Sommerregengeheimnis - Sabrina Heilmann - E-Book

Sommerregengeheimnis E-Book

Sabrina Heilmann

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Beschreibung

An ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag geht Silke wie jedes Jahr zum Friedhof, um sich an den schlimmsten Tag ihres Lebens zu erinnern und die Nähe zu dem Menschen zu spüren, der ihr alles bedeutet hat. Wie jedes Jahr ahnt sie nicht, dass sie dabei beobachtet wird. Als Tom die junge Frau bemerkt, die weinend im Sommerregen sitzt, bietet er ihr seinen Regenschirm an. Sie kommen ins Gespräch und obwohl Silke versucht, ihre Traurigkeit zu überspielen, entgeht es Tom nicht. Nachdem ihre Wege sich trennen, glauben sie, einander nie wieder zu sehen. Aber das Schicksal hat bereits einen Plan geschmiedet, der sie zwingt, sich ihrer schmerzhaften Vergangenheit und den verbotenen Gefühlen füreinander zu stellen.

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Sommerregengeheimnis

SABRINA HEILMANN

Liebesroman

Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.

Copyright © Sabrina Heilmann, März 2019

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe sind nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt. Der Abdruck des Textes, auch nur in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

Korrektur: KKB – Lektorat und Korrektur

Coverbild © Sabrina Heilmann

Coverfotos: © stillfx, http://www.123rf.com;

Diverse, www.pixabay.com

Inhaltsverzeichnis

Sommerregengeheimnis1

Das Buch6

1. TEIL EINS8

1.1 Eins12

1.2 Zwei18

1.3 Drei26

1.4 Vier31

1.5 Fünf37

1.6 Sechs45

2. TEIL ZWEI53

2.1 Sieben56

2.2 Acht64

2.3 Neun73

2.4 Zehn81

3. TEIL DREI91

3.1 Elf99

3.2 Zwölf106

3.3 Dreizehn114

3.4 Vierzehn118

3.5 Fünfzehn121

3.6 Sechzehn124

4. TEIL VIER132

4.1 Siebzehn135

4.2 Achtzehn141

4.3 Neunzehn147

4.4 Zwanzig153

4.5 Einundzwanzig158

5. TEIL FÜNF163

5.1 Zweiundzwanzig166

5.2 Dreiundzwanzig173

5.3 Vierundzwanzig178

5.4 Fünfundzwanzig187

6. TEIL SECHS193

6.1 Sechsundzwanzig196

6.2 Siebenundzwanzig201

6.3 Achtundzwanzig207

6.4 Neunundzwanzig213

7. TEIL SIEBEN221

7.1 Dreißig225

7.2 Einunddreißig234

7.3 Zweiunddreißig239

7.4 Dreiunddreißig243

8. TEIL ACHT247

8.1 Vierunddreißig248

8.2 Fünfunddreißig254

8.3 Sechsunddreißig261

9. Danksagung269

10. Playlist272

11. Die Autorin273

12. Weitere Veröffentlichungen274

13. Leseprobe »Eisrosengeheimnis«276

13.1 TEIL EINS276

13.2 Eins279

13.3 Zwei287

14. Impressum298

Das Buch

An ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag geht Silke wie jedes Jahr zum Friedhof, um sich an den schlimmsten Tag ihres Lebens zu erinnern und die Nähe zu dem Menschen zu spüren, der ihr alles bedeutet hat.

Wie jedes Jahr ahnt sie nicht, dass sie dabei beobachtet wird.

Als Tom die junge Frau bemerkt, die weinend im Sommerregen sitzt, bietet er ihr seinen Regenschirm an. Sie kommen ins Gespräch und obwohl Silke versucht, ihre Traurigkeit zu überspielen, entgeht es Tom nicht.

Nachdem ihre Wege sich trennen, glauben sie, einander nie wieder zu sehen.

Aber das Schicksal hat bereits einen Plan geschmiedet, der sie zwingt, sich ihrer schmerzhaften Vergangenheit und den verbotenen Gefühlen füreinander zu stellen.

Ein emotionaler Roman über Vergangenheitsbewältigung, einsame Herzen im Sommerregen und die heilende Kraft der Liebe.

Für Silke,

weil du der Sommer bist und ich dein Regen.

Weil genau das unsere Freundschaft ausmacht.

1. TEIL EINS

Von Schmerz erfüllt,

sitzt ein Mädchen im Regen.

Die Wangen ganz blass,

die Augen leer.

Von Trauer erschüttert,

sitzt ein Mädchen im Regen.

Von den Tränen versteckt,

von der Liebe gefunden.

Acht Jahre zuvor

15. Juli 2011

Schwach sank ihr Kopf nach vorn. Der strömende Sommerregen durchnässte sie innerhalb von Sekunden. Obwohl es ein warmer Julitag war, fror sie schlimmer als im Winter.

Sie wusste, dass es nicht am Wetter oder dem plötzlichen Platzregen lag, der eingesetzt hatte. Sondern an den Schmerzen und der tief sitzenden Trauer, die sich in den letzten Monaten in ihr Herz gefressen hatten.

Sie krallte die Fingernägel in das Holz der Bank, auf der sie saß, bis es schmerzte, und schluchzte leise auf.

Alles war kaputtgegangen. Von ihrem Leben waren nur noch Bruchstücke übrig geblieben, die nicht mehr zusammenfinden wollten. Ihr Herz lag zertrümmert in allen Himmelsrichtungen zerstreut und würde nie wieder vollständig sein. Nie würde sie alle Teile einsammeln und es reparieren können, nie würde es so sein, wie es einmal war.

