Alles steht in Flammen - Sabrina Heilmann - E-Book

Alles steht in Flammen E-Book

Sabrina Heilmann

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Beschreibung

Du kannst ihm entkommen, du brauchst nur einen Funken. Nele Wayland besitzt mit ihren einundzwanzig Jahren mehr, als eine junge Frau in ihrem Alter sich vorstellen könnte. Sie lebt in einer großzügigen Wohnung mit ihrem Freund Devon, der ihr finanziell ein sorgloses Leben bieten und ihr jeden Wunsch erfüllen kann. Nele müsste glücklich sein. Aber sie ist es nicht, denn sie hat ein schreckliches Geheimnis. Devon misshandelt sie. Als Nele bei der Geburtstagsparty ihres Bruders auf Liam, den Frontmann ihrer ehemaligen Lieblingsband LiveLoud, trifft, weiß sie sofort, dass diese Begegnung der Anfang von ihrem Ende ist. Nicht nur, dass sie sich noch immer auf magische Weise zu ihm hingezogen fühlt, nein, Liam spürt sofort, dass mit Nele irgendetwas nicht stimmt. Obwohl jede Begegnung mit Liam eine Bestrafung für sie bedeutet, glaubt Nele daran, dass er der Einzige ist, der sie retten kann. Wird Liam Nele aus der Gewalt ihres Freundes befreien oder bezahlt sie den kleinen Funken Hoffnung auf eine glückliche Beziehung mit ihrem Leben?

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Alles steht in Flammen
1. Vorwort
2. Prolog
3. Ein Blick ins Herz
4. Rückzug
5. Ein Moment Geborgenheit
6. Zwischen Angst und Liebe
7. Die Einladung
8. Die Proberaum-Party
9. Misstrauen
10. Gedankenchaos
11. Die erste Wahrheit
12. Ein Funken Mut
13. Gefangen in Dunkelheit
14. Verzweifelte Lügen
15. Nacht der Erkenntnis
16. Befreiung aus der Hölle
17. Das Versprechen
18. Alles steht in Flammen
19. Die Entscheidung
20. Tanz im Schnee
21. Verfolgungsangst
22. Das Fest der Liebe
23. Hast du mich vermisst?
24. Der Preis der Freiheit
25. Verloren im Wind
26. Epilog
27. Dein Gratis-Geschenk
28. Die Autorin
29. Bald erhältlich
30. Impressum

Impressum neobooks

Alles steht in Flammen

Sabrina Heilmann

Liebesroman

Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.

2. Auflage

Copyright © Sabrina Heilmann, 2020

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe sind nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt. Der Abdruck des Textes, auch nur in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

Lektorat / Korrektur: KKB – Korrektur und Lektorat

Coverbild © Sabrina Heilmann

Coverfotos: © Natalia Vorontsova, www.123rf.com

1. Vorwort

Dieses Buch behandelt ein Thema, das mir schon seit einiger Zeit sehr auf der Seele brennt. Ein Thema, das viel zu wichtig ist, um es weiter totzuschweigen oder es gar als Tabuthema zu betiteln.

Gewalt an Frauen, vor allem im häuslichen Bereich, ist Realität. Leider ist es aber so, das noch immer zu wenig darüber gesprochen und geschrieben wird. Die Frauen selbst, die sich in so einer Situation befinden, haben oft kaum den Mut dazu.

Ist es dann nicht unsere Pflicht für sie zu sprechen? Müssen nicht wir dann aktiv werden und diesen Frauen Mut geben?

Genau das ist es, was ich mit diesem Buch erreichen möchte. Ich werde über das Thema »Häusliche Gewalt« schreiben, ich werde mich nicht davor scheuen, die Situationen authentisch darzustellen, aber vor allem werde ich euch zeigen, dass niemand in Hoffnungslosigkeit und Angst verenden muss.

Ihr habt alle eine Stimme, die gehört werden möchte!

Lange Rede, kurzer Sinn.

Dieses Buch wird keine Rosa-Zuckerwatte-Geschichte, sondern ein vom Leben geschriebener Roman über eine junge Frau, die nicht mehr an ihr Glück glaubt.

Daher meine Bitte an die Leser, die sich vor dem Thema »Häusliche Gewalt« scheuen oder es gänzlich ablehnen: Bewertet ein Buch nicht schlecht, weil das Thema euch Angst macht oder weil es euch »zu heftig« ist. Man geht automatisch mit einer negativen Grundeinstellung an ein Buch, wenn man sich nicht für die eigentliche Problematik interessiert. Bedenkt das bitte.

Wer sich davon hat nicht abschrecken lassen, dem wünsche ich schöne Lesestunden mit Nele, die hoffentlich genauso schnell einen Platz in eurem Herzen findet wie in meinem.

Alles Liebe,

Sabrina.

Für Christina

2. Prolog

Um mich herum war es still geworden und ich wusste nicht mehr, wo ich eigentlich war. Mein Kopf dröhnte und jeder einzelne Teil meines Körpers brannte wie Feuer. Unter Schmerzen versuchte ich, die Augen zu öffnen, doch es gelang mir nicht. Ich war zu schwach.

Meine Welt war zum Stillstand gekommen. Ich erlag meiner eigenen Feigheit und wurde von der Macht, die ein einziger Mensch über mich haben konnte, zu Boden gedrückt. Ich befand mich dort, wo er mich haben wollte, wo er mich schon gesehen hatte, als ich ihn kennengelernt hatte. Nun hatte er alles erreicht, was er jemals wollte.

Wenn das Leben ein letztes Mal gütig zu mir sein wollte, beendete es meine Qualen und gab mir endlich die Freiheit, die ich mir schon seit Ewigkeiten wünschte. Ich wollte frei sein wie ein Vogel. Wollte durch die Lüfte fliegen, mit den Wolken tanzen und den Gegenwind spüren, der mich vor so langer Zeit verlassen hatte.

Eine letzte, sanfte Woge meiner Wünsche und Träume hüllte mich ein, gab mir noch einmal das Gefühl von Glück und riss mich schließlich in den tiefen, schwarzen Abgrund.

Ich war verloren ...

3. Ein Blick ins Herz

** Nele **

Nachdenklich saß ich auf der Fensterbank und blickte auf die Menschen herab, die durch die Straßen eilten. Aufgrund der bunten Sommerkleider der Frauen leuchtete die Stadt und durch das offene Fenster drang das fröhliche Lachen der Kinder. Es war ein schöner Freitagabend im August. Die Sonne schien freundlich vom Himmel und wärmte London mit ihren hellen Strahlen. Kaum eine Wolke zog über den Horizont, nur die Dämmerung hielt langsam Einzug und es war gänzlich windstill. Der perfekte Tag, um das Haus zu verlassen und in einem kleinen Eckcafé noch eine Eisschokolade mit seinen Freunden zu trinken.

