würden Sie dann bitte wegfahren?«, holt er mich auf den Boden der unromantischen Tatsachen zurück.
»Klar, danke für den, ähm, Tipp«, stammele ich hingerissen.
»Immer gern doch, Ihr Freund und Helfer ist für Sie da. Sekunde mal.« Das Prachtexemplar dreht sich zu seiner Kollegin auf dem Beifahrersitz um, einer mittelalten Dame mit eisgrauer Pagenkopffrisur, die ihm ein Tablet unter die Nase hält. Danach wendet er sich wieder an mich. »Kann es sein, dass Ihr Wagen seit fast zwei Monaten keinen TÜV mehr hat?«
Erwischt. Doppelmist. Im digitalen Zeitalter bleibt aber auch gar nichts verborgen.
»Tut mir leid, Werkstatttermine sind momentan echt schwer zu kriegen, deshalb bin ich etwas hintendran«, schwindele ich drauflos. »Nächste Woche wird alles erledigt. Versprochen.«
Der Polizist runzelt die Stirn. Er glaubte mir kein Wort, so viel steht fest. Was bedeutet, dass ich diese Unterhaltung beenden muss, bevor es noch so richtig unangenehm wird, Kopfkino hin oder her. Hastig fische ich meinen Autoschlüssel aus der Handtasche.
»Dürfte ich dann los? Ich muss meine Kinder von der Schule abholen.«
»Nur zu. Gute Fahrt.«
Rasch schließe ich den Wagenschlag auf, steige ein und werfe meinen Kosmetikkoffer auf den Beifahrersitz. Danach stecke ich den Schlüssel ins Zündschloss. Bevor ich ihn nach rechts drehe, flehe ich stumm: Spring an, bitte, mach mir keine Schande.
Mein Auto denkt jedoch gar nicht daran, anzuspringen, sondern gibt nur ein klägliches Gewürge von sich. Wie peinlich. Braucht irgendjemand diesen Tag noch, oder kann der weg? Ich bin für weg.
Interessiert sieht der Polizist zu, wie ich es ein weiteres Mal versuche. Wieder nichts. Nur ein röchelndes Geräusch, das an einen sterbenden Dinosaurier erinnert. Hat sich denn heute alles gegen mich verschworen? Erst verliere ich gleich vier Kundinnen, dann sacke ich ein Strafmandat ein, nun lässt mich auch noch meine altersschwache Karre im Stich?
Mit einem kreisenden Zeigefinger bedeutet mir der Polizist, dass ich die Scheibe meiner Fahrertür herunterkurbeln soll. Was ich auch tue.
»Ja, bitte?«
»Könnte es sein, dass Ihr Wagen gar nicht mehr fahrtüchtig ist?«
»Doch, doch«, entgegne ich eifrig nickend und streiche mir eine Locke aus der Stirn. »Wissen Sie, mein Bobo hat schon einige Jahre auf dem Buckel, da braucht man etwas Geduld.«
»Bobo?« Ein kleines Grinsen malt sich im Gesicht des Polizisten ab. »Sie haben Ihrem Auto einen Namen gegeben?«
»War eine Idee von Alisa, meiner Tochter. Sie fand, dass Bobo passt.«
»Kreatives Kind.«
Sein Grinsen verbreitert sich zu einem amüsierten Lachen, als wollte er allen Ernstes mit mir flirten. Was kommt als Nächstes? Jede noch so doofe Situation kann der Beginn von etwas ganz Wundervollem sein? Aber nein, wahrscheinlich macht er sich nur über mich lustig. Schließlich gebe ich ja auch ein reichlich belämmertes Bild ab, wie ich da in meiner maroden Gurke sitze, die partout nicht anspringen will.
In diesem Moment beugt sich die Polizistin auf dem Beifahrersitz vor, augenscheinlich eine eher verspannte Person, die wenig Sinn für ausgefallene Autonamen hat.