Sie hatte alles verloren, was ihr einst wichtig gewesen war.

Der Wind frischte auf und sie erzitterte. Ihre schwarze Kleidung haftete wie eine zweite Haut an ihr, die Regentropfen peitschten ihr ins Gesicht, ihre dunkelblonden Locken klebten an ihren nassen, blassen Wangen.

Sie fühlte sich hilflos und verloren, allein gelassen in einem Sturm, der sie mit jeder Sekunde, die verging, näher an den Abgrund trieb.

Sie war verloren ohne ihn. Ohne die Liebe ihres Lebens. Ohne den einzigen Menschen, der ihr in den letzten Jahren Halt gegeben und sein Leben mit ihr geteilt hatte.

Ihr Leben war nun nur noch eine leere Hülle, in der sie zusammengekauert saß und darauf wartete, endlich daraus befreit zu werden.

Es war ein Albtraum.

Aber sie war wach und es gab keine Chance, das Geschehene ungeschehen zu machen. Dafür hatte das Schicksal gesorgt.

Ein Schluchzer hallte über den Dresdner Trinitatisfriedhof und sie umschlang schützend ihren Körper mit den Händen. Sie zitterte. Vor Kälte. Vor Schmerz. Vor Hass.

All diese Empfindungen hatten sie eingenommen und streckten sie nieder, bis sie endlich kapitulierte und aufgab.

Nie hatte sie so oft ans Aufgeben gedacht wie in den letzten Monaten und Tagen.

Die Zeit sollte alle Wunden heilen, aber das war eine furchtbare Lüge. Es wurde immer schlimmer, immer schmerzhafter ... immer grausamer.

Ganz langsam hob sie den Kopf und starrte auf die goldenen Buchstaben, die in den schwarzen Granitstein eingraviert waren. Buchstaben, die alles endgültig machten. Worte, die ihr Herz weiter zerschlugen und überall verteilten. Selbst wenn sie die Teile wiederfinden würde, heilte es nie wieder.

Genauso wie sie.

Der Augenblick schien so schmerzhaft endgültig.

Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Wangen und schluchzte leise. Sie hatte nie darüber nachgedacht, wie es sein würde, wenn sie plötzlich allein war. In ihrer Naivität hatte sie angenommen, bis zum Ende ihres Lebens Zeit zu haben.

Eine fatale Einstellung, für die sie nun bezahlen musste.

Mit Einsamkeit.

Mit Tränen.

Hass.

Und ihrem Herzen.

Es gab kein Für immer.

Nur ein Bis dass der Tod uns scheidet. Und nicht einmal das hatten er und sie erreicht.

1.1 Eins

Gegenwart

15. Juli 2019

Silke rieb sich die spannende Stirn und gab den Betrag, den die Kundin für ihre Gesichtsbehandlung bezahlen musste, in die Kasse ein. Sie vertippte sich zweimal, löschte die falschen Zahlen und nannte der Frau den Preis.

»Stimmt so«, sagte diese und schob Silke einen Fünfzig-Euroschein zu.

»Danke.« Silke lächelte müde, legte das Geld in die Kasse und druckte den Beleg aus. Sie reichte der Kundin die Quittung und verabschiedete sie freundlich.

Seufzend stützte Silke sich auf dem Kassentresen ab und ließ den Kopf hängen. Sie war am Morgen mit Kopfschmerzen aufgestanden, aber das hatte sie nicht gewundert. Am Abend war sie spät eingeschlafen und hatte lange wach gelegen.

Nicht aus Nervosität, weil sie am nächsten Tag Geburtstag hatte, sondern weil die Gedanken, die durch ihren Kopf wirbelten, nicht schwiegen. Sie waren seit über einem halben Jahr so laut, wie schon lange nicht mehr. Silke fand keine Ruhe, war rastlos und schlug sich die Nächte um die Ohren.

Alles nur, weil sie ohne eine Erklärung im Stich gelassen worden war.

»Hey, ist alles in Ordnung?« Silke spürte die Hand ihrer Kollegin Carina auf ihrer Schulter und sah sie aus müden Augen an.

»Ich habe Kopfschmerzen.«

»Und das an deinem Geburtstag.«

Silke richtete sich langsam auf und zuckte mit den Schultern. »Ich feiere ohnehin nicht.«

»Hast du noch eine Kundin?« Ohne auf die Antwort ihrer Kollegin zu warten, ging Carina an ihr vorbei und blätterte das Auftragsbuch durch.

»Nein«, antwortete sie, bevor Carina die richtige Seite gefunden hatte.

Silke hatte direkt nach ihrem Abschluss eine Ausbildung zur Kosmetikerin begonnen und arbeitete seitdem in einer großen Kosmetikkette, die in Dresden mittlerweile vier Läden besaß. Wenn sie sich gut anstellte, würde man ihr in zwei Jahren, sobald ihre Vorgesetzte Karin in Rente ging, die Filialleitung anbieten. Aber soweit dachte Silke noch nicht.

Sie wusste besser wie niemand sonst, wie schnell das Leben vorbei sein konnte, und dass es keinen Sinn machte, vorauszuplanen.