Seufzend wandte ich meinen Blick vom Fenster ab und sah ins Wohnzimmer, das hell und nüchtern vor mir lag. Ich hasste den sterilen und unbewohnten Einrichtungsstil, den mein Freund Devon bevorzugte, doch ich würde niemals etwas dagegen sagen. Ich konnte mit meinen einundzwanzig Jahren dankbar sein, überhaupt in einer so großzügigen Wohnung wie dieser leben zu können.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass Devon gerade in Berlin gelandet sein musste. Wahrscheinlich würde in spätestens einer Stunde mein Handy klingeln, damit er mir sagen konnte, dass er gut in Deutschland angekommen war. Devon arbeitete in einer Immobilienfirma und hatte vor einiger Zeit das Angebot für eine leitende Position in der deutschen Hauptstadt bekommen. Seine Entscheidung war schnell gefallen, doch er fragte mich nicht ein einziges Mal, was ich eigentlich davon hielt. Ich bekam Bauchschmerzen, wenn ich nur daran dachte, dass Devon sich bereits verschiedene Wohnungen ansah und den Umzug innerhalb der nächsten zwei Monate hinter sich bringen wollte.

Ich fühlte mich ohnmächtig bei der Vorstellung, mein Leben in London aufzugeben. Noch beklemmender wurde das Gefühl bei dem Gedanken daran, dass ich absolut kein Mitspracherecht hatte, was die ganze Angelegenheit betraf. Natürlich hatte ich mich bereits damit abgefunden, nie ein Mitspracherecht zu haben, aber der Umzug in eine fremde Stadt war etwas anderes als beispielsweise ein Restaurantbesuch.

Als mein Handy leise summte, stand ich von der Sitzbank auf und ging zum Couchtisch. Ich nahm es in die Hand und sah darauf. Die Nachricht, die ich bekommen hatte, war von meinem Bruder.

Leon

Meine kleine Schwester wird mich an meinem Geburtstag tatsächlich versetzen. :( Wo bleibst du?

Ich atmete tief durch und ließ das Handy für einen Moment sinken, um zu überlegen. Leon lag mir seit Wochen damit in den Ohren, zu seiner Geburtstagparty zu kommen. Seine Partys waren seit seinem achtzehnten Geburtstag immer groß und unvergesslich gewesen. Auch jetzt, zehn Jahre später, hatte sich daran nichts geändert. Dieses Jahr hatte er wieder eine Live-Band engagiert, die seinen Freunden ordentlich einheizen sollte, und auch von einem kleinen Feuerwerk hatte er gesprochen. Natürlich wollte ich gern dabei sein, doch mir war klar, dass Devon es nicht gut finden würde, wenn ich mich allein auf den Weg machte.

Seufzend sah ich aus dem Fenster und verzog die Lippen angespannt, wie ich es immer tat, wenn ich krampfhaft nachdachte.

»Ach, was habe ich schon zu verlieren«, sagte ich mir leise und tippte eine Antwort an meinen Bruder.

Ich bin in etwa einer Stunde da.

Ich eilte ins Schlafzimmer zum Kleiderschrank und suchte nach meiner weißen Lieblingshose und der mintgrünen Tunika mit den weiten Fledermausärmeln. Blitzschnell zog ich mich um und ging ins Bad, wo ich mir vor dem Spiegel eine goldene Statement-Kette umlegte und ungeduldig den Haargummi aus meinen langen, dunkelbraunen Haaren zog. Über Kopf fuhr ich mit den Fingern durch sie hindurch, richtete mich auf und legte die leichten Locken in Form. Haarspray gab meiner Schnellfrisur den nötigen Halt. Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel. Mein Make-up war dezent und betonte meine blauen Augen gerade deswegen ausgezeichnet. Ich hatte einen blassen Teint und mein Gesicht war in den letzten Wochen schmaler und kantiger geworden. Auch die Hose saß lockerer auf meinen Hüften, als noch vor ein paar Wochen. Mit einem skeptischen Ausdruck in den Augen nickte ich mir zu und ging in den Flur, wo ich meine mintgrünen Ballerinas anzog und mich anschließend auf den Weg zur Party machte.

Leon lebte mit seiner Freundin Franziska in einem kleinen Haus am Stadtrand von London. In der Nähe gab es einen überschaubaren Festival-Platz, den Leon wie jedes Jahr für seinen Geburtstag gemietet hatte. Als ich nach etwa einer halben Stunde Fahrt aus dem Bus stieg, dämmerte es bereits. Schnell schlug ich den Weg Richtung Party ein und hörte schon von Weitem, die Musik aus den Boxen dröhnen. Der Fußweg zum Platz, auf dem es nur so vor Menschen wimmelte, war kurz. Wie jedes Jahr fragte ich mich auch in diesem Moment, woher mein Bruder all diese Leute kannte. Ich selbst war leider nicht sehr kontaktfreudig. Eigentlich hatte ich seit der Schulzeit keine Freunde mehr. Ich war eine stille Einzelgängerin, versteckte mich damals hinter der vorherrschenden Anonymität in Diskotheken und seit ich Devon in meiner Lieblingsdisco kennengelernt hatte hinter Büchern.

Devon war anfangs ein Hoffnungsschimmer für mich gewesen. Aber seit ich ihn kannte, stand es um meine Sozialkontakte noch schlechter als zuvor. Ein Punkt, der mich mit jedem Tag, der verstrich, immer mehr belastete. Ich war allein, verloren in einer Beziehung, die mich mürbe machte.

Ich atmete tief durch und schüttelte leicht den Kopf. Ich wollte jetzt nicht an Devon denken. Etwas orientierungslos sah ich mich nach meinem Bruder um und entdeckte ihn an der überdachten Bar, wo er mit einigen Kumpels sprach. Erleichtert, ihn so schnell gefunden zu haben, steuerte ich direkt auf ihn zu. Kaum bemerkte er mich, entschuldigte er sich bei seinen Freunden und kam mir entgegen. Leon umarmte mich stürmisch, hob mich mit Leichtigkeit in die Luft und drehte sich mit mir einmal um die eigene Achse.

»Ich wünsche dir von Herzen alles Gute«, sagte ich lachend und küsste ihn auf die Wange.