»Wird das noch was vor Weihnachten? Oder sollen wir besser gleich den Abschleppwagen rufen?«
»Komm schon, das kriegen wir doch anders hin«, widerspricht ihr Kollege begütigend. »Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich ein Starthilfekabel dabei.«
»Bist du irre?« Die Polizistin tippt sich an die Stirn. »Wir sind auf Bereitschaft, da können wir nicht Pannendienst spielen.«
»Wieso, ist doch gerade nichts los.«
»Aha, mal wieder im Star-Trek-Retter-Modus unterwegs, Captain Kirk«, grummelt die Polizistin. »Brauchst du ein Nein auf Klingonisch, oder möchtest du es schriftlich?«
Ohne sich weiter um seine Kollegin zu kümmern, steigt mein Freund und Helfer bereits aus. Nun kann ich ihn in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit bewundern. Die enge dunkelblaue Hose und das hellblaue Hemd, das sich über dem Oberkörper spannt, lassen keinen Zweifel an seinem beeindruckenden Körperbau, und in der hellen Sonne wirkt sein Gesicht noch anziehender: offen, sympathisch, fast zum Verlieben.
»So, junge Frau«, lächelt er, als er das Starthilfekabel aus dem Kofferraum des Streifenwagens geholt hat und wie ein Lasso herumwirbelt. »Wollen wir?«
Ja, denke ich verzückt. Jajaja, alles, was du willst, mein Ritter.
Gleich darauf rufe ich mich zur Ordnung. Geht’s noch, Nele? Die Chance, dass sich so ein Traumtyp im romantischen Sinne für dich interessiert, liegt bei unter einem Prozent. Männer, die auf dich fliegen, sind leichtlebig, unzuverlässig und notorisch pleite. Komm mal bitte runter, ja? In einer Stunde ist Schulschluss, vorher musst du noch fürs Abendessen einkaufen, also öffne gefälligst die Motorhaube und zieh die Sache mit dem Kabel durch, sonst kommst du zu spät.
Nachdem ich den entsprechenden Hebel gefunden habe und ausgestiegen bin, lausche ich dem erbarmungswürdigen Quietschen der Motorhaube, die hörbar dagegen protestiert, dass Captain Kirk sie nach oben schiebt.
»Wow, das Geräusch hätte ich gern als Klingelton«, grinst er, als sei mein Auto ein Witz.
Ist es ja auch. Dennoch kann ich nicht wirklich darüber lachen. Seit acht Jahren ist Bobo mein treuester Begleiter. Was haben wir nicht alles zusammen erlebt: Spritztouren zum Baggersee, rasante Zickzackfahrten vor den Geburten von Alisa und Ben, Lenkradpicknicks, wenn’s mal wieder schnell gehen musste, zuweilen auch den Austausch von Zärtlichkeiten auf abgelegenen Parkplätzen.
Dass Bobo in die Jahre gekommen ist und mehr Macken als PS unter der Motorhaube hat, stört mich im Prinzip nicht sonderlich. Wie in einer guten Ehe, in der man großzügig über beginnenden Haarausfall und üppig wucherndes Hüftgold hinwegsieht, habe ich ihn trotzdem gern. Doch jetzt ahne ich, dass unsere Beziehung eine Sollbruchstelle hat, die sich ganz lapidar zusammenfassen lässt: bis dass der TÜV uns scheidet.
»Habe ich was Falsches gesagt?«, reißt mich der Polizist aus meinen melancholischen Überlegungen. »Sie sehen auf einmal so – so traurig aus.«
Aha. Einfühlsam ist er also auch noch. Wo gibt’s denn so was? Und warum lerne ich sonst immer nur Männer kennen, die aus einer Zeit zu stammen scheinen, als man noch Höhlenwände bemalte und rund ums Lagerfeuer tanzte?
»Nein, das heißt …« Ich räuspere mich. »Schwamm drüber, danke, dass Sie mir helfen.«
Meine Stimme hat ein bisschen gezittert, und in meinem Brustkorb regt sich ein merkwürdiges Flattern. Wie unpassend. Falscher Ort, falscher Zeitpunkt, Nele. Verlegen senke ich den Kopf und entdecke einen hellen Fleck ganz unten auf meinem rosa Sweatshirt. Ausgerechnet heute! Ausgerechnet jetzt! Zwar sage ich immer: Reiche Frauen haben Designerlabels auf ihren Klamotten, glückliche Frauen Kinderspucke und Saftflecken, dennoch hoffe ich inständig, dass Captain Kirk den Fleck nicht bemerkt hat.