»Dann geh nach Hause. Ich komm allein klar. Meine letzte Kundin kommt in einer halben Stunde.«

»Aber ...«

»Hast du in den letzten drei Jahren, die ich jetzt hier arbeite, nicht gelernt, dass man mir nicht widerspricht?« Carina lachte und ihre brünetten, schulterlangen Haare wippten dabei. Lächelnd schüttelte Silke den Kopf und fiel ihrer Kollegin in die Arme.

»Danke, du hast etwas gut bei mir.«

Carina löste sich leicht und fixierte Silke mit ihren braunen Rehaugen. »Alles Liebe zum Geburtstag, noch einmal, und versprich mir, dass du den Tag nicht allein verbringst. Ja?«

Carina wusste nicht, was Silke in den letzten Jahren und Monaten hatte durchmachen müssen. Niemand bei der Arbeit kannte ihre Geschichte. Und doch kam es Silke so vor, als würde Carina mehr wissen, als sie sagte. Vielleicht hatte ihre Kollegin aber auch nur ein Gespür für die Gefühlslage anderer. Silke wusste selbst, dass sie sich in den letzten Monaten verändert hatte. Sie war ruhiger geworden, sprach und lachte nicht mehr so viel wie zuvor. Sie hatte ein paar Kilo abgenommen, weil sie keinen Appetit mehr hatte, und kümmerte sich nicht um die dunklen Ringe unter ihren grünen Augen, die sie den schlaflosen Nächten zu verdanken hatte. Ihre dunkelblonden Locken waren länger geworden, sie glättete und föhnte sie nicht und beim Friseur war sie seit Monaten nicht gewesen. Solange sich niemand beschwerte, sah sie nicht ein, etwas daran zu ändern. Silke verblasste wie ein Stern, nachdem er in die Erdatmosphäre eingetreten war.

Aber wie hätte sie auch glücklich sein können ...

»Versprochen«, flüsterte Silke und kreuzte in Gedanken die Finger hinter dem Rücken. Sie wollte niemanden sehen, sie wollte keine Geschenke und ihren Geburtstag nicht feiern.

Allein zu sein gab ihr im Moment so viel mehr als die Nähe zu ihren Freunden.

Eric, Jana und Jessi hatten ihr bereits am Morgen Nachrichten mit Glückwünschen geschickt. Sie hatte nur mit einem knappen ›Dankeschön‹ geantwortet. Auf Erics Frage hin, ob sie sich am Abend in der Neustadt treffen sollten, um ihren achtundzwanzigsten Geburtstag zu feiern, schob sie ihre Kopfschmerzen als Ausrede vor. Seitdem hatte sie nicht mehr auf ihr Telefon geschaut.

Kurz nachdem Silke das Kosmetikstudio verlassen hatte, zog sie ihr Handy aus der Handtasche und blickte darauf. Zwei verpasste Anrufe von ihren Eltern, unzählige Facebook-Meldungen von Pseudofreunden, die ihr gratulierten, und eine Nachricht von ihrem besten Freund Eric. Seufzend öffnete sie diese.

Eric

Dann kommen wir alle zu dir. Wir können Pizza bestellen und Filme schauen. Hauptsache, du bist nicht allein.

Silke atmete tief durch und wählte seine Nummer. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er ihren Anruf entgegennahm.

»Hallo Geburtstagskind.«

»Ich habe wirklich Kopfschmerzen. Ich möchte mich nur hinlegen und ein bisschen schlafen«, rechtfertigte sie sich.

»Wir haben uns die gesamte letzte Woche nicht gesehen. Jana hat alle Prüfungen hinter sich und Semesterferien und ich habe diese Woche Urlaub. Lass uns irgendetwas unternehmen. Was hältst du davon, wenn wir ein paar Tage wegfahren? Jessi müsste auch mit ihren Prüfungen fertig sein.«

Erics Worte strömten auf Silke ein, bis sich alles in ihrem Kopf drehte.

»Eric ...«, seufzte sie und holte Luft. Seit Eric aus der gemeinsamen WG ausgezogen war und mit seiner Freundin Jana in einer gemütlichen Dreiraumwohnung im Dresdner Stadtteil Pieschen wohnte, sahen sie sich nur noch selten. Dass Silke allein in der großen Wohnung am Wasaplatz lebte, machte die Sache nicht besser. Nicht nur, dass es finanziell gerade so reichte – große Sprünge waren nicht mehr möglich – an manchen Tagen fühlte sie sich einsam. Eric hatte ihr zwar seine Unterstützung angeboten, aber Silke war viel zu stolz, um diese anzunehmen.

Seit Monaten suchte sie nach einer kleineren Zweiraumwohnung, aber immer schienen die anderen Bewerber bessere Voraussetzungen zu haben, als sie.

In ihrer Verzweiflung hatte sie sogar Janas jüngere Schwester Jessica gefragt, ob sie in Erics ehemaliges Zimmer ziehen wollte. Jessi kam aber erst in einem halben Jahr aus ihrem Mietvertrag heraus, also hatten sie die Entscheidung vertagt.

Es wäre ein leichtes, eine Annonce für ein freies WG-Zimmer online zu stellen, aber Silke wollte mit niemandem zusammenleben, den sie nicht kannte.

»Eric, ich habe keinen Urlaub genommen«, seufzte sie und stieg in die Straßenbahn. Während sie mit ihrem besten Freund telefonierte, war sie zur Haltestelle gelaufen.

Sie sah sich in der Bahn um und ließ sich auf einen freien Einzelplatz sinken.