»Danke, Kleine«, erwiderte er und ließ mich herunter. »Schön, dass du doch gekommen bist. Wo ist Devon?« Die bloße Erwähnung seines Namens machte mir ein schlechtes Gewissen.

»Geschäftlich in Berlin«, log ich, weil ich nichts von der Wohnungssuche erzählen wollte. Mein Bruder würde komplett durchdrehen, wenn er davon erfahren würde. »Ich habe leider kein Geschenk für dich, aber die nächste Pizza, die wir zusammen essen, geht auf mich.« Lächelnd zuckte ich mit den Schultern.

»Damit kann ich leben.« Leon lachte und legte einen Arm um meine Schultern. »Möchtest du etwas trinken? Franziska sagt, die Cocktails sind dieses Jahr viel besser als letztes Jahr. Ich habe zwei neue Barkeeper engagiert.«

»Ja, gern.« Leon bestellte mir einen süßen Cocktail mit Erdbeeren, weil er wusste, wie gern ich diese mochte, und reichte ihn mir kurz darauf.

»Welche Band spielt dieses Jahr?«, wollte ich wissen und nippte bei einem Blick zur Bühne an meinem Glas.

»Erinnerst du dich an meinen Kumpel Liam?«

Ich schüttelte den Kopf. Als ich noch kleiner gewesen war, hatte mein Bruder ständig Freunde mit nach Hause gebracht, doch es fiel mir schwer, alle auseinanderzuhalten. Als Leon alt genug war, trafen sich die Jungs oft in der Stadt und so verschwanden die wenigen Namen und Gesichter, die ich mir gemerkt hatte, aus meinem Gedächtnis.

»Er hat eine Band, die zumindest in ihrer Szene seit Jahren sehr bekannt ist. Hier kennt sie wahrscheinlich niemand, aber hast du nicht auch mal Heavy Metal gehört?«

»Das ist ewig her. Es gab nur ein - zwei Bands, die ich richtig gut fand.«

»Gehörten LiveLoud nicht dazu?«, zwinkerte Leon mir zu.

Meine Augen weiteten sich erschrocken und ich öffnete die Lippen leicht. Tatsächlich war LiveLoud eine meiner Lieblingsbands gewesen. Ehrlicher Heavy Metal, bei dem der Sänger nicht nur wahllos ins Mikrofon brüllte, sondern mit seinen Songs eine Botschaft vermitteln wollte.

»Seit wann kennst du den Frontmann von LiveLoud?«, stammelte ich und schluckte schwer, als ich bemerkte, dass sich auf der Bühne etwas tat.

»Wir sind in eine Klasse gegangen, Schwesterlein. Du hast ihn mit drei Jahren sogar mal dazu genötigt, mit deinen Barbies zu spielen, als er bei uns zu Besuch war. Wir haben uns dann irgendwann aus den Augen verloren, als seine Familie umgezogen ist. Seit ein paar Jahren lebt er mit der Band wieder in London, seine Eltern soweit ich weiß auch. Wir haben uns, so blöd es klingt, zufällig beim Einkaufen getroffen.«

»Verdammt«, flüsterte ich und mein Herz schlug plötzlich unaufhörlich schnell. Liam Drake war meine wahr gewordene Fantasie eines Traummannes, seit ich mit sechzehn Jahren zum ersten Mal auf die Band aufmerksam geworden war. Gedankenverloren dachte ich an sein dunkles, wildes Haar, die braunen, ausdrucksstarken Augen und seine markant männlichen Gesichtszüge. Ich rief mir ins Gedächtnis, wie trainiert und muskulös sein Körper in den schwarzen Muscle-Shirts ausgesehen hatte, die Arme mit Tattoos bedeckt, die Muskeln beim Gitarre spielen angespannt. Wie hatte mir nur die Tatsache entgehen können, dass er mit meinem Bruder in eine Klasse gegangen war?

Plötzlich erklangen die ersten Töne eines Gitarren-Solos und ich fuhr sofort zur Bühne herum. Im Licht des Scheinwerfers stand Liam und sah lächelnd in die Menge, die sich vor der Bühne aufbaute. Ich schluckte schwer. Er sah noch besser aus, als vor fünf Jahren. Männlicher, stärker und unerreichbarer als jemals zuvor. Schnell schüttelte ich den Kopf über meine Gedanken und dachte daran, was Devon mit mir machen würde, wenn er diese hören könnte. Ein Schauer erfasste meine Glieder.

»Na los, geh schon zur Bühne. Ich kann ihn dir später vorstellen, wenn du möchtest«, sagte Leon und zwinkerte mir zu.

Ich atmete noch einmal tief durch und ging dann in Richtung Bühne. Da ich mich nicht zwischen den anderen durchdrängeln wollte, blieb ich weit hinten stehen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, sicherte den Cocktail in einer Hand und fixierte Liam mit meinem Blick. Er säuselte gerade eine ruhige Stelle in das Mikrofon. Gänsehaut überzog meinen Körper, als er die Augen öffnete und genau in die meinen zu blicken schien. Ich hielt die Luft an und traute mich erst wieder zu atmen, als er den Blick, unendlich lange Sekunden später, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen abwandte.

Schnell drehte ich mich um und suchte nach einem ruhigen Platz, von wo aus ich zwar einen guten Blick auf die Bühne hatte, aber dennoch nicht Gefahr lief, so einen Moment noch einmal erleben zu müssen. Plötzlich war ich verunsichert und fühlte mich unwohl.

Ich fand einen Platz rechts neben der Bühne, wo einige Biertisch-Garnituren verwaist herumstanden. Ich hielt den Cocktail in den Händen, die merklich begonnen hatten zu zittern, nachdem ich mich gesetzt hatte. Die Bühne hatte ich nach wie vor fest im Blick, doch mein Bauchgefühl sagte mir, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war, hierherzukommen.

** Liam **

Als ich die Bühne betrat, durchströmte mich Adrenalin. Ich hing mir meine rote E-Gitarre um und warf einen ersten Blick in die Zuschauermenge, die sich bereits eingefunden hatte. Zufrieden mit dem, was ich sah, ging ich zum Mikrofon-Ständer, richtete das Mikro und schloss die Augen. Wie vor jedem Auftritt atmete ich noch einmal tief durch und begann dann mit meinem Gitarren-Solo. Ich öffnete die Augen wieder und machte routinierte Griffe an den Saiten. Von meinem Solo leitete ich zum ersten Song über und meine drei Bandkollegen setzten mit ein. Die Stimmung war gut, die Menge schrie ungeduldig. Losgelöst riss ich die Faust in die Höhe, bevor ich die ersten Worte sang.