»Macht Ihr Wagen schon länger Probleme?«, erkundigt er sich, während er das Gewirr aus angerosteten Metallteilen und staubbedeckten Schläuchen in Bobos Innenleben begutachtet.
»Nein, im Gegensatz zu Bobo ist das Problem funkelnagelneu«, behaupte ich mit schlechtem Gewissen, weil ich schon wieder schwindele.
»Wann haben Sie denn das letzte Mal den Ölstand kontrolliert?«, bohrt er weiter. »Sie wissen doch, dass Sie regelmäßig einen Ölwechsel vornehmen müssen?«
Im Prinzip ja, aber das gehört in die Abteilung Originalverpackte gute Vorsätze vom letzten Jahr günstig abzugeben – so wie gesünder essen, früher zu Bett gehen, regelmäßig Sport treiben. Der letzte Ölwechsel ist recht lange her und war derart kostspielig, dass ich auf weitere Maßnahmen dieser Art vorerst verzichtet habe.
»Die Technik und ich, wir sind nicht gerade ein Dreamteam«, versuche ich, mich einigermaßen elegant aus der Affäre zu ziehen. »Meine Stärken liegen eher im Beautybereich.«
»Das sieht man.« Ein frecher kleiner Seitenblick trifft mich. »Also das mit der Beauty.«
Ist das zu fassen? Er flirtet tatsächlich mit mir! Oder sind solche Komplimente in Uniform heute schon ein Fall von sexueller Belästigung? Ach nein, beschließe ich, freu dich einfach darüber. Kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass dir ein Mann was Nettes sagt. Gerade heute kann ich das gut gebrauchen.
Was ich allerdings noch dringender bräuchte, wäre ein fahrbarer Untersatz, damit ich alles rechtzeitig schaffe. Aus irgendeinem Grund finden immer genau dann Massenaufläufe in Supermärkten statt, wenn ich sie betrete.
»Haben Sie das Ladekabel schon angeschlossen?«, erinnere ich meinen Freund und Helfer an das Wesentliche.
»Ja, ich habe zusammengefügt, was zusammengehört«, bestätigt er mit einem verschmitzten Zwinkern. »Steigen Sie bitte ein, und betätigen Sie die Zündung, wir probieren jetzt mal, ob wir Ihren Wagen wieder flottkriegen.«
Just in diesem Augenblick klingelt mein Handy. Auf dem Display erscheint der Name von Frau Diepholzer, Alisas Klassenlehrerin, was selten etwas Gutes bedeutet. Alarmiert nehme ich das Gespräch an.
»Tremper, hallo? Ist was passiert?«
»Sie müssen sofort herkommen! Alisa hat einen Asthmaanfall!«
»Du bist unmöglich, wir machen uns strafbar, da sieht man mal wieder, wie leichtfertig Männer drauf sind, wenn die Hormone durchknallen«, zetert die Polizistin in einem fort, als es mit quietschenden Reifen in Richtung Schule geht.
»Extra für dich stelle ich sogar die Disco an«, verkündet mein Retter launig. »Mit Blaulicht und Tatütata macht’s doch gleich viel mehr Spaß.«
Gellend heult das Martinshorn auf, während er sein Tempo beschleunigt und die Kollegin weitere unerfreuliche Kommentare von sich gibt.
Ich höre kaum noch hin. Halb ohnmächtig vor Sorge hocke ich auf dem Rücksitz des Streifenwagens, halte meinen Kosmetikkoffer fest und zähle die Sekunden. Alisa hat zwar ihr Notfallspray dabei, doch wenn sie keine Luft bekommt, wird sie panisch und braucht ihre Mama. Umso dankbarer bin ich, dass dieser Teufelskerl von Polizist mit irrwitziger Geschwindigkeit durch die Straßen jagt und alles weghupt, was sich ihm in den Weg stellt. Zwischendurch wirft er mir prüfende Blicke im Rückspiegel zu.