»Aber wir nehmen an deinem Geburtstag immer zusammen Urlaub.«

»Es hat sich so viel verändert«, seufzte Silke. »Woher hätte ich wissen sollen, dass du ausgerechnet an dieser Sache festhalten willst?«

Erics Herz schmerzte, als er die Enttäuschung in der Stimme seiner besten Freundin hörte. Die letzten Monate waren nicht leicht für sie gewesen, das war ihm klar, und dennoch hatte er die naive Vorstellung gehabt, dass sich zwischen ihnen nichts ändern würde. Aber das war bereits passiert.

Silke blickte aus dem Fenster und presste das Handy fester an ihr Ohr. Sie ließ den Kopf gegen die Scheibe sinken und kämpfte mit den Tränen.

»Silke«, hauchte Eric. »Niemand sollte an seinem Geburtstag allein sein.«

»Ihr könnt morgen vorbeikommen. Ich ... heute ist kein guter Tag, okay?«

»Okay«, antwortete ihr bester Freund unzufrieden.

Aber es war nichts okay.

1.2 Zwei

Als Silke nach etwa zwanzig Minuten aus der Straßenbahn stieg, waren schwarze Regenwolken über Dresden gezogen. Kaum, dass sie den ersten Meter der knapp fünfhundert, die sie noch von ihrem Ziel trennten, zurückgelegt hatte, brach ein warmer Sommerregen aus den Wolken.

Völlig durchnässt trat Silke durch das Tor des Trinitatisfriedhofs und ging den schmalen Weg entlang. Dass es wie in Strömen regnete, interessierte sie nicht. Schließlich gab es jedes Jahr an ihrem Geburtstag einen Wolkenbruch, sobald sie sich auf den Weg zum Friedhof machte.

Der Himmel weinte mit ihr – zumindest hatte sie sich das mit der Zeit eingeredet.

Wie jedes Jahr seit acht Jahren ließ sie sich auf die Bank in der Nähe des schwarzen Granitsteins mit den goldenen Buchstaben sinken. Sie hatte keinen Schirm dabei, der sie vor dem Regen schützte. Obwohl sie es hätte besser wissen müssen. Seufzend schlang sie die Arme um ihren Körper und ließ den Kopf hängen. Wirre Gedanken wirbelten umher und machten es fast unmöglich, sich zu beruhigen. Silke war nervös, obwohl es nicht das erste Mal war, dass sie hier im Regen saß. Dennoch war sie von einer inneren Unruhe gepackt worden, die sie seit Ewigkeiten nicht mehr gespürt hatte.

Tränen brannten in ihren Augen, aber sie war noch in der Lage, sie zurückzuhalten. Sie hatte in den letzten Monaten so viel geweint, dass sie sich diese Schwäche in diesem Augenblick nicht eingestehen wollte.

Im Grunde war sie ein starker Mensch, zumindest hatten ihre Freunde sie immer für ihre Stärke bewundert. In Wirklichkeit war das eine Maske, die sie trug.

Eine wie sie auch ihre beste Freundin Jana vorzuzeigen hatte, die damit ihre posttraumatische Belastungsstörung verbarg.

Oder wie ihr bester Freund Eric, der dahinter den Verlust seines Bruders versteckte.

Aber auch wie Jessi, Janas kleine Schwester, die damit die Wochen verarbeitete, in denen das bisher noch immer ungeklärte Koma ihr Leben auf Pause gestellt hatte.

Wo Silke auch hinsah, jeder Mensch trug eine Maske. Nein, sie war weiß Gott nicht stark. Sie hatte es bisher nur besser verborgen als die anderen.

Stumm hob sie den Blick und fixierte den Grabstein. Ihre Augen folgten den goldenen Buchstaben und ihr Herz wurde schwer, als sie den Namen, der darauf stand, in ihren Gedanken hörte.

Nick Stahlkamp.

In den letzten eineinhalb Jahren war der Hass vielleicht verpufft, die unsagbare Trauer aber blieb. Wo damals Wut war, befand sich jetzt noch mehr Schmerz. Wo einst Liebe gewesen war, klaffte eine tiefe Wunde, deren Heilungsprozess zwar kurz begonnen hatte, aber nie beendet worden war.

Silke selbst schwieg, ihre Gedanken schrien umso lauter.

Ich wünschte, ich hätte dir dieses Jahr sagen können, dass es mir gut geht. Aber es geht mir nicht gut. Alles, was in den letzten Monaten passiert ist, fühlt sich an wie ein schlimmer Albtraum, aus dem ich nicht aufwache. Es kommt mir vor, als hätten die Gefühle, die ich damals versucht habe, zu verarbeiten, mich erneut mit voller Wucht getroffen. Wie ein Bumerang.

Als wären mit seinem Verschwinden alle Gefühle für dich zurückgekehrt ... als hätte ich sie mit ihm nur betäubt, wie mit Drogen.

Silke schluckte schwer und die Tränen suchten sich den Weg über ihre Wangen. Sie vermischten sich mit dem Regen, als wären sie eins.

Vielleicht war alles, was ich empfunden habe, nicht echt. Möglicherweise hat mich nur der Gedanke daran getröstet.

Vielleicht ...

Silkes Körper begann zu zittern und sie blickte leise schluchzend in den Himmel. Ein Regentropfen fiel direkt in ihr linkes Auge und sie blinzelte ihn zusammen mit den Tränen weg.

Vielleicht bin ich nicht in der Lage, jemals wieder einen Menschen zu lieben.