Als ich Leon zugesagt hatte, auf seiner Geburtstagsparty zu spielen, hatte ich mit weitaus weniger Publikum gerechnet. Aber Leons Gäste hätten ohne Probleme einen kleinen Konzertsaal füllen können.

Ich umfasste mit beiden Händen das Mikrofon und legte jedes meiner Gefühle in die ruhige Stelle des Songs. Erneut schloss ich die Augen, um die Empfindungen noch besser in mich aufzunehmen und sie rüberbringen zu können. Ich öffnete sie wieder leicht und auf einmal sah ich sie. Mein Herz setzte kurz aus. Sie stach zwischen den anderen heraus. Es war ihr Blick. Ihre wunderschönen, traurig wirkenden Augen, die mir den Verstand raubten und mich für einen kurzen Moment aus dem Konzept brachten. Die Art, wie sie mich ansah, war besonders. Als ich merkte, dass sie den Blick nicht einfach von mir abwenden würde, lächelte ich und blickte in die andere Richtung.

Heimlich wollte ich sie noch einmal ansehen, doch sie war verschwunden. Irritiert kniff ich die Augen zusammen, während die Worte fast mechanisch über meine Lippen kamen. Ein Gefühl von Sorge zog durch meine Gedanken, als ich ihren fast niedergeschlagenen Blick erkannte, mit dem sie sich auf eine Bank in einer dunklen Ecke zurückzog.

Und als ich leise in das Mikrofon sang: »What happend to you?«, fragte ich mich das tatsächlich.

Was ist dir passiert?

4. Rückzug

** Nele **

Die Band spielte eine Stunde, versprach aber nach einiger Zeit ein zweites Mal auf die Bühne zurückzukehren und noch weitere Songs zu spielen. Ich saß mittlerweile bei meinem dritten Cocktail in meiner einsamen Ecke und überblickte die Party meines Bruders. Alle feierten ausgelassen, tranken viel und lachten laut, doch mir wurde das alles zu viel. Immer wieder fragte ich mich, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war herzukommen. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, zu Hause zu bleiben, sich eine Tasse Tee zu kochen und in der Geschichte eines guten Buches zu versinken.

Seufzend wandte ich mich von der Bühne ab, schwang die Beine unter den Tisch und stützte meine Arme auf der Tischplatte ab. Ich nippte an meinem Cocktail, dessen Alkohol bereits ein herrlich benommenes Gefühl in meinem Körper auslöste, und rieb mir dann mit den Händen die müden Augen. Ich war so schrecklich erschöpft. Die letzten Wochen hatten mich ausgelaugt und mir beinahe jede kleine Kraftreserve genommen. Doch ich musste kämpfen, den Schein aufrechterhalten, zumindest so lange, bis ich wieder zu Hause war. Erst dann würde ich die Maske fallen lassen können. Ich senkte die Arme wieder und hob den Kopf kaum merklich, als in diesem Moment eine dunkle, attraktive Stimme fragte: »Darf ich mich zu dir setzen?«

Erschrocken sah ich zur Seite und blickte in tiefdunkle Augen, die mich fasziniert ansahen. Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte sich Liam und stützte lässig einen Arm auf dem Tisch ab.

»Unsere Musik ist nicht unbedingt deine Richtung, oder?«, fragte er. Offenbar konnte er sich mein plötzliches Verschwinden nicht anders erklären. Wenn er nur wüsste, wie falsch er mit seiner Annahme lag.

»Wie kommst du darauf?«

»Du bist schon nach dem ersten Lied gegangen. Dein Blick war … nicht gerade begeistert. Und du siehst nicht unbedingt aus, als würdest du Heavy Metal hören.«

»Interessant«, flüsterte ich und griff nach meinem Cocktail, den ich schnell fest umklammerte, damit Liam nicht bemerkte, wie stark meine Hände zitterten. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als er sich lässig durch die fast schwarzen Haare fuhr und dabei ein herb männlicher Duft mit weicher Note meine Nase kitzelte. Unsicher suchte ich seinen Blick, der unverändert auf mir ruhte. »Fragst du eigentlich jeden nach einem Auftritt, ob er eure Songs mag?«

Liam lachte leise auf und schüttelte den Kopf.

»Nein, nur manchmal mache ich Ausnahmen.«

Ich erwiderte daraufhin nichts und trank einen weiteren Schluck meines Getränks.

»Woher kennst du Leon?«, wollte Liam das Gespräch am Laufen halten. Er spürte ganz offensichtlich, wie unsicher ich war und das ich eigentlich lieber meine Ruhe haben wollte.

»Leon ist mein Bruder«, sagte ich und lächelte.

»Nele?«, fragte Liam erschrocken und sah mich plötzlich ganz anders an. Als würden sich die Erinnerungen in seinem Kopf langsam zusammensetzen und mich mit dem kleinen Mädchen von damals vergleichen. »Ich habe dich überhaupt nicht erkannt. Weißt du noch, als du mich gezwungen hast, mit deinem Barbie-Traumschloss zu spielen? Ich glaube, das werde ich nie vergessen.« Liam lachte laut.

»Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich nicht erinnern.« Ich zuckte mit den Schultern. »Früher hast du wahrscheinlich auch anders ausgesehen«, fügte ich mit einem unsicheren Ton in der Stimme hinzu und deutete auf sein für die Szene klassisches Outfit. Er trug eine schwarze Hose mit Metallketten, ein schwarzes Muscle-Shirt einer anderen Band und Chucks. Seine Handgelenke zierten Lederarmbänder und um seinen Hals hing eine unauffällige, silberne Kreuzkette.

»Du hast damals auch noch anders ausgesehen«, scherzte Liam und erinnerte sich. »Du hast deinen Zopf immer auf der linken Seite getragen und deinen Barbies hast du die gleiche, verrückte Frisur verpasst.« Ohne über seine Geste nachzudenken strich Liam mir eine Haarsträhne über die Schulter. Als seine Fingerspitzen zufällig meine Haut berührten, schreckte ich zurück und sah ihm erschrocken in die Augen. Ich hielt die Luft an und fühlte mich mit einem Mal noch benommener.

»Entschuldige«, flüsterte er und wandte seinen Blick schnell ab.