»Alles gut dahinten? Sie sind ganz grün um die Nase.«
»Geht schon«, ächze ich, wenngleich mir vom Hin-und-Herschleudern so übel ist, dass mir eher nach einer Spucktüte als nach höflicher Konversation zumute ist.
»Seit wann leidet Ihre Tochter denn unter Asthma?«, erkundigt er sich zwischen zwei waghalsigen Überholmanövern.
»Na jaaa«, mit einer Hand umklammere ich die Rücksitzkante, »sie ist jetzt acht, vor ungefähr drei Jahren fing das an.«
Was ich für mich behalte: Damals musste ich nach der Trennung von Donatus mit meinen Kindern in eine billigere Wohnung umziehen, und vermutlich liegen Alisas Atemwegsprobleme an den Schimmelgirlanden, die sich wie eine verunglückte Halloween-Deko an den Badezimmerwänden entlangziehen. Dem Vermieter ist es schnurzegal, obwohl ich ihm deswegen schon mehrere Briefe geschrieben habe.
»Und da kann man gar nichts machen?«, fragt der Polizist.
»Sekunde!« Aufgeregt spähe ich aus dem Fenster. »Da vorn rechts müssten wir abbiegen, wenn Sie so freundlich wären …«
»Viel zu freundlich«, stichelt die Polizistin.
Schwungvoll biegt ihr Kollege in die kleine idyllische Straße, an der die Pippi-Langstrumpf-Grundschule liegt, ein schmucker Klinkerbau inmitten alter Bäume. Über dem Portal prangen in roten Lettern die Worte Lachen, Lernen, Leben. Dieses Motto hat mich von Anfang an für die Schule eingenommen, auch wenn mir manche Unterrichtsmethoden etwas seltsam erscheinen.
Wir haben kaum angehalten, als ich schon den Wagenschlag öffne, mich eilig bedanke und mit meinem Kosmetikkoffer über den gepflasterten Vorplatz zur Eingangstreppe haste.
»Halt, warten Sie!«, ruft mir der Polizist hinterher.
Außer Atem bleibe ich stehen. Was denn noch? Reicht ein Strafmandat denn nicht?
»Wollen Sie mich etwa verhaften?«
»Quatsch, Ihnen meine Nummer geben.« Mit der rechten Hand holt er eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines hellblauen Hemds und hält sie mir hin. »Nur für den Fall, dass Sie noch mal Hilfe brauchen. Mit Ihrem Wagen und so.«
Einen vibrierenden Wimpernschlag lang treffen sich unsere Augen, dann schüttele ich den Kopf.
»Danke, aber ich muss jetzt erst mal zu meiner Tochter.«
»Natürlich, verstehe. War nett, Sie kennenzulernen.«
O ja, es sind einmalige Erinnerungen, die wir heute kreiert haben. Selbstverständlich war es nett, dass er mich zur Schule gefahren hat, andererseits hängt seine Kollegin schon am Handy und bestellt hundertpro den Abschleppwagen. Es wird Wochen, wenn nicht Monate dauern, die horrenden Kosten für diese Aktion abzustottern. Fragt sich nur, wovon.
»Rufen Sie mich jederzeit an«, bekräftigt der Polizist. »War mir eine Freude.«
Leider war die Freude ganz seinerseits. Ich hingegen hätte es vorgezogen, nicht ausgerechnet heute von einem Ordnungshüter beim Falschparken und obendrein mit einem fahruntüchtigen Auto erwischt zu werden. Von einem äußerst attraktiven Ordnungshüter, wohl wahr, doch dieser Typ ist einfach nicht meine Liga, beziehungsweise ich nicht seine. Außerdem ist er bestimmt vergeben. Solche Traumtypen laufen nicht frei rum, die sind in festen Händen.
Schnell stecke ich die Visitenkarte ein und spurte die Treppe hoch. Auf der obersten Treppenstufe empfängt mich meine Freundin Fiona, deren ältester Sohn Noah in dieselbe Klasse geht wie Alisa. Mit ihrem funkelnagelneuen kamelhaarfarbenen Mantel und dem schicken cognacfarbenen Basecap, unter dem exakt gewelltes rötliches Haar hervorquillt, wirkt sie ausgesprochen ladylike.