Sie kniff die Augen fest zusammen und ergab sich dem Gefühl des Regens auf ihrem Gesicht. Er hatte in den letzten Sekunden zugenommen, aus dem starken Sommerregen war ein Platzregen geworden. Der Wind frischte weiter auf und ein eiskalter Schauer durchzog Silke, obwohl der Wetterdienst warme fünfundzwanzig Grad und strahlenden Sonnenschein für diesen Tag gemeldet hatte.

Plötzlich verdunkelte sich der Himmel und der Regen hörte schlagartig auf. Irritiert riss Silke die Augen auf und starrte den schwarzen Regenschirm an. Ihre Augen folgten dem Griff, um den sich eine gepflegte Männerhand geschlossen hatte. Schließlich fand sie ein Paar besorgte, grünblaue Augen, die einem attraktiven Mann gehörten. Er war groß und musste wie ihr bester Freund etwa Anfang dreißig sein. Er hielt ihrem Blick stand, während er sich durch die nassen dunkelbraunen Haare strich und seine markanten Kiefermuskeln anspannte. Der leichte Bartschatten ließ ihn reifer aussehen. Der Mann wirkte trainiert, aber nicht übertrieben muskulös, und er trug eine schwarze Jeans und eine gleichfarbige Strickjacke, die er geschlossen hatte.

Silke öffnete die Lippen leicht, um etwas zu sagen, als der Mann, der ihr seinen Regenschirm überließ, sein Schweigen brach.

»Du wirst dich fürchterlich erkälten, wenn du hier länger sitzen bleibst.« Seine Stimme klang dunkel und gleichzeitig sehr melodisch.

Silke erschauerte, als der Fremde um die Bank herumkam und sich neben sie setzte, während er den Schirm weiterhin über ihren Kopf hielt. Er saß im Regen, aber das schien ihn offenbar nicht zu stören.

»Ich bin nicht anfällig für Erkältungen«, erwiderte sie versucht lässig und hätte sich für diese Aussage am liebsten selbst geohrfeigt. So ein Blödsinn, was redete sie denn da? »Danke jedenfalls.« Sie deutete auf den Schirm und wandte die Augen von dem Mann ab.

Obwohl sie ihn nicht kannte, löste er etwas in ihr aus, das sie verunsicherte. Sein Blick hinterließ ein Kribbeln auf ihrer Haut und ihr Herz schlug viel zu schnell. Sie fühlte sich unsicher und trotzdem merkwürdig leicht. Was hatte das nur zu bedeuten?

»Geht es dir gut?«, fragte er, hob die Hand, um Silke an der Schulter zu berühren, ließ sie aber wieder sinken, weil es ihm nicht richtig vorkam.

Silke suchte die grünblauen Augen des Mannes und hob kaum merklich die Schultern. »Welchem Menschen, der sich auf einem Friedhof aufhält, geht es schon gut?«, fragte sie so leise, dass der prasselnde Regen ihre Worte beinahe verschluckte.

»Wo du recht hast ...«, flüsterte er und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Wie sollte es ihr gut gehen, wenn er sich in seinem Inneren genauso hilflos und schwach fühlte? Er wusste genau, was sie meinte.

»Wie heißt du?«

Am liebsten hätte er sie gefragt, warum sie hier war, wen sie verloren hatte und was sie traurig machte. Aber Tom wusste, dass sich das nicht gehörte. Er selbst hätte sich ihr niemals geöffnet, also konnte er das nicht von ihr verlangen.

»Silke.« Sie lächelte zurückhaltend und entblößte strahlend weiße Zähne. Auch so war sie eine hübsche Frau. Ihr dunkelblondes Haar klebte an ihren Wangen, ihre grünen Augen wirkten traurig, strahlten aber sicher wunderschön, wenn sie lachte. Sie war bedeutend kleiner als er und hatte eine gute Figur mit Kurven an den richtigen Stellen. Sie gehörte ganz offensichtlich nicht zu den Frauen, die sich gutes Essen verboten. Das mochte er.

»Ich bin Tom«, stellte er sich vor.

»Du musst wegen mir nicht hierbleiben«, sagte Silke leise und deutete auf den Regenschirm. »Ich bin es gewöhnt, dass es jedes Jahr an meinem Geburtstag regnet, von daher ... Es ist nur Wasser, davon werde ich nicht gleich ster...«

Silke stockte, als sie bemerkte, wie seltsam unpassend sich diese Redewendung auf dem Friedhof anhörte.

»Was ich damit sagen will«, verbesserte sie sich, »ich bin nicht aus Zucker.«

Tom musste schmunzeln, doch seine Mundwinkel glitten schnell nach unten, als er die Information verarbeitete, dass Silke sich an ihrem Geburtstag lieber auf dem Friedhof aufhielt, anstatt mit ihrer Familie und ihren Freunden zu feiern.

»Niemand sollte seinen Geburtstag allein auf dem Friedhof verbringen.« Er seufzte kaum hörbar. »Alles Gute.«

Aber ich bin nicht allein, hätte Silke ihm beinahe geantwortet und sah zu dem schwarzen Granitstein. Stattdessen murmelte sie ein leises »Danke.«

»Hast du niemanden zum Feiern oder willst du nicht?«

Stumm suchte Silke Toms grünblaue Augen, sah jedoch weg, als ihr Herz einen unerklärlichen, nervösen Sprung machte. Bei jedem anderen wäre ihr diese Frage wie ein Angriff vorgekommen, bei Tom nicht.