»Schon in Ordnung«, erwiderte ich und trank meinen Cocktail aus. Auch wenn mein gesamter Körper kribbelte, wusste ich, dass ich so schnell wie möglich von dieser Party verschwinden musste. Ich konnte nicht in Liams Nähe bleiben. Er sah mich mit diesem Blick an, den ich nicht deuten konnte, und er löste etwas in mir aus, das mich benommen und nervös machte. »Ich … ich werde meinen Bruder suchen …«

Ich atmete ein letztes Mal tief durch und stand dann auf, während ich das leere Glas nahm und mich beinahe daran festklammerte.

»Es war schön, dich mal wieder gesehen zu haben … auch wenn ich mich nicht mehr erinnere.« Ich lächelte zurückhaltend und wollte mich dann abwenden, doch Liam sprang schnell auf und griff nach meinem Oberarm. Ein stechender Schmerz durchfuhr mich, als seine Finger mich berührten, und ich stöhnte leise auf.

»Nele, warte mal …« Er packte mich mit mehr Druck, als er wollte. Panisch fuhr ich herum und ließ vor Schreck das Glas fallen. Ängstlich sah ich Liam an und Tränen sammelten sich heiß brennend in meinen Augen. Schnell zog er seine Hand zurück. »Entschuldige …«

Ich schüttelte nur den Kopf und eilte dann davon.

Als ich die Wohnungstür aufschloss, trat ich in die Dunkelheit und ging ins Wohnzimmer. Ich streifte mir die Ballerinas von den Füßen und ließ mich rückwärts auf die große Couch fallen. Es dauerte nicht lang, dann weinte ich bittere Tränen und schlug die Hände vors Gesicht. Es war ein Fehler gewesen, zur Party zu gehen. Ich hätte Leon schon viel eher mit einer Notlüge vertrösten sollen, so wie ich es normalerweise immer tat. Ich war so töricht und naiv. Was hatte ich geglaubt? Dass ich einfach so weiterleben könnte, wie ich es vor Devon getan hatte und dass es wieder ganz genauso sein würde, nur weil er mal nicht da war? Es war dumm und lächerlich von mir, das anzunehmen.

Schluchzend stand ich auf und schwankte ins Bad, wo ich mir die Hose von der Hüfte streifte und das Top auszog. Ich biss mir vor Schmerz auf die Lippe, als ich vorsichtig über den dunkelblauen Bluterguss an meinem Oberarm strich, den Liam aus Versehen erwischt hatte, als er mich zurückhalten wollte. Zitternd ließ ich die Hand sinken und befreite mich auch von den restlichen Sachen. Meine Knie zitterten, als ich die Duschkabine betrat und eiskaltes Wasser aufdrehte. Ich zuckte nicht einmal zusammen, als mich die Eiseskälte wie tausend kleine Nadeln traf. Schwach ließ ich den Kopf unter die Brause sinken und stützte mich mit einem Arm an den Fliesen ab. Die Kälte ließ mich spüren, dass ich noch lebendig war, dass er mich noch nicht zerstört hatte.

So verharrte ich mehrere Minuten, bis ich mich beruhigte und wieder aufrichtete. Schnell wusch ich meine Haare und meinen Körper und wickelte mich anschließend in ein großes Badehandtuch ein. Ich trocknete mich ab, schlüpfte schnell in eine Panty und ein viel zu großes, altes Bandshirt. Als ich noch einen Blick in den Spiegel warf, wurde mir die Ironie meines Handelns bewusst. Die großen, feuerroten Buchstaben des Bandnamens brannten sich in mein Gehirn.

LiveLoud

Seufzend wandte ich mich vom Spiegel ab und schüttelte leicht den Kopf. Ich hatte die Späße des Schicksals noch nie verstanden und das würde ich wahrscheinlich auch in Zukunft nicht. Seufzend löschte ich das Licht im Bad und ging ins Schlafzimmer, wo ich mich eilig in die Kissen und die Decke kuschelte und mich einem unruhigen Schlaf hingab.

** Liam **

Hilflos blieb ich zurück und blickte Nele nach. Ich spürte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Das fröhliche Mädchen, das ich vor so vielen Jahren beim Spielen kennengelernt hatte, schien schon lange nicht mehr zu existieren. Sie wirkte eingeschüchtert und ängstlich, als befürchtete sie, etwas Schlimmes könne geschehen, wenn man sie mit mir sah. Und warum hatte sie ihr Glas fallen lassen, als ich sie am Arm packte? War ich zu grob gewesen?

Ich trank einen kräftigen Schluck Bier und ließ mich wieder auf die Bank sinken. Immer wieder suchte ich das Gelände nach Nele ab, doch sie schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Leise seufzend senkte ich den Blick nach einiger Zeit auf meine Flasche und überlegte, ob es nicht besser sei, die ganze Angelegenheit einfach zu vergessen. Ich konnte das kurze Gespräch mit Nele unter einem gescheiterten Flirtversuch verbuchen oder als unglückliche Fügung des Schicksals. Doch aus irgendeinem Grund zerbrach ich mir seit beinahe einer Stunde den Kopf über die kleine Schwester meines Kumpels.

»Hier bist du«, sagte Leon plötzlich und ich sah zu ihm auf.

»Ja, ich … ich brauchte noch ein wenig Ruhe. Ich habe Kopfschmerzen.«

»Was? Du auch?«, rief Leon sichtlich angeheitert aus und schüttelte den Kopf. »Nele ist vorhin auch abgehauen, weil sie Kopfschmerzen hatte. Eigentlich wollte ich sie dir noch vorstellen.«

»Warum?«, fragte ich und schöpfte Hoffnung.

»Ach, sie war ein großer Fan von euch vor ein paar Jahren. Hat euch rauf und runter gehört und ist komplett schwarz rumgelaufen. Ihre Augen hat sie manchmal so dunkel geschminkt, dass ich sie für einen Waschbären gehalten habe.«

»Tatsächlich?« Leon nickte und trank einen Schluck Bier.

»Seit sie mit diesem Immobilien-Typen zusammen ist, hat sie sich verändert. Sie ist so ruhig geworden, beinahe langweilig. Als hätte sie ihren Biss verloren. Weißt du, was ich meine?«

Mein Magen zog sich bei Leons Worten heftig zusammen. Biss hatte Nele schon damals besessen, als sie mich zwang, mit ihr zu spielen.

»Was … was macht Nele jetzt so? Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, hat sie noch mit Barbies gespielt.« Ich bemühte mich, witzig zu klingen, doch es gelang mir nur mühsam.