Selbst nach drei Jahrzehnten und drei Kindern ist Fiona immer noch wunderschön. Ihr ebenmäßiges herzförmiges Gesicht braucht weder Make‑up noch künstliche Eingriffe, und seit sie meine selbst gemachte Sheabuttercreme verwendet, hat ihr Teint einen unwiderstehlichen Glow. Doch in ihren haselnussbraunen Augen stehen zwei große Fragezeichen.
»Um Himmels willen, wieso wurdest du hier mit Blaulicht abgeliefert? Hast du etwa Ärger mit der Polizei?«
»Ja, nein, halb so schlimm«, winke ich ab. »Ich erzähl’s dir auf dem Weg zum Erste-Hilfe-Raum, Alisa hat einen Asthmaanfall.«
»Deshalb bin ich doch schon hier! Noah hat mir eine WhatsApp geschickt, danach bin ich sofort zur Schule gerast, um Alisa beizustehen.«
»Danke, du bist ein Engel!«
»Gern geschehen«, beteuert Fiona. »Momentan ist die Lehrerin bei ihr, doch sie fragt dauernd nach ihrer Mama.«
Also genau das, was ich schon befürchtet habe. Gemeinsam rennen wir los, durch lange sonnengelb gestrichene Flure, in denen es nach Bohnerwachs, feuchter Kreide und müffelnden Kinderklamotten riecht.
»Was war denn nun mit der Polizei?«, keucht Fiona im Laufen. »Du siehst so fertig aus, als hättest du in einer Gefängniszelle übernachtet.«
Wo anfangen, wo aufhören. Ich hole tief Luft.
»Vier Kundinnen haben mir gekündigt, der Wagen ist im Eimer und wird gerade abgeschleppt, ansonsten geht’s mir prächtig.«
»Du Arme. Kann ich irgendwie helfen? Was brauchst du?«
»Eine Kugel im Kopf? Ich bin geliefert, Fiona, finanziell, emotional, mental, such dir was aus.«
Inzwischen haben wir den Erste-Hilfe-Raum erreicht. Energisch reiße ich die Tür auf und werde sogleich von Frau Diepholzer abgefangen, einer Lehrkraft im lila Hippiekleid, deren graubraunes Haar zu einer Vogelnestfrisur hochgetürmt ist.
»Da sind Sie ja endlich«, begrüßt sie mich schmallippig.
Aber ich habe nur Augen für Alisa, die nach Luft ringend auf einer grünlichen Plastikliege hockt. Ihr kleines Gesicht ist gerötet, wirr hängt ihr das blonde Haar in die Stirn.
»Mami, Mami«, jammert sie schwer atmend.
»Alles gut, meine Süße.« Mit zwei schnellen Schritten bin ich bei ihr, stelle den Kosmetikkoffer ab und drücke sie vorsichtig an mich. »Hast du die Notfallübung ausprobiert, die dir der Arzt gezeigt hat? Komm, wir versuchen es zusammen: vorgebeugter Kutschersitz, langsam durch die Nase einatmen, mit dosierter Lippenbremse durch den Mund ausatmen – pfffhhhhhh.«
»Und das hilft?«, fragt die Lehrerin skeptisch.
Wer nicht fragt, bleibt dumm, singen sie in der Sesamstraße, leider Gottes gibt es auch ausgesprochen dumme Fragen.
»Pfffhhhhhh, ja, das ist eine probate Übung, von führenden Asthmaspezialisten empfohlen«, bestätige ich unter Aufbietung all meiner Contenance.
»Pfffhhhhhh«, pustet Fiona, die begeistert mitmacht. »Wenn Alisa mal bei uns zu Hause einen Anfall hat, bin ich jetzt im Bilde, was zu tun ist.«
»Sachte, sachte.« Ich richte mich ein wenig aus meiner breitbeinigen Kutscherhaltung auf. »In den kommenden Tagen braucht Alisa vor allem eins: Ruhe.«
»Aber Mami«, zirpt meine Tochter, »die Geburtstagsparty machen wir trotzdem, oder?«
Herrje, die Party. Ratlos lasse ich meinen Blick über die orangefarbenen Wände schweifen, die mit buntfarbigen Handabdrücken ganzer Schülergenerationen geschmückt sind. Ich bringe es einfach nicht übers Herz, Alisa zu gestehen, dass es derzeit unerschwinglich ist, fünf Kinder zu bewirten und mit Spielzeugpreisen zu beschenken.