»Mir steht der Sinn nicht nach feiern«, gestand sie.

»Darf ich fragen, warum?«

»Weil es ein beschissenes Gefühl ist, wenn deine Freunde alle glücklich sind und du die Einzige bist, die sich am liebsten den ganzen Tag unter der Decke verkriechen möchte.«

Silke senkte den Blick auf die Hände. Warum hatte sie das gesagt? Was sollte Tom von ihr denken?

Wahrscheinlich hielt er sie für eine komplette Idiotin.

»Hast du deinen Freunden gesagt, wie du dich fühlst?«

Silke schüttelte den Kopf. »Das alles ist zu komplex, als dass ich es dir jetzt erklären könnte. Außerdem ... außerdem kenne ich dich nicht und ...«

»Du vertraust mir nicht, das ist in Ordnung. Entschuldige die vielen Fragen. Berufskrankheit«, murmelte Tom.

Silke schwieg. Die Situation war ihr unangenehm, obwohl Tom etwas an sich hatte, das sie mochte. Er war nett, zumindest dahingehend, was sie beurteilen konnte. Dennoch war sie sich sicher, dass dieses Gespräch zu nichts führte.

»Ich ... ich sollte nach Hause gehen. Offensichtlich hört es nicht mehr auf, zu regnen.«

Silke stand auf und strich sich eine nasse Haarsträhne hinter das linke Ohr. Tom tat es ihr gleich und hielt den Regenschirm weiter schützend über sie.

»Hier, nimm den Schirm mit.« Tom streckte ihr die Hand entgegen und Silke packte den Griff des Regenschirms. Sie sog die Luft scharf ein, als sie Tom versehentlich berührte und das Kribbeln wie ein Blitz durch ihren Körper jagte.

»Da... danke«, stammelte sie und senkte den Blick, um Tom Sekunden später in die grünblauen Augen zu sehen. Sie hatten diese besondere Tiefe, eine Einzigartigkeit, die Silke bisher bei keinem Mann so wahrgenommen hatte.

»Ich wünsche dir dennoch einen schönen Geburtstag.«

Fast unmerklich zuckten Silkes Mundwinkel nach oben, als sie nickte. Ein letztes Mal ließ sie sich von Toms Blick gefangen nehmen und ertrank in seinen unendlich tiefen Augen, bevor sie sich zum Gehen abwandte und sicher war, ihn nie wiederzusehen.

1.3 Drei

Als Silke am nächsten Tag von der Arbeit nach Hause kam, war sie müde und erschöpft. Der Tag war anstrengend gewesen, viele ihrer Kunden hatten Extrawünsche gehabt und sie fühlte sich mit jeder Behandlung unwohler.

Der Nachmittag auf dem Friedhof steckte ihr ebenfalls in den Knochen. Sie hatte das Gefühl, krank zu werden, obwohl sie tatsächlich nicht anfällig für Erkältungen war.

Seufzend zog sie die Ballerinas aus und ging in die Küche, um für ihre Freunde, die jeden Augenblick auftauchen würden, Kaffee zu kochen.

Während dieser durch die Maschine lief, öffnete Silke den Medizinschrank, um eine Kopfschmerztablette zu nehmen. Sie schluckte sie mit etwas Wasser und lehnte sich anschließend gegen die Arbeitsplatte.

Auch an diesem Tag hatte sie nicht die Kraft dafür, ihren Freunden unter die Augen zu treten. Aber wenn sie es nicht tat, würden sie bemerken, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Und niemand sollte sehen, dass es ihr nicht gut ging.

Es klingelte und Silke marschierte in den Flur, um den Türsummer zu betätigen. Sie öffnete die Tür, lehnte sie nur an und verschwand in der Küche, wo sie vier Tassen aus dem Schrank nahm.

Die Stimmen ihrer Freunde hallten durch das Treppenhaus und sie atmete tief durch. Sie würde das hinbekommen, sie musste einfach.

Mit einem gespielten Lächeln auf den Lippen wartete Silke im Flur, als ihr bester Freund die Tür öffnete. Sofort strahlte er sie glücklich an und schloss sie in die Arme, während er die Tüten vom Bäcker in der linken Hand jonglierte.

»Noch einmal alles Liebe zum Geburtstag, viel Glück und Gesundheit und dass alle deine Wünsche in Erfüllung gehen.« Er küsste sie auf die Wange und gab sie frei.

»Danke.« Silke schenkte ihm ein gequältes Lächeln und wandte sich Jana zu. Die beiden Frauen schlossen sich in die Arme.

»Herzlichen Glückwunsch nachträglich«, gratulierte Jana und reichte ihr eine Geschenktüte und einen Strauß pinkfarbene Gerberas, ihre Lieblingsblumen.

Zuletzt umarmte auch Jessi sie und wünschte ihr nur das Beste. Sie überreichte Silke eine violette Orchidee, in der ein Umschlag steckte.

»Danke schön«, lächelte sie angestrengt.

Ihre Freunde liefen ins Wohnzimmer, wo Silke die Geschenke auf einer Kommode abstellte. Eric legte die Bäckertüten auf den Tisch und folgte seiner besten Freundin in die Küche, während Jana und ihre Schwester auf der Couch Platz nahmen.