»Sie arbeitet ehrenamtlich in einer Bibliothek in der Nähe des Primrose Hill. Ich denke, sie ist glücklich. Devon sorgt gut für sie, auch wenn er ein Langweiler ist. Und nebenbei mit seinen dreiunddreißig Jahren viel zu alt für sie.« Mir klappte die Kinnlade herunter. Nele war jetzt wie alt? Damals trennten uns etwa sieben Jahre, also musste sie nun einundzwanzig Jahre alt sein. Was zur Hölle wollte sie bei einem Mann, der zwölf Jahre älter war als sie. »Eigentlich dachte ich immer, sie bringt irgendwann einen Typen wie dich mit nach Hause. Das hätte eher zu ihr gepasst, als dieser korrekte Anzugträger«, fügte Leon hinzu, stand auf und klopfte mir auf die Schulter. »Ich schau mal weiter.«

Ich nickte und trank einen Schluck Bier. In meinem Magen rebellierte es heftig. Was war mit Nele geschehen, dass sie zu so einer verschreckten jungen Frau geworden war? Ich musste sie wiedersehen, so viel stand fest. Und jetzt hatte ich auch endlich einen Anhaltspunkt, wo ich sie finden konnte.

5. Ein Moment Geborgenheit

** Nele **

Benommen kam ich zu mir und blinzelte. Das helle Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel, blendete mich, woraufhin ich die Augen wieder fest zusammen kniff. Ich presste mein Gesicht in das Kissen und versuchte mich zu erinnern, woher die schrecklichen Kopfschmerzen kamen. Schlagartig fiel mir die Geburtstagsparty meines Bruders ein, die süßen Erdbeercocktails und … Liam!

»Verdammt«, jammerte ich in das Kissen und öffnete die Augen wieder leicht, während ich meinen Kopf in Richtung Fenster drehte. Ich blickte hinaus in den blauen Himmel, an dem nicht eine Wolke hing. Warum hatte ich mich nur so albern benommen? Er musste mich für eine komplette Idiotin gehalten haben. Das einzige Positive, das ich dem Ganzen abgewinnen konnte, war die Tatsache, dass ich ihn ohnehin nie wiedersehen würde.

Als ich hörte, wie jemand den Schlüssel in das Türschloss steckte, fuhr ich panisch nach oben und warf einen Blick auf den Funkwecker auf dem Nachtschrank.

13:43 Uhr!

»Scheiße!«, fluchte ich, sprang vom Bett und suchte in Lichtgeschwindigkeit meine Sachen zusammen. Wenn Devon mitbekam, dass ich noch immer im Bett lag, würde er schnell bemerken, dass ich den Abend nicht zu Hause verbracht hatte, wie versprochen. Ich eilte ins Bad, schloss die Tür ab und zog mich hektisch um.

»Nele?«, rief er in die Wohnung und mein Herz schlug schneller, als ich mir das leichte Sommerkleid über den Kopf zog.

»Ich bin im Bad … auf Toilette!«, rief ich und bestrich schnell meine Zahnbürste mit Zahncreme.

»In Ordnung«, antwortete er. »Beeil dich.«

Schnell putzte ich meine Zähne, kämmte die langen, dunklen Haare und band sie unordentlich zu einem Zopf zusammen. Zur Tarnung betätigte ich die Klospülung, wartete einige Zeit und verließ dann das Bad. Devon hatte gerade seine Tasche im Schlafzimmer abgestellt und knöpfte sein Hemd auf.

»Hallo«, flüsterte ich und verschränkte schützend die Arme vor der Brust. Ich wusste nicht, wie ich mit Devon umgehen sollte. Vor seiner Abreise hatten wir uns so heftig gestritten wie noch nie. Und wieder einmal war die Situation völlig aus dem Ruder gelaufen. Ich seufzte leise und verdrängte die Erinnerung daran.

»Ich habe dich gestern angerufen. Warum bist du nicht rangegangen?« Devons Stimme war messerscharf.

»Ich hatte Kopfschmerzen und bin zeitig schlafen gegangen. Entschuldige«, log ich.

Devon sah auf, ließ von seinen Hemdknöpfen ab und ging einen Schritt auf mich zu. Als sein Blick auf den Bluterguss an meinem Arm fiel, den das Kleid nicht verdeckte, strich er vorsichtig darüber und ich verzog schmerzverzerrt das Gesicht.

»Es tut mir leid. Das wollte ich nicht«, flüsterte er. Ich nickte unsicher und schluckte schwer.

»Natürlich nicht«, erwiderte ich kaum hörbar. »Du willst es nie, tust es aber trotzdem immer wieder.« Schüchtern blickte ich ihm in die Augen. Die Angst, dass diese kleine Gegenwehr schon ausreichte, damit der Schalter in seinem Kopf wieder umschlug, war groß.

»Du bist noch böse auf mich. Ich verstehe das, aber …« Devon zog mich in seine Arme und küsste meinen Haaransatz. »… aber es wird nicht mehr vorkommen. Verzeih mir, Liebling.«

Devons Nähe schwächte mich. In seiner Gegenwart verpuffte alles, jedes bisschen Mut und jeder kleine Funken Kampfgeist verschwanden einfach. Ich fühlte mich ohnmächtig, hilflos und unendlich schwach.

»Schon in Ordnung«, sagte ich, um jede weitere Diskussion zu vermeiden, die ein Widerspruch mit sich gebracht hätte.

»Ich habe mir zur Entschädigung auch überlegt, wie wir den Abend verbringen. Lass uns einfach Pizza bestellen und einen Film schauen.«

Ich nickte und wollte mich zum Gehen abwenden, als Devons Hand nach vorn schnellte und mein Handgelenk umschloss. Der Druck, den er ausübte, ließ mich aufstöhnen.

»Willst du mich nicht fragen, wie es in Berlin war?«, knurrte er leise und lockerte den Griff um mein Handgelenk.

»Wie war es in Berlin?« Ich rieb die schmerzende Stelle und ging an Devon vorbei, um das Bett zu machen.

»Ich habe mir drei Wohnungen angesehen, von denen ich mir sicher bin, dass du sie lieben wirst. Sie sind groß und haben einen einzigartigen Blick über die Stadt. Wahrscheinlich bekommen wir für alle drei Wohnungen den Zuschlag.«

»Das klingt … toll«, antwortete ich gequält. »Wann erfährst du das?«

»Wahrscheinlich noch heute.«

Ich nickte und mein Magen rebellierte heftig. Ich hatte ihm so oft gesagt, dass ich überhaupt nicht umziehen wollte. Mein Leben und meine Familie waren hier in London, doch manchmal kam es mir vor, als würde Devon mich überhaupt nicht hören. Er entschied alles über meinen Kopf hinweg.