»Na klar, wir feiern im Park, wie besprochen«, flüchte ich mich in eine gnädige Notlüge, weil es mir geboten erscheint, die bittere Wahrheit für einen günstigeren Moment aufzuheben. »Und immer regelmäßig weiteratmen, Liebling. Zu Hause koche ich dir gleich Spaghetti, die isst du doch so gern.«
»Schon vergessen? Wir sind heute bei Hermine zum Kaffeetrinken eingeladen«, sagt Fiona.
»Au ja!«, ruft Alisa lebhaft. »Da gibt es immer leckeren Kuchen, und ich darf mit Tante Hermines Barbiepuppen spielen!«
Zweifelnd mustere ich meine Tochter. Schon des Öfteren hat der Kinderarzt angemerkt, beim Krankheitsbild von Asthmatikern spielten auch psychische Faktoren eine Rolle. Womöglich muntert der Besuch Alisa ja ein wenig auf? Ich tausche einen Blick mit der Lehrerin, bevor ich antworte.
»Also schön, wir fahren zu Hermine. Spaß geht vor.«
»Eine sehr erwachsene Einstellung.« Frau Diepholzers schmale Lippen verziehen sich zu einem Ausdruck vorwurfsvoller Geringschätzung. Übrigens trägt sie Traumfänger-Ohrringe, eigenartige Gebilde aus Perlen und Federn, die bei jeder Kopfbewegung mitwippen, so dass man schon vom reinen Zusehen Alpträume bekommt. »Bei der Gelegenheit möchte ich Sie darauf hinweisen, dass Barbiepuppen äußerst schädlich für die kindliche Entwicklung sind. Wie Sie wissen, legt unsere Schule großen Wert darauf, jede Einübung stereotyper Genderrollen zu vermeiden.«
Puh, ja, das weiß ich nur zu gut. Neuerdings darf man hier ja auch nur noch »Hampelmensch« sagen statt Hampelmann. Unlängst hat Ben berichtet, Jungs hätten zwar einen Penis, sollten aber selbst über ihr Geschlecht entscheiden, sobald sie alt genug dafür seien – so die Erklärung seines Lehrers. Ben ist sechs. Noch interessiert ihn herzlich wenig, ob er womöglich transsexuell, intersexuell oder non-binär ist.
Ich hingegen würde mich als transfinanziell einstufen: eine Frau, die von einem sorglosen Leben träumt, im Körper einer weitgehend mittellosen Kosmetikerin.
»Dann spiele ich eben mit Barbies Freund Ken«, wirft Alisa ein. »Außerdem gibt es auch noch Surfer Blaine, Barbies Ex. Alles Männer also.«
Auf den Kopf gefallen ist sie definitiv nicht. Ich staune immer wieder, wie lässig sich meine Tochter mit den eigenartigen Gepflogenheiten der Pippi-Langstrumpf-Schule arrangiert. Nur ihre Asthmaanfälle während der Unterrichtsstunden häufen sich auffällig, was kein gutes Zeichen ist.
Frage ich sie, ob alles in Ordnung ist, sagt sie immer nur: »Was sonst, Mami.« Von Fionas Sohn Noah weiß ich allerdings, dass Alisa einen schweren Stand in der Klasse hat, weil sie weder ein teures Smartphone besitzt noch mit Markenklamotten oder angesagten Heelys – diesen Sneakers mit eingebauten Rollen – auftrumpfen kann. So aufgeklärt man hier auch tut, unter den Schülern herrscht der übliche Gruppendruck. Da wird man rasch zur gemobbten Außenseiterin, wenn man nicht mithalten kann.
Dass Alisa außerdem über ein erstaunliches Wissen verfügt, macht sie nicht unbedingt beliebter. Welche normale Achtjährige weiß denn schon, dass die Hauptstadt von Osttimor Dili heißt und Schildkröten mit dem Rektum atmen können?