»Geht es dir besser?«, fragte Eric. Er holte kleine Kuchenteller aus dem Schrank und zog das Besteckfach auf. Dass er sich die Frage hätte schenken können, bemerkte er schnell. Die dunklen Ringe unter Silkes Augen sprachen Bände, genauso wie die hängenden Mundwinkel.

»Alles bestens«, flüsterte sie. »Auf Arbeit ist es gerade stressig.«

Eric sah Silke an der Nasenspitze an, wenn sie log. »Bist du sicher, dass es nichts mit F...«

»Nein!«, schnitt sie ihm bissig das Wort ab und stellte die Kaffeemaschine aus. Sie nahm die Kanne und die Tassen und marschierte ins Wohnzimmer. Eric folgte ihr mit den Tellern, Besteck sowie Milch und Zucker.

Schweigend aßen die Freunde den Kirschkuchen und tranken eine Tasse Kaffee. Jana entging die angespannte Stimmung zwischen Eric und Silke nicht und tauschte einen Blick mit ihrer kleinen Schwester. Jessi zog die Schultern in die Luft. Sie hatte keine Ahnung, was vorgefallen war.

»Hast du dich schon entschieden, ob du in der Wohnung bleibst?«, ergriff Jessi die Initiative.

»Nein«, antwortete Silke kurz angebunden.

»Warst du in der letzten Zeit bei Wohnungsbesichtigungen?«, fragte sie weiter, um die Situation zu entspannen.

»Nein. Darauf habe ich keine Lust. Ich komme klar.«

»Ich werde meinen Vermieter im Laufe der Woche anrufen und fragen, ob es eine Möglichkeit gibt, eher aus dem Mietvertrag zu kommen. Ich möchte nicht mehr allein wohnen.«

Jana betrachtete ihre Schwester und wusste, dass sie das nur sagte, damit Silke nicht mehr allein war. Jessi liebte ihre Freiheit, aber sie machte sich Gedanken um Silke. Es ging ihrer Freundin nicht gut, das sah sogar ein Blinder.

Silke hatte sich in den letzten Monaten zurückgezogen, Jana verstand das. Was kurz nach Weihnachten vorgefallen war, hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Das war nun über ein halbes Jahr her, aber für Silke war es offenbar noch so schmerzhaft wie am ersten Tag.

»Wegen mir musst du das nicht tun. Ich komme, wie gesagt, klar.«

Eric schüttelte kaum merklich den Kopf und verkrampfte seine Hand, mit der er die Kaffeetasse hielt. Silke kam nicht klar, doch anstatt sich ihm anzuvertrauen, zog sie sich immer weiter von ihm zurück. Er hasste diese Situation, aber wenn sie ihn nicht an sich heranließ, war er machtlos.

Jana bemerkte die Reaktion ihres Freundes und legte ihm beruhigend eine Hand auf den Oberschenkel.

Stumm stand Silke auf und räumte den Tisch ab. Kaum, dass sie den Raum verlassen hatte, stützte Eric sein Gesicht in die Hände und stieß einen leisen Fluch aus.

»Fuck!« Er massierte seine Schläfen und sah auf. »Irgendetwas stimmt nicht.«

»Sie hat es nicht überwunden«, flüsterte Jana. »Ich spreche mit ihr.« Sie nahm den Rest des Kuchens und folgte Silke in die Küche. Diese stand über das Waschbecken gelehnt und hielt den Kopf gesenkt. Jana stellte den Kuchen ab und trat an ihre Freundin heran, bevor sie ihr eine Hand auf die Schulter legte.

»Du weißt, dass du jederzeit mit uns reden kannst. Du musst nicht so tun, als wäre alles in Ordnung, wenn es das nicht ist.«

Silke wandte sich um und Tränen glitzerten in ihren Augen. »Ich will nicht reden, versteht ihr das? Ich will meine Ruhe haben und allein sein. Nicht mehr und nicht weniger. Ist das zu viel verlangt?«, fuhr Silke aus der Haut und rauschte an ihrer Freundin vorbei. Jana zuckte leicht zusammen.

Sekunden später knallte die Wohnungstür ins Schloss.

Silke rannte die Treppe nach unten, verließ das Wohnhaus am Wasaplatz und sprang in die erstbeste Straßenbahn, die vor ihrer Nase hielt.

Warum versuchte jeder, sie zu verstehen, obwohl sie allesamt keine Ahnung hatten, was in ihr vorging?

Stundenlang fuhr und lief Silke durch Dresden, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Sie genoss die Ruhe und kehrte erst in ihre Wohnung zurück, als es bereits dämmerte.

Wie erwartet, waren ihre Freunde gegangen.

Silke ließ sich auf die Couch sinken, winkelte die Beine an und blieb sitzen, bis das letzte Sonnenlicht erloschen war und ihre Wohnung in Dunkelheit lag.

1.4 Vier

Die Wochen vergingen, doch Silkes Trauer und ihre Hilflosigkeit blieben. Sie war müde, fühlte sich ausgebrannt und hatte Kopfschmerzen. Seit Ewigkeiten hatte sie keine Nacht mehr durchgeschlafen, die Arbeit erledigte sie nur mit Mühe und Not und sobald sie zu Hause ankam, legte sie sich erschöpft und motivationslos auf die Couch.

Eric war seit ihrem Geburtstag einige Male bei ihr gewesen, geöffnet hatte sie sich ihm gegenüber nicht. Sie verstand nicht, warum sie das hätte tun sollen. Er konnte ohnehin nicht nachempfinden, wie es tief in ihr aussah. Niemand konnte das.