Und tatsächlich, kurz nachdem der Lieferdienst das Essen gebracht hatte, klingelte Devons Handy. Er ging ins Nebenzimmer, sprach kurz und kehrte dann freudestrahlend zurück. Ich hatte mich in der Zwischenzeit auf die Couch gesetzt, die Beine dicht an meinen Körper gezogen und wartete nun auf die Hiobsbotschaft.

»Wir haben eine Wohnung in Berlin.« Und da war sie.

Devon setzte sich neben mich und erwartete offenbar eine ebenso freudige Reaktion von mir. Doch ich verzog nicht einmal die Mundwinkel zu einem glücklichen Lächeln. Ich war wie versteinert, blickte starr auf den Couchtisch und schluckte schwer. Es war vorbei. In etwa zwei Monaten würde mein Leben in London der Geschichte angehören. Damit erreichte mein Freund alles, was er immer wollte. Er isolierte mich von meiner Familie und den wenigen Menschen, die mir im Leben noch wichtig waren. Ich sprach nicht einmal die Sprache besonders gut. In Deutschland gehörte ich ihm endlich ganz. Dort würde ich eine Gefangene sein. Devons Gefangene.

»Nele?«, sagte er mit Nachdruck und ich sah ihm erschrocken in die Augen. »Du freust dich überhaupt nicht.«

Nein, das tat ich nicht. Ich blieb stumm, weil ich wusste, dass es alles nur noch viel schlimmer machen würde. Doch mir war auch klar, dass, wenn ich den Mund jetzt nicht aufmachte, mein Schicksal besiegelt war.

»Du hast mich nicht einmal gefragt, was ich will.« Meine Stimme war so leise und so ängstlich, dass Devon mich nur mit Mühe verstand.

»Weil du immer das willst, was ich auch will.« Seine Augen funkelten mich an und ich wich seinem Blick aus. »Ich wusste nicht, dass du plötzlich andere Ansichten hast.«

»Ich möchte nicht nach Deutschland ziehen. Das weißt du ganz genau.« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, wartete ich auf die Eskalation. Es brauchte nicht viel, um Devon aus der Fassung zu bringen.

»Und? Warum nicht?«, fragte mein Freund in einem spottenden Ton. »Was genau hält dich hier? Freunde hast du ja nicht.«

»Meine Familie.«

»Du meinst deine ignorante Mutter und ihren Freund? Oder deinen großspurigen Bruder, der dir alles in den Hintern steckt?«

»Leon ist nicht großspurig. Er macht sich Gedanken um mich.« Ich spielte unsicher mit dem Stoff meines Kleides.

»Und ich mache mir keine Gedanken um dich? Ich habe dich aus diesem Loch rausgeholt, das du ein Zuhause genannt hast. Ich habe dir alles Erdenkliche gegeben, das du benötigt hast. Du bist ziemlich undankbar, findest du nicht?«

Heiße Tränen sammelten sich in meinen Augen und meine Hände zitterten gefährlich.

»Du warst ein Niemand, bevor du mich kennengelernt hast. Das sollte dir eigentlich klar sein. Ich kann dir in Deutschland ein Leben ermöglichen, von dem du nur träumen kannst.«

Ich wurde auf meinem Platz immer kleiner. Ich wusste, dass ich jetzt besser den Mund halten und Devon sprechen lassen sollte, wenn ich glimpflich davonkommen wollte. Würde ich Widerworte geben, würde er sich nur mehr hineinsteigern und irgendwann gänzlich explodieren. Devon war eine tickende Zeitbombe, doch das hatte ich erst bemerkt, als es schon zu spät war.

»Es tut mir leid«, flüsterte ich eingeschüchtert und die Tränen suchten sich den Weg über meine Wangen.

»Nein, das tut es nicht.« Devon stand auf und packte mich grob am Arm. Er erwischte den Bluterguss und ich stöhnte auf. »Halt die Klappe«, fuhr er mich an. »Und jetzt räum den Müll hier weg, bevor ich mich vergesse.«

Schnell stapelte ich die leeren Lieferdienstkartons übereinander und eilte mit ihnen in die Küche. Ich warf sie in den Müllsack und stützte mich dann schweratmend auf der Küchenarbeitsplatte ab. Schluchzend ließ ich den Kopf hängen und fragte mich, was ich im Leben verbrochen hatte, dass es mich bereits in so jungen Jahren dafür strafte. Mein gesamter Körper zitterte, obwohl Devon bei Weitem ruhiger geblieben war, als ich erwartet hatte. Und dennoch war mein Schicksal besiegelt.

Weinend krallte ich mich in meinen rechten Unterarm, den ein kleines Tattoo zierte. Es zeigte eine rote E-Gitarre, die von Ranken und Rosen umgeben war. Das perfekte Abbild von Liams Instrument mit den bandtypischen Verzierungen. Ein kleines Überbleibsel meiner Jugend, das ich mir mit sechzehn Jahren heimlich stechen ließ.

»Nele«, sagte Devon plötzlich und trat an mich heran. Er legte eine Hand auf meine Schulter und zog mich mit leichtem Druck zu sich. Ich zuckte ängstlich zusammen und ließ mich von meinem Freund in den Arm nehmen. »Ich weiß, dass du diesen Umzug auch willst.«

»Nein, das will ich nicht!«, schrie ich ihn in Gedanken an.

»Du musst dich nur an die Situation gewöhnen, das weiß ich. Ich wollte nicht so überreagieren.«

»Ich möchte mich hinlegen. Ich fühle mich schwach«, flüsterte ich und Devon löste sich von mir.

»In Ordnung, leg dich hin. Ich gehe ins Arbeitszimmer und erledige noch ein bisschen Papierkram.« Devon küsste mich, doch ich erwiderte den Kuss nur schwach. Dann ging er.

Mit zitternden Fingern füllte ich mir ein Glas mit Wasser und trank es in einem Zug leer. Dann ging ich ins Badezimmer, duschte wieder eiskalt und versuchte mich so zu beruhigen. Es gelang mir allerdings nicht. Nachdem ich in meine Schlafsachen geschlüpft war, betrat ich das Schlafzimmer und ließ die Jalousie herunter. Im Nachtschrank suchte ich nach meinem Headset und steckte es schließlich in das Handy. Ich legte mich hin, steckte die Kopfhörer in meine Ohren und löschte das Licht. Wie ferngesteuert rief ich den LiveLoud-Ordner auf und schloss die Augen, während Liam hart in die Saiten seiner Gitarre schlug.