»Und dir geht’s wirklich besser?«, vergewissere ich mich.
»Viel besser«, behauptet Alisa im Brustton der Überzeugung, um flüsternd hinzuzusetzen: »Hab dich lieb, Mami. Danke, dass du sofort gekommen bist.«
Gerührt streiche ich ihr über das verstrubbelte blonde Haar. Wie sehr ich mein Kind liebe. Beide Kinder. Und wie sehr ich zurückgeliebt werde. Das entschädigt mich für die vielen durchwachten Nächte, für alle Sorgen und Entsagungen, die das Mütterdasein so mit sich bringt.
»Dann ab durch die Mitte«, kommandiert Fiona, die ungeduldig mit dem Goldkettchen in ihrer Halsbeuge spielt. »Wir warten draußen an der frischen Luft auf meine drei kleinen Monster und deinen Benjamin. Wenn wir etwas zusammenrücken, passen wir alle in meinen Van. Um deine charmante Rostlaube kümmern wir uns später.«
Frau Diepholzer scheint das überhaupt nicht zu gefallen. Mit gespreizten Fingern zupft sie an ihrer Vogelnestfrisur herum.
»Fahren Sie etwa immer noch diesen klimaschädlichen Benziner?«, fragt sie mich säuerlich.
Mit solchen Bemerkungen gerät sie bei Fiona nun an die ganz, ganz falsche Adresse. Meine Freundin ist das, was man eine gestandene Frau nennt, selbstbewusst, patent, um keine Antwort verlegen. Vor allem aber ist sie eine echte Freundin.
»Wenn Frau Tremper im Lotto gewinnt, schafft sie sich als Erstes ein Elektroauto an und trinkt nur noch Bio-Champagner auf ihrer solarbetriebenen Yacht«, sagt sie vollkommen ruhig. »Aber solange die Lottofee mauert, muss Nele eben zusehen, wie sie auch ohne solche Extras ihre Kinder zur Schule bringt und wieder abholt, weil es hier ja weit und breit keine Bushaltestelle gibt.«
»Eine Alternative wäre ein Lastenfahrrad mit Elektromotor«, hält Frau Diepholzer dagegen.
»Ja, für schlanke viertausend Euro kriegt man schon was Feines. Zahlen Sie so was aus der Portokasse?«
Eingeschnappt nagt die Lehrerin an ihrer Unterlippe. Es ist nicht das erste Mal, dass sie von Fiona Kontra bekommt, und auch ich bin schon mehrfach mit Frau Diepholzer aneinandergeraten. Etwa, als Alisa verraten hat, dass sie an Weihnachten ausnahmsweise Cola trinken durfte. Reines Gift, hat Frau Diepholzer geschäumt und mir eine geharnischte Standpauke über gesunde Ernährung sowie ihren Kampf gegen Phosphate und Transfette gehalten.
Abgesehen von solchen kleinen Reibereien schätze ich die Schule jedoch nach wie vor, weil die Lehrer immer ein Ohr für ihre Schüler haben. Allerdings deuten Alisas Asthmaanfälle darauf hin, dass es Probleme mit ihren Mitschülern gibt. Wenn sie sich mir doch bloß anvertrauen würde! Mobbing ist eine schreckliche Belastung, und dass ich Alisa in der Schulzeit nicht schützen kann, macht mich richtig krank. Höchste Zeit, das zu ändern.
»Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für meine Tochter genommen haben, Frau Diepholzer«, beende ich die Diskussion in einem versöhnlichen Tonfall. »Könnten wir nächste Woche vielleicht ein Elterngespräch führen?«
Frau Diepholzer nickt etwas zu schnell für meinen Geschmack.
»Einverstanden, ich sage dem Schulpsychologen Bescheid, es gibt einiges zu klären.«
»Kann ich mir vorstellen. Dann sollten wir auch Alisas Asthmaanfälle thematisieren. Mich beunruhigt, dass es meist hier in der Schule passiert, und …«
»Mama!«, geht Alisa dazwischen. »Bitte! Es ist wirklich alles in Ordnung!«