Jana und Jessi hatte sie seit dem verpatzten Kaffeetrinken nicht mehr gesehen. Silke war sich ziemlich sicher, dass die Schwestern wegen ihrer pampigen Art sauer auf sie waren. Sie hatte Eric nicht danach gefragt. Im Grunde war ihr auch das vollkommen egal, solange man sie in Ruhe ließ.

Es klingelte an der Tür und Silke rappelte sich auf. Sie betätigte den Summer, lehnte die Wohnungstür an und legte sich zurück auf die Couch. Sekunden später saß Eric neben ihr. Seinem verkniffenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, brannte ihm etwas auf der Seele.

Dieser Tag würde nicht ablaufen wie die anderen, an denen er sie besucht hatte. Er würde es nicht hinnehmen, dass sie schwieg. Heute war der Tag, an dem er sie zwang, sich einzugestehen, was sie längst wusste, aber nicht wahrhaben wollte.

»Sprich es schon aus«, hauchte sie, um es hinter sich zu bringen, und schlang die Arme zum Schutz um ihren Körper. Sie wappnete sich für die Worte, die jede Sekunde fallen würden.

»Du verhältst dich wie damals ...« Eric knetete nervös seine Finger. Er hasste dieses Gespräch, dabei hatte es noch nicht richtig begonnen.

»Du stößt mich von dir, du bist traurig, du liegst antriebslos auf deiner Couch und starrst ins Leere. Du bist gereizt, überfordert mit der Arbeit. Sag mir, was los ist, bitte.«

Silke senkte den Blick und kämpfte gegen die Tränen. »Ich weiß nicht, was los ist. Seit er weg ist, ist dieser übermäßige Druck zurück. Als würde sich jemand auf meinen Schultern abstützen und mich immer tiefer nach unten drücken. Am Anfang dachte ich, wenn ich erst verstanden habe, dass er weg ist, wird es nachlassen. Aber das tut es nicht. Es wird schlimmer und ich kann rein gar nichts dagegen unternehmen. Ich schaffe es nicht.«

Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Wangen.

»Es kann so nicht weitergehen«, hauchte Eric. Silke fing den Blick seiner grünblauen Augen ein, die sie sofort an Tom, den Mann, den sie auf dem Friedhof kennengelernt hatte, denken ließen.

»Meinst du, das weiß ich nicht?«

Eric seufzte, stand auf und nahm das Festnetztelefon aus der Ladestation. Er reichte es seiner besten Freundin und sie setzte sich auf. Einige Sekunden starrte sie auf das Zahlenfeld und tippte die Nummer ein, die sie seit sechs Jahren nicht vergessen hatte. Dafür hatte sie sie in ihrer schwersten Zeit zu oft gewählt.

Der Freizeichenton erklang und Silke presste den Hörer an ihr Ohr. Ihr Körper verkrampfte sich, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte diese Nummer nie wieder wählen wollen, sie hatte geglaubt, gesund zu sein. Aber das war sie auch in den vergangenen Jahren nicht gewesen.

Es dauerte nur Sekunden, dann meldete sich eine vertraute Stimme, nur einige der Worte, die sie sagte, waren fremd.

»Psychotherapiepraxis Dr. Brandt, Schwester Ricarda am Apparat.«

»Silke Neumann, hallo.« Silke kniff die Lippen fest aufeinander. Das war ihr schwächster und hilflosester Moment seit Ewigkeiten. Sie machte sich verletzlich und angreifbar, weil sie sich eingestehen musste, dass sie nicht so stark war, wie sie vorgab zu sein. Sie war kaputt.

»Frau Neumann.« Die Stimme der Sprechstundenhilfe klang überrascht. »Wie geht es Ihnen? Wie lange ist es jetzt her?«

»Sechs Jahre«, hauchte sie verunsichert. »Und es geht mir nicht so gut. Ich brauche einen Termin bei Dr. Roth.«, flüsterte Silke. »Aber so wie es aussieht, führt sie die Praxis nicht mehr, oder?«

»Nein, leider nicht. Dr. Roth arbeitet seit zwei Jahren in Hamburg in einem Krankenhaus als Psychologin. Sie hat, bevor sie gegangen ist, allerdings für ausgezeichneten Ersatz gesorgt. Sollen wir dennoch einen Termin vereinbaren, Frau Neumann?«

Eric, der das Gespräch mit anhören konnte, nickte und Silke atmete tief durch.

»Ja.«

»Haben Sie eine Überweisung von Ihrem Hausarzt?«

»Nein.«

»Dann könnte ich Ihnen theoretisch erst einen Termin Ende September anbieten.«

Silke hörte das Rascheln von Zetteln. »So spät? Ich ... es ist ...«

»Warten Sie kurz.« Sie vernahm das Klacken der Tastatur. »Wie sieht es Freitag, siebzehn Uhr bei Ihnen aus?«

»Ich habe Zeit.«

»Dann trage ich Sie ein, Frau Neumann. Aber verraten Sie niemanden, dass ich Ihnen so zeitig einen Termin gegeben habe. Die Wartezeiten sind leider tatsächlich so lang ohne Überweisung.«

»Danke, das ... das weiß ich sehr zu schätzen.«

»Sie würden nicht anrufen, wenn es nicht akut wäre.« Kurz war Stille am anderen Ende. »Wie dem auch sei. Wir sehen uns Freitag, siebzehn Uhr.«