Als seine sanfte Stimme erklang, tauchte sein Gesicht vor meinem inneren Auge auf. Ich erinnerte mich an den gestrigen Abend und an den Blick, mit dem er mich angesehen hatte. Mit Tränen in den Augen fragte ich mich, ob ich ihn jemals wiedersehen würde, wusste aber bereits in diesem Moment, dass ich meine Chance auf Rettung verspielt hatte.

***

Montagnachmittag machte ich mich für meine Schicht in der Bibliothek fertig. Ich würde heute die Spätschicht übernehmen und erst nach Mitternacht nach Hause zurückkehren. Die Arbeit in der Bibliothek war die einzige Freiheit, die Devon mir gestattete. Er war sich ziemlich sicher, dass langweilige Bücherwürmer keine Gefahr für ihn darstellen würden und er mir in diesem Punkt getrost vertrauen konnte. Die kleine Bibliothek lag nur fünf Gehminuten von unserer gemeinsamen Wohnung entfernt. Ich schlüpfte schnell in eine einfache Jeans, ein schwarzes Top und in eine gleichfarbige, dünne Strickjacke. Nachdem ich meine Schuhe angezogen hatte, machte ich mich auf den Weg.

Als mir der Geruch der Bücher entgegenschlug, fühlte ich mich endlich frei und entspannte mich merklich. Die Arbeit tat mir gut, sie gab mir die Aufgabe, die ich, inmitten des ganzen Stresses, dringend nötig hatte.

»Nele, gut, dass du schon da bist«, rief Ginger, die Leiterin, fröhlich aus. »Heute Morgen war schon die Hölle los. Es herrscht das absolute Chaos.«

»Lass mich raten, du hast ohne Ende Bücher für mich, die ich wieder an ihren Platz bringen darf.«

Ginger deutete auf zwei Wagen, die bis obenhin mit Büchern in unterschiedlichen Größen und Dicken voll gestapelt waren.

»Und ich weiß nicht, was noch an den Arbeitsplätzen liegt. Tut mir leid. Ich bin einfach nicht dazu gekommen.« Ginger sah mich entschuldigend an.

»Schon okay, deswegen hast du mich ja.«

Ich machte mich sofort an die Arbeit und begann die Bücher auf den Wagen nach ihren Nummern zu sortieren. Als ich diese undankbare Aufgabe beendet hatte, schob ich den ersten Wagen in den hintersten Gang und nahm den ersten kleinen Stapel. Zielsicher stellte ich alles an seinen vorgesehenen Platz und holte mir rasch den nächsten Stapel. Ich eilte von Regal zu Regal und verteilte die Bücher.

Als ich mir die letzten beiden Fachbücher auf dem Wagen holte, musste ich mich auf Zehenspitzen stellen, um die vorletzte Regalebene zu erreichen. Ich schob das vorletzte Buch in die Reihe und stellte resigniert fest, dass das Letzte noch weiter oben stand. Ich streckte mich, doch es wollte mir einfach nicht gelingen.

»Nun komm schon«, jammerte ich und versuchte mich noch länger zu machen, als mir plötzlich jemand das Buch aus der Hand nahm und es mit Leichtigkeit auf das obere Regal stellte. Ich spürte, wie derjenige dabei meinen Rücken berührte und drehte mich langsam um. Nur knapp vor mir stand Liam, der mich unsicher anlächelte. Seine Haare sahen aus, als wäre er gerade aufgestanden und seine Augen wirkten müde. Er trug eine enge schwarze, an den Knien zerschnittene Jeans, ein Shirt seiner eigenen Band und einen Nietengürtel, sowie seine schwarzen, abgewetzten Chucks. Liam wirkte fast wie ein Aussätziger in der Bibliothek. Er passte überhaupt nicht ins Bild.

»Danke«, flüsterte ich und wollte mich an ihm vorbeischieben, um zum Wagen zurückzukehren. Liam ging einen Schritt beiseite. »Was machst du hier?«

»Ich war gerade in der Nähe und … Leon hat erwähnt, dass du hier arbeitest. Ich dachte, ich schau einfach mal vorbei.« Unsicher fuhr er sich durch die Haare. »Ich wollte mich noch einmal bei dir entschuldigen. Ich wollte dich Freitag nicht so grob anfassen.«

»Hmm«, brummte ich und wollte gehen. Ich hatte schon genug Entschuldigungen in meinem Leben gehört. Keine davon war ehrlich gemeint. »Ich muss weiterarbeiten.« Ich wollte mich um den zweiten Bücherwagen kümmern.

»Nele, jetzt lass mich nicht schon wieder stehen«, sagte Liam und seufzte. Verzweifelt steckte er die Hände in die Hosentaschen und senkte seinen Blick. Ich drehte mich noch einmal zu ihm um. »Mein eingebildetes Rockstar-Herz kommt nicht so gut mit Körben klar.«

Ich lachte leise auf und sagte dann: »Ich wusste nicht, dass du mir Avancen gemacht hast. Ich bin vergeben, tut mir leid.« Ich zuckte mit den Achseln.

»Ich weiß, Leon hat so etwas erwähnt. Ach ja, und er hat noch etwas anderes verraten.« Ein spitzbübisches Lächeln zuckte über Liams Lippen und ließ mein Herz schneller schlagen. Ich ahnte schon, was mein Bruder hinausposaunt hatte. »Dass du einer unserer größten Fans gewesen sein sollst, kann ich immer noch nicht glauben. Das hat dein Bruder sich doch ausgedacht?«

»Natürlich hat er das. Was denkst du denn? Dass ein Mädchen wie ich auf eine Band wie deine steht. Lächerlich«, scherzte ich und verdrehte die Augen.

Liam ging wieder etwas auf mich zu und lehnte sich lässig gegen eines der Regale. Mit einer leichten Kopfbewegung warf er eine Haarsträhne zurück und suchte daraufhin meine Augen. Ich hielt die Luft an. Dass er mir so nahe war, machte mir Angst.

»Und in wen von uns warst du verliebt?«, wollte er frech wissen. Ich blähte die Backen auf. Jetzt wurde er auch noch unverschämt.

»Na immerhin hat er nicht alles ausgeplaudert«, erwiderte ich und wandte mich lächelnd ab. »Staatsgeheimnis.« Ich schnappte mir den leeren Bücherwagen und schob ihn an seinen Platz zurück. Mit schnellen Schritten folgte Liam mir. Routiniert nahm ich den zweiten Wagen und schob ihn in eine völlig andere Richtung.